»Jetzt können wir feiern. Endlich. Alles.«
Friederike Beaufort ist eine Frau in ihren besten Jahren mit bewegter Vergangenheit. Sie steht kurz davor, ihr Landhaus mit Garten gegen eine seniorengerechte Wohnung in der Stadt einzutauschen. Beim Räumen und Ausmisten des großen Hauses werden Erinnerungen wach: an die wilden siebziger Jahre mit feucht-fröhlichen Studentenfesten und wechselnden Liebhabern; an die Demos der Frauengruppen und die revolutionären feministischen Projekte; aber auch an den Verlust von geliebten Menschen und vor allem an den quälenden Kinderwunsch, der ihr Leben zunehmend beherrschte.
Doch es ist nicht die Zeit, mit dem Schicksal zu hadern und irgendwelchen Gedanken nachzuhängen. Mit dem Umzug lässt Friederike die Vergangenheit endgültig hinter sich und startet selbstbewusst durch in ihre Zukunft, in ein komplett neues Leben.
Herrad Schenk, geboren 1948, hat Wirtschafts- und Sozialwissenschaften in Köln und York (England) studiert und war wissenschaftliche Assistentin am Institut für Sozialpsychologie der Universität Köln. Sie hat zahlreiche Romane und Sachbücher veröffentlicht und lebt als freie Autorin in der Nähe von Freiburg.
Zuletzt erschienen: Für immer Schwestern (it 4391)
Insel Verlag
eBook Insel Verlag Berlin 2016
Der vorliegende Text folgt der 1. Auflage der Ausgabe des insel taschenbuchs 4462.
Originalausgabe
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Plötzlich, ohne Vorwarnung, sehe ich sie draußen vorübergehen, meine beiden Töchter. Ich habe mich mal wieder vertrödelt beim Frühstück, stehe am Fenster, die Kaffeetasse in der Hand, die Stirn an das kühle Glas der Scheibe gelehnt, beobachte sie gierig und hoffe inständig, dass sie nichts davon ahnen.
Zwei junge Frauen Mitte zwanzig: die eine blond, schlank, hochgewachsen, ein bisschen spröde, eckig, kantig – ganz der Vater, denke ich mit Herzklopfen, ganz der Vater! –, führt ihr Fahrrad neben sich; die andere etwas kleiner, dunkel, ein wenig rundlich, den Rucksack lässig an einem Riemen über der linken Schulter, immer in Bewegung, lebhaft gestikulierend. Gerrit, die große Blonde, wirkt ernst, bedächtig, obwohl sie die Jüngere ist. Für die andere, Rayuela, scheint das Leben ein einziges Spiel. Jetzt bleiben sie stehen, nur wenige Meter von meiner Haustür entfernt, einander zugewandt, lachend. Über was? würde ich zu gern wissen. Werde ich nie erfahren. Gerrit lacht verhalten, nur ihre Mimik verrät Belustigung, während Rayuelas ganzer Körper bebt, als sie laut herausplatzt, sich ein wenig auf die Zehenspitzen hebt und ihre Schwester umarmt. Auch sie kommt nach ihrem Vater, der geistreich war, voller Sprachwitz, alles gern ins Komische zog. Die beiden gehen weiter, ich kann ihnen noch eine Weile mit dem Blick folgen, bevor sie um den Gartenzaun verschwinden. Natürlich sind es zwei fremde junge Frauen, die ich nie zuvor gesehen habe.
Aber es waren auch einmal zwei Möglichkeiten zu leben, zwei ganz verschiedene Entwürfe, an denen ich entscheidend beteiligt war. Abschiednehmen ist eine lebenslängliche Aufgabe.
Jetzt gilt es bloß, den Kleiderschrank auszumisten, die oberen vier Fächer. Ich habe besser geschlafen, als ich nach Lage der Dinge erwarten durfte, traumlos, und schon beim Aufwachen stand klar vor mir, was heute zu erledigen ist: aufstehen, duschen, Haare waschen, Mülleimer rausstellen, Frühstück. Mein Arbeitsplan liegt auf dem Küchentisch: Bank (Überweisungen, dringend), Apotheke, Geburtstagskarte an Mia, 17 Uhr Anruf Carsten wegen der Eigentümerversammlung. Außerdem der Kleiderschrank, als wichtigster Punkt.
Lächerlich, um diese bescheidenen Aufgaben so ein Gewese zu machen. Allerdings habe ich gestern für die untere Schrankhälfte mit den Pullovern den ganzen Nachmittag gebraucht. Ausmisten – was für ein Wort! Als ob es sich um schwere Drecksarbeit handele, Schweinekoben, Kuhstall, Pferdemist. Entrümpeln? Entmüllen? Ist aber weder Gerümpel noch Müll, im Gegenteil: luftige leichte Textilien, wenn auch schwer die Vergangenheit daran hängt. Ich ahnte gar nicht, wie viel Unterwäsche ich besitze, Stapel nie oder kaum getragener Teile, hinten in die Ecken des Schranks gedrückt, manche haben noch ein Preisetikett, Tandereizeugs mit Spitzen und Rüschen, das ich kopfschüttelnd zwischen Daumen und Zeigefinger ins Licht hebe. Wann gekauft, für welchen Mann oder welchen Anlass? Ich erinnere mich nicht mehr. Doch das Wort Aufräumen trifft den Sachverhalt nur ungenügend, wenn es darum geht, sich von mindestens zwei Dritteln der Garderobe zu trennen.
Widerwillen, Überdruss, angesichts der in Jahresringen gewachsenen Berge von totem Besitz um mich herum. Zu viel, viel zu viel, von allem zu viel. Geschichte, die mich bedrängt, indem sie meine Gegenwart überwuchert, dazwischen so viel ungelebtes Leben, ungenutzte Möglichkeiten.
Wovon ich zu viel habe (ich lege eine mentale Liste an): Kleider. Bücher. Haushaltskrimskrams. Möbel. Alte Briefschaften, über Jahre gesammelt. Schlecht geschlafene Nächte. Zeit zum Grübeln. Lebensmittel im Kühlschrank, Vorräte in den Regalen. Warum habe ich gestern zwei Schnitzel gekauft, obwohl ich nur eines davon essen kann, und obendrein zwei Paar Würstchen, auf die ich morgen und übermorgen gar keinen Appetit mehr haben werde, so dass sie allmählich vergammeln?
Wovon ich zu wenig habe: Haare auf dem Kopf. Weisheit des Alters. Bereitschaft, loszulassen. Konzentration auf das Notwendige. Kinder. Enkel.
So ist das halt, meint Carsten nachsichtig, als er pünktlich um fünf Uhr anruft. So ist es eben, wenn man von einem Einfamilienhaus in eine Drei-Zimmer-Wohnung umzieht. Er hat es wohl als Zuspruch gemeint. Als ob er sich auch nur annähernd vorstellen könnte, was das bedeutet. Aber er will mich tatsächlich übermorgen zur Eigentümerversammlung begleiten, wirklich nett von ihm.
»Und wenn du morgen noch nichts vorhast, würden wir dich gern zum Abendessen einladen. Damit du mal aus deinem Umzugsstress rauskommst.«
»Gern.« Ich bin dankbar, dass es die beiden gibt, Carsten und Conny.
Niemand ist so allein wie die alternden Frauen in den großzügigen Einfamilienhäusern am Stadtrand, hat Carsten Hilde und mir wieder und wieder gepredigt. Häuser, um die man sie früher beneidete, die ihnen aber inzwischen zu groß geworden sind, weil die anderen sie verlassen haben: die Männer auf und davon oder tot, die erwachsenen Kinder in alle Welt zerstreut. »Passive Wohnraumexpansion« nennt man das, erläuterte Carsten. – Er muss es wissen, als Gerontologe, und nach und nach hat er uns überzeugt.
Niemand hat in Deutschland mehr Quadratmeter Wohnraum pro Kopf als die alleinstehenden Frauen über siebzig, führt er anschließend aus, im Durchschnitt natürlich. Dass ich noch keine siebzig bin, scheint für ihn in diesem Zusammenhang ein unwesentliches Detail. Tragisch für die alten Frauen, sagt er, dass sie diesen Luxus erst in einer Lebensphase erlangen, in der sie ihn nicht mehr genießen können. In der es nur zunehmende Belastung bedeutet, Haus und Garten bei schwindenden Kräften in Ordnung zu halten. Und für was?, fragt Carsten mich, für Kinder und Enkel, die, falls überhaupt, zweimal im Jahr zu Besuch kommen? Willst du wirklich all deine zwangsläufig nachlassende Lebensenergie nur noch auf Putzen, Räumen, Instandhalten richten, ein Hamster im Laufrad, im zunehmenden Bewusstsein, dass dir die Dinge unvermeidlich über den Kopf wachsen, während du schrumpfst? – Drastische Bilder.
Und was wird, fragt er weiter, wenn du wirklich alt bist, nicht mehr Auto fahren und vielleicht auch keine öffentlichen Verkehrsmittel mehr benutzen kannst? Dann sind deine Freunde, soweit sie noch leben, größtenteils ebenfalls zu alt, dich hier draußen zu besuchen. – Carsten ist rhetorisch brillant, seine Argumente leuchten ein.
Man darf es nicht zu lange hinausschieben, meint er. Denn wenn man einmal richtig alt ist, über achtzig oder gar in den Neunzigern, unbeweglich, vielleicht behindert, krank, müde, fürchtet man jede Veränderung und scheut die Last des Umzugs. – Wohl wahr. Denn mir graut ja jetzt schon davor, obwohl ich erst Mitte sechzig bin. Und für Hilde kam der Plan schon zu spät.
Mein Umzug ist in siebeneinhalb Wochen.
Muss man wirklich mehr als drei Paar lange Unterhosen haben? Falls ja, sibirische Kälte einmal vorausgesetzt: Könnte ich mich je überwinden, dieses scheußliche fleischfarbene Teil anzuziehen? Wenn nein: War ich umnachtet, als ich es kaufte? Selbst wenn mich nie jemand darin sieht: Es gibt schließlich so etwas wie Selbstrespekt. Unterröcke, zwei schwarze, ein weißer, ein halber. So was hat man zum letzten Mal vor einem halben Jahrhundert getragen. Man kann sie nicht mal mehr im Hochsommer als Nachthemden verwenden. Einfach nur peinlich, weg damit.
Im Alter, höre ich Carsten sagen, gehört man in die Stadt, muss man mittendrin sein. Alle wichtigen Ziele solltest du auch dann, wenn dir das Gehen einmal schwerfällt, noch fußläufig erreichen können, notfalls mit dem Rollator.
Wenn ich in diesem Tempo weitermache, werde ich niemals fertig und muss zuletzt alles unbesehen in den Container werfen. Wovon ich zu viel habe (Fortschreibung der mentalen Liste): Vergangenheit. Wovon ich logischerweise zu wenig habe: Gegenwart. Von Zukunft gar nicht erst zu reden.
Die roten Wildlederstiefelchen mit dem gekrausten Bund um den Knöchel, mit so hohen spitzen Absätzen, dass ein Waffenschein dafür nötig wäre, sind ein Souvenir aus frühen Erwachsenenjahren. Ich kann meine beiden Töchter vor dem Schlafzimmerspiegel darin herumstöckeln sehen, vielleicht fünf, vielleicht sieben Jahre alt, mit würdigen Mienen führen sie je einen schwarzen, einen weißen Unterrock vor, vorn mit beiden Händen gerafft, die Rückseite gleitet als Schleppe über den Boden. Die roten Wildlederstiefeletten würde ich aufbewahren, wenn ich Enkel hätte, an deren Lust beim Verkleiden ich mich erfreuen könnte. Carsten und Conny haben keine Kinder.
Wie kann es sein, dass ich noch von meiner Mutter geerbte Bettwäsche aufbewahrt habe, schweres, steifes, altes Leinen, grundsolide Vorkriegsware. Ein Jammer, dass wir es kaum jemals benutzten, da wir, als sie starb, schon reichlich eigene Bettwäsche angeschafft hatten, und heute, wo man sich an bügelfreies anschmiegsames Material gewöhnt hat, kann ich mich erst recht nicht dazu entschließen. Dabei ist es nicht totzukriegen, im Gegensatz zu dem fimschigen Bettzeug heutzutage, das schon nach ein paarmal waschen seine anfänglichen Vorzüge verliert. Die alten Laken meiner Mutter hätten prächtige Theaterkulissen für Rayuela und Gerrit abgegeben, zusammengerückte Tische und Stühle in Landschaften aus Bergen und Schluchten verwandelt. Wieder sehe ich die beiden die Köpfe zusammenstecken und flüstern, vor mir auf und ab stolzieren und deklamieren, dann lassen sie sich juchzend auf das breite Bett fallen, sie toben zwischen den Kissen, wälzen sich kichernd, wollen sich schier ausschütten vor Lachen.
Warum sind diese Bilder auf einmal wieder so präsent?
Wie sie im Sandkasten buddeln, Gerrit baut mächtige Burgen mit extensiven Befestigungsanlagen – gegen was ist sie bloß immer auf der Hut? –, und Rayuela, der Luftikus, erfindet verrückte Geschichten dazu. Wie sie miteinander zur Schule gehen, das dunkle und das blonde Kind, so verschieden und verstehen sich doch so gut, Halbschwestern, ein knappes Jahr nur auseinander, der kürzeste mögliche Abstand. Bei Rayuela wechseln verträumte und extravertierte Phasen beängstigend rasch, das Kind ist geltungsbedürftig, dabei so empfindsam, das macht mir Sorge, viel zu leicht zu beeindrucken. Gerrit dagegen ruht von Anfang an stärker in sich, ist viel weniger darauf angewiesen, im Mittelpunkt zu stehen, stundenlang hockt sie in einer Ecke, mit ihren Baukästen oder kniffligen Denksportaufgaben. Intelligent sind sie beide. Ich muss mich nie um ihre Schulaufgaben kümmern. Rayuela schreibt heimlich für Gerrit die Deutschaufsätze, und Gerrit hilft Rayuela durch die Mathearbeiten.
Ich sehe die beiden über den Fußboden krabbeln, kann sie sogar in meinen Armen fühlen, eins rechts, eins links angekuschelt, während ich aus dem großen Bilderbuch vorlese, mein zerfetztes Märchenbuch, alle meine abgenutzten Früher-Bücher. Die Worte raunen. Und dann?, fragen sie immerfort, und dann, Mama, und dann? Ja, wenn man das wüsste. Wenn man das alles damals schon gewusst hätte. Ihre Köpfe fallen schläfrig und schwer gegen meine Schultern. Ich weine.
Ich flüchte aus dem Schlafzimmer, wo der Inhalt des Wäscheschranks auseinandergezerrt teils auf dem Bett, teils auf dem Boden verstreut liegt, und hocke, die Stirn auf die Hand gestützt, zusammengesunken am Küchentisch. Der Rest Kaffee in der Maschine ist kalt, eklig, weg damit. Ich stelle mir vor, dass Rayuela Deutsch und Kunstgeschichte studiert hätte, vielleicht würde sie heute in einem Verlag arbeiten oder als Journalistin. Gerrit wäre Architektin oder Ingenieurin geworden, und die Leute hätten »ganz der Vater« gesagt, bei beiden, »ganz wie ihre Väter«. Doch die wenigsten meiner Freunde wussten von beiden Männern. Für mich waren sie mein Eines und mein Anderes, die ich mich vergeblich zusammenzubringen mühte.
Ich muss raus, an die frische Luft, der Kleiderschrank kann warten. Zur Not am Ende doch alles ungeordnet in den Container.
Immerhin noch fast zwei Monate bis zum Umzug. Conny und Carsten wundern sich darüber, dass ich mich jetzt schon so unter Druck fühle. »Es ist weniger die konkrete Arbeit«, versuche ich ihnen zu erklären, »als die dabei über mich herfallende Vergangenheit, die mir zu schaffen macht. Ungebetene Erinnerungen.«
Sie hören mir wohlwollend zu, ohne jedoch zu verstehen, was ich meine. Carsten, der am Herd steht, überschlägt laut die Zahl seiner Umzüge, während er stark duftende Gewürze im Wok anbrät. Er kommt auf zwölf, davon allein drei in den USA, neun vor Conny und drei mit ihr, alles ganz locker, mal eben einen Mietwagen vollgepackt. »Und als wir hier einzogen, vor fünf Jahren, haben wir das auch noch allein hingekriegt, mit drei Freunden, innerhalb von zwei Tagen«, sagt Conny stolz. Sie sitzt mir gegenüber am Küchentisch; wir nippen an einem Aperol Spritz und schneiden Zwiebeln, Brokkoli, Paprika, rot und grün, Karotten, Bambussprossen, Pak Choi, Zucker- und Okraschoten sowie diverse Kräuter, alles, was Carsten uns so zuschiebt. Später holt er das Gemüse in zerkleinertem Zustand wieder ab, wirft es in der gebotenen Reihenfolge in den Wok, schiebt es mit dem Holzlöffel hin und her, Pfannenrühren.
»Nur wenig Öl zu Beginn, für die Gewürzpaste«, doziert er, »und nach und nach, wenn das Gemüse trocken scheint, immer ein bisschen Gemüsebrühe nachgießen, aber sparsam.«
»Wartet ab, wie es bei eurem nächsten Umzug aussieht, wenn ihr mal zwanzig Jahre hier gewohnt habt. Ihr glaubt nicht, was sich ansammelt im Lauf der Zeit.« Ich verschweige, dass ein Großteil meiner Anspannung damit zusammenhängt, dass ich eigentlich gar nicht umziehen will, dass ich es inzwischen bereue, mich von ihm beschwatzt haben zu lassen. Ich will nicht nörgeln und jammern, er meinte es ja gut.
»Du magst es doch auch gern ein bisschen schärfer, Ika?«
»Ich mache mir ständig Arbeitslisten«, verkünde ich tapfer. »Ja, gerne scharf. Pläne für jeden Tag und jede Woche, bis wann ich mit was fertig sein muss.«
»Melde dich, wenn wir dir irgendwie helfen können«, bietet Conny an, und Carsten erzählt, dass er ohne To-do-Listen in seinem Arbeitsalltag gar nicht überleben könnte: Merkzettel allüberall, auf Papier, trotz Terminkalender im Smartphone, am besten sei das Durchstreichen der erledigten Punkte, am liebsten mit einem dicken Farbstift.
»Ich denke, ihr könnt allmählich das Chaos auf dem Tisch beseitigen. In fünfzehn Minuten ist der Reis fertig.«
Ich fühle mich wohl bei den beiden in der geräumigen Küche, die zugleich als Esszimmer fungiert. Noch im vergangenen Sommer saßen wir zu viert hier auf dem Balkon, Hilde und ich neben den beiden, umgeben von Kübeln und Balkonkästen mit Kräutern und Pflücksalat, wir schmiedeten Pläne und zupften zwischendurch delikate Cocktailtomaten vom Strauch, die wir uns während der Mahlzeit direkt in den Mund schoben. Es ist erst das zweite Mal, dass Conny und Carsten sich mit mir allein in ihrer Küche niederlassen; ich wette, dass er bei meinem Besuch ständig an sie denkt.
Die Vorspeise ist eine Hühnersuppe, eine hervorragende Tom Kha Gai. Das Gespräch hüpft und stockt, plätschert und verweilt. Conny berichtet, dass sie in der vergangenen Woche »Carmen« gesehen haben, ein sehr vergnügliches Musical.
»Vergnüglich?«, frage ich mit erhobenen Brauen und zitiere dann pathetisch: »Böse ist jedes Weib, doch zwei gute Stunden hat es – die eine im Arm des Geliebten, die andere im Arm des Todes.« Sie schauen mich verständnislos an. »Was, kennt ihr nicht? Das Zitat hat Prosper Mérimée seiner Carmen-Novelle vorangestellt. Ich glaube allerdings, es muss ›Im Arm des Bräutigams‹ heißen und nicht ›Im Arm des Geliebten‹.«
Haben sie natürlich nie gelesen, jedenfalls Carsten nicht, Conny vielleicht mal, vor ewigen Zeiten, meint sie. Die Frau zwischen zwei Männern – eine vergnügliche Konstellation? Vielleicht im Musical, aber in der Wirklichkeit ist dieses Dreieck vor allem anstrengend. Intensiv, gewiss, es verschafft höchste Lebensintensität. Aber man zahlt einen hohen Preis dafür, je länger es dauert. Im Verlauf ist es nur noch aufwühlend, verstörend, Kräfte zehrend. Conny und Carsten hören mäßig interessiert zu, sie glauben, es sei Literatur, über die ich mich ereifere, besser noch: bloße Oper. Auf jeden Fall ist es nichts, was sie selber betrifft.
Kokosgarnelen mit Wokgemüse. »Schmeckt großartig!«
Carsten ist ein leidenschaftlicher Koch, was man inzwischen auch seinem Bauch ansieht. Als Jüngling war er schlank wie ein Bindfaden. Er erzählt von der Arbeit, seinen netten, aber etwas langweiligen und beklagenswert unselbstständigen Studenten. »Heute Morgen habe ich wieder so eine Mail bekommen: Ich hätte drei Bücher als Grundlage für das Referat genannt, schreibt da einer, aber vergessen, genaue Seitenangaben zu machen, von wo bis wohin man die denn lesen solle.«
»Das sind die, denen die Mama noch im dritten Schuljahr morgens die Schultasche bis in den Klassenraum getragen hat«, ergänzt Conny amüsiert. »Später melden sie ihre Sprösslinge an der Uni an, suchen für sie die Wohnung am Studienort, machen ihnen den Umzug. Klar, dass der hoffnungsvolle Nachwuchs mit der Lektüre von drei ganzen Büchern völlig überfordert ist.«
Carsten ist Professor an der Fachhochschule für Sozialarbeit, Schwerpunkt Gerontologie. Conny hat an der Uni einen Lehrstuhl für englische Literatur, Schwerpunkt 18. Jahrhundert. Die beiden sind ein überaus sympathisches Paar, denke ich wieder, während sie im Verein über ihre Studenten lästern. Er Anfang, sie Mitte vierzig, schon lange zusammen, gut aufeinander eingespielt, nicht nur beim Kochen. Sie verständigen sich durch Blicke, kurze Anspielungen, wirken noch interessiert aneinander, liebevoll, ohne demonstrativ vor Dritten zu turteln. Ich kann mich nicht erinnern, je hässliche Wortwechsel oder auch nur andeutungsweise Spannungen zwischen ihnen erlebt zu haben.
Aber hätte man dergleichen früher zwischen Ernst und mir als Außenstehender wahrgenommen?
»Ganz köstlich, Carsten! Das hätte auch Hilde geschmeckt.«
»Für sie hätte es nicht annähernd so scharf sein dürfen.«
»Es fühlt sich hier für mich noch immer schrecklich leer an ohne sie.«
Er nickt und schaut an mir vorbei, ich spüre, dass er jetzt nicht über seine Mutter reden will. Auch den beiden wird längst aufgefallen sein, dass die Abende mit mir allein weniger lebendig sind. Hilde war temperamentvoll, schlagfertig, sie redete gern und viel, sehr schnell, war immer bei der Hand mit komischen kleinen Geschichten. Sie brachte uns oft zum Lachen, während ich eher für die tiefgründigen kontroversen Diskussionen zuständig war. Wir spielten uns die Bälle zu, und Conny und Carsten hatten ihren Spaß dabei. Ohne Hilde fühle ich mich ihnen gegenüber befangen, neuerdings auch irgendwie ältlich.
»Nein danke, ich darf nichts mehr trinken.«
Die Nachspeise sei nicht asiatisch, entschuldigt sich Conny, die für die Desserts zuständig ist, nicht stilgerecht, ein Orangentiramisu, zur Hälfte Mascarpone, zur anderen Hälfte Joghurt. »Ich muss ein bisschen aufs Gewicht achten«, sagt sie lachend, »meine Hosen kneifen.« »Aber es steht dir«, findet Carsten
Bald darauf bedanke ich mich für den schönen Abend und fahre zurück nach Hause, nachdenklich und unbestimmt traurig.
»Listen anlegen bringt Segen« – höre ich Ernst spötteln, während ich auf dem Rückweg zu rekapitulieren versuche, was ich morgen erledigen muss. Die Fahrt dauert fast eine Stunde, auf überwiegend kurviger Landstraße, und ich will nicht an Hilde denken müssen, die ich so sehr vermisse, auch nicht an diese neue Befangenheit in Gegenwart von Conny und Carsten. Ein gutes Essen, ein nettes, aber nicht besonders tiefsinniges Gespräch. Wäscheschrank und Kleiderschränke endlich beenden und mit dem Aussortieren von Porzellan und Küchengeschirr beginnen. Ernst und ich benutzten die großen Was-ist-zu-tun-Listen, um Dinge, auf die wir keine Lust hatten, munter vor uns herzuschieben, von Woche zu Woche. Wir übertrugen sie von einer Liste auf die nächste, wobei wir sie mit einer wachsenden Zahl von Ausrufungszeichen versahen: Putzfrau wegen Blumengießen Reise anrufen!, Auto zum TÜV!, Wasserhahn in der Waschküche reparieren!!, Gartenstühle neu verleimen / verschrauben!!!, Fehlende Belege Einkommensteuer!!!!
Ob der Kontakt zu Carsten und Conny nach und nach einschlafen wird, nun, da Hilde als Bindeglied fehlt? Ich weiß, dass Carsten mich mag, ich bin vertrautes Mobiliar seiner Kindheit, doch was Conny betrifft, fühle ich mich nicht ganz so sicher.
Als junges Mädchen führte ich über alles Mögliche Listen. Auf diese Weise Überblick zu haben schien mir dasselbe, wie mein Leben zu kontrollieren. Hinten im Tagebuch verzeichnete ich Autoren und Titel der von mir gelesenen Bücher, mit Datum versehen. Ich legte eine Kladde für Einnahmen und Ausgaben an, das sollte dabei helfen, das mickrige Taschengeld in die Länge zu ziehen. Später gab es eine minutiös geführte Gewichtskurve, in der die Kilozahl rot notiert wurde, wenn sie sich bedrohlichen Grenzen näherte. Zur Empfängnisverhütung und später, als ich schwanger werden wollte, führte ich die obligatorische Aufwachtemperaturkurve. Heute noch notiere ich von Zeit zu Zeit meine Blutdruckwerte, vor dem Frühstück gemessen. Es wundert mich nicht, dass sie in diesen Tagen zu hoch sind.
Vorsicht! Das war knapp. Ein Reh kam aus dem dunklen Gebüsch gesprungen, hat vor mir die Fahrbahn überquert, nicht ungewöhnlich auf dieser Strecke. Die Straße ist nur wenig befahren, ich sollte froh sein über die vielen Kurven, die mich wach halten.
Wirklich interessant sind Listen, bei denen es um Immaterielles geht. Die Liste der unerledigten Lebensaufgaben zum Beispiel. Die Liste der genutzten und der vertanen Chancen, der Illusionen und Enttäuschungen. Die wachsende Liste der Freunde und nahen Menschen auf dem Friedhof. Daneben die schrumpfende Spalte mit den wichtigen Personen, die noch leben.
In was für Listen kann man euer Leben erfassen?, hätte ich Conny und Carsten fragen können. Findet ihr euch in der Liste eurer Umzüge wieder? Oder in der der Städte, in denen ihr gelebt, der Reisen, die ihr unternommen habt? Was sagt die Liste eurer akademischen Erfolge, der Abschlüsse und Veröffentlichungen über euer Leben aus? Wie steht es mit der Liste der wichtigen Freundschaften und Liebesbeziehungen?
Solche Fragen würden sie befremden. Das war eher ein Thema für Hilde und mich.
Jemand kommt mir entgegen, ohne abzublenden, rücksichtslos! Ich haue auf die Lichthupe – wenn ich die Strecke nicht so gut kennen würde, läge ich spätestens jetzt im Straßengraben. Tief durchatmen. In den zwei Minuten nach einem derartigen Vorfall ist man am stärksten gefährdet. Doch hier kann ich nirgendwo anhalten. Carsten hat schon Recht, das Fahren im Dunkeln wird zunehmend zur Belastung. Schon heute überlege ich genau, welche Anlässe es mir wert sind, an Winterabenden noch in die Stadt zu fahren.
Vielleicht ist auch das Kismet-Buch des lieben Gottes, so es ihn gibt, nur eine Ansammlung von Listen. Auf einer Seite die Liste der großen Schicksalsschläge, im Hintergrund hört man Beethovens Fünfte, daneben die Seite mit den blöden Zufällen, einfach dumm gelaufen. Die Listen mit den guten und den schlechten Taten, obwohl mir das zu simpel scheint, Plus- und Minuspunkte, mit Gewichtungsfaktoren. Ganz besonders wichtig wäre eine Liste mit mildernden Umständen, was die eigenen folgenschweren Entscheidungen betrifft, so was wie »Zeitgeist«, »schwierige Kindheit« oder »problematische Stellung in der Geschwisterreihe«, erklärende Anmerkungen wie »hat einfach immer sehr lange gebraucht, um die Dinge zu begreifen«.
Jetzt fängt es auch noch an zu regnen. Tempo runter und konzentrieren. Wach bleiben!
Die Liste meiner Liebhaber scheint mir durchaus übersichtlich, wenn man in Betracht zieht, dass meine frühen Erwachsenenjahre von der sexuellen Revolution geprägt waren. Sicher können manche aus meiner Generation, vor allem Männer, sehr viel umfangreichere präsentieren, vorausgesetzt, sie können sich überhaupt an alle ihre Sexpartnerinnen erinnern. Für Frauen war eine breite Erfahrungsgrundlage damals eher ungewöhnlich, obwohl ich überzeugt bin, dass es selbst in den Zeiten, als wir noch nicht unter dem Schutz der Pille segelten, eine kleine Zahl risikofreudiger Geschlechtsgenossinnen gab. Die allerdings nicht selten einen hohen Preis für ihre Erfahrungen zahlten.
Carsten und Conny wirken in ihrer Beziehung manchmal schon so alt, in zugegeben freundlichen Ritualen erstarrt, fast wie ein Rentnerpaar. Ich schäme mich für diesen Gedanken, weil ich sie doch sehr mag und dankbar bin für den Kontakt zu ihnen. Doch Ernst und ich waren in ihrem Alter ganz bestimmt anders.
Die Liste meiner Liebhaber hält mich am Steuer besser wach als der Espresso nach dem Abendessen. Vielleicht sollte ich sie die »Liste meiner bisherigen Liebhaber« nennen, weil sie ja theoretisch in die Zukunft hinein offen ist, aber ich habe da so meine Bedenken. Ich könnte sie in zwei Sparten gliedern: die Eintagsfliegen und die bedeutsamen Beziehungen, für mich bedeutsam – ob das auf der anderen Seite immer genauso war, möchte ich bezweifeln.
Eintagsfliegen gab es nur wenige. Einer hieß Tom und einer Dieter, den Namen des dritten habe ich vergessen. Aber ich weiß noch genau, dass wir es im Auto zwischen einer Werkshalle und einem Möbellager taten, auf einem besonders desolaten Industrieparkplatz, im Anschluss an einen Kongress des Bundes Demokratischer Wissenschaftler, nachdem wir uns sehr engagiert über einen Woody-Allen-Film unterhalten hatten. Unbequem und in jeder Hinsicht eine Wiederholung nicht wert. Jedenfalls weniger lohnend als das vorangegangene Gespräch.
One-Night-Stands reizten mich nicht wirklich. Ich musste mir wohl nur ein paarmal beweisen, dass ich das auch konnte, nachdem diese Kommilitonin – wie hieß sie noch? – aus dem Arbeitskreis Linker Frauen, in dem wir Texte von Rosa Luxemburg, Clara Zetkin und Alexandra Kollontai diskutierten, etwas verächtlich gemeint hatte: Du gehörst wohl auch zu den Frauen, die sich einreden müssen, in jeden Mann verliebt zu sein, mit dem sie einfach nur mal ins Bett wollen! Vorübergehend erschien es mir tatsächlich als ein weibliches Defizit, Sex nicht wenigstens gelegentlich vom Gefühl trennen zu können. Noch dazu eins, das besonders verwundbar macht. Das war der Zeitgeist.
Viele Berühmtheiten haben Tagebuch darüber geführt, mit geheimschriftlichen Chiffren, wie oft sie Geschlechtsverkehr hatten, mit wem und von welcher Qualität. Solche eher peinlichen Listen haben mich nie interessiert, ich finde sie langweiliger als Wetteraufzeichnungen.
Geschafft, beinahe. Jetzt kann ich schon von der Hügelkuppe die Lichter des Dorfs sehen. Ich bin so müde, dass ich das Zähneputzen ausfallen lassen werde.
Ich könnte die diversen Liebhaber noch meinen monogamen oder meinen Dreiecksphasen zuordnen. Warum haben die Dreiecke in meinem Leben eine solche Rolle gespielt? Diese grandiosen Wellenritte zwischen Rausch und Ernüchterung, die oft in jämmerlichen Schiffbrüchen endeten. Ohne das große Dreieck würde ich nicht jetzt noch um Rayuela und Gerrit trauern; weil das eine sich nicht leben ließ, konnte auch das andere nicht sein. So oder so war es nur stimmig, dass die lange Fahrt auf dem grauen Ozean der Desillusionierung folgte.