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Ju Honisch

Die Quellen der Malicorn

Roman

hockebooks

101

Esteron kam auf seinen vier Hufen zu stehen. Panisch versuchte er, sich zu orientieren. Es waren nur Sekunden gewesen, doch diese waren lang.

Er hatte seinen Sprung wahrlich gut platziert. Sein Feind befand sich direkt vor ihm und stieß auch schon mit seinem Horn nach ihm, da hatte Esteron noch kaum begriffen, dass er stand, vier Hufe auf dem Boden, weit entfernt von dem Baum, auf dem er eben noch gehockt hatte.

Das Horn des Feindes stach nach seinem Auge. Blitzschnell. Esteron sprang nach vorne, wusste, noch während er dies tat, dass er zurückweichen hätte sollen, um dem Stoß entgehen. Stattdessen trugen der Schwung seines Sprungs und der Zorn, der in ihm tobte, ihn vorwärts.

Als Nächstes konnte er fast nichts mehr sehen, obgleich die Nacht sternenklar und mondhell war. Auch war er beinahe unfähig, seinen Kopf zu bewegen.

Er wusste, dass das entsetzte Schweigen seiner Feinde gleich ins Gegenteil umschlagen würde. Die Gedanken der Re-Gyurim, die um ihn herumstanden, erreichten ihn wie eine Springflut, die Gefühle von langsamem Begreifen und Hass, der ihm entgegenschlug.

Er sprang jäh zurück, als er begriff, was geschehen war. Mit einem schmatzenden Geräusch fuhr sein Horn aus dem Fleisch Hre-Hyrons, wo es bis zum Anschlag gesteckt hatte. Einhornblut spritzte in hohem Bogen. Hre-Hyrons Blick war weiß vor Entsetzen und Unglauben. Er hatte seinen Sieg vor Augen gehabt. Nun versuchte er zu begreifen, was gerade geschehen war.

Noch stand der Re-Gyurim – reglos. Doch Esteron musste eine Arterie getroffen haben. Er stand ebenso versteinert, fühlte, wie das Blut eines seiner Artgenossen auf ihn spritzte wie Regen. Nun kam Bewegung in die restlichen Re-Gyurim. Esteron stand mitten unter ihnen. Er atmete schwer, konnte nicht von der Zerstörung fortblicken, die er selbst angerichtet hatte, im Schwung, im Affekt, ohne noch genau seinen nächsten Schritt zu planen. Zufall? Schicksal? Glück? Die Macht Talunys’?

Er sollte sich um die anderen Re-Gyurim kümmern. Gleich würden sie ihn angreifen. Doch er konnte sich nicht losreißen von dem Anblick des blutenden Feindes, dessen Beine nun zu zittern begonnen hatten, ein Zittern, das sich alsbald über den ganzen Körper ausbreitete und schließlich sogar die prächtige Mähne des Leithengstes erbeben ließ. Gleich würde er niederstürzen – und mit ihm die Träume, die er sich erlaubt hatte. Ein so stolzer Tyrrfholyn. Stolzer als gut für ihn gewesen war.

Esteron sah aus dem Augenwinkel, wie sich die Re-Gyurim formierten. Tatsächlich waren nur wenige Sekunden verstrichen. Er sollte sich umdrehen und sich dem Kampf stellen. Stattdessen gab er ihnen einen Befehl.

»Singt ihm das Lied. Helft ihm in den Klangnebel!«

Nun war es endgültig still. Im Sternenlicht standen sie da, Tyrrfholyn auf jeder Seite. Eine Stimme begann zu singen. Das war Enygme. Ausgerechnet die Fürstin sang ihrem Feind den Gesang der Erlösung.

Während die Re-Gyurim noch zauderten, stürzten nun die Uruschge vor. Vielleicht hatte der Geruch des Blutes sie aus ihrer Lethargie gerissen? Mit gesenkten Hörnern preschten die Wasserpferde aus dem Hintergrund heran. Ihr Eingreifen brach den Bann, der über den Re-Gyurim lag. Esteron sprang herum, sah sich einer unbesiegbaren Übermacht von Re-Gyurim und Uruschge gegenüber.

»Tyrrfholyn! Helft eurem Fürsten!«, rief Enygme, die ihr Lied jäh unterbrochen hatte, als sie ihren Liebsten in einer so ausweglosen Situation sah. Esteron blickte sie an. Einen langen Moment fingen sich ihre Blicke. Liebe lag darin.

Dann raste einer der Uruschge auf ihn zu, die langen Doppelhörner gesenkt. Nach ihm folgten weitere. Von der Seite konnte Esteron Re-Gyurim ausmachen, die ebenfalls auf ihn zukamen.

Schreie durchschnitten die Nacht. Esteron machte sich bereit, sich all den Feinden zu stellen und sie zu bekämpfen, so lange es ging. Die Übermacht war gewaltig. Pfeile flogen sirrend durch die Luft.

Pfeile? Wer schoss Pfeile?

Der Uruschge vor ihm warf sich herum, noch bevor er Esteron vollends erreicht hatte. Esteron sah, dass ihm ein ganzer Strauß von Pfeilen in der Hinterfront steckte. Nun warfen sich auch andere Uruschge herum, schrien meckernd, versuchten, mit den Mäulern an die Pfeile zu kommen, um sie sich aus dem Fleisch zu ziehen. Fast sprangen sie in Kreisen wie Hunde, die ihrem eigenen Schwanz nachjagten. Eine neue Salve Pfeile kam aus dem Gesträuch.

In die Schlachtformation – falls es je eine gegeben hatte – kam Unordnung. Einige der Re-Gyurim wichen zurück. Andere formierten sich, um die neue Bedrohung mit gemeinsamer Magie zu bekämpfen, wieder andere konzentrierten sich auf Esteron. Er konnte fühlen, wie sie ihre Kräfte bündelten.

»Tyrrfholyn der Re-Gyurim!«, rief er mit donnernder Stimme. »Euer Leithengst stirbt.«

Wie zur Bestätigung knickten Hre-Hyron in diesem Moment die Beine ein, und er fiel zu Boden. Dort lag er zuckend. Sandte zusammenhangslose Worte. Schließlich eines, das einen Sinn ergab: Eryennis.

»Ich biete euch Frieden«, fuhr Esteron fort. »Frieden statt Rache. Vernunft statt Blutvergießen. Dies kann hier enden. In Frieden oder in Krieg. Ihr seid Tyrrfholyn! Erinnert euch dessen, was ihr seid, und nicht dessen, was man euch eingeflüstert hat!«

Es gelang ihm kaum, einem Angriff auszuweichen, der plötzlich von zwei Seiten geführt wurde. Von der einen kam ein Uruschge angedonnert, die Hörner zielten auf Esterons Brustkorb. Von der anderen kam Tenderyn, sein Horn gesenkt. Er sang etwas, das Esteron nicht hören konnte. Doch er fühlte die starke Magie des Schanchoyi, die wie geballtes Feuer auf ihn eindrang.

Magie auf diese Weise einzusetzen, war unerhört. Esteron fiel beinahe in dem Bemühen, gleichzeitig den Hörnern und der Magie auszuweichen. Dann spürte er, was Tenderyn vorhatte. Dieser war mächtig genug, in Esteron die Wandlung auszulösen. Gleich würde er als Mensch dastehen, mitten in einem Kampf zwischen Wesen, die alle viel größer und stärker waren.

Er sperrte sich gegen die Wandlung und erstarrte. Als wäre er gefangen im Zwischenreich der Wesenheiten, fiel er zu Boden – hilflos, Füße, Hufe, Beine, Arme, alles schien durcheinander, und er konnte an keines seiner Gliedmaßen einen vernünftigen Befehl aussenden. Er war gelähmt.

So viel Macht hatte er Tenderyn nicht zugetraut. Sicher auch nicht so viel Arglist. Esteron war erstaunt und auch beschämt. Er hatte den Schanchoyi der Re-Gyurim unterschätzt. Das war in jeder Hinsicht falsch gewesen, nun sogar tödlich.

Eine neue Macht drang in das Schlachtfeld. Perjanu. Seine Magie war sanfter, doch nicht weniger mächtig. War Tenderyns Macht wie gebündeltes Feuer, so wirkte Perjanus wie ein rauschender Ozean. Esteron schlug auf dem Boden auf und betrachtete einen Augenblick lang verdutzt seine Hände. Dann sprang er auf. Schon hatte er seine Hornklinge in der Hand. Keine Zeit, sich noch einmal zu wandeln. Er duckte sich tief und rammte das Horn von halb unten dem herangaloppierenden Uruschge in die Weichteile. Das Ungeheuer bäumte sich vor Schmerz auf, und im gleichen Moment zog Esteron das Horn wieder frei, wirbelte herum, schneller, als er es in Einhornform gekonnt hätte, und stach Tenderyn damit in den Hals.

Das Feuer, das Esteron in seiner Seele gespürt hatte wie einen Schwelbrand, erlosch. Der Schanchoyi ging zu Boden und Esteron sank kurz auf die Knie, drehte sich noch in der Bewegung, wich einem erneuten Angriff aus, als ein weiterer Uruschge auf ihn zugeschossen kam, und ließ diesen seinen geballten Zorn spüren. Ein Blitz fuhr ihm aus der Klinge, und Rauch stieg aus der Haut des Ungeheuers. Es rannte kreischend davon.

Doch es waren zu viele. Gemeinsam hatten die Re-Gyurim und die Uruschge mehr als dreimal so viele Kämpfer wie die erschöpften Ra-Yurich.

Pfeile regneten auf sie nieder. Mit Mühe gelang es Esteron, einen Schutzschirm um sich zu errichten. Den würde er nicht lange aufrechterhalten können, wenn er sich nicht nur darauf konzentrieren, sondern auch noch kämpfen musste.

»Nur auf die Uruschge schießen!«, brüllte nun Perjanu vom Rand des Geschehens seinen Befehl. Menschen. Esteron begriff es mit Verspätung. Es war Perjanu gelungen, die Menschen zu mobilisieren und gegen die Re-Gyurim in die Schlacht zu führen. Das war mutig von ihnen. Und es lehrte Esteron, sie nicht zu unterschätzen.

Nun spürte er, wie sich der Zorn der Re-Gyurim gegen die Menschen richtete. Sie fokussierten ihre Kraft gegen diese unerwarteten Angriffe. Sie warfen sich Gedanken zu: Lähmen! – meinten die einen. Betäuben! – sagten die anderen. Unterwerfen! – kam aus wieder einer Richtung.

Die Menschen hatten dem nichts entgegenzusetzen.

Noch während Esteron dem nächsten Angreifer seine Hornklinge und seine Macht entgegenwarf, versuchte er gleichzeitig, eine Verbindung zu Perjanu aufzubauen. Gemeinsam mussten sie die Menschen schützen, bevor sie den Re-Gyurim unterlagen. Ihre Gedanken spannten eine Brücke, strebten danach, eine Art Schutzwall um die Menschen zu errichten. Die freilich hatten diese spezifische Gefahr so wenig bemerkt, wie sie jetzt den Schutzschild wahrnahmen.

Die Willenskraft und die Wut der Re-Gyurim ergossen sich gegen die Menschen und krachten gegen Perjanus und Esterons Schutzschild. Die Nachtluft zitterte. Die Sterne selbst schienen zu erbeben. Esteron, der sich eben aufgerappelt hatte, sank erneut auf die Knie vor Anstrengung. Schon nutzten zwei weitere Feinde die Gelegenheit, sich auf ihn zu stürzen. Einem rammte er die Hornklinge ins Bein, den anderen versuchte er magisch anzugehen, doch seine Ressourcen waren an den Schutzschild gebunden. Er tat schon mehr, als einem Einhorn möglich war, indem er versuchte, die Menschen zu schützen.

Einer seiner Tyrrfholyn kam ihm zu Hilfe und schaffte es gerade noch, einen Angriff auf ihn abzufangen. Blut spritzte erneut, und der dunkle Boden glitzerte feucht im Sternenlicht.

Plötzlich wurde es heller. Von einer Seite der Lichtung drang unvermutet neues Licht. Dies kam nicht vom Himmel, sondern eher vom Boden. Unheimliche, lange Schatten formten sich um jedes einzelne Wesen, verdoppelten sich, vervielfältigten sich, als gäbe es mehr als eine Lichtquelle. Schon wurde es unübersichtlich, und man konnte im Dunkel kaum noch schnell genug ausmachen, wer Freund und wer Feind war und wer nur Schatten. Alles bewegte sich durcheinander, verwirbelte die Wirklichkeit und die Wahrnehmung eines jeden, der hier kämpfte.

Bewegungen wurden langsamer. Und die seltsame Helligkeit tauchte alles in bläulichen Schein. Was war das nur?

Esteron warf sich flach zu Boden, um einem erneuten Angriff auszuweichen. In Menschengestalt auf dem Boden liegend war er nun leichte Beute. Panisch wandte er den Kopf in Richtung der Lichtquelle, um zu sehen, was oder wer diese neuerliche Entwicklung ausgelöst hatte. Freund oder Feind?

Blaue Gestalten lösten sich scheinbar aus dem Nichts. Nicht allzu weit entfernt konnte Esteron ein Plätschern hören. Dass hier eine Quelle war, war ihm bislang nicht aufgefallen. Gewandet in nichts als blauen Nebeldunst trat ein Schleierwesen nach dem anderen hervor. Das Licht kam von ihrem eigenen Strahlen. Ihre Füße schienen den Boden nicht zu berühren, als sie über ihn hinwegglitten, in zarten, anmutigen Schritten.

Die Kampfhandlungen verebbten. Jeder – Freund, Feind, Tyrrfholyn, Uruschge, Mensch – starrte nur auf das, was da kam.

Enygme war nun neben ihm. Er rappelte sich hoch und lehnte sich an ihren warmen Körper. Er hatte sie wieder. Niemand wusste, für wie lange. Doch er hatte sie wieder. Einen Augenblick lang vergrub er sein Gesicht in ihrer hellen Mähne.

Dann blickte er wieder der seltsamen Erscheinung entgegen. Inzwischen war die Anzahl der flatternden Seidenwesen zu einer kaum noch zählbaren Menge angewachsen. Es schienen immer mehr zu werden, sie füllten den Waldrand und alsbald auch die Lichtung, in der der Kampf zum Stillstand gekommen war. Wie Zugvögel kamen die Wesen in v-förmiger Formation auf ihn zu – und Esteron begriff.

Nymphen. Er konnte sie jetzt klarer sehen, ergötzte sich an ihrer überirdischen Schönheit, die seine aufgewühlte Seele kühlte. Die Erste an der Spitze trat auf Enygme und ihn zu. Einen Augenblick lang fürchtete er, dass einfach nur neue Feinde aufgetaucht waren, ein Heer von ätherischen Wesen, deren magische Fähigkeiten er nicht einmal im Entferntesten einschätzen konnte. Aber er spürte ihre Seelen. Und diese Seelen waren von der Reinheit des Wassers, klar und kühl.

Nun verneigten sich die Wesen vor ihnen, bevor die Erste zu sprechen anhub:

»Frei sind wir, wieder hier, bringen dir heute hier, was dir gefehlt in deiner Welt.« Ihre Stimme war wie Windgesäusel in den Blättern.

Esteron versuchte, alles gleichzeitig wahrzunehmen und war überwältigt von der Mannigfaltigkeit der Eindrücke. Die blauen Wesen, die vor ihm standen, und noch mehr von ihnen, die die Lichtung langsam umkreisten wie ein blau schimmernder Fackelzug. Uruschge, die panisch davonstoben und im Dunkel der Nacht verschwanden. Nymphen, die in ihren Händen blaue Steine hielten, so wie den, der in Esterons Diadem verarbeitet war. Wo die blauen Steine noch einen Uruschge berührten, zerfiel der zu blauem Sternenstaub, der sich in den Nachthimmel hob wie umgekehrter Regen.

Esteron zog das Krönchen aus seinem Hemd, nicht sicher, ob das die richtige Reaktion war. Die vorderste Nymphe stand auf, nahm ihm die Krone aus den Händen und setzte sie ihm auf. Dann verneigte sie sich erneut.

»Hra-Esteron. Der Sieg ist dein, das Land ist dein, so soll es sein.«

Alle Tyrrfholyn neigten ihre Hörner gen Boden, Ra-Yurich und Re-Gyurim ohne Unterschied.

»Hrya-Enygme. Verschluckt von der Flut, berührt von der Glut, gerettet durch Lieder. Der Retter kommt wieder.«

Die Reihen der Nymphen öffneten sich, und aus der Dunkelheit trat Kanura, neben ihm ein rothaariges Mädchen. Sie waren beide tropfnass. Sie kamen durch die Gasse von blauen Wesen auf Esteron und Enygme zu. Das Mädchen musste Irenes Tochter sein. Sie sah krank aus, war blutverschmiert und unsicher auf den Beinen. Kanura stützte sie. Sie hatte sich dicht an ihn geschmiegt.

Sowohl Enygme als auch Esteron hielten an sich, nicht einfach den beiden entgegenzurennen. Die Nymphen hatten diesen Augenblick zu einer hohen Zeremonie gemacht.

»Kanura!«, flüsterte Enygme.

»Una!«, sagte Esteron, der nicht wollte, dass das Menschenmädchen sich nicht willkommen fühlte.

Weitere Nymphen traten hinzu und auch sie waren nicht allein.

»Irene!«, flüsterte Esteron.

102

Ein Prinzessinnenkleid. Es sah aus, als wäre es aus Regenbogen gesponnen, schimmerte changierend hell auf einem Hintergrund von Gewitterblau. Das Dekolleté war tief, und doch versteckte eine Zierborte der filigransten Spitze, die Una je gesehen hatte, geradezu zärtlich das, was sonst schon fast zu nackt gewesen wäre. Die Ärmel schlossen mit der gleichen Klöppelarbeit ab. Nach hinten verlängerte sich der weit ausladende Rockteil zur Schleppe. Das Kleid war ein Kunstwerk, ersonnen von Traumwerkern. Man hatte es für Una kürzer machen müssen, denn es war ursprünglich nicht für eine kleine Menschenfrau gedacht gewesen.

Una, die sonst hauptsächlich Jeans, T-Shirt und vielleicht noch einen Hoodie trug, wusste nicht, ob sie das prächtige, voluminöse Gewand an sich schön oder vielleicht doch ein ganz klein wenig lächerlich finden sollte. Oder die Edelsteine im Haar. Oder die goldenen Sandalen. Aber irgendwie fand sie sich dann doch hübsch. Sie stand allein vor dem Spiegel.

»Sissi!«, flüsterte sie und dann: »Franzl!« Sie kicherte.

Alles für die Zeremonie. Die Friedensfeier.

Die letzten Tage waren so voller Eindrücke und Geschehnisse gewesen, dass ihr manchmal schwindelig wurde. Sie verstand längst nicht alles, griff nach vagen Fakten wie nach Strohhalmen, versuchte sich daran festzuhalten. Die Erleichterung über ihre Rettung und die ihrer Mutter wich bisweilen einer gewissen fiebrigen Unruhe, die sie nicht näher ergründen wollte. Posttraumatisches Irgendwas vermutlich. Das würde vorbeigehen. Bestimmt würde es das. Alles war gut.

Die Schlacht war vorüber. Der Krieg beendet. Man hatte sich in den Armen gelegen. Im Sturm großer Gefühle hatte sich Una, wie alle anderen, von Begeisterung und Liebe überwältigen lassen und war in diesen Emotionen aufgegangen, in dem Glück, das alle empfanden, in der Zuneigung, die sie umfing. Nichts hatte sie je so sehr berührt, vielleicht nicht einmal der Tod, dem sie so knapp entronnen war.

Dann wieder dachte sie an dieses knappe Entrinnen, konnte die Erinnerung daran nicht so ohne Weiteres abstellen, war doch der Untergang zu nah gewesen. Aber die Geborgenheit, die sie so ungeheuer sanft eingehüllt hatte, fing sie immer wieder auf wie ein Wolkenbett.

Friede. Freiheit. Heilung. Ein Ende der Angst. Und Liebe. So viel Liebe.

Gemeinsam waren sie nach Kerr-Dywwen zurückgekehrt, das so wunderschön war, wie ein Märchenschloss nur sein konnte. Überall gab es Einhörner, große, kleine, junge, alte, Rappen, Füchse, Schecken, Schimmel. Real waren sie, keine Glitzerchimären und doch prächtig in ihrer ungeheuren Kraft und Würde. Alle mit einem elfenbeinweißen Horn – bis auf eines. Darüber sannen die Schanchoyi immer noch nach. Sie sannen gerne nach und meistens ziemlich ausgiebig. Deshalb waren sie auch noch zu keinem Schluss gekommen, was ein schwarzes Horn zu bedeuten hatte – falls es etwas zu bedeuten hatte.

Manchmal war das alles ein bisschen viel und sie fühlte sich wie in einem Schlauchboot auf hoher See. Sie saß dann nur da und versuchte, all das Erlebte zu begreifen. Es war nicht einfach. Sie schob den lockeren Ärmel ihres Traumkleides nach oben und betrachtete die lange Narbe an ihrem Arm. Den Beweis dafür, was tatsächlich geschehen war. Sie hatte überlebt. Nur manchmal meinte sie, das Gesicht der Malicorn direkt über ihrem eigenen zu sehen. Ihr roter Mund lachte, ihr Kuss war viel zu nah.

Kanura. Er kam zu ihr, und sie liebten sich. Sie waren eins, und das war gut so. Sie verlor sich in seiner Liebe und fand sich dann doch darin wieder. Jede Berührung erfüllte sie immer wieder neu, und Una erfuhr jedes Mal aufs Neue, wie verbunden sie ihm war, als wäre er einen Teil ihres Wesens. »Meine Musik«, nannte er sie bisweilen, und sie flüsterte ihm dann »Mein Prinz« ins Ohr. Denn das war er. Ihr Prinz, und sie umfingen einander mit einer Intensität, die Una bisweilen ebenso atemlos ließ wie die körperliche Liebe, die sie zelebrierten wie einen Ritus der ultimativen Zusammengehörigkeit. Jede Faser ihres Seins vibrierte unter seinen Berührungen, und er tauchte in sie ein wie in Musik.

Dann ging er wieder zu irgendeiner Versammlung der Einhörner oder des Rates, denn nach einem Krieg kam die Politik: die Beratungen, die Aufarbeitung, die Beschlüsse, die Maßnahmen. Sie war kein Ratsmitglied. Sie war kein Einhorn. Sie gehörte auch nicht zu den menschlichen Ratgebern.

Gelegentlich wurde sie hinzugebeten, um ihren Bericht über all das, was geschehen war, abzugeben oder weitere Fragen zu beantworten. Wenn diese Einhörner etwas waren, dann gründlich. Und tiefgründig. Und genau. Und korrekt. Und es geziemte sich sicher nicht, den hehren Rat der Tyrrfholyn Korinthenkacker zu nennen. Also tat sie es nicht. Nicht laut zumindest. Sie hatten ja recht. Sie mussten verstehen, was geschehen war, um zu verhindern, dass es noch einmal passierte. Es war so ungeheuer viel geschehen. Eine ganze Welt hatte sich verändert.

Und niemand wusste, was noch kommen würde.

Die ersten Schanchoyi hatten bereits begonnen, Balladen über die Vorkommnisse zu schreiben. Manchmal suchte der eine oder andere sie auf und bat höflich um Details. Bisweilen kamen auch menschliche Barden. Und manchmal machten sie zusammen Musik.

»Schön siehst du aus!«, erklang die Stimme ihrer Mutter von der hohen Doppeltür her. Irene war ebenfalls in den Gästeräumen der Fürstengemächer von Kerr-Dywwen untergebracht. Auch sie war befragt worden, aber da sie die meiste Zeit an einem unterirdischen Teich gesessen hatte, konnte sie nicht so viel an Information beitragen. Immerhin, die Visionen, die sie in dem schwarzen Gewässer gesehen hatte, waren für unerhört aufschlussreich befunden worden, vor allem die, die das Geschehen jenseits der Berge beschrieben.

»Du aber auch!«, gab Una zurück und betrachtete ihre Mutter, die in einem metallisch irisierenden Gewand dastand und darin durchaus fürstlich wirkte. So ganz anders als sonst. Das Kleid war etwas schlichter gehalten als Unas Sissi-Kleid, gerade geschnitten, weniger dekolletiert, durchwirkt mit Silberfäden, deren Pendant sich in ihrem Haarschmuck wiederfand, der Irenes Hennahaare zu einem Kunstwerk in Rot und Silber auftürmte.

Ihre Mutter drehte sich um sich selbst und lächelte. Dann seufzte sie leise. Sie war überglücklich gewesen, Una lebend wiederzusehen, auch wenn ihre Tochter geschwächt und abgekämpft gewirkt hatte. An diesem Glücksgefühl hielten sie sich beide fest. Es war wie der Fels in der Brandung der Emotionen.

Una verstand Irenes Dilemma. Es war ihr nicht leicht gefallen, sich vorzustellen, dass ihre Mutter eine Affäre mit dem Fürsten gehabt hatte. Nicht, dass der Fürst nicht ein toller Hengst war. Das war er natürlich. Ein toller Hengst und eben ein Fürst. Und ihre Mutter war schließlich nur ihre Mutter. Die sexuellen Bedürfnisse oder Liebesabenteuer von Eltern waren etwas, über das Una noch nie wirklich hatte nachdenken wollen. Als ihr Vater plötzlich eine andere Frau liebte, hatte sie absolut nichts darüber wissen wollen, hatte den Gedanken einfach nur grässlich gefunden. Nun liebte ihre Mutter Kanuras – verheirateten – Vater. Das war irgendwie schwierig.

Sie setzten sich nebeneinander auf das riesige Bett, das vor Kurzem eine menschliche Bedienstete gemacht hatte. Eine Weile schwiegen sie.

»Tut es eigentlich weh?«, fragte Una schließlich. Den Mut dazu hätte sie längst aufbringen sollen.

Irene zuckte mit den Schultern und lachte dann. Sie schüttelte den Kopf.

»Ich habe immer gewusst, dass er mir nicht gehört. Sein Herz ist groß genug, mehr als ein Wesen zu lieben, ohne ein anderes dafür zu vernachlässigen. Die Fürstin hat noch nicht mal was dagegen. Sie hat eine Art mildes Verständnis für unsere unbedeutende Liebe, das alles leichter machen sollte.«

Una blickte ein wenig skeptisch. »Und ist es leichter?«

Irene zog eine kleine Grimasse und grinste schuldbewusst. Der Gesichtsausdruck ließ sie erstaunlich jung aussehen.

»Menschen sind besitzergreifend, Una. Ich weiß nicht, ob wir für die großzügige Weltsicht von Einhörnern geschaffen sind. Wir werden sehen.«

Una nickte. »Die Tyrrfholyn sind … beeindruckend.«

»Und du liebst ihn, deinen Kanura.« Es war keine Frage, sondern eine Feststellung. Una zupfte etwas betreten an ihrem Regenbogenkleid.

»Zu Anfang hatte ich Angst vor ihm. Dann fand ich ihn nervig. Und jetzt … ist er Teil meiner Seele.«

»Und du musst ihn nicht teilen. Noch nicht.«

Una sprang auf, und ihr Kleid rauschte wie Blätter im Wind. »Ich werde ihn niemals teilen«, gab sie trotzig zurück.

»Er ist ein Prinz. Er wird irgendwann Nachkommen zeugen müssen, und mit dir kann er das nicht. Du bist nur … ein Mensch. Irgendwann …«

Una stampfte mit dem Fuß auf. Sie wollte das nicht hören. Weit weg. Es war weit weg. Und man konnte es ignorieren.

Ihre Mutter nickte ihr zu. »Du hast ja recht. Lass uns nicht darüber grübeln. Lass uns den Frieden feiern und das Leben genießen. Wir leben. Wir lieben. Und werden geliebt. Das ist wunderbar, in jedem Sinn des Wortes. Wir haben so viel erlebt. Was immer auch kommt, die Liebe, die wir erfahren haben, ist und bleibt etwas Besonderes.« Sie stand auf und zog das Silberkleid glatt, als würde sie damit die Wogen glätten. »Die Menschen hier keltern einen exzellenten Wein. Gehen wir feiern.«

Die große Doppeltür schwang auf, und Kanura trat in Einhorngestalt ein. Sein schwarzes Horn ragte aus der Silbermähne, in deren einer Strähne Schmuckbänder mit Mondsteinen eingeflochten waren.

Una musste sich immer wieder neu an sein vierbeiniges Aussehen gewöhnen. Sie hatte beinahe verdrängt, dass dies seine wirkliche, ureigene Erscheinungsform war. Solange er ein Mann war, konnte man es fast vergessen. Aber er war mehr als das. Er war prächtig und unglaublich und immer wieder aufs Neue erstaunlich und berückend. Und doch auch fast ein wenig zu viel, so wie er da vor ihr stand.

»Seid ihr fertig?«, fragte er. Mit seinen großen braunen Augen musterte er sie beide anerkennend. »Schön seht ihr aus.« Er trat einige Schritte vor und legte sein weiches Pferdemaul in Unas Hände. Sie streichelte ihn und legte ihre Stirn an seine Nüstern.

»Ich liebe dich«, flüsterte sie.

»Ich dich auch«, flüsterte er zurück. Ein warmes Gefühl von Zugehörigkeit durchdrang sie, floss ihr durch die Adern bis ins Herz. »Hab keine Angst!«

»Ich habe keine … woher weißt du, dass ich Angst habe?«

»Ich spüre deine Seele, meine Bardin. Sie flattert. Aber hab keine Angst. Nicht vor Talunys. Nicht vor der Zukunft. Du bist doch so mutig! Du bist unter Freunden. Menschen und Einhörner – wir alle lieben dich. Und wir achten dich und schätzen dich.« Er hob den großen Kopf vorsichtig von Una fort und wandte sich Irene zu. »Und dich natürlich auch, Irene Friedenssängerin.«

Irene nickte und erhob sich. »Dann gehen wir jetzt zum Fest«, sagte sie und arrangierte ihre silberne Schleppe.

103

Das Fest fand unter freiem Himmel statt, der leuchtend blau und gänzlich regenfrei war. Eine riesige flachstufige Rampe führte hinter dem Hauptgebäude des Schlosses hinunter zu einem mit Blumenbeeten und Ziersträuchern umkränzten Park, der in sanften Halbkreisen zur Yssen hin abfiel, die in einer weiten Biegung dieses Areal umströmte. Die Schönheit des Ortes war atemberaubend. Allein die Blumen waren beeindruckend, angeordnet in aufsteigenden Wellen, die mehr wie zarte, bunte Architektur wirkten als wie Beete. Niedrige Vergissmeinnicht und Tausendschönchen in allen Farben bedeckten den Boden, deren fruchtbare Erde man unter dem dichten Pflanzenbewuchs nur erahnen konnte. Zwischen ihnen wuchsen größere Blumen hervor, von denen Una Lilien und Rittersporn, Rosen und Ziermohn in den unglaublichsten Farben erkannte. Hohe Säulen ragten in unregelmäßigen Abständen aus dem Boden, reliefgeschmückt und voller riesiger Orchideen, die aus ihnen herauswuchsen wie aus Blumenampeln. Exotische Blüten schwangen in einer leichten Brise, die voller Blumenduft war.

Etwas weiter entfernt konnte man die Haine sehen, luftig und offen, voller alter Bäume. Eichen und Linden standen hier, aber auch Ebereschen und in der Nähe des Flusses zarte Birken und Weiden und schließlich gigantische Bäume mit riesigen blauen Fächerblättern, die Una noch nie gesehen hatte.

»Meine Lieben! Lasst uns beginnen«, sagte Hra-Esteron zu Una und Irene. Er war mit Enygme eben auch gekommen und sah von der weiten Flügeltür aus auf die versammelten Einhörner und Menschen hinunter. Die Gäste des Festes standen in bunt herausgeputzten Gruppen umher, blickten neugierig und erwartungsvoll auf die Türen, aus denen die Hauptakteure treten würden. Auf schmalen, hohen Tischen wurden die unterschiedlichsten Leckereien angeboten, mancher Mensch hielt ein Glas in der Hand, manch Einhorn trank von den künstlerisch angeordneten kleinen Brunnentränken. Und wieder andere wandelten sich, um doch lieber ein Glas Saft oder Wein zu nehmen.

Una sog das Bild ein wie ein Kunstwerk. Es schien ihr, als wäre das Leben selbst zu einem barocken Gemälde geworden. Sie hörte Lachen und spürte die Freude, die wie eine Aura die versammelte Menge umgab. Eierkuchen, dachte sie, Friede, Freude und Eierkuchen. Nur, es schien nichts falsch daran, nichts gestellt, nichts gespielt. Es war einfach nur schön.

Konnte es bitte so bleiben? Ein seltsames Kribbeln ließ ihr die Haare im Nacken hochstehen. Nachwirkungen des Erlebten. Sie blickte von ihrer Mutter zu Kanura und von ihm zu Enygme, Esteron und Perjanu, die immer noch am Ausgang verharrten und mit gleicher Freude den farbenfrohen Anblick des versammelten Volkes genossen. Dann traten sie aus dem Gebäude.

Das Fürstenpaar ging vor, der riesige schwarze Hengst und die eher zierliche Stute mit den glitzernden Goldfäden in der Silbermähne. Kanura folgte mit Una und Irene je an einer Seite. Danach kamen die Schanchoyi, allen voran Perjanu, schließlich die menschlichen Würdenträger. Nacheinander schritten sie in würdevoller Prozession nach draußen, während die dort versammelten Einhörner und Menschen ihnen zujubelten.

Una wandte ein wenig betreten den Blick ab.

»Sehr formell«, murmelte Irene leise und zupfte nervös an ihrem Kleid. Una blickte auf ihre Füße, aus Angst, ausgerechnet jetzt darüber zu stolpern.

»Wir mögen prächtige Zeremonien«, erklärte Kanura. »Aber ich glaube, das haben wir ursprünglich von den Menschen gelernt.«

»Man muss die Feste feiern, wie sie fallen«, meinte Irene.

»Wir haben Grund zum Feiern. Frieden. Welch besseren Grund könnte es geben?«, sagte Kanura.

Die Prozession von Fürstenfamilie und Würdenträgern stellte sich oberhalb der Versammelten auf. Una schielte nach dem Fürstenpaar in der Mitte. Sie mochte die beiden. Man konnte gar nicht anders, als sie zu mögen.

»Bewohner Talunys’!«, begann der Fürst, dessen schwarze Mähne prächtig im sanften Wind wehte. »Der Krieg war kurz, dennoch haben wir viel verloren. Denen, die in den Klangnebel gingen, haben wir unsere Lieder gesandt, auf dass sie neu erstehen können, aus dem Sein, das ewig ist. Wir werden ihrer stets gedenken.«

Einen Augenblick war es ganz still.

»Ihr Verlust soll uns lehren«, fuhr nun die Fürstin fort, »zukünftig weiser zu sein und nie nachzulassen in unseren Bemühungen, den Frieden zu wahren – den Frieden zwischen uns, aber auch den Frieden in uns. Denn Frieden ist Leben. Und Krieg bedeutet Tod für die einen und Trauer für die anderen.«

»Auch ist nicht jede Gefahr gebannt«, sprach nun Perjanu mahnend. »Wir wissen nicht, wohin die Uruschge gegangen sind. Wir wissen nur, nicht alle sind zu Sternenstaub geworden. Wir werden alle gemeinsam weiter wachsam sein. Füreinander.«

Wieder herrschte Schweigen. Die Menschen nahmen sich bei den Händen. Die Einhörner rückten näher zusammen.

»Jene, die für und mit uns gekämpft haben, wollen wir heute ehren«, sagte Hra-Esteron. »Und zu allererst möchte ich die mutigen Frauen ehren, die aus einer anderen Welt kamen, um uns zu helfen.«

»Ihr müsst jetzt vortreten!«, flüsterte Kanura Una und Irene zu.

»Äh …«, flüsterte Una zurück.

»Los jetzt!« Er stupste Una sanft an.

Sie traten vor.

»Bardinnen!«, begrüßte Hra-Esteron sie erneut. »Euer Mut und eure Beharrlichkeit haben uns gerettet. Schmerzen und Gefahr habt ihr für uns alle auf euch genommen. Eure Musik hat uns Kraft gegeben. Eure Instrumente sind in den Fluten verschollen.«

Er gab mit seinem Horn ein Zeichen, und zwei Traumwerker traten mit zwei Kästen hervor, die sie vor Una und Irene öffneten. In dem einen lag eine Geige, in dem anderen eine Flöte. Sie sahen etwas anders aus, als die Instrumente, die Una und Irene verloren hatten, doch sie waren kunstvoll verziert und ungeheuer schön.

Nun richtete die Fürstin das Wort an sie: »Nehmt diese Instrumente als Zeichen unserer aller Anerkennung und Dankbarkeit. Seid willkommen in Talunys, Bardinnen. Unsere Liebe ist euch stets gewiss.«

Vorsichtig nahmen Una und Irene ihre Instrumente auf.

»Wir danken euch!«, sagte Irene, während Una noch nach den rechten Worten suchte. »Auch unsere Liebe ist euch gewiss, euch, den Menschen und Tyrrfholyn von Talunys.« Sie verstummte ein wenig abrupt, als versagte sie sich weitere Worte.

»Ja«, fügte Una hinzu. »Vielen Dank. Ich … äh …« Sie brach ab, nahm stattdessen die Flöte an die Lippen und begann zu spielen. Nach einigen Sekunden nahm ihre Mutter die Geige auf und stimmte mit ein, dann begann ein Barde nach dem anderen zu singen. Darauf folgten die Einhörner. Einen Text gab es nicht, nur Klang. Una hatte noch nie ein besseres Instrument gespielt, und Irenes Geige klang mindestens so schön wie eine Stradivari.

Ganz Kerr-Dywwen schwang in der Musik, die einmal zart war, dann wieder kraftvoll, schließlich rhythmisch wurde und gewaltig wie eine Beethoven-Symphonie. Der Klang, die Schwingungen, der Duft der Blumen, die Freude der Anwesenden – alles vermischte sich zu einem großen Ganzen, das wunderbarer nicht sein konnte.

Una sah zu Kanura, doch dessen Blick ging weit zur Yssen hinunter. Er sah besorgt aus, bestürzt geradezu. Sie folgte dem Blick und erkannte die Göttin Macha und ihren Helden. Sie standen am Ufer, als warteten sie auf jemanden.

Unas Blick flog zurück zur Fürstenfamilie. Sie sangen nicht mehr mit. Sie standen schweigend. Die blauen Augen des Fürsten waren weit, und Perjanu scharrte unwillig mit dem Huf.

»Sie kommt, dein Versprechen einzufordern«, flüsterte Esteron seinem Sohn zu. »Was wirst du tun?«

»Was immer sie verlangt«, antwortete Kanura tapfer.

Una spürte sein Entsetzen mehr, als dass sie seinen Gesichtsausdruck lesen konnte. Ihr begannen die Hände zu zittern. Alles ist gut, versuchte sie sich zu sagen. Alles war gut. Alles wird gut werden.

Doch sie glaubte sich nicht.

104

Die Musik verebbte, und eine schmerzhafte Stille trat ein. Alle Blicke wandten sich der Göttin zu. Sie trug ein blutrotes Abendkleid mit einem unglaublichen Dekolleté, ihr Held einen Maßanzug, der Una an James Bond denken ließ. Er schien diesmal kein Schwert zu tragen, aber das ließ ihn nicht friedlicher aussehen. Und dass er etwa waffenlos da stand, glaubte Una keinen Augenblick.

»Macha, Göttin des Krieges«, rief Hra-Esteron. »Dies ist ein Friedensfest. Was willst du hier?«

Die Frau schenkte ihm ein scharfkantiges Lächeln.

»Nur das, was mir zusteht!«, antwortete sie. »Mehr nicht.«

Una fühlte ein schleichendes Grauen in sich hochsteigen. Sie wusste, dass Kanura, um ihr Leben zu retten, einen Schwur getan hatte. Er würde den Preis dafür bezahlen. Sie hatte ihm deswegen Vorhaltungen gemacht, doch er hatte nur in abgewandelter Form wiederholt, was er ihr schon einmal gesagt hatte, als sie ihn gefragt hatte, warum er sein Horn hergegeben hatte: »Weil du sonst schon tot wärst, Una aus der Menschenwelt, die die Herzen von Tyrrfholyn erobert.«

Was mochte Macha von ihm verlangen? Nicht seinen Tod – bitte nicht seinen Tod! Ihr war, als könnte sie kaum atmen, als schnürte ihr etwas die Kehle zu. Bitte, flehte sie in Gedanken, bitte tu ihm nichts. Tu ihm nichts!

»Una und Irene, kommt!«, befahl Macha. »Es geht nach Hause. Ihr gehört in mein Reich – nicht hierher!«

Una glaubte zu Stein zu erstarren. Sie konnte keinen klaren Gedanken fassen. Zurück? Sie wollte nicht in einer anderen Welt sein als der, in der Kanura lebte.

»Nein!«, rief Kanura. »Du hast etwas von mir verlangt. Nicht von ihnen!«

»Und ich verlange von dir, dass du sie gehen lässt, kleiner Prinz Schwarzhorn.«

Una flog zu ihm. Er wandelte sich, nahm sie in die Arme. Was würde er tun? Was würden sie alle tun? So viele Einhörner und Menschen waren hier versammelt. Sie mussten doch etwas tun können!

Doch die Ratlosigkeit hing wie eine Wolke über der Versammlung, die eben noch so fröhlich gewesen war. Manche blickten verständnislos, andere schienen erzürnt. Nicht einer machte Anstalten, auf die beiden ungebetenen Gäste zuzugehen und sie zu vertreiben. Wie erstarrt waren sie alle.

Unas Mutter blickte zu Esteron.

»Müssen wir gehen?«, fragte sie leise. Ihre Stimme war beinahe tonlos in dem Bemühen, sich zusammenzunehmen.

»Wenn Kanura sein Wort halten will«, gab Esteron ebenso angespannt zurück.

»Und wenn er es bricht?«

Ein Raunen ging durch die Anwesenden. Gläser wurden abgestellt, Hände zuckten. Hufe scharrten. Aus der Unentschlossenheit, die eben noch alle umfangen hatte, formierte sich eine erste diffuse Reaktion. Doch noch passierte nichts weiter, als dass die Gruppen zusammenrückten und taxierend die Göttin und den Helden betrachteten, um dann wieder fragend ihre Blicke auf das Fürstenpaar zu lenken.

Nun wandelte sich auch Esteron.

»Wortbruch gegenüber einer Göttin ist eine schwere Entscheidung. Auch wenn es eure Göttin ist, nicht unsere«, sagte er vorsichtig.

Una versuchte zu begreifen. Es würde Folgen haben. Drastische Folgen. Aber für wen? Für Una? Für ihre Mutter? Für Kanura? Oder für ganz Talunys? Der Zorn der Göttin. Einer Göttin aus der Menschenwelt.

»Also, meine Göttin ist sie nicht!«, zischte Una und klammerte sich noch fester an Kanura.

»Sie gehört in eure Welt. Aber sie ist auch hier nicht ohne Macht. Die Integrität der Tyrrfholyn ist die Basis unseres Lebens. Wortbruch hat Konsequenzen.«

Wortbruch hatte immer und überall Konsequenzen. Aber war es ein so schlimmes Verbrechen?

»Welche?«, fragte nun Irene. Sie klang nun fast klinisch professionell in ihrem Bemühen, sachlich zu bleiben.

»Das weiß man nie vorher.« In Esterons Stimme schwang die ganze Bandbreite möglichen Unheils.

Wirre Gefahren schossen Una durch den Kopf: Krieg, Kampf, Tod. Die Malicorn, die nur darauf lauerte, erneut Unfrieden über Talunys zu bringen. Tote Einhörner. Versklavte Menschen. Sie hatte helfen wollen, Menschen zu befreien. Was, wenn sie nun mitschuldig wurde, Menschen zu schaden? Konnte sie damit leben? Und wenn ja, wie würde so ein Leben aussehen – bei Kanura in einem Reich, an dessen zerstörtem Frieden sie schuld wäre?

»Ich übergebe Una nicht der Göttin des Krieges!«, rief Kanura nun trotzig und zog sie beinahe schmerzhaft fest an sich. Mit einem Mal hatte er seinen schwarzen Dolch in der Hand, während er im anderen Arm Una hielt. Die Stille um sie herum wurde wie Eis.

Er würde kämpfen. Er würde sein Wort brechen und gegen eine Göttin kämpfen. Er mochte verlieren. Sie alle würden verlieren. Sie würden untergehen, während Kerr-Dywwen brannte und das Gras sich rot färbte mit den Farben Machas.

Und doch: Er würde für Una in den Kampf ziehen. Und sein Blut würde auf ihrer Seele lasten und das aller anderer Bewohner dieses Reiches.

Ein Schauer durchfuhr sie. Kampf erforderte Mut. Doch was, wenn sie mutiger sein musste als nur zu kämpfen? Sie atmete zitternd ein und legte ihre Hand auf seinen Arm, spürte die Anspannung darin, fühlte seine warme Haut, das Leben in seinem Körper.

»Nein«, sagte sie. »Das tust du nicht. Ich weiß, du würdest uns nicht übergeben. Das musst du nicht. Wir gehen freiwillig mit.« Sie krampfte ihre Finger um sein Handgelenk. »Wir alle haben Talunys nicht gerettet, um es jetzt der Willkür einer allegorischen Gottheit zu opfern.« Es hatte heroisch klingen sollen, aber vielleicht klang es eher ein wenig trotzig.

Una wandte sich um und blickte Macha hoch erhobenen Hauptes an.

»Wann?«, fragte sie.

»Jetzt!«, hieß die Antwort.

»Gleich? Ohne Aufschub?« Nun zitterte Unas Stimme doch, wurde hoch und spitz.

»Sofort.«

»Das ist grausam!«, begehrte Una auf.

»Der Krieg ist nie etwas anderes«, flüsterte Irene. Sie suchte die Augen des Fürsten, sah die Bestürzung darin, fühlte seine Zerrissenheit. Würde auch er für seine menschliche Liebste kämpfen wollen? Oder war es seine Aufgabe, für sein Reich den Frieden zu bewahren, was auch immer es ihn selbst kosten mochte?

Sie wollte nicht wissen, wie er sich entscheiden würde, wollte nicht einmal, dass er sich entscheiden müsste. Liebe war so vieles. Vielleicht bedeutete Liebe jetzt, ihm die Entscheidung abzunehmen.

Liebe konnte so grausam sein wie Krieg.

Sie packte ihre Geige ein und schloss sorgfältig den Kasten, den Blick auf ihr Geschenk gesenkt. Sie traute sich nicht zu, in Esterons blaue Augen zu sehen und dennoch an ihrer Entscheidung festzuhalten. »Una, pack deine Flöte ein und komm.«

Es war, als hätten selbst die Vögel aufgehört zu singen, so still war es. Der Blumenduft, eben noch betörend, hing nun fast drückend und schwer über allem. Der Wind hatte aufgehört zu wehen. Nicht einmal das Wasser konnte man noch rauschen hören.

Zu sechst schritten sie an die Yssen hinunter, Una, Irene, Kanura, Esteron, Enygme und Perjanu. Una versuchte, die Tränen zurückzuhalten. Sie konnte nicht denken; ihr Kopf schwirrte. Tat sie das Richtige? Hatte sie eine Wahl? Sollte sie sich doch lieber weigern, es drauf ankommen lassen?

Aber sie hatten eine Entscheidung getroffen. Eine endgültige Entscheidung, so furchtbar sie auch war. Una mochte nicht noch einmal darüber nachdenken. Jeder Zweifel würde den Schmerz noch unerträglicher machen, jede Unentschlossenheit die Last des Mannes, den sie liebte, ebenso vergrößern wie die Gefahr, in der er sich mit all den Seinen befand.

Zurück. Es war nicht so, dass es ihr leicht gefallen war, auf ihre Welt zu verzichten, als sie geglaubt hatte, es gäbe kein Zurück. Doch auf ihre Liebe zu verzichten war, als würde ihr jemand das Herz bei lebendigem Leibe sezieren. Das Lächeln der Gottheit schnitt wie ein Skalpell.

Atmen, dachte Una. Nicht denken. Atmen.

Im Wasser konnte sie zwei bläuliche Schatten sehen, die wie große Otter unter der Wasseroberfläche hin und her schnellten. Nymphen. Würden die friedfertigen Wasserwesen der Göttin des Krieges wirklich helfen? Oder waren das Uruschge? Die Zerstörer würden besser zu Macha passen. Und vielleicht war es ja gar nicht vorgesehen, dass sie und ihre Mutter ihre Welt lebend erreichten.

Una bekam Angst.

Enygme zog sie und ihre Mutter in ihre Arme. Die Wege sind offen, flüsterte sie direkt in Unas Gedanken. Una war sich sicher, dass das sonst niemand hörte. Aber vielleicht bildete sie es sich auch nur ein.

Esteron hielt sie als Nächster fest, küsste Una wie eine Tochter und Irene wie eine Geliebte. Er ist der Retter der Nymphen – sie sind seine Freunde, erklang seine tiefe Stimme tief in Una, als erbebten ihre Knochen mit dem Schall, der nicht durch die Luft getragen wurde.

Nun stand sie wieder vor Kanura. Er hatte seine Hornklinge fortgesteckt und hielt Una mit beiden Händen, die so stark waren und deren Zärtlichkeit sie nie mehr auf ihrer Haut spüren würde. Seine Augen blickten ihr direkt in die Seele. Sie versuchte, sich jede Farbnuance seiner Iris einzuprägen, jeden Teil seines Gesichts, hoffte, ihn noch einmal lächeln zu sehen. Sie liebte sein Lächeln so sehr, sein jungenhaftes Grinsen. Doch er war ernst. Und der Blick aus seinen Augen war verzweifelt.

Er atmete flatternd. Auch seine Stimme hörte sie tief in sich drin. Sie schwang in ihr wie eine gigantische Glocke, tief und volltönend.

Wir sehen uns wieder! – sagte er. Das schwöre ich.

»Mach nichts Falsches, Prinz Schwarzhorn«, spottete Macha.

»Fehler«, gab Perjanu zurück, »sind dazu da, dass man sie korrigiert.«

Das Wasser der Yssen war nicht allzu kalt, als Una vom Ufer in die Fluten trat. Mit ihren goldenen Sandalen kam Una auf den glitschigen Ufersteinen ins Rutschen. Es ging steil hinunter. Nymphen oder Uruschge? Übergang oder Tod?

Die Hand ihrer Mutter klammerte sich an ihre. Ich habe Angst, wollte Una sagen, biss sich auf die Lippen und sagte es nicht, wollte nicht kläglich jammern. Eben noch hatte man ihren Mut gepriesen. Jetzt wusste sie nicht, ob sie so etwas überhaupt hatte.

»Una!«, sagte Kanura hinter ihr. Die Traurigkeit in seiner Stimme schnitt ihr in die Seele. Sie drehte sich nicht um, wollte nicht, dass er ihre Tränen sah, klammerte sich nur an ihre Flöte.

Dann tauchten die beiden Frauen in die Yssen, das Wasser schlug über ihren Köpfen zusammen und nahm sie mit sich. Etwas fasste nach ihnen, zog sie nach unten, während ihre weiten Kleider in nassen Schleiern um sie wirbelten.

Vielleicht, dachte Una, vielleicht würden sie ja nicht ertrinken. Sie hielt sich an Kanuras Worten fest wie an einer Rettungsleine.

Wir sehen uns wieder. Das schwöre ich.

Glossar

Adreiundfünfzigzwölf:
Schamane der Menschen

Astur:
Esterons Bruder

Dauronas:
Kentaur

Edoryas:
Kanuras Freund

Eryennis:
Vertraute Freundin von Kanura

Esteron (mit Titel Hra-Esteron):
Fürst und Leithengst der Ra-Yurich, Vater von Kanura

Gherit Schwertmacher:
Wächter am Fluss Yssen

Gorn (mit Titel Hre-Gorn):
Leithengst der Re-Hoyhn

Hyron (mit Titel Hre-Hyron):
Leithengst der Re-Gyurim

Irene Merkordt:
Unas Mutter

Jan:
Unas Exfreund

Kanura:
Sohn von Esteron und Enygme, Fürstensohn

Kerr-Dywwen:
Palast der Ra-Yurich

Laerdyn:
Junger Angehöriger der Re-Gyurim

Lara:
Unas ehemalige Freundin, neue Freundin von Jan

Macha:
Keltische Göttin der Pferde und des Krieges; Teil der Dreiung der Morrigan

Mardoryx:
Volk der Einhörner des Nordens

Martin Merkordt:
Unas Vater

Perjanu:
Oberster der Schanchoyi

Peter Buchmeister:
Archivar in Kerr-Dywwen

Protu:
Der allererste Pelzschrat

Ra-Yurich:
Herrscherclan der Einhörner, Fürstengeschlecht

Re-Gyurim:
Adelsclan der Einhörner

Re-Hoyhn:
Adelsclan der Einhörner

Sannen:
Gebirgsfluss

Schanchoyi:
Barden der Tyrrfholyn, Legendenerzähler, Historiker

Ssenyissa:
Eine Quellnymphe

Sto-Nuyamen:
Regierungssitz der Einhörner des Nordens

Talunys:
Welt der Einhörner

Tenderyn:
Schanchoyi; gehört dem Clan der Re-Gyurim an

Torgar:
Anführer der Kentauren

Traumwerker:
Kunsthandwerker, Künstler

Tweillinge:
Geteilte Abkömmlinge von erschaffenen Pelzschraten

Tyrrfholyn:
Volk der Einhörner

Una Merkordt:
Abiturientin, Musikerin aus Deutschland

Yurli:
Erdworg

Weitere Titel von Ju Honisch bei hockebooks

Bisse

17 ungewöhnliche Geschichten

9783957511119

Bisse – diese 17 ungewöhnlichen Geschichten beißen dem Leser jegliches Wohlgefühl aus dem Gemüt. Es sind keine klassischen Gespenstergeschichten, keine triefenden Splatter, doch auch kein lauschiger Kerzenscheingrusel. Das Grauen ist vielmehr ganz nah, im Alltäglichen unter uns oder vielleicht schon unmittelbar hinter uns, vor uns, in uns sogar. Es lauert. Es kann der brave Kollege sein, der einem noch nie so richtig aufgefallen ist, der so nette Arzt oder der lächelnde Traummann von der Kontaktanzeige. Das Normale ist es, das sich sanft und jäh als anormal entpuppt und den Leser frösteln lässt. Böse und gemein sind diese Geschichten. Hinterhältig und fies treiben sie Haken in die Leserseelen, drehen sich um sich selbst und enden stets etwas anders als gedacht. Nichts für Leser mit allzu schwachen Nerven, aber genau das Richtige für Liebhaber gepflegten Grusels und bizarr-phantastischer Ideen.

Die Autorin

Ju Honisch
Ju Honisch © Arne Homborg

Ju Honisch studierte an der Ludwig-Maximilians-Universität (Anglistik und Geschichte). Über einen Magister und zwei Staatsexamina brachte sie ihr Weg ins Verlagsgeschäft und von dort zum professionellen Schreiben: Kurzgeschichten, Romane, Gedichte und Lieder. Ihre fundierten Geschichtskenntnisse ermöglichen ihr, für ihre Romane gut recherchierte historische Kulissen zu wählen. Ihr Humor findet sich in den Helden ihrer Bücher wieder – und manchmal ist dieser Humor ziemlich schwarz.

Für ihren Erstlingsroman Das Obsidianherz erhielt sie 2009 den Deutschen Phantastik Preis in der Kategorie »Bestes Romandebüt«. Für den Roman Schwingen aus Stein wurde ihr 2014 auf der Leipziger Buchmesse der SERAPH für das beste phantastische Buch 2014 verliehen.

1

Kanura spürte kaum den Boden unter seinen Hufen. Er jagte über das sanfte, moosige Gras, über die Hügel, die Bergflanken hinab in die grünen Täler. Und dennoch setzte er jeden Schritt, jeden Tritt bewusst und zielgerichtet. Jeden Sprung. Er spürte die lebende Erde unter sich, fühlte die Verbindung zu ihr.

Sie gab ihm Macht, und die würde er brauchen.

Ihnen allen gab Talunys Nahrung und Macht. Diese, seine Welt war überall, umgab ihn, durchdrang ihn und das gesamte Volk der Tyrrfholyn. Die Einhörner waren Kinder und Herren des Landes gleichermaßen.

Dennoch sprachen die Alten von Krieg. Und sein Freund war tot.

Fast widerwillig stemmte Kanura die Hufe gegen seine eigene Geschwindigkeit, bremste allein mit seiner muskelstrotzenden Stärke und verabschiedete sich vom Wind, der ihm durch die helle Mähne gefahren war wie eine Geliebte, die einem im Übermut die Haare zerzauste. Er drehte den Kopf, senkte sein Horn in die Richtung seines Blickes und ließ es an Informationen einsaugen, was die Augen nicht sahen, die Nüstern nicht rochen und die Ohren nicht hörten.

War da etwas? Er war sich nicht sicher. Aber nicht sicher zu sein, konnte Gefahr bedeuten.

Der Weg war weiter gewesen, als er gedacht hatte. Die sinkende Nachmittagssonne ließ das Wasser im Sonntal silbrig glitzern. Das Flüsschen breitete sich in der Mitte des Tales zu einem kleinen, länglichen See aus. Der Boden in der Nähe des Ufers war sumpfig, und Kanuras Hufe gaben schmatzende Geräusche von sich, als er auf dem üppigen Gras tänzelte.

Brunnen waren vermutlich noch nicht gefährlich, aber Flüsse und Seen mochten schon dem Feind gehören. Wenn die Gerüchte denn stimmten. Wenn sie mehr waren als ein Gruselmärchen, das die Schanchoyi in die Welt gesungen hatten, so wie sie immer aus Vergangenem Lieder und Legenden erschufen.