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Ulrike Renk

Seidenstadt-Sumpf

Kriminalroman

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Tatort Niederrhein Die Leiche des stadtbekannten Politikers und Anwalts Markus Klewer wird an der Burg Linn gefunden. Er wurde durch einen Genickschuss getötet. Hauptkommissar Jürgen Fischer übernimmt die Ermittlungen, da seine Kollegin Sabine Thelen ein Verhältnis mit dem Opfer hatte und somit befangen ist. In Klewers Umfeld kommen viele als Verdächtige in Frage, denn er hat sich nicht nur mit Naturschützern angelegt, auch während des Wahlkampfes zum Kreisvorsitzenden hat er sich Feinde gemacht. Als auch noch Klewers Vater Opfer eines Verbrechens wird und zeitgleich eine wichtige Zeugin verschwindet, spitzt sich die Lage zu. Fischer muss nun unter Hochdruck ermitteln, um den Zusammenhang zwischen den Morden aufzudecken.

Bestsellerautorin Ulrike Renk, Jahrgang 1967, ist in Dortmund aufgewachsen und studierte in den USA und an der RWTH Aachen Anglistik, Literaturwissenschaften und Soziologie. Nach der Geburt ihres zweiten Kindes zog sie an den Niederrhein und schreibt seit mittlerweile fast einem Vierteljahrhundert in der Samt- und Seidenstadt Krefeld.

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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Copyright der Originalausgabe:

© 2007 Leporello, Krefeld

Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2020

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © hespasoft / stock.adobe.com

ISBN 978-3-7349-9428-9

Kapitel 1

Die ersten Takte von »Everybody needs somebody« der Blues Brothers rissen Hauptkommissar Jürgen Fischer aus dem Schlaf. Irritiert griff er nach seinem Handy und schaute auf das Display.

»Was zum Teufel …«

»Jürgen, hab ich dich geweckt?«

Fischer setzte sich auf, massierte die Augen mit Daumen und Zeigefinger. »Verdammt, ja, Sabine.«

»Es tut mir leid. Ich hab ein Problem.«

»Was?«

»Ich … ich habe ein Problem und brauche deine Hilfe.«

Der Hauptkommissar sah auf den Wecker. Die Uhr zeigte 3:50 an. Fischer rieb sich mit der flachen Hand über das Gesicht. Gestern Abend hatte er mit seinem Kollegen Oliver Brackhausen einige Flaschen Bier geleert und das schien sich nun mit Kopfschmerzen und einer angemessenen Sandpapierzunge zu rächen. Vielleicht war er aber auch einfach noch nicht wach. Er schüttelte den Kopf.

»Sabine, wo bist du?«

»Unten.«

»Unten? Wo unten?«

»Auf der Rheinstraße, fast vor deiner Haustür.«

»Grundgütiger«, murmelte Fischer, schwang die Beine aus dem Bett und ging zum Fenster. Man konnte die Morgendämmerung erahnen.

»Willst du hochkommen?«

»Bitte.«

Es lag ein Flehen in der Stimme seiner jungen Kollegin. Fischer hatte sie vor ein paar Monaten aus der Gewalt eines Psychopathen befreit, seitdem verband die beiden eine herzliche Freundschaft.

»Ich seh deinen Wagen gar nicht.« Fischer spähte angestrengt auf die Straße, versuchte immer noch wach zu werden und verspürte plötzlich einen riesigen Nachdurst. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite stieg eine junge Frau aus einem Opel Astra und hob grüßend den Arm. Sabine. Der Astra war ein Dienstfahrzeug. Sie war im Dienst?

Jürgen Fischer ging zur Tür und drückte den Öffner. Dann schaute der leicht übergewichtige Hauptkommissar mit den wintergrauen Haaren an sich herunter. Er trug nur ein T-Shirt und Boxershorts. Einen Moment überlegte er, ob er verlegen sein sollte, verdrängte dann aber den Gedanken. Wenn sie schon mitten in der Nacht bei ihm auftauchte, konnte sie nicht erwarten ihn vollständig bekleidet anzutreffen. Fischer ließ die Wohnungstür einen Spalt offen und ging zu der kleinen Küchenzeile, die durch einen Tresen vom Wohnzimmer abgetrennt war. Er füllte Wasser in die Kaffeekanne und schüttete Pulver in den Filter. Als er die Maschine anschaltete, hörte er, dass die Wohnungstür ins Schloss fiel.

»Morgen, Sabine.« Fischer drehte sich um und strich sich durch das raspelkurze Haar.

Sie nickte ihm zu. Ihre Augen sahen gerötet und verquollen aus.

»Was ist passiert, Mädel?«

Sabine Thelen ließ sich in den einzigen Sessel fallen und drehte eine Haarsträhne um ihren Zeigefinger. Sie sah überall hin nur nicht zu ihm.

»Nun spuck’s schon aus.«

»Vor einer halben Stunde ist ein Mord gemeldet worden.«

»Ja, und?«

»Kannst du bitte den Tatort machen?«

»Wer hat denn Dienst?«

»Ich. Und Günther. Aber der ist zu einem Raub.«

Hinter ihm gluckerte die Kaffeemaschine. Jürgen Fischer nahm zwei Becher aus dem Schrank, schüttete Kaffee ein. Er trat zu seiner Kollegin und reichte ihr einen Becher.

»Schwarz, nicht wahr?«

Sie nickte.

»Warum machst du den Tatort nicht?«

»Es ist angeblich Markus Klewer.«

»Der Politiker?«

»Ja. Ich kann den Tatort nicht machen. Ich bin befangen.«

»Was?« Fischer ging zum Fenster und lehnte sich an die Fensterbank, er nippte an seinem Kaffee.

Sabine stellte ihren Becher, ohne getrunken zu haben auf den wackeligen Couchtisch. Sie vergrub ihr Gesicht in den Händen. »Bitte«, murmelte sie. »Die Spurensicherung ist schon unterwegs.«

Fischer spürte die Dringlichkeit in ihrer Stimme, konnte die Situation aber nicht einordnen. »Wieso bist du befangen? Ich hab gar keinen Dienst, Sabine, ich habe drei Tage frei.«

Seine Kollegin hob den Kopf und schaute ihm zum ersten Mal in die Augen.

»Ich hab ein Problem, wenn der Tote wirklich Klewer ist.« Sie zögerte, schluckte. »Ich habe ein Verhältnis mit ihm.«

»Grundgütiger.« Fischer biss sich auf die Unterlippe. Ihm war in der letzten Zeit aufgefallen, dass Sabine sich verändert hatte. Sie schminkte sich dezent und trug farbenfrohe Kleidung. Auch fröhlicher schien sie zu sein. Er hatte vermutet, dass ein Mann dahinter steckte und sich für sie gefreut.

»Ich hab dir die Notizen mitgebracht. Alles, was mir die Leitstelle gegeben hat an Informationen. Ein Mann ist an der Burg Linn gefunden worden, Klewer, tot. Wahrscheinlich erschossen.«

»Ich dusch schnell und zieh mich an.«

Kapitel 2

Sabine würde Polizeichef Ermter erzählen, dass ihr auf dem Weg nach Linn schlecht geworden wäre. Sie hätte deshalb Fischer gebeten, den Tatort zu übernehmen.

Wenn der Tote wirklich Markus Klewer war, könnte der Fall für Sabine tatsächlich unangenehm werden.

Vor anderthalb Jahren war Sabines Lebensgefährte, ebenfalls Polizist, bei einem Einsatz ums Leben gekommen. Es dauerte lange, bis sie über seinen Tod hinweg war.

»Hast du Klewer geliebt?«

»Nein. Aber er hat mir gut getan.«

Fischer fuhr die Rheinstraße hinunter und bog am Sprödentalplatz rechts ab. Allmählich wurde es hell. Er überlegte, was er über Markus Klewer wusste. Einmal in der Woche mindestens wurde die Familie in der Presse erwähnt. Der Vater war an mehreren Konzernen beteiligt und der Sohn Ratsherr. Hansdampf in allen Gassen. Mitte, Ende 40, verheiratet. In der letzten Zeit hatte es Spekulationen über Bestechung gegeben. Was genau, wusste Jürgen Fischer jedoch nicht, er überflog oft nur die Schlagzeilen der Zeitungen.

Vor der Linner Burg stand ein Streifenwagen. Fischer war bisher nur einmal hier gewesen, gemeinsam mit der Staatsanwältin Martina Becker hatte er den Flachsmarkt besucht. Das war jetzt zwei Wochen her. Immer noch konnte man die Spuren des großen Ritter-Specktakels sehen, das jedes Jahr zu Pfingsten an der Burg stattfand. Strohbedeckte Teile der großen Wiese vor der Burg, die matschigen Pfade waren ausgetreten und Reifenspuren durchzogen das Gelände.

Fischer parkte seinen Wagen und ging zu den Kollegen der Schutzpolizei.

»Morgen. Jürgen Fischer, KK 11.«

»Du hast dir ja ganz schön Zeit gelassen.«

»Mir ist noch was dazwischengekommen. Ist die Spurensicherung schon da?«

»Gerade eingetroffen. Du musst den Weg dort durch das Tor zur Burg gehen. Hinter den Wirtschaftsgebäuden hältst du dich links. Du gehst am Burggraben vorbei Richtung Brücke. Dort sind die anderen schon.« Fischer nickte. Er zog fröstelnd die Schultern hoch. Nachts kühlte es immer noch deutlich ab. Allerdings war er nun endgültig wach.

Der Hauptkommissar vergrub die Hände in den Jackentaschen und stapfte den Weg zur Burg hoch. Schon von Weitem konnte er den Tatort erkennen. Scheinwerfer waren aufgestellt worden und Flatterband sperrte das Gelände großräumig ab. Die Kollegen von der Spurensicherung leuchteten in ihren weißen Overalls in der Morgendämmerung. Noch hatte der Tag keine Farben, aber die Vögel zwitscherten munter.

»Guten Morgen.« Fischer hob das Flatterband an und bückte sich darunter.

»Ach, die Kripo. Doch so früh«, witzelte einer der uniformierten Polizisten.

»Was liegt an?« Fischer war nicht nach Scherzen zumute.

»Ein Toter wurde heute Nacht um kurz nach zwei an der Uferböschung gefunden.«

»Wer ist denn um kurz nach zwei hier an der Burg?«

»Ein Pärchen. Sie sind gerade auf der Wache, um das Protokoll aufnehmen zu lassen. Die beiden sind ganz schön durch den Wind.«

»Tja.« Fischer rieb sich über das Kinn, er hatte es nicht geschafft, sich zu rasieren. »Das verstehe ich. Einen Toten findet man nicht jede Nacht. Vor allem nicht bei einem romantischen Spaziergang.«

»Die wollten nicht spazieren gehen.« Der Kollege lachte und schlug mit der geballten Faust mehrmals in die flache Hand. »Die hatten handfeste Pläne. Und nervös sind sie, weil sie verheiratet sind, allerdings nicht miteinander.«

Wie passend, dachte Fischer. Einer der weißgekleideten Männer kam auf ihn zu.

»Jürgen? Ich dachte, Sabine hätte Dienst. Sie hat mich verständigt.«

»Guten Morgen, Siegfried. Sabine war übel. Sie hat mich gebeten, den Tatort zu übernehmen. Deshalb komm ich auch so spät. Tut mir leid.«

»Macht nichts, wir haben gewartet.«

»Irgendetwas Besonderes?«

»Jede Menge Spuren im Uferschlamm. Aber die könnten auch noch vom Flachsmarkt stammen. Soweit ich das mitbekommen habe, dachten die ehrlichen Finder, dass ein Betrunkener am Ufer hockt. Sie haben ihn angesprochen, und als er nicht reagierte, haben sie ihn an der Schulter angefasst. Er kippte nach hinten.«

Ehrliche Finder, Fischer schluckte. Er wusste, dass viele Kollegen scherzten oder manche Situationen ins Lächerliche zogen, um die ständige Konfrontation mit dem Tod auszuhalten. Fischers Ding war das nicht.

»Der Tote saß?«

»Laut ihrer Aussage.«

»Hmm.« Fischer näherte sich dem Ufer. Ein Mann lag schräg zur Seite und nach hinten gekippt zwischen den Pflanzen. Der linke Arm war unter dem Körper verborgen, der rechte in einem unnatürlichen Winkel zur Seite gestreckt.

Fischer trat noch einen Schritt näher, achtete darauf, nicht in Spuren zu treten. Der Tote schien mit einem erstaunten Blick durch den Hauptkommissar hindurchzusehen, der Mund war geöffnet. Ein kleines Rinnsal getrockneten Blutes klebte am Mundwinkel. Es hätte auch Ketchup sein können.

Das Gesicht war trotz der abnormalen Starre deutlich als das des Politikers zu erkennen.

»Klewer«, murmelte Fischer.

»Ja, diesmal war er wohl nicht clever.« Siegfried lachte.

»Ein Mensch ist gestorben. Vermutlich gewaltsam. Das ist nicht die richtige Zeit, um Scherze zu machen.« Fischer beugte sich vor. Es gab keine sichtbaren Wunden. Eventuell auf der anderen Seite oder im Rücken des Mannes, Fischer konnte es nicht sehen.

»Ist ein Arzt da?«

»Ja, Moment. Er steht da hinten und trinkt Kaffee.«

»Kaffee klingt gut.«

»Soll ich dir …?«

»Ne, lass mal. Später.«

Während der Kollege der Spurensicherung ging, um den Arzt zu holen, stand Fischer auf und streckte sich. Er besah sich das Ufer. Einige der hohen Gräser und Rohrpflanzen waren abgeknickt, aber er konnte nicht sagen, ob die Spuren frisch waren.

Er blickte hoch zur Burg, die von der aufgehenden Sonne beschienen wurde. Der Anblick war fantastisch. Schon nach dem Flachsmarktbesuch hatte Fischer sich vorgenommen, die Burg in Ruhe zu besichtigen und mehr über die Geschichte herauszufinden. Er war nur noch nicht dazu gekommen.

Hatte der Fundort etwas mit der Tat zu tun? War Klewer hier umgebracht worden? War er überhaupt umgebracht worden? Alles Fragen, die Fischer noch nicht beantworten konnte.

Siegfried kam mit dem Arzt zurück. In der rechten Hand trug er einen Becher. Dampf stieg daraus empor.

Fischer nahm die Tasse und bedankte sich. Er trat ein wenig zur Seite, trank das Gebräu, das mehr bitter als heiß war. Dann klopfte er die Taschen seiner Jacke ab und fluchte leise.

»Hast du ein Problem?« Siegfried Brüx grinste, zog eine Schachtel Zigaretten aus seinem Overall und reichte sie Fischer. »Ich kenn doch den süchtigen Blick.«

»Hmm.« Fischer inhalierte tief, behielt den Rauch eine Weile in der Lunge, atmete dann heftig aus. »Was glaubst du, ist die Todesursache?«

»Wenn es um Mord oder Tod geht, glaube ich gar nichts. Da warte ich die Fakten ab. Wenn der Dok fertig ist, kleben wir ihn ab und sichern die Spuren. Wird allerdings schwer. Hier sind derartig viele Spuren, dass man womöglich überhaupt keine zuordnen kann.«

Kapitel 3

Hauptkommissar Jürgen Fischer musste seinem Kollegen Siegfried Brüx von der Spurensicherung recht geben. Es war schier unmöglich zu sagen, welche Spuren fallrelevant sein könnten. Sie hatten sämtliche Zettelchen, Zigarettenkippen, Streichhölzer und etwa 300 andere Kleinfunde eingesammelt.

Die Blues Brothers sangen und Fischer nahm sein Handy aus der Jackentasche.

»Guido.«

»Jürgen, wo bist du?«

»Auf dem Weg ins Präsidium. Hast du schon Leute für die MK?«

»Ist es denn Mord?«

»Sieht ganz so aus. Genickschuss. Die Kugel steckt noch im Kopf, es gab keine Austrittswunde. Klewer müsste inzwischen in Duisburg bei der Rechtsmedizin sein.«

»Ja, ich werde höchste Dringlichkeit anordnen. Gut, dass wenigstens die Presse noch nicht Bescheid weiß.«

»Nun ja. Es waren ein paar Zeitungsheinis da. Wir haben sie nicht an den Tatort gelassen und ihnen auch nicht gesagt, wer der Tote ist. Lange wirst du das aber nicht geheim halten können.«

»Scheiße!«

»Was ist mit der Familie? Weiß sie Bescheid?« Fischer hatte sich an der Tankstelle Zigaretten gekauft und fummelte eine aus der Schachtel.

»Ich hatte ja noch keinen eindeutigen Befund. Fährst du hin?«

»Jetzt? Alleine? Noch bevor ich ins Präsidium komme?«

»Du kannst Sabine mitnehmen.«

Ganz schlechte Idee, dachte Fischer. »Ich fahr eben kurz zu mir, zieh mich um, rasier mich und komm dann ins Präsidium. Ich beeil mich auch, Chef.«

»Ja, bitte. Ich möchte nicht, dass die Familie das aus anderen Quellen erfährt.«

Der Familie einen Tod mitzuteilen, gehörte zu den unangenehmsten Aufgaben seines Jobs. Jürgen Fischer zog heftig an der Zigarette, drückte sie dann im überquellenden Aschenbecher aus. Irgendwie musste er vermeiden, dass Sabine Thelen mitkam. Er nahm das Handy, drückte die Kurzwahl zu ihrem Dienstapparat. Mit kurzen Worten erklärte er ihr die Situation und legte ihr nahe, einen Termin außerhalb des Präsidiums zu haben. Dann parkte er seinen Wagen auf der Rheinstraße im Halteverbot. 15 Minuten später erschien er rasiert und in Anzug und Krawatte im Polizeipräsidium am Nordwall. Er grüßte den diensthabenden Kollegen am Eingang und eilte dann die Treppe hoch in den vierten Stock.

Polizeichef Guido Ermter saß im leeren Besprechungszimmer auf der Tischkante.

»Hallo, Chef. Hier bin ich. Wo ist Sabine?«

»Die musste weg.« Ermter zog die Stirn kraus. Dann musterte er Fischer. »Holla, hast du dich schick gemacht? Geschminkt und parfümiert? Willst du direkt anschließend zur Staatsanwaltschaft und der Becker deine Aufwartung machen?«

»Ha, ha, ha.« Fischer nahm die Zigaretten aus der Tasche, schüttelte eine heraus, zündete sie an. »Wo wohnt Klewer und wo ist Sabine?«

»Bist du schlecht gelaunt oder was?«

»Guido, ein Mensch ist gestorben. Mir ist einfach nicht nach flachen Witzen.«

»Oh, wir haben den philosophischen Tag? Sabine ist nicht da. Sie ist zum Arzt, hat wohl Kreislaufprobleme. Du kannst Uta mitnehmen. Klewer wohnt auf der Jentgesallee.« Ermter stand auf und stopfte sein Hemd in die Hose, er warf einen Blick auf die Armbanduhr.

»Es ist kurz nach neun. Um 11:30 treffen wir uns zur ersten Besprechung. Schaffst du das?«

»Wer nimmt an der Obduktion teil?«

»Tja, ich weiß nicht, wie schnell die in Duisburg sind. Frag doch mal nach, wann Klewer dran ist. Wenn möglich, solltest du dabei sein. Sag mir Bescheid, ich setze die Besprechung dann an.«

Schweigend lenkte Fischer den Wagen in Richtung Stadtwald. Kommissarin Uta Klemenz saß neben ihm und feilte ihre lackierten Fingernägel. Sie war erst vor Kurzem von der Sitte ins KK 11 gewechselt.

»Bei der Sitte«, hatte sie zu ihm gesagt, »gibt es alles, was du dir vorstellen kannst. Und einiges, was du dir im Leben nicht vorstellen möchtest.«

Das Entsetzen wäre zu groß geworden, hatte sie ihren Wechsel begründet. Fischer fragte sich, ob Mord und schwere Delikte ein Wechsel zum Besseren waren. Die Jentgesallee war zugeparkt und erst nach einigem Suchen fand er einen Parkplatz.

»Da vorne ist eine Kinderarztpraxis, deshalb die vielen Wagen«, klärte ihn Klemenz auf. »Montags morgens tobt hier der Mob.«

Das Haus lag verborgen hinter großen Kirschlorbeerbüschen. Die Einfahrt war mit säuberlich geharktem Kies bedeckt. Wellenmuster, stellte Fischer fest, keine Autospuren. Ob wohl jeden Tag aufs Neue geharkt wurde? Und wer machte das? Der Gärtner? Hatte ein Politiker so viel Geld? War Klewer nur Politiker oder hatte er noch einen Brotjob?

»Ich wollte schon immer mal in eines dieser Häuser. Geldadel. Sie hat reiche Eltern, er kommt aus einer vermögenden Familie. Das passt.«

Hat ihn aber nicht davor geschützt, mit einem Genickschuss zu enden. Glücklich konnte seine Ehe auch nicht gewesen sein, denn wie passte sonst Sabine in das Bild? Fischer räusperte sich, holte tief Luft. Es roch nach dunkler Erde und schwerem Blumenduft, Friedhofsaroma. Ihn schauderte. Schnell rückte er die Krawatte gerade und drückte den Klingelknopf. Big Ben.

Niemand öffnete. Bis auf diffuse Geräusche von der Straße und Vogelgezwitscher war kein Ton zu hören. Fischer schellte erneut.

Nach dem dritten Mal wollte er aufgeben, doch da wurde die Tür geöffnet.

»Ja?«

Eine Frau wie aus einem Magazin, dachte er. Pastellfarbenes Twinset, Rock bis kurz über die Knie, hochhackige Schuhe, Perlenkette, Perlenohrringe und eine Frisur wie Jackie Kennedy in ihren besten Zeiten, nur blond. Läuft man so vormittags zu Hause herum?

»Frau Klewer? Kriminalpolizei. Hauptkommissar Jürgen Fischer. Dies ist meine Kollegin Uta Klemenz.«

»Ja, ich bin Birgit Klewer. Womit kann ich Ihnen helfen? Geht es um die Einbrüche in der Nachbarschaft?«

Fischer schluckte, er hasste es, diese Art von Nachricht überbringen zu müssen.

»Es geht um Ihren Mann.« Uta Klemenz lächelte. Wie konnte sie jetzt lächeln?

»Mein Mann? Der ist nicht da. Versuchen Sie es doch im Büro.«

Er war die ganze Nacht nicht da, dachte Fischer. Ob das normal war? Sie schien sich keine Sorgen zu machen.

»Bitte, Frau Klewer, lassen Sie uns eintreten.«

»Wenn es um diese Baugeschichte geht, dann gebe ich keine Auskunft.« Plötzlich wurde die Frau unwirsch.

»Frau Klewer, wir müssen Ihnen etwas mitteilen. Das sollten wir nicht hier draußen besprechen.«

Jetzt schien sie etwas zu ahnen. Sie biss sich auf die Lippen und öffnete die Tür weiter, ließ die beiden eintreten. Der Flur war so groß wie Fischers Wohnzimmer und Küche zusammen. Er vermutete, dass der Boden mit Marmor belegt war. Die Wände waren zum Teil verspiegelt, zum Teil dunkel getäfelt.

Eine zweiflüglige Glastür trennte den Eingangsbereich vom Wohnzimmer. Links ging ein Flur ab, rechts führte eine Treppe nach oben.

Frau Klewer öffnete die Tür zum Wohnzimmer. Eine Wand war komplett verglast und man konnte über die große Terrasse in den Garten blicken. Große Hortensienbüsche erkannte Jürgen Fischer und verblühten Flieder. Uta Klemenz stieß einen leisen Pfiff aus. Fischer sah sie strafend an und hoffte, dass Birgit Klewer es nicht gehört hatte.

»Bitte nehmen Sie doch Platz. Kann ich Ihnen etwas zu trinken anbieten? Kaffee vielleicht?«

Obwohl sie deutlich blasser geworden war und ihre Hände nervös knetete, gab sie immer noch die perfekte Gastgeberin.

»Nein, danke.« Fischer setzte sich auf das schwarze Ledersofa mit den Chrombügeln. Irgendein Designermöbel vermutlich.

Uta nahm neben ihm Platz und nach einigem Zögern setzte sich die Hausherrin auf den passenden Sessel ihnen gegenüber.

»Ich muss Ihnen eine unangenehme Nachricht überbringen.« Fischer beobachtete sie genau. Würde sie zusammenbrechen?

»Markus hatte einen Unfall … nein, dann hätte das Krankenhaus angerufen … er ist tot …«

»Ja.«

Einen Moment lang konnte Fischer nur das Summen der Stille hören, dann schluchzte Birgit Klewer auf, vergrub ihr Gesicht in den Händen. Er sah Uta an. Sollten sie etwas tun? Ihn machten weinende Frauen hilflos.

Noch bevor er etwas sagen konnte, setzte sich Frau Klewer wieder aufrecht, zog ein Taschentuch aus dem Ärmel ihrer Jacke. So was kannte Fischer nur von seiner Mutter. Die Frau des Politikers putzte sich die Nase, tupfte die Augen ab.

»Was ist passiert?« Ihre Stimme klang ruhig. Zu ruhig, meinte der Hauptkommissar. Die Ruhe vor einem nervösen Zusammenbruch.

»Er ist ermordet worden. Letzte Nacht. Viel mehr wissen wir noch nicht.«

»Können wir etwas für Sie tun? Jemanden anrufen? Ihre Eltern? Schwiegereltern?«

»Um Gottes willen, nein. Das werde ich selbst machen. Wo ist er jetzt?«

»In Duisburg in der Rechtsmedizin.«

»Rechtsmedizin?«

»Ja, Frau Klewer, es ist wahrscheinlich ein Mordfall und deshalb müssen gewisse Untersuchungen gemacht werden.«

»Sie meinen eine Obduktion?«

Jürgen Fischer nickte.

Frau Klewer seufzte, stand auf, strich ihren Rock glatt und ging zu einem Schrank an der Seite des großen Raumes. Sie öffnete ein Barfach und schenkte sich etwas ein.

»Entschuldigen Sie, mir ist etwas flau.«

»Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen.«

Frau Klewer trank das Glas mit einem Zug leer.

»Möchten Sie Ihren Mann vorher sehen?«

»Muss ich ihn identifizieren?«

»Nein. Sie müssen ihn nicht identifizieren. Aber vielleicht möchten Sie …« Der Hauptkommissar stockte, rieb über das Kinn. »Vielleicht möchten Sie ihn vorher noch einmal sehen, um Abschied zu nehmen.«

Die Frau starrte ihn an, nickte dann kaum merklich, drehte sich zur Bar um und schüttete sich ein weiteres Glas ein.

»Abschied nehmen … ja, gut. Ich hol nur meine Jacke.«

Auf der Fahrt schwiegen sie. Hin und wieder schnäuzte sich Birgit Klewer die Nase und tupfte die Augenwinkel ab. Ihre schlichte Handtasche hielt sie auf dem Schoß fest umklammert.

Uta Klemenz hatte auf dem Rücksitz Platz genommen. Fischer sah in den Rückspiegel und stellte erleichtert fest, dass sie sich nicht die Fingernägel feilte.

An der Tür des Leichenschauraumes zögerte Frau Klewer.

»Es tut mir leid.« Hauptkommissar Jürgen Fischer legte ihr die Hand auf den Arm.

Die Frau wich zurück, schüttelte seine Hand ab, streckte den Rücken. Sie sah ihn nicht an, blickte steif nach vorn. Fischer öffnete die Tür. Eine unangenehme Kälte schlug ihnen entgegen, durchsetzt von dem Geruch nach Desinfektionsmitteln.

Doktor Meyer, der amtliche Gerichtsmediziner des Bezirks, kam ihnen entgegen. Stumm schüttelte er Birgit Klewer die Hand. Er führte sie in den Raum, hob das Laken an, das die Leiche bedeckte.

»Sollen wir Sie einen Moment mit ihm allein lassen?«

Birgit Klewer drückte die Schultern nach hinten, schaute noch einmal auf das Gesicht ihres toten Mannes, schüttelte dann den Kopf. Abrupt drehte sie sich um und ging zu Tür.

»Das ist nicht nötig, wir können wieder fahren.«

Fischer wandte sich zu Doktor Meyer. Dieser deutete ihm mit einer Geste, noch einen Moment zu warten. Nachdem die Frau des Politikers den Raum verlassen hatte, fragte er: »Bleiben Sie direkt hier?«

»Wieso?«

»Obduktion.«

»Stimmt. Warten Sie, ich klär das ab.«

Frau Klewer stand im Gang am Fenster, sie schaute nach draußen. Fischer wusste, dass es dort nichts zu sehen gab, als eine hohe Backsteinmauer.

»Frau Klewer? Sollen wir jemanden für Sie anrufen?«

Sie drehte sich um, sah Fischer an. Ihre Augen waren gerötet aber trocken.

»Nein. Aber ich möchte nach Hause. Es wird eine Menge zu regeln sein.« Sie strich sich über die Haare, kontrollierte einen Ohrring. »Wie ist er … ich meine, wie wurde er …?«

»Ganz genau wissen wir das noch nicht. Wahrscheinlich ist er erschossen worden.«

»Hatte Ihr Mann Feinde?« Uta Klemenz war zu ihnen getreten.

»Wie bitte?«

»Hatte er Feinde? Wurde er bedroht?«

Birgit Klewer lachte tonlos. »Mein Mann war Politiker. Und Anwalt. Er hatte eine Menge Freunde, aber natürlich auch Feinde. Markus war ein Mann, der polarisierte.«

Irgendetwas an ihrer Sprechweise störte Fischer.

»Ist er bedroht worden?«

»Das weiß ich nicht. Über seine Arbeit haben wir so gut wie nie gesprochen. Ich habe natürlich an öffentlichen Terminen teilgenommen, aber wissen Sie, Politik interessiert mich nicht sonderlich.«

»Wer könnte denn wissen, ob er bedroht wurde, falls es so war?«, fragte Fischer.

»Seine Parteikollegen?« Es lag ein deutliches Fragezeichen in ihrer Antwort. »Ich kann Ihnen wirklich nicht helfen. Ich möchte nach Hause.«

»Ja, natürlich. Falls Ihnen noch etwas einfällt, jede Kleinigkeit könnte wichtig sein, rufen Sie mich oder das Präsidium an.« Fischer zog eine Visitenkarte aus seiner Jackentasche. Ihre Hände zitterten fast unmerklich, als sie die Karte entgegennahm.

»Frau Klemenz wird Sie nach Hause fahren.«

»Ach?« Uta Klemenz zog eine Augenbraue hoch.

»Ja, ich hab hier noch zu tun.« Fischer gab ihr den Autoschlüssel. Er sah hinter den beiden Frauen her, bis sie den Aufzug betraten. Er hatte die unterschwellige Unruhe bei Frau Klewer spüren können. Sie war eine sehr beherrschte Frau oder eine gute Schauspielerin, aber ungerührt hatte sie der Tod ihres Mannes nicht gelassen.

»Fischer?«

Der Hauptkommissar hörte die Stimme des Gerichtsmediziners durch den Flur hallen.

»Einen Moment noch, Doktor Meyer. Ich bin gleich bei Ihnen.«

Fischer zog die Zigaretten aus der Tasche. Hier war Rauchen verboten, aber es hielt sich niemand daran. Bevor er bei der Obduktion zusah, musste er seinen Magen und seine Nerven beruhigen. Es war ein Anblick, an den er sich nie gewöhnen würde.

Immer wieder kehrten seine Gedanken zu Birgit Klewer zurück. Er bedauerte es, dass nicht Oliver Brackhausen oder Sabine Thelen den Termin mit ihm wahrgenommen hatten. Mit ihnen konnte er reden, mit Uta Klemenz nicht. Oder vielleicht doch? Er hatte es noch nicht probiert.

Ich muss Ermter Bescheid sagen, dass ich hier bleibe und wir die Besprechung verschieben müssen, fiel ihm ein. Er öffnete das Fenster, schmiss die Zigarette nach draußen und zog das Handy aus der Tasche.

Zwei Stunden später hielt Oliver Brackhausen in einem mintgrünen Ford vor einem Stehcafé in Duisburg. Hauptkommissar Jürgen Fischer trank den letzten Schluck Kaffee und warf den leeren Plastikbecher zusammen mit einem halben, belegten Brötchen in den Abfallkorb.

»Und?« Brackhausen beschleunigte, noch bevor Fischer angeschnallt war.

»Und was? Es war grauenhaft wie immer.«

Kapitel 4

»Also Mord.« Polizeichef Guido Ermter verschränkte die Arme vor der Brust. »Jürgen, du leitest die MK. Wer macht die Spuren?«

Sabine Thelen meldete sich. Erstaunt hob Ermter die Augenbrauen. »Gut, okay. Dann haben wir noch Oliver, Roland, Uta. Mal sehen, wen wir noch hinzuziehen können. Wir müssen handeln, schnelle Ergebnisse erzielen. Der Mann stand in der Öffentlichkeit, die Presse wird abgehen wie ein Zäpfchen.«

»Ich weiß nicht, ob ich die MK leiten soll, Guido. Ich bin nicht aus Krefeld, kenne die Hintergründe, die Familie, die Zusammenhänge nicht.« Fischer nahm sich ein Gummibärchen. Ermter hatte eine Tüte mitgebracht, aufgerissen und den Inhalt auf den Tisch geschüttet. Er sortierte das Weingummi nach Farben. Hier Rote, dort Grüne, da Gelbe.

»Nun ja. Vielleicht ist das ganz gut so. Du gehst unbelastet an den Fall. Jeder von uns kannte Markus Klewer. Vielleicht nicht persönlich, aber … Er war ein bekannter Rechtsanwalt, politisch sehr aktiv. Die Familie hat großen Einfluss in der Stadt. Wenn du Fragen hast?« Ermter nahm ein rotes Gummibärchen. Er zerkaute es nicht sondern lutschte. Das hatte ihm sein Arzt empfohlen, um vom Nikotin wegzukommen.

»Hab ich. Jede Menge.« Fischer holte einen Notizblock hervor. »Also, ich weiß, dass Markus Klewer 46 war, verheiratet mit Birgit Klewer, 41. Haben die beiden Kinder? Er war Rechtsanwalt. Auf irgendein Gebiet spezialisiert? Hatte er Partner? Welche Stellung hatte er in der Partei?«

Fischer sah auf, ließ den Blick durch die Runde wandern. Nur Sabine Thelen schaute er nicht an. Ihm war bewusst, dass sie an der Untersuchung teilnehmen musste. Sie waren unterbesetzt. Trotzdem hatte er kein gutes Gefühl dabei.

»Sie haben zwei Söhne, 17 und 20. Julian und Felix. Der jüngere ist in einem Internat bei Bonn und der ältere studiert in England.« Sabine Thelens Stimme klang ruhig und sachlich. »Er ist auf Baurecht spezialisiert und hat einen Partner in der Kanzlei, Klaus Dieckhoff. Letztes Jahr hat Klewer den Kreisparteivorsitz übernommen. Nach einer Kampfabstimmung. Jetzt steht die Partei aber hinter ihm.«

Da war etwas, was Fischer aufhorchen ließ, nur wusste er nicht was.

»Wir müssen herausbekommen«, fiel Hauptkommissar Roland Kaiser ihr ins Wort, »wo seine letzte große Baustelle war.«

»Baustelle?«

»Ich meine, womit er sich in der letzten Zeit beschäftigt hat. Er hat schon immer kontroverse Ideen gehabt, hat die Leute sozusagen aufgemischt. Er war zum Beispiel für das Kohlekraftwerk. Und für das Eisstadion, den Behnischbau. Da gab es noch mehr. Und irgendwo dort wird auch das Motiv zu suchen sein. Ein politisches Motiv.«

»Vermutlich. Aber nicht sicher. Wer weiß, was er so privat getrieben hat. Feinde können überall hocken.« Fischer rieb sich über das Kinn und vermied es, Sabine anzusehen.

»Nein, nicht vermutlich. Ganz sicher war es politisch.«

»Na ja, Jürgen hat schon Recht. Wir müssen in alle Richtungen ermitteln. Sein Privatleben, seine Arbeit, die Politik. Alles eben. Einerseits ist es vielleicht einfacher, dass er in der Öffentlichkeit stand, aber andererseits könnte das auch problematisch sein.« Der Polizeichef nahm ein weiteres Gummibärchen, ein gelbes.

»Wie war die Obduktion?« Oliver Brackhausen schenkte Kaffee ein. »Irgendetwas Besonderes?«

»Nein, keine Spuren von Kampf, keine weiteren Wunden. Die Kugel ist im Nacken eingetreten, aufgesetzter Lauf, kleinkalibrige Waffe, Bleigeschoss. Sie hat das Stammhirn getroffen und aus die Maus. Keine Austrittswunde. Das Geschoss wird noch untersucht. Ich tippe auf eine Sig Sauer oder eine Korth. Er muss gehockt oder gesessen haben, Kinn auf der Brust. Eine klassische Hinrichtung.« Fischer schaute zu Sabine, sie nippte an ihrem Kaffee, hörte zu. Er nahm ihr den gelassenen Ausdruck nicht ab.

»Die Spurensicherung wertet noch aus.« Ermter wählte ein rotes Weingummi, lutschte. »Allerdings haben sie mir wenig Hoffnung gemacht, irgendetwas von forensischem Wert zu finden. Wir stehen ganz am Anfang, müssen aber mit Hochdruck arbeiten. Heute oder morgen kommt ein Anwärter aus Köln. Wer nimmt den unter die Fittiche? Oliver?«

Oliver Brackhausen nickte.

»Gut. Also legen wir los. Um fünf treffen wir uns wieder hier, falls nicht vorher etwas Wichtiges ist. Spätestens heute Abend werde ich eine Presseerklärung machen müssen. Es wäre natürlich schön, wenn wir dann schon Ergebnisse hätten.«

»Ergebnisse?« Fischer schnaubte. »Am besten gleich den Täter, ja?«

»Das wäre sicherlich am besten. Die 48 Stunden laufen. Danach erkalten alle Spuren, das wisst ihr genauso wie ich. Auf zur Tat.« Ermter erhob sich.

Danach erkalten alle Spuren. Welche Spuren, dachte Jürgen Fischer, noch tappen wir im Dunkeln.

Der Raum leerte sich. Uta Klemenz saß auf der Fensterbank und zog sorgfältig ihren Lippenstift nach. Fischer trat auf sie zu. »Hat sie noch etwas erzählt?«

»Wer?«

»Die Klewer, auf der Heimfahrt. Hat sie noch irgendetwas gesagt, was von Bedeutung ist?«

»Nö.« Uta Klemenz stand auf. »Sie hat ihr Handy rausgeholt und Dieckhoff, den Partner ihres Mannes angerufen. Danach hat sie ihr Make-up überprüft und aus dem Fenster geschaut.«

»Was hat sie zu Dieckhoff gesagt?«

»Weiß nicht mehr. Irgendwie … Markus ist tot. Er ist ermordet worden. Nicht viel mehr. Als wir in Krefeld ankamen, stand der Mann schon vor der Haustür.«

»Uta, wie hat sie das gesagt? Ich meine, in welchem Tonfall?«

»Ziemlich ruhig.«

»Und?«

»Nix und. Die Frau ist aus Eis. Eine Maschine ohne Gefühle. Sie kann nur posieren und mehr nicht. Ich wette, sie hat auch keinen Spaß am Sex.«

Klemenz ging an Fischer vorbei in den Flur.

Keinen Spaß am Sex? Fischer schüttelte den Kopf. Wer weiß, dachte er, manchmal sind stille Wasser tief. Und deine Partner, Uta, brauchen wahrscheinlich einmal im Monat eine Hauttransplantation am Rücken. Ob der Kompagnon noch bei Klewers war? Mit ihm wollte Fischer als Erstes reden.

Kapitel 5

»Nun mach endlich den Zwinger zu, Herrgottnochmal, Sebastian!« Die laute Stimme von Andreas Brünken hallte über den Hof. »Willst du, dass die Köter wieder rauslaufen, nachdem wir sie mühsam dort eingesperrt haben? Also wirklich!«

Sebastian Horster, ein schmaler Mittzwanziger schlug die stählerne Tür zu und schloss den Riegel, dann zog er seine Jeans hoch.

»Hast du eigentlich keinen Gürtel?«, witzelte Brünken boshaft. Er war nur wenige Monate älter als Sebastian, wog etliche Kilo mehr. Seine Hosen rutschten nicht.

»So!« Zufrieden rieb er sich die Hände. »Feierabend für heute. Du kannst sie noch füttern und dann auch Schluss machen. Vergiss bloß nicht, das Tor abzuschließen.«

Andreas Brünken schaute Sebastian Horster noch einmal herablassend an und stieg dann in seinen M3, ließ den Motor aufheulen, sodass die Hunde in den Zwingern losbellten, dann fuhr er vom Hof.

»Ja, du blöder Angeber, mach ich. Ich füttere die Hunde, schließe das Tor und fahr dann nach Hause. Vielleicht reiß ich auf dem Heimweg auch ein Mädel auf. Dafür brauch ich keinen tiefergelegten, lauten und schnellen 3er BMW, bei mir reicht ein Fahrrad!« Sebastians Worte vermischten sich mit dem ängstlichen Bellen und Fiepen der Tiere.

»Shhh, ruhig. Ist ja alles gut. Kommt, kommt. Es gibt Futter«, beruhigte er die aufgeregten Tiere. Viel bekamen sie allerdings nicht. Andreas hatte die Menge genau berechnet.

Obwohl Sebastian jeden Morgen die Zwinger säuberte, stank es nach Kot und Urin. Er konnte sich nicht an den scharfen Geruch gewöhnen, egal, wie lange er auf dem Hof war. Das Tor schloss sich mit einem lauten Quietschen. Er legte die Kette vor, vergewisserte sich zweimal, dass abgeschlossen war und schwang sich auf das Fahrrad.

Seit einem Jahr wohnte er am Rande von Linn. Es war seine erste eigene Wohnung und obwohl es im Grunde nur ein Zimmer mit Bad war, fühlte er sich wohl hier. Sebastian zog die Arbeitsschuhe im Hausflur aus, er nahm sie nie mit hinein. Von einem kleinen Flur ging es rechts in das Bad. Der junge Mann streifte seine Arbeitshose ab und ließ sie auf dem Boden liegen.

Jeden Tag duschte er, sobald er nach Hause kam. Obwohl er sich gründlich einseifte, hatte Sebastian immer das Gefühl, den Gestank von Hundekot nicht loszuwerden.

Die Arbeitssachen steckte er in einen blauen Müllsack. Am Wochenende würde er alle Hosen im Waschsalon reinigen.

Er hatte gerade eine Tiefkühlpizza in den Ofen geschoben, als es schellte.

»Du ahnst nicht, was ich gesehen habe.« Gesa Altmann ließ sich auf das durchgesessene Sofa fallen. Sie war 17 und somit einige Jahre jünger als er. Letztes Jahr hatte er sie bei einer Veranstaltung in der Innenstadt kennen gelernt. ›Die größte Straßenmodenschau‹ war ein Publikumsmagnet. Auf mehreren Bühnen zeigten verschiedene Designer die kommende Mode, aber auch andere Darbietungen wurden gezeigt. Gesa trat mit einer Tanzgruppe auf.

Sebastian konnte es kaum glauben, als sie ihn nach der Vorstellung ansprach. Er lud sie zu einer Cola ein und seitdem waren sie ein Paar.

»Was hast du gesehen?«

»Ich war hinten am Mühlenbach. Wollte mal schauen, ob sich was in den Nistkästen getan hat.«

Gesa war beim Naturschutzbund. Sebastian fand, dass ihre Begeisterung über das normale Maß hinausging. Trotzdem begleitete er sie hin und wieder zu Treffen. Auch als neulich die Streuobstwiesen gepflegt werden mussten, hatte er mitgemacht.

»Ich glaube, dort haben sich Fledermäuse eingenistet. Ganz sicher bin ich mir nicht, dafür müsste ich nachher noch mal dort hin, wenn es dunkler ist. Aber etwas Anderes habe ich gesehen.«

»Was denn?«

»Rate mal.«

»Och komm, Gesa, ich hab doch keine Ahnung. Nun mach’s nicht so spannend.«

»Eine Wasserralle.«

»Eine was?«

»Das ist eine Art Teichhuhn und sehr, sehr selten. Ich meine sogar, sie gehört zu den bedrohten Tierarten. In Kleve sind ein paar Pärchen angesiedelt worden, aber hier hab ich noch nie welche gesehen. Ein Pärchen sollte auch hier brüten, das hatte Matthes letztes Jahr schon erzählt. Nur gesehen hat es niemand und Matthes erzählt viel, wenn der Tag lang ist.« Gesa streifte die Schuhe ab und zog die Füße hoch. »Ich muss nachher unbedingt noch mal dort hin, am besten mit der Kamera. Kommst du mit?«

»Wolltest du nicht für die Schule lernen? Wegen der Klausuren?«

»Ich hab ja gelernt, aber irgendwann ist Schicht. Da kann ich nichts mehr behalten. So war das auch vorhin. Wie ist es, kommst du mit?«

»Ja, sicher.« Eigentlich hatte Sebastian sich auf einen ruhigen Abend mit dem neuen Bruce-Willis-Film gefreut. Er hoffte, dass die Exkursion nicht allzu lange dauern würde. »Magst du Pizza?«

»Ist das Tiefkühlpizza? Igitt, dass du immer so ein Zeug frisst.«

Sebastian antwortete nicht. Es gab einige Themen, bei denen sie sich nie einigen konnten. Gesas Vater war Staatsanwalt in Krefeld. Außerdem war er Hobbykoch. Bei ihm kamen nur Lebensmittel aus biologischem Anbau auf den Tisch. Dass Sebastian sich so etwas von seinem kleinen Gehalt nicht leisten konnte, begriff Gesa nicht.

Während er inzwischen lustlos seine Pizza aß, telefonierte sie mit verschiedenen Leuten vom Naturschutzverband.

Früher, hatte Gesa ihm erzählt, waren sie alle Mitglieder beim Nabu. Doch die täten nicht genug und wären nicht rigoros. Deshalb hatte sich eine kleine Gruppe abgespalten und neu organisiert.

»Ich bin mir ziemlich sicher, dass es Kaulquappen vom Moorfrosch waren. Die Wasserralle … das wäre eine Sensation. Ich kann es immer noch nicht glauben. Dabei wollte ich nur nach den Nistkästen schauen.« Mit ihrer Begeisterung konnte das junge Mädchen andere anstecken. Das war etwas, was Sebastian an ihr liebte. Was sie tat, tat sie mit ganzem Herzen.

»Die Kleinabendsegler scheinen Nachwuchs zu haben. Sicher wissen wir das aber erst, wenn wir heute Abend die Kästen kontrollieren. Kommst du auch? Wir treffen uns an der Burg.«

Kapitel 6

»Jürgen? Mir ist da noch etwas eingefallen.«

Hauptkommissar Jürgen Fischer war die Treppe schon halb hinuntergelaufen, als Polizeichef Guido Ermter ihn aufhielt.

»Ist es etwas Wichtiges? Ich wollte gerade los zu Claus Dieckhoff.«

»Klewers Partner? Na ja, ich dachte, du gehst eben bei der Staatsanwaltschaft vorbei. Wenn mich nicht alles täuscht, gab es letztes Jahr ein Verfahren gegen Klewer. Bestechung, mein ich. Oder war das doch der andere? Der Fraktionschef?«

»Letztes Jahr habe ich noch nicht in Krefeld gearbeitet. Aber das wäre natürlich auch interessant.«

»Na, dann grüß mal Frau Becker von mir.« Ermter zwinkerte Fischer zu.

Blödmann, dachte der Hauptkommissar. Obwohl die Staatsanwältin Martina Becker gebürtige Krefelderin war, hatte sie erst vor ein paar Wochen hier eine Stelle übernommen. Sie und Fischer hatten gemeinsam einen Fall bearbeitet und sich angefreundet.

Sie waren ein paar Mal miteinander ausgegangen und Jürgen Fischer schätzte sie nicht nur als Gesprächspartnerin. Er war sich nicht sicher, ob mehr daraus werden könnte.

Einmal waren sie nach einer Theatervorstellung in der »Fabrik Heeder« in der Gaststätte »Kulisse« essen gewesen und hatten dort Ermter mit seiner Frau getroffen. Seitdem zog ihn der Chef bei jeder Gelegenheit mit zweideutigen Bemerkungen auf.

Jürgen Fischer klopfte an die Bürotür und öffnete sie einen Spalt. »Martina?«

Die Staatsanwältin telefonierte, winkte ihn aber herein. Fischer blieb einen Moment unschlüssig stehen, dann zog er sich einen Stuhl heran und setzte sich.

Martina Becker lächelte ihm zu, verdrehte dann die Augen und zeigte auf den Telefonhörer. Nach einigen Minuten konnte sie das Gespräch beenden.

»Jürgen, hallo. Alles klar bei dir?«

»Tja, sicher. Ich bin beruflich hier.«

»Ein Delikt? Ermter hat sich noch nicht bei mir gemeldet.«

»Wahrscheinlich Mord. Ermter meinte, ihr hättet letztes Jahr gegen das Opfer ermittelt.«

»Wer ist es denn?«

»Markus Klewer, der Kreisparteivorsitzende.«

Die Staatsanwältin schien einen Moment zu erstarren. Dann wandte sie den Kopf und blickte aus dem Fenster.

»Martina?« Fischer holte tief Luft, es roch nach frischem Bohnerwachs und staubigen Akten. Ein ganz leichter Hauch ihres Parfüms war zu erahnen.

»Markus Klewer.« Becker bückte sich, holte ihre Handtasche aus einer Schublade, nahm ein Stofftaschentuch heraus und putzte sich umständlich die Nase. Sie vermied es, Fischer anzusehen.

»Es gab ein Ermittlungsverfahren. Da war ich aber noch nicht hier. Altmann hat das geleitet und ich denke, er wird auch nun den Fall übernehmen.«

»Warum? Ich meine, warum übernimmst du ihn nicht?«

Martina Becker strich sich durch die kurzen, dunklen Haare. Ein Sonnenstrahl ließ ihren Ohrring glitzern.

»Nun, ich muss das erst mal klären. Habt ihr schon einen Verdacht?«

»Nein, wir stehen ganz am Anfang. Dann werde ich mal mit Altmann reden.« Fischer stand auf. Er fand sie merkwürdig distanziert.

»Altmann ist bei Gericht. Diese große Betrugssache. Dauert bestimmt bis heute Nachmittag.«

»Okay, dann komm ich später wieder.« Der Hauptkommissar ging zur Tür, drehte sich noch mal um, sah sie an. »Alles in Ordnung mit dir?«

»Ja, wieso?« Die Staatsanwältin sah ihn immer noch nicht an. Fischer schüttelte den Kopf. »Ich meine nur.«

»Magst du nachher mit mir essen gehen? Ich könnte einen Tisch beim Spanier auf dem Großmarkt bestellen.«

Jürgen Fischer überlegte. »Ich weiß nicht, wie lang der Tag heute wird. Kommt darauf an, ob wir irgendwelche Spuren haben. Grundsätzlich aber ja. Nicht so früh allerdings.«

»Neun? Halb zehn? Du kannst dich ja nachher noch mal melden.«

»Ja.« Jürgen Fischer verließ das Büro. Auf dem Flur blieb er einen Moment stehen und rieb sich mit der flachen Hand über das Gesicht. Irgendetwas an ihrem Verhalten kam ihm merkwürdig vor. Vielleicht war es aber einfach nur Stress.

Eine halbe Stunde später saßen Jürgen Fischer und Oliver Brackhausen in der Kanzlei von Klewer und Dieckhoff. Die Räume lagen im Erdgeschoss einer gepflegten Jugendstilvilla an der Bismarckstraße. Brackhausen streckte die Beine von sich und massierte sich den Nacken.

»Kopfschmerzen?« Fischer sah ihn belustigt an. »So viel Bier haben wir doch gar nicht getrunken.«

»Ja, Kopfschmerzen. Als ich zu Hause war, hat Vera angerufen. Wir haben uns gestritten und ich habe mir anschließend noch ein oder zwei Whiskey genehmigt. War wohl keine so gute Idee.«

»Ihr habt euch gestritten? Ich dachte, es liefe ganz gut.«

»Ach, ich weiß auch nicht. Es ging ums nächste Wochenende. Ist schon blöd, dass sie jetzt nicht mehr in Krefeld arbeitet und irgendwie bekommen wir das mit unseren Diensten nicht geregelt. Sie hat nächstes Wochenende frei, ich aber nicht.«

»Sie kann doch hierher kommen.«

»Ihre Mutter hat Geburtstag und Vera möchte, dass ich mitfahre zur Familienfeier. Das geht aber nicht und jetzt, mit einer MK, schon gar nicht. Wie das so ist, ein Wort gibt das andere und man sagt Sachen, die man gar nicht sagen will. Kennst du sicherlich auch.«