Cover

Inge Helm

Geheimagent à la carte

Eine mörderische Liebesgeschichte

Edel Elements

Für meine Kinder

Ügos Rezepte

Soupe au pistou (Provençalische Gemüsesuppe)

Salade „cuisine nouvelle“ (Salat der „neuen Küche“)

Agneau à la gardiane (Lammfleisch nach Art der Gardiane)

Asperges poêlées (Gebratener Spargel)

Tarte aux pêches (Pfirsichkuchen)

Tourte aux blettes (Mangoldpastete)

Langoustines à la provençale (Langusten provençalische Art)

Canard aux navets (Ente mit weißen Rübchen)

Tian de courge (Kürbisauflauf)

Daube provençale (provençalisches Rindergulasch)

Soupe de courge (Kürbissuppe)

Prolog

Certaines promesses de la vie ne se réalisent pas,
mais les oiseaux chantent encore dans les abres.
(Einige Versprechen für das Leben verwirklichen sich nicht,
aber die Vögel singen noch in den Bäumen.)

Es ist Mitte Mai. Ich stehe in Gedanken verloren im Garten auf der oberen Wiese, dort, wo sich der Komposthaufen befindet, und setze die Kerne ein, die du zu Halloween aus einem dicken, orangefarbenen Kürbis aus deinem Heimatland Belgien pultest, um aus dessen Fruchtfleisch einen köstlichen Auflauf zu kreieren. Kochen konntest du, das muss man dir lassen – allerdings hinterher das Chaos in der Küche zu beseitigen, blieb allein meine Aufgabe.

Du nanntest mich von Anfang an ma petite, sobald du aufgehört hattest, mich „gnädige Frau“ zu nennen. Du nanntest alle deine Lieben ma petite, was zwar nicht sehr originell, aber im Nachhinein verständlich war. So kamst du nie in Verlegenheit mit den Vornamen deiner vielen Amouren.

Heute werde ich also den Nachlass unserer Beziehung in die Erde stecken. Kürbisse sollen wunderbare Blüten treiben und anschließend die herrlichsten Früchte tragen. Na zauberhaft, chéri, genauso wie du und deine blühende Fantasie!

Deine Geschichte war so abenteuerlich, entbehrte allerdings auch nicht einer gewissen Komik, sodass gute Freunde zu mir sagten: „Mach doch ein Buch daraus. Du als Autorin heiterer Romane kommst bestimmt am besten darüber hinweg, wenn du dir den Typen von der Seele schreibst.“

Die haben gut reden. Ich frage dich: Soll ich mal so richtig heiter vom Leder ziehen? Soll ich auspacken? Wird es mir dann besser gehen?

Ich weiß, ich weiß: Jeder, der heute etwas auf sich hält, schreibt seine Memoiren, das ist in und soll très chic sein. Besonders junge, attraktive Witwen neigen dazu, das Leben ihres mehr oder minder berühmten, wesentlich älteren Mannes – ohne Gefühl dafür, dass sie sich und den teuren Verblichenen der Lächerlichkeit preisgeben – posthum an die Öffentlichkeit zu tragen, die dann staunend von den absurdesten Kosenamen wie Puppa, Bärchen oder Hase erfährt und Liebesbriefe liest, die ausschließlich für die Schreiberinnen bestimmt waren und selten literarischen Wert besitzen, dafür aber vor Eigenlob nur so zum Himmel stinken. Immerhin aber bringt es, dank eines heute weit verbreiteten Voyeurismus, im besten Fall eine Menge Geld ein, und ihre Männer können sich nicht mehr wehren; die sind ja tot!

Da fällt mir ein: Ich besitze nicht einmal einen richtigen Liebesbrief von dir. Im Zeitalter des Fax, der Mails und der SMS existiert auf meinem Handy nur noch eine Nachricht: „Ma petite, bin in geheimem Auftrag unterwegs. Rufe bald wieder an.“ Dieser Anruf kam, wenn ich mich recht erinnere, schließlich nach gefühlten zwei Monaten, in denen ich sehnsüchtig, besorgt und auch zornig jede einzelne Stunde zählte und, in Erwartung eines Zeichens von dir, das Handy auch nachts nicht aus der Hand legte.

Nun, kurz gesagt: Ich denke, dass das Schreiben von Memoiren nur dann Vergnügen bereitet, wenn man selbst günstig in ihnen davonkommt, und ich weiß nicht, ob ich das tue, es sei denn, ich würde lügen. Und das, chéri, habe ich während unserer Beziehung ausschließlich dir überlassen. Also habe ich lange darüber nachgedacht und unsere Geschichte erst einmal ad acta gelegt.

Doch nun ist meine Verlegerin an mich herangetreten mit der Bitte, unsere abenteuerliche Liebesgeschichte zu Papier zu bringen, oder, besser gesagt, in den Computer, und ich habe meine Meinung geändert. Vielleicht tut es gut, nach Jahren noch einmal über dich, mich und die ganze Geschichte zu reflektieren. Mach dir auf deiner Wolke keine Sorgen, mon ami: Für den Fall, dass es eine Veröffentlichung gibt, habe ich alle Schauplätze und die Namen sämtlicher Mitwirkender geändert, sogar die meiner beiden Rauhaardackelchen.

Anna

Anna reist nach Belgien

Als Anna mit 40 Jahren das zweite Mal heiratete, glaubte sie, es sei nun für alle Ewigkeit. Ihr Mann war ein liebenswerter, kultivierter und intellektueller Mensch, der viel von alten Stichen, noch älteren Büchern und der Malerei aus dem 19. Jahrhundert verstand. Er liebte ein gepflegtes Zuhause, allerdings auch Tiere, vorzugsweise Hunde, was sich dann, zur Freude von Annas Rauhaardackeln, mit einem adretten Heim schlecht vereinbaren ließ.

Sie hatte ihren Zukünftigen durch die Zeitungsannonce ihres 14-jährigen Sohnes kennengelernt, dem die Weiberwirtschaft daheim langsam zum Halse heraushing. Eine nörgelnde Mutter – „Geh mit den Hunden“, „Dusch dich nach dem Sport“, „Du bist alt genug, dein Zimmer selbst aufzuräumen“ oder so, aber für interessante Dinge wie elektrische Geräte reparieren oder mit der Bohrmaschine Löcher für Dübel in die Wand bohren, dafür war er wieder zu jung –, dann zwei nervige jüngere Schwestern, eine energische Oma, zwei bereits genannte Dackeldamen und eine griechische Schildkröte, die, so wie er den Laden kannte, auch ein Weib sein musste, denn als er ihr mal in einem Anfall von Nettigkeit eine Erdbeere reichte, schnappte sie sofort nach seinem Finger … Nee danke! Also hatte er kurz entschlossen per Anzeige eine nette männliche Verstärkung gegen so viel weibliche Übermacht gesucht und einen Treffer mit Zusatzzahl gelandet!

Auch wenn für Anna die Kinder immer an erster Stelle standen, ging ihre Fürsorge doch nicht so weit, dass sie nur zum Wohl ihres Nachwuchses einfach irgendetwas getan hätte – heiraten zum Beispiel.

Sie hatte ihn aus wirklicher Liebe geheiratet, was seine Verwandtschaft allerdings bezweifelte und sie von Stund an schnitt; denn Anna war, wie bereits erwähnt, Autorin heiterer Bücher und in den Augen seines lästigen Familienanhangs eine anarchistische Künstlerin, dazu noch Mutter dreier halbwüchsiger Kinder und Frauchen von zwei frechen Dackeln. Ihr Leben verlief ohne Konventionen – auch etwas chaotisch, zugegeben, und sie war ständig knapp bei Kasse –, um die schönen Dinge des Lebens unbeschwert genießen zu können. Und so hatte sie sich nach Ansicht der Familie ihres Mannes einfach einen gutbetuchten Kerl aus ihrer akademischen Spießbürgerlichkeit geangelt, und das auch noch per Zeitungsannonce. Einfach skandalös!

Nach ihrer Hochzeit gab sie ohne Bedauern ihre stressige Schreiberei auf, mutierte zur Dame und lebte ausschließlich für ihren Mann, ihre Kinder, die Hunde, das Haus, den Garten und die vielen hübschen Dinge, von denen sie zwar oft geträumt hatte, aber ohne wirklich zu wissen, dass diese ihr auch fehlten.

Zwölf wundervolle, glückliche Jahre später war die Ewigkeit bereits zu Ende. Annas Mann starb einen plötzlichen Herztod, ohne ein Testament zu hinterlassen. Seine Verwandten fielen über das Erbe her wie ein Riesenschwarm Heuschrecken, und Anna war zu stolz, um auf ihre rechtmäßigen Ansprüche zu pochen und sich mit einem Haufen Insekten auseinanderzusetzen. Außerdem gehörte sie zu der Sorte Frauen, die trotzig sagen: „Das schaffe ich auch alleine.“

Kurz entschlossen packte sie ihre Siebensachen und die Dackel – ihre Kinder waren bereits ausgeflogen, sei es, um zu studieren, oder um eine eigene Familie zu gründen; Enkel Basti war dazugekommen und hatte sie zur Großmutter gemacht –, mietete sich ein kleines Haus mit Garten im Oberbergischen und unternahm etliche Versuche, beruflich als Autorin wieder Fuß zu fassen. Doch wer wollte schon Geschichten von einer 50-plus-Oma hören oder lesen, die außer einer passablen schriftstellerischen Vergangenheit momentan nichts Weiteres zu bieten hatte?

Also ließ sie sich von einem guten Agenten unter Vertrag nehmen, dem es gelang, erst einmal all ihre alten Bücher neu auflegen zu lassen. So konnte sie mit Witwenrente und zusätzlichen kleineren Honoraren in Ruhe über Themen für ein neues Buch nachdenken.

Und dann erfuhr sie eines Tages durch Zufall, dass einige ihrer Bücher in einem grafischen Betrieb namens Proust in Turnhout gedruckt wurden. Turnhout lag im Nachbarland Belgien und war seit jeher bekannt für seine zahlreichen guten Buchdruckereien.

Anna fiel ihr Vater ein, dessen Mutter eine waschechte Flamin gewesen und dem gerade jene Stadt während seiner Kindheit und Jugend ein Zuhause gewesen war, und musste an ihre eigenen vielen Aufenthalte in den Ferien denken, die sie dort und bei Freunden in Antwerpen oder in Nijlen an der Nete verbracht hatte. Hier war auch die Heimat des bekannten flämischen Schriftstellers Felix Timmermans, dessen Geschichten ihr Vater immer so gerne erzählt hatte, vom lebenslustigen Naturburschen Pallieter oder aus Sankt Nikolaus in Not: „… das Schokoladenschiff war so groß wie von hier bis dort …“. Diese Formulierung hatte ihr besonders gut gefallen und den Wunsch geweckt, später auch einmal so schreiben zu können.

Anna beschloss, eine Reise in die Vergangenheit zu wagen. Sie setzte sich ans Telefon und versuchte herauszufinden, wen sie von den alten Freunden vielleicht noch antreffen konnte. Und eines Tages wurde sie fündig. Ernest, der Sohn des besten Freundes ihres Vaters und Schwarm ihrer Jugendzeit, hatte die verantwortungsvolle Aufgabe als Botschafter seines Landes, zuletzt in Berlin, an den Nagel gehängt und sich ins Privatleben und elterliche Ferienhaus in Nijlen zurückgezogen. Er war überrascht, von Anna zu hören, freute sich aber sehr und lud sie ein, ihn doch bald einmal dort zu besuchen.

Zwei Tage ging Anna mit der Einladung schwanger – sollte sie oder sollte sie nicht? Schließlich waren fast 35 Jahre ins Land gegangen seit dem letzten persönlichen Kontakt, und sie standen beide heute nicht mehr gerade in Knospe. Würden sie sich überhaupt wiedererkennen? Einerseits von Zweifeln geplagt, andererseits beschwingt von der Vorfreude – wobei Letztere siegte –, freute sie sich schließlich, die Stätten ihrer unbeschwerten Kindheit wiederzusehen. Und weil die Vorfreude über den Zweifel siegte, sagte sie Ernest für das kommende Wochenende zu und ging bei dem Gedanken an ein baldiges Treffen mit ihm und Timmermans Heimat bald wie auf Wolken.

Später, viel später sagte sie sich: „Hätte ich doch nur nicht den Boden unter den Füßen verloren!“

Na, wie dem auch sei – Anna parkte die Dackel am nächsten Samstagmorgen bei Frau Möhrchen, die, ihrem Namen zum Trotz, eine Hundepension und kein Feriendomizil für Katzen betrieb, stieg in ihren kleinen Wagen und nahm die Autobahn Richtung Belgien. Sie musste zugeben, dass sie ungeheuer neugierig war, wer und was sie wohl in Nijlen erwarten würde. Und was sie erwartete … sie wusste es selbst nicht so recht: einen älteren Herrn, in dem sie vielleicht noch ein Stückchen des Jugendfreundes wiederfand, und eine liebliche Landschaft, die sich wider Erwarten trotz der langen Zeit nicht verändert hatte?

Auf jeden Fall hatte sie nicht erwartet, ihm drei Stunden später gegenüberzustehen und sich auf der Stelle in ihn zu verlieben.

Anna würde diesen Samstag nie vergessen. Als sie in Nijlen ankam, öffnete auf ihr Läuten ein großer, kräftiger Mann mit breiten Schultern die Tür, der ihr völlig fremd vorkam. Er war kein Beau. Aber er hatte eine äußerst liebenswerte und sympathische Ausstrahlung, sozusagen das gewisse Etwas, auf das die Frauen reihenweise flogen, und die blauesten Augen, die Anna je gesehen hatte, umgeben von unzähligen Lachfältchen, die auf eine große Portion Humor hindeuteten. Sein dichtes weißes Haar schlug im Nacken kleine feminine Locken, um die ihn jedes weibliche Wesen grenzenlos beneidet hätte.

„Ernest?“, fragte Anna zaghaft und versuchte etwas von dem schmalen Jüngling ihrer Jugendtage in diesem gewaltigen Mannsbild wiederzufinden.

„Non, non“, sagte dieser lächelnd, „ich bin leider nur die Vertretung des Hausarztes. Den Botschafter a. D. finden Sie drinnen im Wohnzimmer.“

Und dann saßen Anna und Ernest sich gegenüber, beladen mit vorsichtiger Wiedersehensfreude. Anna befangen, weil er ihr doch recht fremd war nach all den Jahren, Ernest bewegt, aber ausschließlich im Gesicht, da die Hexe dem Botschafter a. D. hinterrücks in die verlängerte Kehrseite geschossen hatte, als er am Morgen versuchte, eigenhändig etwas Ordnung in sein Haus zu bringen. Hugo – auf Französisch Ügo – war Facharzt für Orthopädie und hatte ihm, in Vertretung des gewohnten Arztes, eine Spritze verpasst. Ernest lud ihn und Anna zu einem Glas Wein ein und bedauerte es sehr, dass er sie aufgrund seines maladen Zustandes nun nicht groß zum Essen ausführen konnte. Erfreut sprang der Doktor auf und rief ungeniert: „Wo ist die Küche? Kochen ist meine große Leidenschaft. Wenn Sie gestatten, werde ich ein tolles Menü für den Mittag zubereiten.“

Anna und der Botschafter a. D. sahen sich verdutzt an. „Cher docteur“, sagte Ernest dann, „ich bitte Sie. Das kann ich auf gar keinen Fall zulassen. Außerdem habe ich überhaupt nichts in Kühl- und Gefrierschrank …“

Das brachte Ügo nicht im Geringsten aus dem Konzept. „Ich habe alles, was ich dazu benötige, im Auto“, rief er eifrig und lief zur Haustür hinaus, kam kurz darauf bepackt mit unzähligen vollgepackten Plastiktüten zurück und verschwand damit beflügelt in der Küche. Anna schaute ihm sprachlos nach.

Oh Hugo, dachte Anna, was bin ich doch unbeschwert auf dich hereingefallen!

Nur kurz kam ihr hin und wieder der Gedanke: Mensch, Ännchen, was machst du da bloß? Wo treibst du denn hin? Hoffentlich führt dich dein Gefühl nicht irre, du fällst doch sonst nicht so schnell auf Anblicke herein!

Aber seine Kochkunst beseitigte im Nu ihre sämtlichen Bedenken. Ein Mann, der anscheinend nicht nur souverän mit dem Operations-, sondern auch mit Essbesteck und Kochgeschirren umgehen konnte, der war einfach klasse und der hatte sicher auch „keine Leiche im Keller“, wie es so schön im Volksmund hieß.

Bald zog ein wunderbarer Duft von Pilzen, gebratenem Fisch, Kräutern und irgendetwas Köstlichem aus dem Backofen durch das ganze Haus. Anna und Ernest begannen sich zu entspannen und langsam wiederzuerkennen. Sie schwelgten in Erinnerungen: Weißt du noch? Erinnerst du dich? Mein Gott, was hatten wir damals viel Spaß!

Und dann erhob sich Anna aus ihrem Sessel und bereitete den Tisch für das Essen vor. Ernest konnte nicht helfen, leider, und lahmte erst an die Tafel, als diese längst fertig gedeckt war. Es gab Gemüsesuppe, gefüllte Champions, eine kleine Fleischpastete, Fisch mit Curry und Ingwer und zum Abschluss fünf verschiedene Sorten von Käse. Dazu kredenzte der Doktor einen roten Châteauneuf-du-Pape und einen weißen Chablis. Anna kam aus dem Staunen gar nicht mehr heraus: Was doch so ein einfaches belgisches Auto für ein interessantes Innenleben hatte!

Soupe au pistou

(Provençalische Gemüsesuppe)

Zutaten

2 Kartoffeln

2 Zucchini

2 Tomaten

250 g grüne Bohnen

1 große Zwiebel

250 g weiße Bohnen

etwas Butter

Salz, Pfeffer

50 g kleine Nudeln

1 Bund Basilikum

2 Knoblauchzehen

½ Glas Olivenöl

100 g geriebener Käse

Zubereitung:

Kartoffeln und Zucchini schälen und in Würfel schneiden. Die Tomaten häuten und klein schneiden. Die Bohnen waschen und in Stücke brechen. Die gehäuteten und gewürfelten Zwiebeln und die weißen Bohnen in Butter dünsten, mit 2 l Wasser auffüllen und mit Salz und Pfeffer würzen. Das vorbereitete Gemüse dazugeben. 2 Stunden köcheln lassen. 10 Minuten vor Ende der Kochzeit die Nudeln hinzugeben. Basilikum und Knoblauch klein hacken, mit dem Olivenöl vermischen und nach und nach in die Suppe geben. Mit geriebenem Käse servieren.

Danach wurde Ügo per Handy zu einem weiteren Notfall gerufen. Er verabschiedete sich eilig: „Au revoir, es war schön Sie kennenzulernen.“ Und als Anna sich bedanken wollte für das köstliche Essen, winkte er nur ab: „Pas de quoi“, und eilte zu seinem Wagen, verstaute die nun fast leeren Plastiktüten im Kofferraum, ließ sich hinter das Steuer sinken und brauste davon. Schade, dachte Anna, wirklich schade. Eigentlich hätte sie gerne noch etwas mehr von seiner vitalen Gegenwart gehabt.

Sie sah sich um und stand ernüchtert in einem unbeschreiblichen Chaos von schmutzigen Töpfen, Pfannen, Geschirr, Essensresten und offenen Küchenschranktüren.

„Lass alles stehen und liegen, chérie“, rief Ernest aus dem Wohnzimmer, „morgen kommt meine Hilfe, die hat das im Nu erledigt.“

Also machte Anna verträumt lächelnd nur noch einen starken Espresso für sie beide. Danach humpelte der Botschafter a. D. seine alte Freundin zum Auto.

„War doch richtig nett“, sagte er und nahm den Arm von ihrer stützenden Schulter, „und dass der Doktor extra für uns gekocht hat …“

„Hmm, hmm.“

Ernest grinste: „Tu nicht so unschuldig. Du machst ein Gesicht, als ob es dir leidtut, dass er so schnell verschwunden ist. Möchtest du vielleicht seine Telefonnummer haben?“

Anna nahm nicht nur seine Nummer mit. Sie nahm noch mehr mit: So ein dummes Gefühl des Bedauerns, dass dieser Ügo … Ernest hatte recht, er gefiel ihr sehr. Er war seit langer Zeit der erste Mann, der sie wirklich interessierte und bei dessen Anblick sie blödsinniges Herzklopfen bekommen hatte.

Da sie jedoch eine Dame war, verkniff sie sich den unbändigen Wunsch, ihn einfach anzurufen.

Als sie nach 14 Tagen nichts weiter von ihm gehört hatte, sah sie die ganze Geschichte langsam etwas nüchterner und sagte sich: „Anna, du hast ganz einfach für einen kurzen Moment den Boden unter den Füßen verloren, das ist alles … Und das in deinem Alter!“ Sie gab sich große Mühe, noch nachträglich über einen Zustand zu lachen, von dem sie geglaubt hatte, sie sei verliebt, und der doch nichts anderes gewesen war als eine Mischung aus fantasievollem Wunschdenken und chloroformiertem Verstand.

Aber kaum hatte sie ihn schweren Herzens aus ihren Gedanken entsorgt, hielt sie eines Morgens einen Brief von ihm in den Händen. Sie bekam ganz weiche Knie und musste sich setzen. Es gab Momente, für die ihre Nerven einfach nicht mehr jung genug waren. Ungeduldig riss sie den Umschlag auf und las:

Liebe gnädige Frau,

ich habe lange nachgedacht, ob ich Ihnen schreiben soll. Doch die Stunden in Nijlen waren so zauberhaft, dass Sie mir nicht mehr aus dem Kopf gehen. Und so rief ich den Botschafter a. D. an. Er war so freundlich, mir Ihre Adresse zu geben. Da bin ich also! Ich würde Sie sehr gerne wiedersehen und mich über einen Anruf von Ihnen herzlich freuen.

Ihr Hugo

Plötzlich hatte Anna Hemmungen. Du dumme Pute, dachte sie, warum bist du bloß immer so zögerlich? Warum kannst du nicht wie deine Freundinnen mit Anstand und Haltung eine herrliche Dummheit begehen, auch wenn du nachher vielleicht aufs Schnäuzchen fällst? Es kommt so selten vor, dass man einem richtigen Mann begegnet, in den man auf der Stelle von Herzen verliebt ist. Was erwartet dich denn in diesem Leben noch Aufregendes, außer Witwendasein mit Großmutterpflichten und etwas Schriftstellerei?

Anna setzte sich an ihren Schreibtisch, stützte nachdenklich den Kopf in die Hände, starrte auf das Telefon und dachte an Ügo. Diesmal wollte das Misstrauen, das ihr hätte in den Arm fallen können, sich einfach nicht einstellen, geschweige denn auch nur ein Hauch von Logik. Dabei war ihr der Mann doch eigentlich völlig fremd! Dennoch, sie wollte ihn wiedersehen. Und so griff sie schließlich klopfenden Herzens zum Hörer und rief Ügo an.

Sie verabredeten sich für den kommenden Freitagabend. Er freue sich, hatte er gesagt, überzeugend, beinahe zärtlich, und ob in der Nähe ein Hotel sei, dann könne er übers Wochenende bleiben. Anna bot ihm ihr Gästezimmer an. „Das ist ja wunderbar!“ Seine Stimme klang sehr fröhlich und überaus erfreut. Als sie eingehängt hatte, kamen ihr Bedenken. Sie hatte ihm so freimütig zugesagt, auch noch mit Übernachtungsmöglichkeit – einzig aus dem Verlangen heraus, ihn wiederzusehen. Doch ihrem ansonsten so verantwortungsbewussten und sachlich denkenden Verstand zum Trotz geriet sie immer mehr in einen verliebten Zustand freudiger Erwartung. Sie fühlte sich jung, begehrenswert und schwebte auf Wolke sieben.

Am Freitagmorgen gab sie ein Vermögen beim Frisör aus und kaufte sich ein sündhaft teures, zauberhaftes Etwas von Nachthemd. Dass sie ihren Gast auch mit leiblichen Genüssen verwöhnen wollte, war ihr völlig entfallen, was angesichts ihres momentanen Zustands der geistigen Umnachtung wohl jedem einleuchtete. Offenbar hatte ihr benebeltes Unterbewusstsein vor, mit ihm nur von der Luft und von der Liebe zu leben.

Ihre Nachbarin, die Witwe Isolde Lämmchen, trat – natürlich wie rein zufällig, sozusagen als Wolf im Lämmchenfell – aus ihrer Haustür, als Anna frisch gestylt und in der Hand eine schicke Einkaufstüte vorbeikam. „Oooh?“, sagte sie so richtig nachbarschaftlich-verständnisvoll, „Sie bekommen Besuch?“

„Hoffen wir, dass sich das Wetter hält. Es ziehen plötzlich so dunkle Wolken auf“, bemerkte Anna, lächelte harmlos und schloss die eigene Tür auf.

„Herrenbesuch?“ Isolde war ihr nachgegangen.

„Das kann man nie wissen“, sagte Anna und schlug dem neugierigen Lamm die Tür vor der Nase zu. Im Schlafzimmer holte sie das zauberhafte Etwas aus der schicken Tüte und breitete es verführerisch auf ihrem Bett aus. Danach hatte sie nichts, was sie machen konnte, um die Stunden bis zum späten Nachmittag sinnvoll zu verbringen. Also ließ sie sich ein Bad ein, und um fünf Uhr begann sie sich für Ügos Besuch in Schale zu werfen.