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Buchinfo

Als Lisa erfährt, dass aus dem verlassenen Herrenhaus ein Waisenhaus werden soll, lässt sie der Gedanke daran nicht mehr los. Ein Haus ohne Eltern - das klingt nach Freiheit! Ehe sie sich‘s versieht, findet sie sich auf der Krankenstation des Waisenhauses wieder. Alles nur wegen einer einzigen Nuss, von der sie lieber die Finger gelassen hätte! Plötzlich will Lisa nur noch nach Hause. Aber sich wieder rausschleichen aus der neuen Welt, ist viel schwerer als hineinzukommen. Denn diese Welt hält mehr für Lisa bereit, als sie jemals für möglich gehalten hätte.

Autorenvita

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© Marcus Höhn

Alexa Hennig von Lange, wurde 1973 geboren und begann bereits mit acht Jahren zu schreiben. 1997 erschien ihr Debütroman Relax, mit dem sie über Nacht zu einer der erfolgreichsten Autorinnen und zur Stimme ihrer Generation wurde. 2002 bekam sie den Deutschen Jugendliteraturpreis. Es folgten zahlreiche Romane für Erwachsene wie für Jugendliche und Kinder, außerdem Erzählungen und Theaterstücke. Alexa Hennig von Lange lebt mit ihrem Mann und ihren Kindern in Berlin.

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Für Johanna,
die auch gerne Schriftstellerin werden möchte.

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Meine Mutter wurde als kleines Mädchen fast entführt. Darum hat sie jetzt Angst, dass mich auch jemand entführen könnte. Was ich persönlich für kompletten Quatsch halte. Warum sollte mich jemand entführen?

Im Gegensatz zu mir war meine Mutter als kleines Mädchen nämlich niedlich. Wie eine Puppe mit feuerroten Haaren, riesigen blauen Augen und ein paar Sommersprossen auf der Stupsnase. Ein süßes, kleines Mädchen, das sogar ich entführt hätte, wenn es irgendwo alleine im Einkaufszentrum rumstehen würde. Meine Mutter sah aus wie ein Wesen vom anderen Stern, wie ein knuffiges Maskottchen, ein Glücksbringer, ein seliger Engel, eine kleine Fee.

Ich hingegen sehe aus wie ein Junge, dessen Eltern ein Hase und ein Schaf sind. Ich habe kurze watteähnliche Haare und große Vorderzähne. Ehrlich! So will kein Mädchen aussehen. Manchmal frage ich mich, ob ich überhaupt Mamas Tochter bin, oder ob sie mich vielleicht entführt hat. Kleiner Scherz. Ich sehe ihr überhaupt nicht ähnlich. Sie hat definitiv keine großen Vorderzähne. Und Papa hat auch keine watteähnlichen Haare. Er hat überhaupt keine Haare, weil die ihm schon alle ausgefallen sind. Bei Papa müssen wir uns also auch keine Sorgen machen, dass er entführt werden könnte. Kleiner Scherz.

Im Übrigen haben wir momentan kein Fitzelchen Geld, weswegen es sich sowieso nicht lohnen würde, einen von uns zu kidnappen, um den Rest von uns zu erpressen. »Wir sind richtig abgebrannt«, sagt Papa mindestens einmal am Tag. Weil wir gerade umgezogen sind. Aus unserer Stadtwohnung, in dieses frisch renovierte Reihenhaus am Stadtrand. Mama und Papa wollten dringend einen Garten mit Goldfischteich und Trampolin für mich. Jetzt habe ich zwar ein Trampolin, aber niemanden, mit dem ich darauf herumhüpfen kann. Obwohl meinen Eltern dieses Wohnviertel vom Immobilienmakler als beliebte Familiengegend angepriesen wurde, vegetieren hier nur über Hundertjährige vor sich hin. Ich wusste gar nicht, dass es so viele alte Menschen in Deutschland gibt. Es ist echt erschreckend. Mit denen will ich lieber nicht auf dem Trampolin herumtollen. Das würden die nicht überleben. Und das ist kein Scherz!

Immer wenn ich – wie jetzt auch – aus meinem neuen Zimmerfenster hinüber zu diesem verlassenen Herrenhaus auf dem grasbewachsenen Hügel hinter den Reihenhäusern gucke, schlurfen irgendwelche uralten Menschen vor unserem Haus entlang. Als wären meine Familie und ich auf dem Alte-Leute-Planeten gelandet.

In der Stadt wohnte meine beste Freundin Alice genau in der Wohnung gegenüber. Ich konnte jederzeit zu ihr rübergehen, ohne dass Mama Panik haben musste, dass ich auf dem Weg über den Hausflur entführt werde. Jetzt ist ein anderes Mädchen in unsere ehemalige Wohnung gezogen: Estelle! Der Name sagt schon alles! Estelle hält sich für unwiderstehlich. Natürlich hat sie sich Alice gleich unter den Nagel gerissen. Die beiden sind inzwischen richtig dicke Freundinnen. Wie das dann praktisch aussieht, darf ich mir jeden Tag in der Schule angucken. In den Pausen laufen sie Hand in Hand über den Hof, teilen sich ihr Schulbrot, schlürfen Apfelsaft aus dem gleichen Trinkpäckchen und flechten sich gegenseitig komplizierte Zöpfe. Alices kaltherzige Erklärung, warum wir jetzt nicht mehr miteinander befreundet sein können, lautet folgendermaßen: »Tja, Lisa! Du hast eben keine langen Haare!«

»Ich kann sie mir ja wachsen lassen«, habe ich ihr angeboten.

Und sie: »Das kannst du vergessen. Wir wissen beide, dass deine Haare dann wie getrocknete Zuckerwatte aussehen. Unmöglich, daraus Zöpfe zu machen.«

Ich frage mich, wie man sich innerhalb kürzester Zeit von einem witzigen Mädchen zu einer blöden Kuh verwandeln kann. Das liegt alles an Estelle, die jetzt in meinem alten Zimmer wohnt und Alice mit ihren Flechtfrisuren um den Verstand bringt. Als gäbe es nichts Wichtigeres auf der Welt als Flechtfrisuren – und Nagellack. Und Lippenstifte. Mit diesem Schmink-Zeugs schlagen sie sich ihre Nachmittage um die Ohren. Alles an Alice und Estelle ist richtig farbenfroh.

Neulich haben sie sich sogar gemeinsam Löcher in ihre Ohren stechen lassen. Bei Alice haben sich die Löcher aber erfreulicherweise entzündet, weswegen ihre Ohrläppchen wie mit Erdbeermarmelade beschmiert aussahen. Das Problem habe ich schon mal nicht.

Weil ich auch an diesem Sonntag nichts zu tun habe, stehe ich – wie gesagt – mal wieder an meinem Zimmerfenster und gucke rüber zu dieser alten Villa auf dem Grashügel. Mit ihren Säulen und der mit Efeu überwucherten Fassade sieht sie wirklich ziemlich herrschaftlich aus. Wie ein kleines Schloss.

»Lisa! Essen ist fertig!«, höre ich meine Mutter rufen. Aber ich kann mich nicht rühren. Mein Lieblingsspiel ist es, meiner Mama nicht zu antworten. Sie wird dann sofort nervös und denkt, dass ich entführt wurde, obwohl sie genau weiß, dass ich mich in meinem Zimmer langweile. Das ist einerseits ziemlich absurd, auf der anderen Seite ist es der einzige Spaß, der mir geblieben ist.

Ich zähle bis zehn. Meine Zimmertür fliegt auf und meine Mutter steht da. Mit leicht empörtem Blick und den von mir gehäkelten Topflappen in Händen.

»Warum antwortest du nicht, wenn ich dich rufe?«, fragt sie atemlos.

»Ich hab dich nicht gehört.« Ich lächle entschuldigend.

»Ich hab mich schon gewundert, wo du bist!«

So läuft das hier jeden Tag mehrfach ab. Ich finde es wirklich witzig, dass Mama so leicht in Angst und Schrecken zu versetzen ist. Aber Papa meint: »Lisa-Schatz, deine Mutter wurde als kleines Mädchen schwer traumatisiert! Fremde Leute haben versucht, sie in ein Auto zu zerren, vermutlich, um sie für viel Geld an ein kinderloses Ehepaar zu verkaufen!« Er meint: »Du solltest ein bisschen Verständnis für Mamas Sorge haben. Schließlich wurden die Entführer nie von der Polizei geschnappt!«

Ich gebe mir ja alle Mühe, Verständnis zu haben! Aber das ist einigermaßen schwer für mich, weil das Trauma meiner Mutter echt heftige Auswirkungen auf MEIN Leben hat.

Ich darf nirgendwo alleine hin. Meine Mutter denkt, die Welt ist voller kinderloser Ehepaare, die sich Kinder klauen lassen! Sie folgt mir wie so ein bekloppter Bodyguard auf Schritt und Tritt, sogar in den Oma-Supermarkt am Ende der Straße! Schon mal ein 11-jähriges Mädchen getroffen, das nicht alleine eine Tüte Milch einkaufen gehen darf?

Meine Mutter sieht mich mit hochgezogenen Augenbrauen an. »Komm bitte, das Essen wird kalt.«

Ich schlurfe hinter ihr her, aus meinem Zimmer, die Treppe runter und setze mich an den gedeckten Sonntagstisch, auf dem drei Teller stehen. Einer für mich, einer für Mama und einer für Papa. Der wäscht sich gerade in der Küche die Hände. Er ist jetzt unter die Gärtner gegangen und gräbt im Garten besagten Goldfischteich aus. Damit ich auch ein paar Haustiere habe. Sehr witzig. Mit Goldfischen kann man ja auch echt richtig gut kuscheln! Aber leider sind das die einzigen Tiere, gegen die ich nicht allergisch bin. Zumindest behauptet Mama, dass ich von Tierhaaren Ausschlag kriege. Genau wie ich von Nüssen angeblich Atemnot kriege. Wieso also sollte man mich entführen? Man hätte nur Ärger mit mir!

Ich quetsche mich auf meinen Stuhl und gucke auf die Schüssel mit den Kartoffeln. Die Soße. Die Möhren mit Erbsen und die knusprigen Schnitzel. Mamas Spezialität.

»Und? Wollen wir heute in den Kletterwald fahren?« Papa wuschelt mir durch die kurzen Locken, als er sich neben mich setzt.

Ich ziehe meinen Kopf weg. »Hey!«

Nur, weil ich im Gegensatz zu ihm noch Haare auf dem Kopf habe, heißt das nicht, dass er die wie das Fell von einem Hund kraulen darf. Überhaupt behandelt er mich wie einen Jungen. Kletterwald! Tz! Aber Mama guckt ganz glücklich. Vermutlich, weil ich da mit tausend Gurten total gesichert von Baum zu Baum schwinge. Jemanden, der so festgegurtet ist, kannst du nicht mal eben so entführen. Das würde zu einem richtigen Gurte-Kuddelmuddel führen.

Um mal vom Thema abzulenken frage ich: »Wer wohnt eigentlich in dem Herrenhaus, das da hinter der Siedlung auf dem Hügel steht?«

Mama und Papa gucken sich erschrocken an. So, als wollten sie checken, wer von beiden mich anlügen will.

Ich frage: »Was?«

Papa sagt: »Das steht momentan wohl noch leer.«

Und Mama meint mit dieser rauen Stimme: »Wir wissen es nicht, mein Schatz.«

Ich gucke meine Eltern scharf an. »Natürlich wisst ihr es.«

»Irgendwelche reichen Leute haben es gekauft.« Mama lächelt.

»Und wann ziehen die da ein?«

Ich kann es kaum abwarten, endlich was zum Gucken zu kriegen. Auf Dauer wird es nämlich öde, ständig dieses leere Haus anzuglotzen. Ich fänd’s toll, wenn mal ein paar Leute zur Tür rein- und rausgehen würden. Vielleicht ziehen ja auch Kinder ein, dann könnte ich mich mit denen anfreunden. Zumindest oberflächlich, so an der Türschwelle, damit Mama mich von meinem Zimmerfenster aus immer im Auge behalten kann.

Meine Eltern zucken wieder mit den Schultern. Schließlich tupft Papa sich den Mund mit der Serviette ab und legt seine Hand auf meine. Die Geste kenne ich auch schon. Von neulich, als mir meine Eltern aus Sicherheitsgründen verboten haben, mit meiner Klasse ins Landschulheim zu fahren. Ich stand kurz davor abzuhauen – ehrlich! Ganz kurz davor!

»Dort werden schon bald eine Menge Kinder einziehen«, sagt Papa mit so einem gewissen Unterton in der Stimme.

»Und was ist daran so schlimm?«

»Sie …« Papa lächelt jetzt richtig breit, als hätte ich irgendwas gewonnen. Aber seine Pupillen bewegen sich ganz schnell und nervös von einer Seite auf die andere, als sei er nicht sicher, ob er mir die Wahrheit sagen darf. »Sie haben keine Eltern mehr.«

»Hä?« Ich gucke zwischen meinen Eltern hin und her. Ich hasse es, die Einzige zu sein, die nichts schnallt. Hätte ich Geschwister, könnten wir uns jetzt gemeinsam voll aufregen, dass Mama und Papa so ein Geheimnis machen. Also sage ich: »Ich denke, die Eltern sind reich!«

Mama lächelt jetzt auch, dabei sieht sie aus, als würde sie gleich losweinen. »Nicht die Eltern sind reich, sondern die Leute, die das Haus für die Kinder gekauft haben.«

Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Klingt total bekloppt. »Leben die Kinder da alleine in dem Haus oder was?«

»Nicht direkt. Mit ihren Erziehern und so.«

Heilige Matschbanane! Was soll das? Kriege ich am Ende, wenn ich das Rätsel gelöst habe, wenigstens irgendeinen Preis? Ich frage: »Kommt da ein Internat rein?«

»Nein.« Mein Vater lächelt noch immer angespannt fröhlich. »Ein Waisenhaus.«

Mama nickt. »Ja, ein Waisenhaus. Für Kinder ohne Eltern.«

»Die haben’s aber gut«, sage ich und Mama starrt mich an, als hätte ich ihr gerade mit meiner Gabel in den Handrücken gestochen.

»Wie meinst du das? Dass sie es gut haben, weil sie keine Eltern mehr haben?«

»Nein, weil sie in so einem tollen Haus leben dürfen.« Papa lächelt weiter übertrieben fröhlich, als würden wir gerade über ein witziges Thema sprechen.

Ich stehe auf und gehe aus dem Zimmer. Ich habe keine Lust mehr, in dieser Stimmung groß zu werden. Ständig geht es nur um »Kinder in Gefahr«. Das kann nicht gesund sein. Da hilft auch kein fröhlicher Ausflug in den Kletterwald.

Ich höre Mama hinter mir rufen: »Lisa! Wohin gehst du?«

»Frische Luft schnappen.«

»Hast du deine Armbanduhr mit eingebautem GPS um?«

»Ja, habe ich!« Was nicht stimmt. Dieses super auffällige, quietschbunte Gummiteil, mit dem ich jederzeit über Satellit geortet werden kann, liegt in meinem Ranzen und wäre so ungefähr der einzige Grund, mich zu entführen. Auf ebay gibt’s dafür bestimmt noch 100 Euro!

Ich ziehe die Haustür auf, klatsche sie hinter mir zu, springe auf mein Rad, an das Mama ebenfalls gerne Peilsender angebracht hätte, und rase die stille Wohnstraße runter, bevor meine Eltern hinter mir herrennen und mich wie ein Entführungsopfer einfangen und wieder nach Hause zurückschleppen.

Als ich jetzt auf das Herrenhaus zustrample, muss ich sagen: Ich stehe auf Waisenhäuser. Denn darin wohnen total viele Kinder, deren Eltern keine Angst mehr um sie haben können. So ein Leben stelle ich mir ziemlich entspannt vor. Ich weiß, so was dürfte ich nicht denken. Weil man als Kind wirklich froh sein sollte, Eltern zu haben. Aber jeder, der in meiner speziellen Lage wäre, würde insgeheim genauso denken.

Die Sonne knallt auf mich herunter, rechts und links am Straßenrand stehen die immer gleichen Einfamilienhäuser mit den Spitzdächern, dem Jägerzaun und den gepflegten Gärten. Es riecht nach frisch gemähtem Rasen und Stillstand. Vor einigen Garagen waschen grauhaarige Opis ihre Autos und ein paar Omis schnippeln an ihren Rosenbüschen herum. Ich grüße freundlich und konzentriere mich dann voll auf das weiße Herrenhaus, auf das ich unaufhaltsam zusteuere. Unerschütterlich thront es vor mir auf dem grasgrünen Hügel, in seinem eigenen Reich. Rund herum stehen hohe Bäume, in denen die Vögel zwitschern.

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Ich fahre den schmalen Sandweg um das Gebäude mit den Säulen herum und lande in einem unglaublichen Garten. Nicht in so einem winzigen, eingezäunten, wie wir jetzt haben, in dem Papa gerade den Goldfischteich ausbuddelt.

Hier wächst alles, wie es will. Und zwar mindestens so üppig wie im Dschungel.

So eine Pracht sieht man eben nur, wenn man mal allein unterwegs ist. Blumen, Schlingpflanzen, lianenartige Gebilde, mit duftenden Blüten verzierte Hecken. Bienen summen, bunte Schmetterlinge flattern und noch weiter hinten plätschert ein See, auf dem ein paar Enten zwischen Seerosen herumpaddeln. Um mich herum zwitschert und weht und blüht es, als sei ich in einer fremden Galaxie gelandet. Ich lasse mein Rad hinter einen Busch fallen und setze mich auf eine der Bänke am See. Eine silbrig blaue Libelle sirrt um meinen Kopf herum, während ich den Enten beim Schwimmen zusehe. Als ich mir einen langen Grashalm um den Finger wickle, tippt mir plötzlich jemand von hinten auf die Schulter. Ich drehe mich um und sehe in das runzelige Gesicht eines alten Mannes mit zerfleddertem Strohhut und blauer Schürze. Er lächelt so breit, als hätte er schon hundert Jahre auf mich gewartet. Dann setzt er sich neben mich und stellt seine Gießkanne ab. Ich schätze, er ist hier der Gärtner.

»Bist du eins von den Kindern?«, fragt er mich mit dieser freundlichen Opa-Stimme.

»Ja«, sage ich, ohne weiter drüber nachzudenken, was er genau meint. Immerhin bin ich ein Kind. Und irgendwie auch eins von allen Kindern.

Er nickt. »Du bist ein bisschen früh. Drüben im Haus ist noch niemand. Abgesehen von den Schwestern auf der Krankenstation und dem Hausmeister. Der Bus mit all deinen neuen Freunden und den Erziehern kommt erst … Sekunde …« Er hebt seinen Arm, der in einem rot-weiß-karierten Hemd steckt, und sieht auf seine uralte Armbanduhr, die bestimmt kein GPS hat. »Der Bus kommt erst in etwa einer Stunde an. Willst du mir solange noch beim Gießen helfen?«

»Klar«, sage ich. Auch wieder ohne nachzudenken. Was spricht dagegen? Außer, dass Mama und Papa nicht wissen, wo ich bin. Ich kann ja nach dem Gießen direkt nach Hause fahren und ihnen von meinem Ausflug erzählen.Vielleicht glauben sie mir dann, dass ich ruhig ab und zu alleine etwas unternehmen kann, ohne dass gleich was schiefläuft.

Der Gärtner steht auf, nimmt seine Gießkanne in die Hand und meint: »Na, dann komm.«

Wir schlendern nebeneinander um den See herum, und ich erzähle ihm, dass ich aus einem weit entlegenen Waisenhaus komme und ganz allein mit dem Zug gefahren bin, in dem ich leider meinen Koffer vergessen habe. Es fühlt sich berauschend an, für einen Moment ein Kind zu sein, das alleine Zug fährt und kein Handy mit eingespeicherter Sicherheitszone hat. Auch wenn ich natürlich weiß, dass Leute anlügen total daneben ist. Aber wenn man es genau nimmt, lüge ich den Gärtner gar nicht an, sondern ich erzähle ihm nur eine abenteuerliche Geschichte mit mir in der Hauptrolle.

Ich seufze: »Als ich noch ein Baby war, sind meine Eltern von Unbekannten entführt worden.«

Der alte Mann sieht mich erschrocken an: »Einfach so?«

Ich nicke betrübt: »Als wir aus dem Supermarkt kamen, fuhr einfach ein großes schwarzes Auto auf den Gehweg, die Türen gingen auf, Männer in schwarzen Anzügen und Sonnenbrillen sprangen heraus, griffen sich meine Eltern und nahmen sie mit sich. Und ich blieb im Kinderwagen einfach so zurück.«

»Und niemand weiß, wo sie jetzt sind?«

Ich schüttle traurig den Kopf. »Leider nicht. Die Polizei hat überall nach ihnen gesucht. Es wird vermutet, dass …«

»Ja?«

Ich gucke ihn traurig an: »Darüber darf ich leider nicht reden.«

»Das ist ja furchtbar!«

Ich nicke. Plötzlich fühlt es sich so an, als sei meine Geschichte wirklich wahr. Als seien meine Eltern tatsächlich entführt worden – für elternlose Kinder. Hahaha! Der alte Mann legt mir mitleidig seine Hand auf die Schulter und weil ich vor lauter Kummer nichts mehr sage, zeigt er auf einen Holzschuppen, der hinter dem See zwischen zwei hohen Bäumen steht, und erklärt: »Da habe ich meine ganzen Gartengeräte drin.«

Als wir den Schuppen erreicht haben, zieht er die knarrende Tür auf und wir treten in diesen Raum ein. Durch die vier kleinen Fenster dringt die Sonne zu uns herein und lässt alles in märchenhaft staubigem Licht erscheinen. Auf einem Regalbord reihen sich Blech-Gießkannen, darüber stehen unterschiedlich große Blumentöpfe, an den Wänden hängen Schaufeln, lehnen Spaten, Rechen und noch andere Geräte, deren Namen ich nicht kenne. Auf dem Boden rollt sich ein langer roter Gartenschlauch.

Der alte Mann stemmt die Hände in die Hüften: »Ich heiße übrigens Lukas. Und wer bist du?«

»Lisa«, sage ich und es kommt mir plötzlich komisch vor, dass ich in diesem Schuppen stehe, der gar nicht weit von meinem Zuhause entfernt ist und doch zu einer anderen Welt gehört.

»Alles klar, Lisa.« Der Gärtner bückt sich ächzend, hebt das Ende des Gartenschlauchs hoch und drückt es mir in die Hand. »Geh damit los, immer weiter, bis zu den riesigen Rhododendren. Das sind die baumhohen Büsche mit den roten Blüten. Wenn du angekommen bist, rufst du ›Wasser marsch!‹ und ich drehe den Hahn auf. Alles klar?«

Ich nicke. »Alles klar.« Ich marschiere los, das Ende des Gartenschlauchs in der Hand, direkt auf die riesigen Gewächse mit den roten Blüten zu. Als ich sie fast erreicht habe, brülle ich: »Wasser marsch!« Das Wasser kommt mit solchem Druck bei mir an, dass ich fast nach hinten umkippe. Ich richte den Schlauch voll auf die Pflanzen.

»Achte darauf, dass sie alle genug zu trinken bekommen.« Lukas steht wieder neben mir. »Es wird heute ziemlich heiß werden.«

Weil ich nichts sage, sondern nur den Wasserschlauch auf die Pflanzen richte, fragt er schließlich. »Ziehst du dich bei solchen Temperaturen immer so warm an?«

»Ja, leider. Meine Ma…«, setze ich an, unterbreche mich dann aber selbst und tue so, als hätte ich mich verschluckt. Nicht gerade unauffällig. Aber ich kann ja schlecht von meiner Mama erzählen, wenn ich gerade noch so getan habe, als wäre sie mit meinem Papa von unbekannten Männern entführt worden. Also huste ich noch ein bisschen herum, Lukas klopft mir auf den Rücken, bis ich dankend die Hand hebe und flüstere: »Meine Mandeln sind gerade etwas entzündet.«

»Ach du liebes bisschen! Im Sommer?!« Lukas sieht mich bedauernd an. »Dann gehen wir am besten gleich zu meiner Frau und sie macht dir einen Salbeitee mit Honig. Der wirkt Wunder.«

Ich lächle dankbar, dabei komme ich langsam in Zeitdruck. Ich muss nach Hause. Mama und Papa haben vielleicht schon die Polizei alarmiert und mich als vermisst gemeldet, weil ich mit meinem knallgelben Tracking-Handy die eingespeicherte Sicherheitszone verlassen habe. Bei der nächstbesten Gelegenheit sollte ich Mama und Papa unauffällig eine Nachricht von meinem Telefon schicken, das schon zum dritten Mal in meiner Hosentasche surrt.

Lukas dreht das Wasser wieder zu, ich lasse mein Rad versteckt im Gebüsch liegen, weil ich ja schließlich von weit her mit dem Zug gekommen bin. Ich laufe neben dem Gärtner den sandigen Weg zum Herrenhaus hinauf. Im Schatten hoher Weiden steht ein einzelnes kleines Haus, das mir bisher nicht aufgefallen ist. Die Butzenfenster sind mit Blumen umrankt, der Rest mit Efeu. Es sieht aus, als wollte es sich regelrecht in den Pflanzen verstecken.

Lukas drückt die Tür auf und am Herd steht eine alte Frau mit silbrigen Locken und freundlichem Gesicht, die in einem riesigen Topf herumrührt. Es duftet köstlich nach Erdbeermarmelade.

»Ich hab eins der Kinder mitgebracht.« Lukas hängt seine Schürze an den Haken an der Tür und zieht sich seine Gummistiefel aus. Ich ziehe meine Turnschuhe aus und lächle schüchtern. Ich nehme an, dass Waisenkinder das so machen.

Lukas’ winzige Frau kommt in ihrem rot-weiß-karierten Kleid auf mich zugewackelt und strahlt mich an. »Das ist aber schön, dass du uns besuchen kommst. Ich heiße Miranda.«

»Und ich Lisa«, flüstere ich. »Meine Mandeln sind leicht entzündet. Dürfte ich mal kurz Ihre Toilette benutzen?«

»Aber sicher, mein Kind.« Miranda führt mich durch einen schmalen Flur, der mit gerahmten Familienfotos tapeziert ist, über bunt gewebte Teppiche und zeigt mir das Bad. »Hier, mein Kind.«

»Danke!« Ich quetsche mich in den engen Raum mit der altrosa Badewanne und dem altrosa Klo und hole mein gelbes Kinder-Tracking-Handy raus. Vier Anrufe von Mama und Papa und drei SMS. »Wo bist du?«

Ich schreibe zurück: »Macht euch keine Sorgen. In einer halben Stunde bin ich zu Hause und erzähle euch, wo ich war.«

So eine Nachricht haben Mama und Papa noch nie von mir gekriegt. Den Macht-euch-keine-Sorgen-Tipp hätte ich vielleicht besser lassen sollen. Der wirkt bestimmt beunruhigend auf sie. Aber egal. Meine Eltern werden nachher die Erfahrung machen, dass ich wohlbehalten zurückkomme – obwohl ich mal kurz allein unterwegs war. Ich meine, es muss doch nicht jedem ständig was Schlimmes passieren. Sage ich mir, ganz in der Nähe eines Waisenhauses, in dem bald ein Haufen Kinder wohnen, die Schlimmes erlebt haben.

Ich drücke die Spülung, damit Lukas und Miranda denken, dass ich auch wirklich auf der Toilette war, klappe den mit rosa Plüsch bezogenen Klodeckel runter und gucke mich kurz im Spiegel über dem kleinen Waschbecken an.

Sieht so ein Waisenkind aus?

Als ich wieder im Wohnzimmer erscheine, stehen auf dem Tisch eine Menge Marmeladengläser und eine Tasse Salbeitee. In meiner Tasche vibriert schon wieder mein Handy. Das sind Mama und Papa. Die drehen vermutlich gerade durch. Und auf dem Sofa sitzt Miranda mit einer dicken grau getigerten Katze auf dem Schoß und neben ihr knackt Lukas ein paar Nüsse. Die beiden sind so klein und rund, dass sie in ihren rot-weiß-karierten Kleidern wie überdimensionierte Sofakissen aussehen. Kleiner Scherz.

Ich schiebe mich auf einen der Stühle und nippe an dem Tee. »Vielen Dank!«

»Willst du solange bei uns warten, bis deine neuen Freunde mit dem Bus angekommen sind?« Lukas steckt sich eine Walnuss in den Mund und kaut. »Dann bringe ich dich und die Marmeladengläser rüber.«

Ich schüttle den Kopf. »Ich glaube, ich warte lieber vorne auf den Stufen. Damit ich auf keinen Fall die Hausführung verpasse.« Ich stelle mir das nämlich wie bei Harry Potter vor. In Hogwarts gab’s auch eine Hausführung für die Neuankömmlinge.

»Das ist eine gute Idee«, sagt Miranda.

Ich komme mir schäbig vor, dass ich nicht aufhöre, vor diesen hilfsbereiten Leuten einen auf Waisenkind zu machen. Auf der anderen Seite wissen sie bestimmt längst, dass ich nur so tue. Um mir eine Freude zu machen, spielen sie mit mir das Spiel: Lisas Eltern wurden entführt und sind spurlos verschwunden.

Mama und Papa würden das nie mit mir spielen. Das liegt natürlich an Mamas krassem Erlebnis in der Vergangenheit. Alles, was wir zu Hause machen, liegt an Mamas krassem Erlebnis in der Vergangenheit. Ich wünschte, wir könnten manchmal so tun, als gäbe es kein krasses Erlebnis in der Vergangenheit. Das würde vieles vereinfachen.

Ich trinke von dem heißen Tee, bis mir der Schweiß auf der Stirn steht, und sage: »Ich setze mich dann mal vorne auf die Stufen.« In meiner Tasche surrt wieder mein Telefon. Meine arme Mama. Bestimmt kann sie gerade vor Sorge nicht mehr klar denken. Das tut mir leid. Ich bin ja schon fast auf dem Weg nach Hause!

»Möchtest du vielleicht auch eine Nuss?«, fragt Lukas. »Sind aus unserem Garten.«

»Warum nicht?!« Angeblich habe ich neben der Hunde- und Katzenhaarallergie ja auch besagte Nussallergie. Aber ich werde jetzt den Beweis antreten, dass nicht jeder aus den Latschen kippt nur weil er eine Nuss isst.

Ich strecke meine Hand aus und Lukas legt zwei Walnusshälften hinein. Mit einer flotten Geste werfe ich sie mir in den Mund und kaue. So schmecken also Nüsse! Seltsam bitter. Ich mache heute Mittag wirklich einige interessante Erfahrungen. Denke ich noch. Dann bekomme ich heftigen Juckreiz auf den Lippen und im Mund. Sogar im Hals. Alles fühlt sich irgendwie so geschwollen an. Und plötzlich bekomme ich keine Luft mehr. Alles dreht sich um mich herum. Ich versuche, mich am Tisch abzustützen. Es wird dunkel im Zimmer. Gleichzeitig sehe ich Tausende Sternchen blinken. Meine Knie geben nach und mein Gesicht landet auf dem Teppich. Rechts und links neben mir krachen die Marmeladengläser zu Boden. Mama und Papa, gleich bin ich tot.

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Ich schlage die Augen auf. Alles um mich herum ist weiß. Bin ich im Himmel? Weil ich eine Nuss gegessen habe? Bitte nicht! Ich drehe meinen Kopf. Neben mir steht eine junge Frau, in weißem Kittel. Sie lächelt. »Da bist du ja wieder.«

»Ja«, sage ich. Auch wenn ich hier noch nie war. In die-sem seltsamen Raum, mit den weißen Vorhängen und den süßen Rehkitz-Bildern an den Wänden. Ich frage: »Wo bin ich?«

»Auf der Krankenstation.«

»Im Waisenhaus?«

Sie nickt fröhlich. »Herzlich willkommen. Die anderen Kinder sind noch gar nicht da und du liegst schon auf unserer Station. Das ist doch mal eine echte Leistung!«

Ich grinse, um ihr nicht die Freude zu nehmen. »Gern geschehen.«

»Du hattest einen heftigen allergischen Schock, den wir mit einer Adrenalinspritze behandeln mussten, damit du wieder Luft bekommst. Deine Atemwege waren komplett angeschwollen. Jetzt ist aber alles wieder gut. Kein Grund zur Beunruhigung.«

Okay, dann sollte ich jetzt wirklich mal los, damit Mama und Papa wissen, dass alles gut ist. Ich schlage die Decke zurück und sage: »Danke! Ich geh dann mal wieder.«

»Wohin?« Die Schwester sieht mich irritiert an.

»Nach Hause.« Ich will mich aufrichten und meine Beine über die Bettkante schwingen.

Doch die Schwester drückt mich zurück. »Mein Schätzchen, dies ist dein Zuhause.«

Ich probiere, mich wieder aufzurichten. Aber sie lässt mich nicht. Diese junge Schwester hat ganz schön Kraft! Also bleibe ich liegen und bettle: »Ich will bitte nach Hause!«

»Schätzchen, es tut mir so leid, aber das kannst du nicht.«

»Natürlich kann ich das. Ich wohne hier gleich um die Ecke. Nur die Straße runter.«

Ich versuche, vernünftig und klar zu klingen.

Die Schwester mit den freundlichen braunen Augen seufzt und setzt sich zu mir auf die Bettkante. »Pass auf: Der Arzt kommt gleich und sieht nach dir. Der allergische Schock scheint dich etwas durcheinandergebracht zu haben.«

»Ich bin nicht durcheinander.«

Ich muss wirklich aufpassen, dass ich nicht wütend werde.

Sie lächelt mich mitleidig an. »Und sobald die Erzieher mit dem Bus angekommen sind, wird einer von ihnen kommen und dir dein neues Zimmer zeigen. Wenn du erst deine Zimmerkameraden kennengelernt hast, wirst du dich bald wie zu Hause fühlen. Versprochen. Als hättest du ganz viele Geschwister.«

Ich könnte jetzt noch hundertmal sagen: ›Ich will nach Hause! Ich wohne hier gleich um die Ecke! Ich bin kein Waisenkind.‹ Aber diese Schwester scheint sich darauf eingeschossen zu haben, dass ich durch den allergischen Schock die Orientierung verloren habe. Es ist meine Schuld, ich habe Lukas und Miranda angelogen und gesagt, dass ich eins der Waisenkinder bin und meine Eltern entführt wurden. Genau das werden sie dieser Schwester gesagt haben, die jetzt brav und gewissenhaft ihrer Pflicht nachgeht. Niemandem ist etwas vorzuwerfen. Nur mir! Ich hätte niemals diese bekloppte Nuss essen dürfen. Niemals diese Geschichte erzählen dürfen. Niemals alleine mit dem Rad losfahren dürfen. Niemals hätte ich denken dürfen, dass das Leben ohne Eltern lustiger ist. Das habe ich jetzt davon! Ich sehe zum Fenster hinüber, vor dem die weißen Vorhänge wehen. Und durch den schmalen Spalt sehe ich, dass die Fenster Gitter haben. Wie im Gefängnis!