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Ich heiße Felix Vorndran,

und man braucht nicht viel Fantasie, um sich die blöden Bemerkungen vorzustellen, die ich mir wegen dieses Namens anhören muss. Manchmal wünschte ich, meine Eltern hätten sich bei ihrer Heirat auf den Nachnamen meiner Mutter geeinigt. Neumann ist so ein richtig schön langweiliger Allerweltsname. Aber mein Vater ist Architekt, und als er meine Mutter kennenlernte, hatte er gerade einen wichtigen Wettbewerb gewonnen, für den Entwurf einer Schwimmhalle. Das Dach schwebte sehr elegant in der Luft, und wahrscheinlich ist das Schwimmbad deswegen auch nie gebaut worden. Aber mein Vater bekam den ersten Preis und sein Name stand in der Zeitung. Da wollte er ihn natürlich behalten.

 

Im September bin ich zwölf geworden und seit den Sommerferien gehe ich in die sechste Klasse des Kaiser-Wilhelm-Gymnasiums. Das zumindest stimmt. Das steht schwarz auf weiß auf meinem Schülerausweis. Da ist sogar der Schulstempel drauf. Und mein Foto. Obwohl, das auf dem Foto könnte auch jemand anderes sein. Als der Fotograf in unsere Klasse kam und wir uns aufstellen mussten, hat Ella mir irgendwas zugeflüstert. Genau in dem Moment, in dem ich ihr den Kopf zuwandte, hat der Fotograf abgedrückt. Jetzt sieht man auf dem Foto nur meine Haare und die sind ziemlich lang. Aber ich weiß, dass ich es bin. Der Fotograf hatte es furchtbar eilig – wir waren die fünfte Klasse an diesem Tag, und er war genervt, weil Mario die ganze Zeit irgendwelche Verrenkungen machte und beim Gruppenfoto seinem Vordermann mit gespreizten Fingern Hörner aufsetzte und weil Robert mit seiner Luftpumpe herumfuchtelte.

Ich sehe das alles noch deutlich vor mir, aber hat es sich auch so abgespielt? Ich kann meiner Erinnerung nicht mehr trauen. Seit dem 25. Oktober. Ich erinnere mich zwar genau daran, was an diesem Tag und auch an den folgenden Tagen geschah, aber ich könnte nicht mehr beschwören, dass sich alles auch so abgespielt hat. Ich habe keinen Beweis, nicht einen einzigen. Dabei hätte ich nur mal zur Digitalkamera meines Vaters greifen und ein Foto oder auch zwei machen müssen. Aber Fotos kann man manipulieren, es ist ein Kinderspiel, einen Zweimetermann so mit dem Hintergrund zusammenzumontieren, dass es aussieht, als sei er ein Zwerg. Nein, auch ein Foto wäre kein Beweis gewesen. Den einzigen richtigen Beweis, den ich hatte, hab ich mir wegnehmen lassen. Kein Wunder, dass mir niemand glaubt.

Ich habe beschlossen, alles aufzuschreiben. Tag für Tag, Stunde für Stunde. Vielleicht kann ich dann entscheiden, ob alles nur ein Traum war oder Wirklichkeit.

Heute ist Mittwoch, der 6. November. Ich weiß nicht, wann ich mit meiner Geschichte fertig bin. Meine Deutschlehrerin meint immer, ich muss aufpassen, dass ich in meinen Aufsätzen nicht abschweife und von Dingen erzähle, von denen sie findet, dass sie mit dem Thema nichts zu tun haben. Ich schreibe eben gern. Wenn ich einmal angefangen habe, fällt es mir schwer, wieder aufzuhören. Aber ich werde mir Mühe geben, diesmal bei der Sache zu bleiben. Versprechen kann ich es allerdings nicht.

Freitag, 25. Oktober

Auf der Brücke blieb ich stehen. Wie jeden Morgen. Ich blieb auf der Brücke stehen und schaute ins Wasser. Dann konnte ich mir einbilden, nur einen Spaziergang zu machen. Ohne bestimmtes Ziel. Einfach so. Durch die Birke am Ufer fuhr ein leichter Wind, es sah aus, als schüttele sie sich den Schlaf aus den Zweigen. Kleine gelbe Blätter lösten sich, trudelten durch die Luft und landeten so sacht auf dem Wasser, als setze eine unsichtbare Hand sie dort ab. Und langsam, ganz langsam, als hätten sie alle Zeit der Welt, trieben sie gen Norden. Ob sie wohl jemals im Meer ankommen würden? Ich hatte keine Ahnung, in welchen Fluss der Kanal mündete. Bestimmt hatten wir das mal in Erdkunde gelernt. Schule! Verdammt! Ich sah auf die Uhr. Sechs Minuten vor acht. Das war nicht mehr zu schaffen. Nicht zu Fuß. Hätte ich doch bloß mein altes Fahrrad mit in die neue Wohnung genommen, dachte ich, während ich über die Brücke in Richtung Kaiser-Wilhelm-Platz lief. Das Rad war zwar längst zu klein für mich, aber immerhin besser als gar keins.

Vier Minuten nach acht kam ich völlig außer Atem vor der Schule an. Kein Schüler war mehr auf dem Hof. In einer Ecke fegte Herr Michalski, der Hausmeister, welkes Laub zusammen. Neben ihm saß Boss, die hässlichste Bulldogge der Welt, und glotzte mich an. Vor dem Hund des Hausmeisters hatten alle Schüler Angst. Selbst die großen. Man erzählte sich, dass er einmal ein Mädchen ins Bein gebissen habe, weil sie trotz Verbots auf dem Hof geraucht hatte. Als ich jetzt an ihm vorbeilief, knurrte er böse.

»Still, Boss!«, sagte Michalski. Und zu mir gewandt: »Na denn mal hopp, hopp. Sonst gibt’s nämlich Ärger.«

»Nämlich« war das absolute Lieblingswort von Michalski. Er verwendete es in jedem zweiten Satz.

Glücklicherweise hatten wir die ersten beiden Stunden Kunst, und Frau Frisch, die Kunstlehrerin, schüttelte nur in gespielter Verzweiflung den Kopf, als ich, irgendwas von einem verpassten Bus murmelnd, in den Kunstsaal stürmte.

Die ersten zwei Stunden am Freitag sind mir die liebsten. Im Kunstsaal gibt es keine festen Plätze. Jeder darf neben seinem Freund oder seiner Freundin sitzen und ausgiebig quatschen. Aber ich sitze sowieso immer neben Ella und auch jetzt quetschte ich mich neben sie. Nicht, weil sie so dick ist, sie braucht nur einfach viel Platz. Zwei Tuschkästen standen aufgeklappt vor ihr, mindestens zehn Pinsel lagen über den Tisch verstreut. Und natürlich mehrere Packungen ihrer Asiennudeln, an denen sie ständig herumknabbert. Ich schob ein Blatt beiseite, auf das sie einen wackeligen Kreis gemalt und ihn mit einem dicken roten Kreuz durchgestrichen hatte.

»Was sollen wir malen? Wahlplakate?«, fragte ich.

»Schön wär’s«, sagte Ella. »Da würde ich einfach schreiben: Wählt mich und ihr werdet’s bestimmt bereuen.« Sie kicherte. »Nein, sie will ein Selbstporträt. Und ich hatte so gehofft, sie lässt uns gruselige Masken für Halloween machen.«

Frau Frisch, die gerade hinter unserem Tisch vorbeiging, sagte: »Findet ihr nicht, dass ihr schon etwas zu alt seid, um wildfremden Leuten ein paar Bonbons abzuschwatzen?«

»Nein!«, riefen ein paar, und Robert brüllte »Süßes, sonst Saures!« und betätigte wie wild seine Luftpumpe.

»Schon gut, schon gut, ich hab verstanden«, lachte Frau Frisch.

Ich mag sie wirklich gern, sie hat immer gute Laune, aber Kunstlehrer zu sein macht sicher auch mehr Spaß, als Deutsch zu unterrichten oder Mathe …

Ella holte einen Taschenspiegel aus der Mappe und betrachtete sich prüfend, wobei sie schielte und den Mund verzog. »Ich würde am liebsten meine Nase weglassen«, sagte sie. »Erstens sieht sie ulkig aus, und zweitens hab ich keine Ahnung, wie man eine Nase malt.«

»Ich finde deine Nase nicht ulkig«, sagte ich und tauchte den Pinsel ein.

»Ist sie aber.« Ella tippte sich an die Nasenspitze. »Dieser blöde Knubbel.«

Ihre Nase ist wirklich etwas knubbelig. Ella ist auch sonst nicht besonders hübsch. Nicht so wie Jasmin zum Beispiel. Die sieht aus wie eines der Models in diesen Magazinen, die Mädchen immer lesen. Lange blonde Haare, kurzer Rock und so viel von diesem klebrigen Glanzzeug auf den Lippen, dass ich Angst hätte, beim Küssen an ihr kleben zu bleiben. Ich wäre nie auf die Idee gekommen, mich neben Jasmin zu setzen.

Vielleicht ist sie ja in Wirklichkeit ganz nett, aber meistens hängt sie mit den anderen Mädchen rum und jedes Mal, wenn man an ihnen vorbeigeht, brechen sie in gackerndes Gelächter aus. Das kann einen ganz schön nervös machen, weil man nie weiß, ob sie das nur tun, um einen zu ärgern, oder ob man vielleicht vergessen hat, sich im Klo die Hose zuzumachen.

Ella ist anders, sie kichert zwar auch viel, aber meistens kann man ganz normal mit ihr reden. Sie zum Beispiel nach irgendwelchen Hausaufgaben fragen, ohne dass sie gleich einen Lachkrampf bekommt.

Aber das Nasenproblem war echt nicht einfach zu lösen, auch nicht für mich, obwohl meine Nase keinen Knubbel hat.

»Du musst mit Schatten arbeiten, Felix«, sagte Frau Frisch und beugte sich über mein Blatt. »Die Teile, die du hervorheben willst, tuschst du heller, die anderen dunkler.«

Sie roch nach Duschgel und Pfefferminzbonbon.

Ich schmierte Deckweiß auf den Pinsel, zog einen weißen Strich für den Nasenrücken und mischte etwas Grau für die Nasenflügel.

»Das sieht aus, als hättest du was im Gesicht«, sagte Ella. »Einen Nachtfalter.«

Mir fiel das Bild ein, das bei meinem Kieferorthopäden im Wartezimmer hängt. Man sieht einen Kopf mit einem steifen Hut und mitten im Gesicht klebt ein grüner Apfel.

Bei diesem Bild muss ich immer an meinen Vater denken, weiß auch nicht, warum. Aber immerhin hatte ich so die Lösung für das Problem mit der Nase gefunden. Zwei Fühler hier, ein paar Kringel da – und in meinem Gesicht saß ein großer, bunter Schmetterling.

»Der ist da gerade gelandet«, sagte ich.

»Stark«, sagte Ella. »Warum ist mir das nicht eingefallen?«

»Mal dir doch ’ne Kartoffel ins Gesicht!«, rief Mario von hinten. »Den Unterschied merkt keiner.«

»Mit Kartoffeln kann man wenigstens was Vernünftiges anfangen«, gab Ella ungerührt zurück. »Was man von dir ja nicht behaupten kann.«

Ich bewunderte sie für ihre Schlagfertigkeit. Ella fiel immer ein cooler Spruch ein.

Es war wie sonst auch. Mario ließ schwarzen Lakritzsaft aus seinem Mund auf den Tisch tropfen, Robert rollte seine Luftpumpe auf dem Tisch hin und her – er nimmt sie immer mit, wenn er sein Fahrrad abschließt, damit sie ihm keiner klaut –, Dennis boxte Philipp in die Rippen, weil der ihm kein Deckweiß geben wollte. Jasmin und Lara lasen kichernd in einem dieser rosa Glimmerglitzerbücher, in denen es nur um Küssen und Liebe geht, und Daniel und Alexander, die Kapuzen ihrer Sweatshirts tief ins Gesicht gezogen, drückten wie wild die Tasten ihrer Handys. Ein paar wenige malten auch, aber für das, was dabei herauskam, hätte sich jeder Erstklässler zu Tode geschämt.

Frau Frisch hatte es aufgegeben, uns gute Ratschläge zu erteilen, und korrigierte Kunstklausuren.

Ella, die inzwischen als Nasenlöcher zwei dunkle Punkte in ihrem Gesicht platziert hatte, was ihrem Porträt etwas Schweinchenhaftes verlieh, warf ihr einen Blick zu und sagte: »Hoffentlich kriegen wir heute nicht noch Mathe zurück.«

Ich spürte, wie sich an meinem ganzen Körper Gänsehaut bildete. »Glaubst du wirklich?«

Ella winkte ab. »Eigentlich nicht. Schmitti lässt sich doch immer ewig Zeit. Aber es wäre typisch für sie, uns die Ferien zu vermiesen.«

Schmitti! Das war ein viel zu netter Spitzname für diesen Drachen. Frau Schmitt-Gössenwein hatte mir in der letzten Mathematikarbeit eine Fünf plus verpasst. Fünf plus! Das sagt schon alles.

Mein Vater hatte natürlich getobt. »Das haben wir doch alles geübt! Du hast es gekonnt! Erklär mir das bitte!«

Ich konnte es ihm nicht erklären. Dabei ist es in Mathe immer das Gleiche. Zuversichtlich fange ich mit der ersten Aufgabe an und dann hakt es irgendwo. Ich fühle genau, dass ich mich verrechnet haben muss, aber ich rechne trotzdem weiter, bis hin zu einem Ergebnis, das unmöglich richtig sein kann. Dann beginne ich von vorn, höre mittendrin auf, denn da sind ja noch die anderen Aufgaben, und spätestens an diesem Punkt überfällt mich jedes Mal Panik, und dann … dann geht nichts mehr.

»Mach zuerst die Aufgaben, die leicht sind, und danach beginnst du mit den schweren«, hatte mein Vater mir geraten. Aber bei Frau Schmitt-Gössenwein gab es keine leichten Aufgaben. Die Mathematiklehrerin an meiner alten Schule hatte mir immer noch Punkte für den richtigen Rechenweg gegeben, auch wenn das Ergebnis falsch war. Frau Schmitt-Gössenwein aber war wie Granit. »In der Mathematik gibt es kein Wischiwaschi«, pflegte sie zu sagen. »Da gibt es nur richtig oder falsch.«

Ich hasste sie!

Ella musste mir meine düsteren Gedanken angesehen haben. »In vier Stunden denkst du nicht mehr daran. Dann sind Ferien. Fahrt ihr weg?«

»Nein«, sagte ich. »Meine Mutter hat zu viel zu tun.«

 

In der Pause stand ich nicht mit Ella zusammen, da blieben Jungs und Mädchen schön säuberlich getrennt. Mitten auf dem Hof stand eine Eiche, die angeblich von Kaiser Wilhelm höchstpersönlich gepflanzt worden war, obwohl er doch einen verkrüppelten Arm gehabt hatte. Im Zimmer des Direktors hängt eine Fotografie in einem protzigen Rahmen, auf der man den Kaiser mit seinem ulkigen Puschelhelm sieht, wie er mit ernstem Gesicht neben der Eiche steht, die damals noch ganz klein war.

Auf dieses Bild hatte Doktor Klingbeil gezeigt, als ich nach den Ferien mein Aufnahmegespräch hatte. »Wie du siehst, mein Junge, hat unsere Schule eine lange Tradition. Generationen bedeutender Männer …« Mit einem Blick auf meine Mutter unterbrach er sich. »Und später natürlich auch bedeutender Frauen, aber unser Gymnasium war ursprünglich eine reine Jungenschule, sind von hier aus ins Leben getreten und haben den Ruf unserer Anstalt in alle Welt getragen …« Es ging noch ewig so weiter. Dafür sahen die Schüler, die mir an meinem ersten Tag über den Weg liefen, überhaupt nicht bedeutend aus, sondern ganz normal. Aber ich gebe zu, dass mir ziemlich mulmig war, als ich meine neue Klasse betrat. Zweiunddreißig fremde Gesichter. Mario fiel mir gleich auf, weil er mir den Stinkefinger zeigte. Und Robert mit seiner Luftpumpe. Und dann Ella, aber nur, weil neben ihr ein Platz frei war. Und weil sie die Einzige gewesen war, die mich angelächelt hatte.

 

Jetzt setzte ich mich auf das Mäuerchen, das sich um die kaiserliche Eiche zog, und packte mein Schulbrot aus. Die Scheiben waren viel zu dick. Typisch für meine Mutter. Sie steht mit jeder Art von Messer auf Kriegsfuß. Die Schulbrote meines Vaters sind so akkurat geschnitten wie mit einer Maschine. Aber egal, wer mir die Brote gemacht hatte, sie schmeckten immer gut. Meine Mutter steckte mir jedes Mal noch was Süßes dazu, mein Vater einen Apfel oder eine Mandarine.

Noch vier Stunden. Auf Englisch und Französisch freute ich mich sogar, dann kam Deutsch, das war nur langweilig, und zu schlechter Letzt: Mathe. Wenn ich das überstanden hatte, gab’s zur Belohnung eine Woche Freiheit!

Ich sah hoch zum Glockenturm. Wir hatten ihn einmal aus dem Kopf zeichnen müssen und keiner hatte es geschafft. Der Turm war rund, und statt in einer Spitze endete er in einer Plattform mit einem Geländer drum herum. Ein sehr niedriges Geländer. Es ging einem höchstens bis zum Oberschenkel. Mir wurde allein bei der Vorstellung, da oben zu stehen, schwindlig. Ich habe Höhenangst, schaffe es kaum, auf eine Leiter zu steigen. Aber auf den Turm durfte sowieso niemand. Die Uhren – vier insgesamt – saßen an vorspringenden Giebeln unterhalb des Geländers. Verbunden wurden sie durch einen umlaufenden Gang mit einer Balustrade aus steinernen Säulen. Der Turm war das Erste, was ich von meiner neuen Schule gesehen hatte. Als ich mit meiner Mutter in den Sommerferien Wohnungen angeschaut hatte, war ihr vom Balkon einer schönen, aber natürlich viel zu teuren Wohnung der Turm aufgefallen, der über das Meer von Dächern ragte. »Was ist das denn für ein Gebäude?«, hatte sie den Vermieter gefragt.

»Das Kaiser-Wilhelm-Gymnasium«, hatte er gesagt und stolz hinzugefügt: »Mein Ältester hat da Abitur gemacht.«

Mir war beim Anblick des Turms irgendwie ganz schwummrig geworden. Er hatte so etwas Trutziges, Abweisendes. Der Rest war auch nicht viel besser. Selbst jetzt, nach fast drei Monaten, jagte mir das Schulgebäude immer noch Angst ein. Auf drei Seiten umschloss es den Hof. Im rechten Flügel befand sich die Aula, im linken die Turnhalle. Es gab zwei Eingänge, beide waren von Säulen flankiert wie bei einem Schloss. Vor dem Physik- und dem Chemieraum gab es schmiedeeiserne Balkone, die wir aber nur im Notfall betreten durften, wenn zum Beispiel mal ein Experiment danebenging und giftige Dämpfe entstanden. Im Innern der Schule Gänge, Treppen und wieder Gänge. Alles aus grauem Stein. Eines Morgens, als ich mal wieder etwas spät dran gewesen war, hatte ich den Erdkunderaum nicht gleich gefunden. Ich lief treppauf, treppab. Meine Schritte hallten, und ich fühlte mich wie in einem dieser Träume, wo die Beine wie Blei werden und man nicht einen Zentimeter vom Fleck kommt.

Meine alte Schule war so schön übersichtlich gewesen, hell und luftig, mit viel Holz und Glas. Sogar eine Cafeteria hatte es gegeben, in der man in Freistunden Kuchen oder heiße Würstchen essen konnte. Hier gab es nur einen Kiosk an der Straßenecke, der außer Zeitungen auch Süßigkeiten und Getränke verkaufte.

Ein Schatten fiel auf mein Gesicht. Breitbeinig stand Mario vor mir. »Hey, Hintenrum. Willste dich nützlich machen?«

Ich zögerte. Mario hatte in der Klasse das Sagen, und man wusste nie, was er im Schilde führte.

Ich murmelte irgendwas und biss von meinem Brot ab.

»Holste mir Lakritz? Drüben am Kiosk?«

Mario lebte ausschließlich von Lakritz, von süßem, salzigem, weichem oder hartem Lakritz. Ständig kaute er auf irgendwas Schwarzem herum. Er hielt mir einen Euro hin.

»Fünf Schnecken, zwei Pfeifen und drei Salmis. Kannste dir das merken?«

»Ja, schon, aber wir dürfen in der Pause nicht …«

Mario spuckte einen Batzen schwarzen Schleim genau neben meinen Fuß. »Soll das heißen, du traust dich nicht?«

Er drehte sich um. »Hey, hört mal her, unser kleiner Schisser hat schon wieder die Hosen voll. Sieht nicht nur aus wie ’n Mädchen, is auch eins.« Er fuhr mir mit seinen klebrigen Fingern durch die Haare. »Biste sicher, dass du vorne was dranhast, Vorndran?«

Den Witz hatte er schon mindestens tausendmal gemacht. Ich zog den Kopf weg und sagte: »Okay, ich mach’s.«

 

Ich ging schnell zum Tor, aber nicht so schnell, dass es auffiel. Ich versuchte zu gehen wie jemand, der das Recht hat, in der großen Pause die Schule zu verlassen. Aufsicht hatte glücklicherweise ein Lehrer, der mich nicht kannte und der zudem von zwei Schülern abgelenkt war, die sich prügelnd auf dem Boden wälzten. Was natürlich ebenfalls verboten war. Überhaupt war an dieser Schule außer Atmen und Arbeiten nichts erlaubt. Schnelles Laufen im Schulgebäude ebenso wenig wie lautes Rufen und Schreien. So stand es jedenfalls in der Schulordnung, die mir der Direktor nach seiner langen Rede in die Hand gedrückt hatte. Sie war vier Seiten lang und ehrlich gesagt habe ich nach der ersten Seite nicht weitergelesen. Natürlich wurde geschrien, gerannt und geprügelt. Dagegen konnten Schulordnung und Lehrer wenig ausrichten. Nur wenn Michalski mit Boss auftauchte, verhielten sich alle ruhig.

Michalski war im Moment jedoch nirgendwo zu sehen.

Ich lief über die Straße und vor bis zum Kiosk an der Ecke. »Zwei Schnecken … nein, zwei Pfeifen, fünf Schnecken und drei Salmis«, sagte ich zu dem Verkäufer. Mit einer Zange nahm er das Gewünschte aus Plastikdosen und legte es in ein weißes Tütchen. »Macht einen Euro und fünfzehn Cent.«

Na, toll! Das hatte Mario aber schlau eingefädelt. Ich beschloss, wegen der fünfzehn Cent nichts zu sagen, legte noch fünfundzwanzig dazu und verlangte eine weiße Maus. Für mich.

»Bitte in eine extra Tüte«, sagte ich. Der Kioskbesitzer grummelte zwar, aber er reichte mir zwei Tüten. Ich steckte sie ein und wollte gerade gehen – in wenigen Minuten endete die Pause –, da strich etwas Weiches an meinen Beinen entlang. Eine Katze. Wo war die hergekommen?

Ich mag Katzen und bückte mich, um sie zu streicheln. Sie ließ es erst zu, doch als ich sie am Hals kraulen wollte, machte sie einen Buckel und fauchte leise. Meine Hand zuckte zurück. Die Katze sah mich an. Sie hatte merkwürdige Augen. Sie waren von einem hellen, fast verwaschenen Graublau. Ich hatte schon mal Katzen mit blauen Augen gesehen. Aber die hatten weißes Fell gehabt. Das Fell dieser Katze war schwarz. Schwarz und ein wenig struppig. Mager war sie auch. Wahrscheinlich eine Streunerin. Und dann verschwand sie genauso schnell, wie sie erschienen war.

Ich beeilte mich, in die Schule zurückzukommen.

»Willste auch was?«, fragte Mario auf dem Weg in die Klasse großzügig und hielt mir seine Tüte hin. Er wusste genau, dass ich Lakritz hasse!

»Nein, danke«, sagte ich und biss meiner weißen Maus den Kopf ab.

»Du bist ja brutal!«, lachte er und rollte eine Lakritzschnecke auf.

 

Die nächsten Stunden vergingen wie immer an einem letzten Schultag vor den Ferien. Die Lehrer gaben sich Mühe, so zu tun, als sei ein ganz normaler Tag, dabei waren sie in Gedanken genauso wenig bei der Sache wie wir. Und dann läutete es zur sechsten Stunde. Ich legte mein Mathematikbuch, Heft und Federtasche ordentlich vor mich hin. Die Schmitt-Gössenwein sollte bloß nicht denken, dass ich kurz vor Schluss nachlässig wurde. Es sind nur fünfundvierzig Minuten, sagte ich mir, nur fünfundvierzig Minuten.

Schwungvoll wurde die Tür aufgerissen und sie betrat den Raum. Augenblicklich herrschte Ruhe. Kein Lehrer schaffte das, nur Frau Schmitt-Gössenwein. Vor dieser Frau hatten einfach alle Angst.

Ich hätte nicht sagen können, was so furchterregend an ihr war. Eigentlich sah sie völlig normal aus: dunkle Ponyfrisur, Brille, mittelgroß, mitteldick und wahrscheinlich auch mittelalt. Das einzig Herausragende war ihre Nase. Sie war so lang und spitz, dass man damit hätte Käse schneiden können.

»Buch Seite 45, Aufgabe 6, wer kommt an die Tafel?« Ihre kleinen Augen hinter den dicken Brillengläsern nahmen jeden Einzelnen ins Visier, aber natürlich meldete sich niemand, noch nicht einmal Philipp, der Klassenprimus.

Ich zog die Schultern ein und rutschte halb unter den Tisch. Aber ihr entging die Bewegung nicht; sie sah mich prüfend an, wie ein Metzger, der abwägt, welches Lamm er als Nächstes schlachten wird. Mein ganzer Körper spannte sich, ich starrte auf die Aufgabe im Buch, die Zahlen verschwammen vor meinen Augen.

»Jasmin, komm du nach vorn!«

Erleichtert richtete ich mich wieder auf. Noch achtunddreißig Minuten. In keiner Stunde schleppte sich die Zeit so dahin wie in Mathe.

Jasmin stand an der Tafel. Frau Schmitt-Gössenwein drückte ihr ein Stück Kreide in die Hand.

»Eine Sportartikelfirma verkauft in der ersten Woche 458 Bälle. In der zweiten Woche waren es 15 Prozent mehr als in der ersten. Um wie viel lagen die Verkaufszahlen höher?«, las sie aus dem Buch ab. »Den Rechenweg, bitte.«

Unschlüssig hob Jasmin die Hand. »Also, da muss man so rechnen …« Sie brach ab und sah von hinten sehr verzweifelt aus.

»Was für Bälle?«, rief Robert dazwischen. »Tennisbälle, Golfbälle, Fußbälle? Fußbälle für Eintracht oder Schalke?«

Doch Roberts heldenhafter Versuch, Jasmin, in die er heimlich verknallt war, zu retten, erwies sich als Bumerang.

»Wenn du hier den Klassenclown spielen willst, bitte!«, sagte Frau Schmitt-Gössenwein schneidend. »Aber komm nach vorn, damit wir alle etwas davon haben.«

Jasmin eilte zu ihrem Platz, bevor Schmitti es sich noch anders überlegen konnte.

Mit hochrotem Kopf stand nun Robert an der Tafel, brachte Prozente und Bälle durcheinander, machte Wochen zu Jahren und fuhr sich immer wieder mit kreidigen Fingern durch die Haare. Er war bereits bei drei Millionen fünfhunderttausendachtundsiebzig Bällen angelangt, als Frau Schmitt-Gössenwein ihm mit einem knappen »Setzen!« bedeutete, dass er komplett versagt hatte.

Der Rest der Stunde verlief vergleichsweise harmlos. Wir sollten Aufgaben aus dem Buch rechnen und ich schrieb endlose Zahlenkolonnen in mein Heft.

Frau Schmitt-Gössenwein hatte die unangenehme Angewohnheit, urplötzlich hinter einem aufzutauchen, das Heft wegzureißen, es sich ganz nah an die Augen zu halten, um dann höhnisch aufzulachen. Nie erfuhr man, was nun falsch war oder ob sich ihr Spott nur auf die krakelige Schrift bezog. Doch heute blieb sie hinter dem Pult sitzen und sah aus dem Fenster.

Der Himmel war strahlend blau, die Zeiger der Turmuhr glänzten golden in der Sonne. Ein kaiserliches Blatt segelte vornehm durch die Luft.

Nur noch sechs Minuten trennten mich von der Freiheit. Ferien! Eine Woche lang ausschlafen, lesen und fernsehen, so lange ich wollte. Wenn das Wetter so blieb, würden meine Mutter und ich in den Wald gehen und Pilze suchen. Ich hatte Herrn Günther, dem Biologielehrer, versprochen, eine Krause Glucke mitzubringen. Die kannte der nämlich nur aus dem Buch, und ich weiß eine Stelle, wo dieser Pilz wächst. Er sieht aus wie ein vergammelter Badeschwamm, schmeckt aber köstlich.

Herr Günther war ein unheimlich netter Lehrer, bei dem man nie Angst haben musste, etwas falsch zu machen.

Nur noch vier Minuten.

Frau Schmitt-Gössenwein starrte immer noch aus dem Fenster. Im Profil sah man deutlich ihre Käsemessernase. Was die wohl in den Ferien machen würde? Das erzählte sie natürlich nicht. Frau Wahlbusch, unsere Klassenlehrerin, flog nach Mallorca. Herr Günther wollte mit seinen Kindern wandern und unser Französischlehrer nahm an einem Kochkurs in Paris teil. Die meisten Lehrer sprachen ganz offen über ihre Ferienpläne, nur Frau Schmitt-Gössenwein nicht. Mir konnte egal sein, was sie trieb, Hauptsache, ich musste sie eine Woche lang nicht sehen.

Nur noch zwei Minuten!

»Mario, schlag das Buch wieder auf, es hat noch nicht geklingelt! Damit du dich nicht langweilst, darfst du in den Ferien die Aufgaben 1 bis 15 lösen.«

Ich kritzelte im Zeitlupentempo den Countdown auf die Tischplatte: neun, acht, sieben, sechs, fünf, vier, drei, zwei, eins … Die Klingel schrillte. »Null!«

Nun gab es kein Halten mehr, alles sprang auf, Stühle schurrten über den Boden, Mappen wurden hastig eingepackt.

»Halt, halt! Ich hab noch etwas für euch.«

Frau Schmitt-Gössenwein lächelte unangenehm und öffnete ihre Aktentasche.

»Scheiße. Die Arbeit!«, stöhnte Mario.

»Einigen wenigen wird das die Ferien sicher versüßen, den anderen wohl eher nicht«, sagte sie und teilte die Hefte aus.

Ella schlug ihr Heft auf und zog geräuschvoll Luft durch die Nase. »Gott sei Dank, eine Vier!«

Vorsichtig öffnete ich meins und suchte die römische Ziffer unter der Arbeit. Da war sie. Ein V und ein Strich. »Ich auch!«

Ella warf einen Blick auf meine Arbeit, dann sah sie mich mitleidig an. »Das ist keine Vier, glaub ich.«

Sie hatte recht, der Strich war nicht vor dem V, sondern dahinter. Sechs! Ich konnte es nicht fassen.

»So was Gemeines«, sagte Ella. »Du hast doch sogar drei Aufgaben richtig. Da hättest du ja auch gleich ein leeres Blatt abgeben können.« Sie schwang sich den Ranzen über die Schulter. »Trotzdem schöne Ferien.«

Die Klasse leerte sich in Windeseile. Ich zog meine Jacke an und stopfte Buch und Federtasche in die Mappe. Frau Schmitt-Gössenwein saß am Pult und kritzelte etwas ins Klassenbuch.

Ich musste mit ihr reden. Ich musste sie dazu bringen, mir wenigstens noch eine Fünf zu geben. Mein Herz klopfte wie blöd.

»Frau Schmitt-Gössenwein …«

»Was ist?«, sagte sie, ohne aufzublicken.

»Ich wollte nur wissen … also, was hätte ich denn bekommen, wenn ich gar nichts geschrieben hätte?«

»Gar nichts? Was soll das heißen?« Jetzt sah sie mich an.

»Na ja, wenn ich leere Seiten abgegeben hätte.«

Sie beugte sich wieder über das Klassenbuch. »Eine Sechs natürlich.«

»Aber das ist doch ungerecht!« Mir wurde erst heiß, dann kalt. Hatte ich das wirklich gesagt?

»Das ist doch ungerecht, ich habe drei Aufgaben richtig. Hier!« Ich tippte auf meine Arbeit.

»Kannst du nicht lesen?«, fragte Frau Schmitt-Gössenwein und schraubte die Kappe auf ihren Füllhalter. »Du hast sechs Punkte von zweiunddreißig. Ein Punkt mehr und du hättest eine Fünf minus bekommen.« Sie schlug das Klassenbuch zu. »Willst du mir etwa vorschreiben, wie ich zu zensieren habe?«

Ich schüttelte den Kopf. »Nein, aber ich …« Tränen schossen mir in die Augen. Nicht auch das noch!

Frau Schmitt-Gössenwein erhob sich und griff nach ihrer Aktentasche. »Und vergiss nicht die Unterschrift deiner Eltern. In diesem Fall hätte ich sie gern von beiden.«

»Aber … mein Vater ist nicht … ich meine … er wohnt woanders«, stotterte ich.

Sie warf mir einen Blick zu, als trüge ich ganz allein die Schuld an der Trennung meiner Eltern. »Aha«, sagte sie nur. Dann wandte sie sich zum Gehen. In der Tür drehte sie sich um. »Du kannst zur Abwechslung mal etwas Vernünftiges tun. Wisch die Tafel!«

Ich nahm den stinkenden Lappen und fuhr damit über die Tafel. Es staubte, ich musste husten. Vor Wut war mir ganz schlecht. »Alte Hexe«, murmelte ich. »Böse alte Hexe.«

Plötzlich gruben sich Finger in meinen Ärmel.

»Was hast du gesagt?«, kreischte eine Stimme.

Himmel, wieso war die noch da?

»Du hast alte Hexe gesagt! Ich hab’s genau gehört!«

Ihr Gesicht kam mir jetzt ganz nah, immer riesiger wurden ihre Augen hinter den Brillengläsern, furchtbare Worte fielen aus ihrem Mund: »Tadel … Direktor … Schulverweis!«

Ich dachte daran, was mir meine Mutter einmal gesagt hatte: »Wenn du vor jemandem große Angst hast, musst du ihn dir einfach in Unterhosen vorstellen. Oder lass ihn in Gedanken immer kleiner werden. Du wirst sehen, das funktioniert.«