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Matthias Wittekindt wurde 1958 in Bonn geboren und lebt heute in Berlin. Nach dem Studium der Architektur und Religionsphilosophie arbeitete er in Berlin und London als Architekt. Es folgten einige Jahre als Theaterregisseur. Seit 2000 ist er als freier Autor tätig, schreibt u. a. Radio-Tatorte für den NDR. Für seine Hörspiele, Fernsehdokumentationen und Theaterstücke wurde er mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet. Bei Edition Nautilus erschienen bisher die Kriminalromane Schneeschwestern (2011), Marmormänner (2013) und Ein Licht im Zimmer (2014) mit demselben Ermittlerteam. Für Marmormänner wurde er mit dem 3. Platz des Deutschen Krimipreises 2014 ausgezeichnet.

Matthias Wittekindt

DER UNFALL IN DER
RUE BISSON

Kriminalroman

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Edition Nautilus GmbH

Inhalt

DER UNFALL IN DER RUE BISSON

Am Freitagabend um zehn nach sieben ist noch nichts entschieden.

Alain hat zwei Stunden lang gegen June Tennis gespielt. In der Halle des Centre Fleur, denn draußen regnet es in Strömen.

Die Frauen aus seinem Freundeskreis verstehen nicht, warum er ausgerechnet mit ihr so regelmäßig spielt. June ist weder schön noch auffallend geistreich und selten von irgendetwas zu begeistern. So spielt sie auch Tennis. Mit einer Zähigkeit, die ihre Gegner am Ende einfach zermürbt. Alain tritt gegen keine lieber an als gegen sie.

Beim Duschen nach dem Spiel spürt er, wie sein Herz das Blut durch die Adern drückt, wie schnell sich sein Körper von der Anstrengung erholt. Einen Moment lang fühlt er sich aus allem herausgehoben, ja beinahe unsterblich.

Nach dem Duschen trocknet er sich ab, was er stets etwas hastiger tut als die anderen Männer. Obwohl er gut aussieht und einen durchtrainierten Körper hat, wäre er niemals auf die Idee gekommen, sich langsam abzutrocknen, sich womöglich ein paar Sekunden lang unverhüllt zu zeigen. Manche tun so was ja gerne.

Vielleicht hängt sein scheues Benehmen damit zusammen, dass er jünger ist als die meisten Männer, die ins Centre Fleur gehen, um sich auszupowern. Vor zwei Wochen ist er 28 geworden, wirkt aber eher wie Anfang 20. Dazu kommt, dass Alain eher weibliche Gesichtszüge hat. Wohl deshalb trägt er immer teure und geschäftsmäßige Anzüge. Solche, wie nur Männer sie tragen. Seine Schuhe sind noch edler, wobei er stets welche wählt, die ausgesprochen rustikal wirken.

Nachdem er sich angezogen hat, blickt Alain durch ein Fenster nach draußen. Viel ist nicht zu sehen, denn es wird bereits dunkel. Es ist kurz vor Ostern, die Möglichkeit eines vorgezogenen Frühlings hatte sich Mitte März angedeutet, doch es war wieder kälter geworden. Jetzt regnet es seit Tagen bei Temperaturen um die zehn Grad, und die Böden sind so vollgesogen, dass nichts mehr versickert. Auf den gepflügten Äckern hat er von der Straße aus große Wasserflächen gesehen. Wasser sammelt sich auch in den selten bepflanzten Balkonkästen der Cité Nord, auf den geteerten Flachdächern und in den Spurrillen älterer Straßen.

Es ist jetzt Viertel nach sieben.

Nachdem Alain sich angezogen und sorgfältig gekämmt hat, geht er ins Lacombe, eine Mischung aus Restaurant und Kneipe, zu der nur Mitglieder des Centre Fleur Zugang haben. Eine gut gekleidete Frau, die er nicht kennt, kommt an seinen Tisch, beginnt ein Gespräch. Dabei zeigt sie nach draußen und sagt, es würde wohl noch ein paar Tage so weitergehen mit dem Regen. Alain bleibt wie immer höflich, gibt ihr aber, als sie das Gespräch in eine andere Richtung lenkt, zu verstehen, dass er an einer näheren Bekanntschaft nicht interessiert ist.

Um zwanzig nach sieben kommt sein Freund Michel und setzt sich zu ihm. Sie bestellen zwei Bier, und Alain fragt, ob sie nicht noch zum Bahnhof gehen sollen. Michel hat keine Lust. Also trinken sie. Später kommen noch Nina und ein paar aus dem Freundeskreis. Yvonne sitzt alleine an der Bar, was sie sonst nicht tut, und Nina erzählt etwas Lustiges, über das auch gelacht wird. Alain lacht nicht über Ninas Geschichte. Vielleicht hat sie zu viel getrunken. Er findet jedenfalls, dass sie ein bisschen merkwürdig, ein bisschen überdreht ist.

Und doch hat nichts auf eine Bedrohung hingedeutet.

Wäre Alain unter normalen Umständen drei Tage später nach dem Abend befragt worden, er hätte vermutlich gesagt, es sei wie immer gewesen. Zehn Tage später hätte er sich möglicherweise an nichts mehr erinnert.

Es geht alles zu schnell.

Weil sie wütend ist. Auf eine Art, die ihr guttut, denn sie hat sich durchgesetzt und ist dabei, in Ordnung zu bringen, was sie angerichtet hat.

Wie gut, dass sie sofort gehandelt und sich reingestürzt hat, denn sie kennt sich. Wenn sie erst mal damit begonnen hätte, alles abzuwägen, die Gefühle der anderen, die Gefahren, die Möglichkeit zum Beispiel, dass am Ende die Polizei vor ihrer Tür steht, hätte sie angefangen zu zweifeln und am Ende nichts unternommen. Yvonne gehört zu den Frauen, die sich auf ihre Intelligenz verlassen, auf ihre Fähigkeit zu kommunizieren. Aggressiv eingreifen, das gehört für gewöhnlich nicht zu ihrem Repertoire. Wie hat sie neulich gesagt: ›Es mag Frauen geben, die stolz darauf sind, sich bei allem durchzusetzen. Ich gehöre nicht zu der Sorte.‹

Ein paar Tage noch, dann ist Ostern. Sie wird eine Freundin besuchen. Das ist lange abgemacht und wird, da ist sie sich sicher, auch stattfinden. Wir denken uns ja oft ganz unbesorgt in eine konkrete Zukunft hinein. Wahrscheinlich wird sie ihrer Freundin wieder einen Korb mit blühenden Pflanzen mitbringen, weil die einen Garten hat. Sie wird auch dem Sohn ihrer Freundin etwas mitbringen, denn sie ist seine Patentante. Sie selbst hat noch keine Kinder, aber sie ist auch erst 29. Trotzdem hat sie zu dem Sohn ihrer Freundin ein so nahes Verhältnis, kümmert sich so liebevoll um ihn, als würde sie schon jetzt wissen, dass sie nie Kinder haben wird. Solche Vorahnungen hat sie manchmal. Und niemand rechnet natürlich damit, dass ein Leben mitten im Normalen auf einmal zu Ende sein könnte.

Ihr Zorn hat Einfluss auf die Geschwindigkeit, und im Moment denkt sie weder an Ostern, noch an ihr Patenkind und schon gar nicht an den Tod. Alles in Yvonnes Kopf geht wahnsinnig schnell, aber natürlich wägt sie auch in diesem Tempo noch immer Möglichkeiten ab. Möglichkeiten, in denen die Polizei eine zwar ungenaue, aber doch bedrohliche Rolle spielt.

Rot. Man sieht ihr Auto trotz des Regens. Sie hat die Scheinwerfer eingeschaltet. Deren Licht sieht man im Regen. Deren Licht sogar am besten.

Sie steuert ihren Alfa Romeo auf einen Kreisverkehr zu, sieht dort ein Auto und erschrickt. Sie beschleunigt, schafft es und verlässt den Kreisverkehr gleich an der ersten Ausfahrt.

Die Rue Bisson.

Alleebäume.

Als sie die Scheibenwischer auf eine höhere Stufe stellen will, vertut sie sich und schaltet versehentlich auf die höchste. Die Wischerblätter rasen über die Scheibe, sie sieht nur noch Licht und erschrickt. Wie eben beim Anblick des Autos. Und verliert die Orientierung. Sie schaltet erneut. Zu hastig. Die Scheibenwischer bleiben stehen. Innerhalb von zwei Sekunden sieht sie nichts mehr außer einem wilden Geprassel. Der Tod, ja … Aber doch nicht in diesem Moment. Nur zwei Stufen hoch, nicht drei … Die Zeit kann sich nicht dehnen, aber man hat manchmal das Gefühl, sie täte es. So dauert es erneut eine, vielleicht sogar zwei Sekunden, bis sie den Schalter auf Stufe zwei stellt. Als sie es geschafft hat, sieht sie, dass sie nicht mehr auf der Fahrbahn … es rumpelt schon unter den rechten Rädern, und die Bäume … Gott, wie dumm, nur ein winziger Moment, nur diese dämliche Sache mit dem Schalter für die Scheibenwischer.

Und nun geschieht das Wunder der Gleichzeitigkeit: Sie nimmt, noch während sie ihren Alfa Romeo im letzten Augenblick vom tödlichen Baum wegsteuert … Bitte, oh Gott! … noch während sie es schafft, ihr Leben mit einer blitzschnellen Reaktion zu retten, nimmt sie wahr, dass die Rücklichter des Wagens, den sie verfolgt, sich entfernt haben. Das menschliche Gehirn kann so was: zwei Sachen gleichzeitig. Wir sind Raubtiere. Wir sind auch phantastische Fluchttiere.

Neuer Gedanke.

Sie hat nicht damit gerechnet, dass er flüchten würde. Sie hätte ihn nicht für so dumm gehalten. Das eben – immerhin wäre sie fast gestorben – hat sie abgelenkt, wahrscheinlich ist das der Grund. Sie wird später nicht sagen können, wie viel Zeit vergangen ist, seit sie in ihr Auto stieg. An ein anderes Bild wird sie sich dafür umso genauer erinnern. Das Bild zeigt einen 40 Jahre alten orangefarbenen BMW 2002, der unter einer Traverse steht, an der starke Lampen befestigt sind, deren Licht senkrecht nach unten strahlt. In ihrer Erinnerung wird das Ganze aussehen, als hätte jemand eine weiße Schraffur über ein Foto gelegt. Second Layer. Aber erklärlich. Es regnet wie Sau.

Wie viel Zeit? Sechs Minuten. Oder sieben. Oder nur vier? Und dass sie mit einem Scheibenwischer auf Stufe drei nicht leben konnte und deshalb fast gestorben wäre. Nun, sie lebt, aber das Geschaffte wird bald nicht mehr zählen. Und so wird sich später der unerträgliche Gedanke in ihr breitmachen, dass der Wagen, den sie verfolgte, vielleicht gar nicht beschleunigt hat, sondern dass vielmehr sie selbst, auf Grund der Irritation mit den Scheibenwischern, ein paar Sekunden lang den Fuß vom Gas nahm. Dass sie so gesehen nicht das Recht hatte, ihn zu jagen wie einen Flüchtigen. Aber das alles weiß sie noch nicht. So wenig wie sie weiß, dass sie vom ersten Moment an im Nachteil war. Die Naturgesetze, so komplex sie auch sind, lassen sich Jahr für Jahr genauer berechnen. Man kann sogar Vorhersagen treffen. Welche Entscheidung ein Mensch in einer Stresssituation trifft, ist dagegen kaum zu prognostizieren. Niemand hätte voraussagen können, dass eine Frau wie Yvonne unter diesen Wetterbedingungen, auf einer Straße mit tiefen Spurrillen, randvoll mit Wasser, nach einem gerade überstandenen Beinahecrash das Gaspedal ihres Wagens bis zum Bodenblech durchtreten würde. Aber das tut sie. Das ist die Wut, die sie nicht kennt. Da, zwischen den Bäumen! Man kann es selbst in dem dichten Regen sehen. Auch wenn ihr roter Alfa Romeo genau genommen ein Oldtimer ist, er beschleunigt noch immer sehr gut, das kleine mörderische Ding.

Und dann … passiert etwas Unvorhersehbares, und alles kommt aufs Entsetzlichste an sie heran.

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Da steht er. Man sieht ihn in Menschenansammlungen nur, wenn sich niemand vor ihm befindet, denn mit seinen 1,65 geht er manchmal unter. Der etwas aufgeblähte, luftgepolsterte Blouson vermittelt zwar noch immer den Eindruck, er hätte einen Bauch, doch der ist seit zwei Jahren weg, genau wie der Schnauzbart. So was kann einem Mann passieren. Auf einmal hat er eine Frau und drei Kinder, und der Bauch und der Schnauzbart … Voilà. Geblieben sind seine Ruhe und ein freundliches, rundes Gesicht mit kleinen, wachen Augen. Lieutenant Ohayon beobachtet gerade eine Gruppe Menschen, bemerkt einen bestimmten Ausdruck in den Gesichtern: verängstigt, manche auch wütend …

Was er sieht, bringt ihn dazu, sich an etwas zu erinnern. Vor fünf Wochen waren er und seine Frau Ines in der neuen Bücherei von Fleurville und haben dort einen Vortrag über die Entwicklung des griechischen Staatswesens gehört. Da wurde ein Satz gesagt, der ihm ungeheuer wahr vorkam. Den Rest von dem, was der Referent über die griechischen Philosophen und Staatsmänner vorgetragen hatte, war ihm schon beim Verlassen des Saals mehr oder weniger entfallen. Es waren einfach zu viele kluge und komplexe Sätze gewesen. Eindeutig zu viele für ein Gehirn, das funktioniert wie seins. Aber dieser eine Satz, an den muss er jetzt denken.

Kleine Geister werden durch Erfolge übermütig, Misserfolge machen sie niedergeschlagen.

Ohayon hat eine recht genaue Vorstellung davon, was mit den kleinen Geistern und der Niedergeschlagenheit gemeint ist. Er selbst nennt sie übrigens immer ›kleine Seelchen‹, weil das, wie er findet, netter klingt. In den verschiedenen Disziplinen herrscht Uneinigkeit darüber, wie man sich denn so ein kleines Seelchen vorzustellen habe. Ein Pfarrer würde darunter sicher etwas anderes verstehen als ein Psychologe. Ein Ermittler – und das ist ja sein Beruf – würde, im Fall, dass die Niedergeschlagenheit des kleinen Seelchens in einer Gewalttat gipfelt, von Motivlage sprechen. Misserfolge machen die kleinen Seelchen nämlich seiner Erfahrung nach nicht nur niedergeschlagen, sie machen sie bisweilen sehr wütend. Der griechische Satz, den er in der neuen Bücherei von Fleurville gehört hat, müsste seiner Meinung nach in jedem Ermittlerhandbuch stehen, denn neun von zehn Gewaltverbrechen werden eben genau von diesen niedergeschlagenen kleinen Seelchen begangen.

Ohayon senkt den Kopf, denkt nicht mehr an seinen Satz.

»Florence, bitte! Jetzt schluck doch erst mal dein Würstchen runter, ich verstehe kein Wort, wenn du mit vollem Mund sprichst.«

»Warum ist das alles aus Glas?« Ohayons Tochter kaut noch immer. Sie stehen zusammen mit vielen anderen auf einem Bahnsteig, denn der neue Bahnhof von Fleurville wird gerade eingeweiht.

»Das ist aus Glas, weil man das heute so macht. Das ist modern.«

»Und was ist das, modern?«

»Was neu ist und allen gefällt.«

»Ich finde das hässlich.«

»Dann guck woanders hin.«

Väter müssen so was können. Umschalten.

»Aber wie machen die das? Entsteht das Licht im Glas?«, will jetzt Ohayons Frau wissen, auch sie isst ein Würstchen.

»Du, also … mich darfst du nicht fragen.«

Lieutenant Ohayon stört sich nicht im Geringsten daran, nichts zu wissen. Er ist ja auch kein Grieche. Stattdessen gibt er seiner Tochter eine Serviette und beißt dann lustvoll von seinem Würstchen ab. Wobei er darauf achtet, dass ihm nicht Senf auf den Blouson tropft. Das Würstchen hält er in der linken Hand, denn die Rechte ruht auf dem Griff des Kinderwagens, in dem die Zwillinge liegen und Gott sei Dank schlafen. Er erkennt seinen Chef, Roland Colbert. Der unterhält sich gerade mit Marie Grenier von der Spurensicherung. Sie sind alle da und in bester Stimmung. Die Einweihung des neuen Bahnhofs gleicht einem Volksfest.

Schräg hinter Ohayon steht der Pfarrer. Er hat sich noch nicht bewegt, aber man sieht ihn jetzt, weil ein grauhaariger Mann, der ganz frappierend an Karl Marx erinnert, einen Schritt zur Seite getreten ist. Dieser falsche Karl Marx trägt einen gut geschnittenen grauen Anzug mit einer kleinen blauen Plakette am Revers. Dazu einen teuren, ebenfalls blauen Siegelring. Er scheint den Pfarrer zu kennen, denn er hat ihm gerade etwas ins Ohr geflüstert. Was hat er gesagt? Der Pfarrer sieht jetzt aus, als sei er gewillt, gleich eine wütende Stegreifpredigt zu halten. Er gehört zu der Sorte Mensch, die kategorisch denkt und beim Reden manchmal spuckt. Letzte Woche zum Beispiel hat er vor 265 Schäfchen etwas Ungeheuerliches gesagt. Auch bei dieser Predigt war Karl Marx anwesend, er saß in der ersten Reihe. Ja und da stand also der Pfarrer auf seiner Kanzel und sprach zu ihnen: ›Du magst habgierig sein so viel du willst, Gott ist genug!‹

Gott wäre für Yvonne Clerie letztlich geschäftsschädigend, denn sie ist Psychologin. Und Psychiaterin. Die Arme! Wenn man genau hinsieht … Yvonnes Hände zittern zwar nicht, aber das liegt nur daran, dass sie das Lenkrad ihres Wagens mit aller Kraft festhält. Wäre da mehr Licht, man würde sicher ihre weißen Knöchel sehen. Dabei fährt sie gar nicht. Ihre Haare sind nass und ihre Schultern auch. Man sieht es immer, wenn das Licht über sie streicht.

Und sie wünscht sich so sehr, sie könnte die Zeit zurückdrehen. Nur für eine halbe Stunde.

Da war sie zusammen mit Alain, Michel und ihrer Freundin Nina im Lacombe. Es wurde Sex Bomb von Tom Jones gespielt und ihre Freundin Nina hatte offenbar eine lustige Geschichte erzählt, jedenfalls wurde an ihrem Tisch gelacht.

Jetzt sitzt Yvonne in ihrem roten Alfa Romeo und weiß, dass sie Schuld hat am Tod eines Menschen. Das Schuldgefühl, das sie empfindet, ist nicht brennend, es ist dumpf. Und sie wünscht sich immer wieder dies eine. Die Zeit zurückzudrehen, es ungeschehen zu machen. Man sieht ihre Augen hinter der Frontscheibe, aber man sieht sie nicht gut. Erstens prasselt Regen aufs Glas, und zweitens ist es dunkel im Auto. Nur hin und wieder wischt ein Schein blauen und roten Lichts über ihr Gesicht, ihre Haare und ihre Schultern.

»Da ändert sich schon wieder die Farbe!« Ohayons Tochter hat ihr Würstchen inzwischen aufgegessen.

»Gefällt es dir also doch!«

»Nein.«

Florence ist gerade in einer etwas anstrengenden Phase, denn sie hat entdeckt, was für eine Macht das Wort ›nein‹ besitzt. Sie ist jetzt fast sieben und allmählich zeigt sich eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Vater. Nicht, dass es Anzeichen dafür gäbe, dass sie klein bleiben wird. Aber die Augen, das runde Gesicht. Vielleicht wird sie die lustigen Bäckchen von Ohayon übernehmen und irgendwann zum Anbeißen hübsch aussehen.

Schuld am Tod eines Menschen, das ist erst mal nur ein Gefühl, das muss noch lange kein Straftatbestand sein. Dieser ganze Bereich: Unterlassene Hilfeleistung, mangelnde Sorgfaltspflicht, Unachtsamkeit, ist für Juristen schwer einzugrenzen. Nicht nur die Gerichte haben da Schwierigkeiten, auch die Betroffenen selbst geraten ins Schwimmen. Einige haben nämlich den Hang, sich über die Maßen schuldig zu fühlen. Und für manche von ihnen wäre es das Beste, wenn gleich die Polizei käme und sie festnähme. Dann können sie alles beichten und sind raus aus diesem schrecklichen Dilemma mit der Schuld. Ein einfühlsamer Ermittler wie Ohayon brächte sicher Verständnis dafür auf, dass auch eine Frau wie Yvonne mal die Kontrolle verliert. Er würde bei ihr auch erst mal dieses schreckliche Gefühl der Hilflosigkeit abmildern, sie in den Arm nehmen und halten.

Nur weiß Ohayon nichts von dieser schrecklichen Sache und Yvonnes Schuld. Er kann schließlich nicht an zwei Orten zugleich sein. Man wünscht sich so was manchmal, aber es gibt keine über allem stehende Instanz, die ihm zurufen könnte: Du wirst woanders ganz dringend gebraucht, die Eröffnungsfeier am Bahnhof ist doch völlig unwichtig! – Unwichtig? Seine Tochter Florence freut sich seit Tagen auf das angekündigte Feuerwerk! Im Film kann man so was irgendwie hinmogeln. Durch Schnitte, musikalische Themen, asynchrone Bild-Text-Überblendungen oder so. Aber was hätte das noch mit der Wirklichkeit zu tun? Nein. Ohayon ist heute nicht zum Dienst eingeteilt, Resnais hat Dienst, so steht es am Brett. Und Resnais hat ihn bis jetzt nicht angerufen. Die Realität hat selten den Wunsch, etwas abzukürzen, zu überbrücken oder Yvonnes Leid zu mildern. Und vielleicht wäre das auch gar nicht gut. Vielleicht gehört dieses Leid, dieses Schuldgefühl einfach nur ihr. Nur Yvonne.

»Michel ist tot.«

Sie hatte zuerst gar nicht daran gedacht, Nina anzurufen. Sie hat einfach nur dagesessen und in die blinkenden Lichter der Feuerwehrfahrzeuge gestarrt, blau und rot und etwas verschwommen hinter dem Regen.

Einige Schaulustige sind bereits aus ihren Fahrzeugen gestiegen, stehen mit hochgeschlagenem Kragen rum und machen Aufnahmen mit ihren Smartphones. Das registriert sie kaum.

Dann endlich fällt es ihr ein. Sie löst sich aus ihrer Erstarrung und wählt Ninas Nummer. Aber die geht nicht ran. Yvonne sieht auf ihre Uhr und versteht nicht warum. Eine Weile beschäftigt sie der Umstand, dass ihre Freundin nicht an ihr Handy geht, so sehr, dass sie den Toten und ihre Schuldgedanken vollkommen vergisst. Als sie Nina fünf Minuten später endlich am Apparat hat, sagt sie zunächst gar nichts von dem, was sie doch eigentlich sagen wollte. Stattdessen fragt Yvonne ihre Freundin mit einer Schärfe, die einem Verhör gleicht, darüber aus, warum sie eben nicht zu erreichen war. Erst dann kommt der Satz, der ihr doch der Wichtigste war.

»Michel ist tot.«

»Wer weiß davon?«, fragt Nina sofort. Das irritiert Yvonne.

»Alle. Bald alle. Die Feuerwehr ist schon da, und die von der Gendarmerie kommen bestimmt auch gleich.«

»Wo stehst du?«

»In der Rue Bisson. Ich sehe sein Auto.«

»Du musst da weg! Sofort.«

Weiße Schwingen aus Wasser bilden sich bisweilen links und rechts, denn Yvonnes Alfa Romeo fährt durch Pfützen.

Jetzt ist sie bereits zwei Kilometer vom Tatort entfernt. Sie fühlt sich noch immer hilflos, aber der Moment reinsten Schuldgefühls ist dabei, sich aufzulösen in eine Argumentation, die bald in innere Dialoge übergehen wird. Es geht schnell. Die Gedanken werden konkreter: ›Die von der Feuerwehr waren beschäftigt, es gab viele Schaulustige, niemand hat auf mich geachtet …‹

Ihr Handy klingelt.

»Ich bin’s noch mal. Wo bist du, Yvonne?«

»Gleich zu Hause.«

»Wir treffen uns bei Michel.«

»Nein!«

»Wir treffen uns bei Michel. Bitte. Du darfst mich jetzt nicht im Stich lassen. Ich bringe Werkzeug mit. Fahr nicht zu dicht mit dem Auto ran.«

In diesem Moment klingelt Marie Greniers Handy. Alle warten auf die Ansprache des Bürgermeisters. Marie wird sie verpassen. Sie sucht sich, noch während sie in ihr Handy spricht, erste Anweisungen erteilt, ihren Weg durch die Reihe. Ohayon blickt ihr nach und sein Gesicht sieht ein paar Sekunden lang anders aus als vorher.

Zweimal blinkt eine Taschenlampe. Nur kurz. Yvonne zuckt zusammen, als sie Nina neben ihrem Auto entdeckt. Und die hat tatsächlich Werkzeug dabei.

»Danke, dass du gekommen bist, Yvonne, ich … Wir müssen leise sein.«

Keine Umarmung, keine Tränen, kein Geständnis.

Yvonne folgt ihrer Freundin zu einer Tür. Aber wie sie geht! Was ist während der Fahrt passiert? Vor 20 Minuten fühlte sie sich noch so schuldig, dass sie nicht mehr in der Lage war, sich zu bewegen. Jetzt geht sie, und auch wenn es in der Dunkelheit nur schlecht zu erkennen ist, sie geht zügig. Es ist der typische Gang einer Frau, die innerlich repetiert: ›Egal wie schlimm es wird, das muss ich jetzt machen.‹

»Die Tür schließt er nie ab«, erklärt Nina, und Yvonne nickt, als wäre diese Bemerkung völlig in Ordnung. Sie lässt sich von Nina ein paar Gartenhandschuhe geben und streift sie über. Kein Widerspruch, keine Frage. Das ist ungeheuerlich! Noch vor einer Stunde hörten sie Sex Bomb von Tom Jones, jetzt stehen sie vor der Tür eines Mannes, der eben durch eine von ihnen ums Leben gekommen ist, und ziehen sich klobige Gartenhandschuhe an. Solche aus Leder, wie normalerweise Männer sie tragen. Yvonne nimmt es hin, dass ihre Freundin einen großen Schraubenzieher am Schloss ansetzt, um es aufzuhebeln.

Doch dann zögert Nina. Warum? Yvonne weiß es nicht, niemand würde darauf kommen.

Nina Havelot sieht vor ihrem inneren Auge ein Klavier. Und die damit verbundenen Gedanken bewirken, dass ihr Tränen in die Augen schießen, dass sie anfängt zu zittern und den Schraubenzieher nicht in den Schlitz zwischen Türblatt und Rahmen bekommt, dass sie absetzen muss, dass sie sich umdreht und … Jetzt endlich nimmt Yvonne ihre Freundin in den Arm und hält sie. Auch ihr selbst ist zum Heulen zumute. Weil Michel ja ein Freund war. Weil niemand vorhatte, ihn zu töten. Und genau das sagt sie dann auch.

»Ich wollte es nicht.«

»Wir wollten es beide nicht.«

Der kurze Dialog gibt Nina die Kraft, die sie braucht, sie kriegt den Schraubenzieher in den Schlitz.

Wie professionell sie vorgehen. Nina hat, kaum, dass sie im Haus sind, die Vorhänge zugezogen und Yvonne eine der beiden Taschenlampen gegeben. Schubladen werden durchsucht.

Sie handeln einvernehmlich. Bis jetzt ist noch keine von ihnen auf den Gedanken gekommen, die andere könne mehr Schuld an Michels Tod haben als sie selbst.

»Hier«, sagt Nina nach fünf Minuten.

»Zeig.«

Wer soll das alles erklären? Die Vorgänge, die Motivlage, die Antriebskräfte. Die beiden sind noch nie irgendwo eingebrochen, und jetzt … Mit einem großen Schraubenzieher die Tür aufgehebelt! An Handschuhe gedacht! An Taschenlampen! Beide haben sich auch noch die Schuhe abgewischt, mit einem Lappen, den Nina mitgebracht hat. Nina! Die betreibt ein kleines Musikstudio und ist dabei, sich als Musikproduzentin zu etablieren. Eine Frau, die mit Musikern an Sounds bastelt. Sie hat einen Sohn, der noch im Krabbelalter ist, eine Mutter, die ihr hilft, das Kind aufzuziehen, und eine unglaublich tolle Espressomaschine, die sie allerdings nur manchmal benutzt, und jetzt … studiert sie zusammen mit Yvonne im Schein einer Taschenlampe einen Vertrag. Geradezu unsinnig. Aber das ist das Bild, mit dem sich die Realität präsentiert.

Als sie sich neben ihren Autos trennen, sagt Nina: »Danke.« Dann fängt sie noch einmal an zu weinen. Gut, das könnte der nachlassende Druck sein. Sagt dann mit leicht fremder Stimme noch einmal: »Danke.« Und zuletzt etwas klarer: »Du hast mich gerettet, Yvonne. Alleine hätte ich mich das nie getraut.«

Nur gut, dass Yvonne nicht auch noch sagt: »Gern geschehen.« Aber denkbar wäre es gewesen. In dieser Realität.

Wie kann man das Groteske ordnen, wie es erklären? Offenbar erzeugen die Umstände Taten. Ob da überhaupt noch von einem Wollen die Rede sein kann? Andererseits: Manche Menschen sind so gemacht, dass sie handeln, wenn sie bis zum Hals in der Scheiße stecken.

Sie fahren ab. Das Licht ihrer Autos schalten sie erst an, als sie 300 Meter von Michels Haus entfernt sind, die kleinen, hinterhältigen Seelchen.

Es ist leicht, Leute zu verdammen für Taten, die man nur von außen beobachtet. Um ein vernünftiges Urteil abgeben zu können, müsste man wissen, warum sie das alles getan haben. Ein kategorisches ›Nein!‹ hatte plötzlich in Yvonnes Kopf das Regiment übernommen. Noch im Lacombe. Mehr ist nicht bekannt.

Was für Schlüsse würde ein Ermittler aus diesem kategorischen Nein einer Frau ziehen? Wenn er gleichzeitig weiß, dass das Opfer ein Mann ist? Hoffentlich keine voreiligen.

Sie fahren hintereinander. Da es stockfinstere Nacht ist, ergibt sich ein Bild, an dem Liebhaber von Experimental-filmen ihre Freude hätten. Das Bild ist schwarz, und in ihm schweben vier rote Punkte, die, immer paarweise, ein bisschen hin und her pendeln. Natürlich, das sind die Rücklichter. Nach einer Weile könnte niemand mehr sagen, ob sie über- oder hintereinander fahren. Zwei Kilometer, dann kommen die Frauen an eine Stelle, an der die Straße sich gabelt. Dort trennen sich ihre Wege. Und was mit den roten Punktpaaren passiert, versteht sich von selbst.

Brigadier Resnais bekommt nichts mit von all diesen Ereignissen. Er steht im strömenden Regen neben einem völlig zerstörten BMW 2002 und sieht Feuerwehrleuten bei der Arbeit zu. Die haben gerade beschlossen, den Wagen mit großen Zangen aufzuschneiden, um den Fahrer rauszuholen. Der lebt zwar noch, sieht aber so schrecklich aus, dass Resnais kein zweites Mal hinsieht. Es riecht nach Eisen, Öl und verbranntem Gummi.

»So kriegen wir ihn nicht raus, der Wagen muss erst mal vom Baum weg«, kommandiert der von der Feuerwehr, der das Sagen hat. Die routinierte Bestimmtheit, mit der er spricht, hilft Resnais, den Unfall als das zu sehen, was er ist. Ein Pech. Der Preis für einen idiotischen Moment.

›Wird’s wohl nicht schaffen‹, hat ihm der Notarzt vor zehn Minuten erklärt. Resnais, hoch aufgeschossen, jungenhaft, immer korrekt, dreht sich um, spürt seine neuen Stiefel am äußeren Knöchel und am dicken Zeh. Gleichzeitig trifft unablässig Regen seine Haut, der kommt fast waagerecht, getrieben von Böen.

Zweihundert Meter die Rue Bisson runter steht ein großes Dieseltier als Schatten mit Blinklicht. Es hat 15 Tonnen Kies geladen, wie der Fahrer ihm vorhin erklärt hat. Mehr als das mit dem Kies und etwas Wirres über einen Feuerlöscher hat Resnais bis jetzt nicht aus dem Fahrer des LKW rausgekriegt.

»Warten Sie ein bisschen, ehe Sie ihn vernehmen, der steht unter Schock«, hatte der Notarzt geraten.

Ein lautes Geräusch hinter ihm. Zwei Ketten spannen sich. Ein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr beginnt damit, den orangefarbenen BMW vom Baum wegzuziehen. Männer laufen weg, denn der Baum gibt alles her, was er an Regen gespeichert hat, und dazu auch noch Äste und letzte Blätter vom Herbst.

»Geht es Ihnen jetzt besser? Können Sie eine Aussage machen?«

»Er wollte mich überholen und hat sich plötzlich gedreht.«

»Einfach so? Sind Sie vielleicht auf die andere Spur …?«

»Nein.«

»Wissen Sie, ob hinter Ihnen einer war? Einer, der ausgeschert ist?«

»Hab nichts gesehen.«

»Und nach dem Unfall?«

Der LKW-Fahrer zuckt mit den Schultern.

»Sie sind ausgestiegen …«

»Klar! Um zu sehen, ob er Hilfe braucht, klar.«

»Dann müssten Sie ja ein Auto gesehen haben, wenn da noch eins war. Oder ist einer an Ihnen vorbeigefahren?«

»Hab keins gesehen. Der sah so schrecklich aus, und er hat sich bewegt. Den Kopf hin und her, als wollte er ›nein‹ sagen. Der wird sterben, oder?« Nachdem er das gesagt hat, taumelt der Mann ein Stück zurück, muss sich an seinem LKW festhalten.

Resnais ruft einen Kollegen und bittet ihn, den Fahrer nach Hause zu bringen.

Marie Grenier von der Spurensicherung ist endlich da, was Resnais erleichtert. Sie ist schick angezogen mit einer Öljacke drüber. Maries Mitarbeiter, die alle die Zwillinge nennen, ziehen sich gerade ihre Kapuzen zu.

»Fangt schon mal an«, ordnet sie an, »zuerst alles an Spuren auf der Straße.« Dann wendet sie sich an Resnais. »Hast du im Krankenhaus Bescheid gesagt, dass er zu uns gebracht wird, falls er es nicht schafft?«

»Noch nicht.«

»Ruf Roland an, dass er eine richterliche Erlaubnis zur Obduktion einholt.«

Resnais zuckt mit den Schultern. »Ich glaube nicht, dass ihr viel findet. Der Regen und … wahrscheinlich war ja auch nichts, außer dass er zu schnell war. Und dann noch der Zustand der Straße …« Er zeigt auf die Spurrillen, in denen Wasser steht, hart getroffen von Tropfen.

»Wie ist das passiert?«

»Er wollte den Laster überholen und hat dabei die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren.«

»Wie? Der setzt so spät noch zum Überholen an? Ich meine, die Straße mündet gleich da vorne in die Rue Belleville. Da stimmt doch was nicht. Nee! Ohayon soll sich hier gleich morgen früh mal umsehen. Hast du nach Zeugen gefragt?«

»Klar, die kamen aber alle erst, nachdem es passiert war. Und der LKW-Fahrer meint, er hätte kein weiteres Fahrzeug gesehen.«

Einer der Zwillinge ruft: »Hier liegen rote und orangefarbene Lacksplitter!«

»Denk dran, Resnais, dass Roland eine richterliche Verfügung besorgt, ich will ihn mir ansehen, falls er es nicht schafft. Jetzt gucke ich mir erst mal den Laster an, nicht, dass der am Ende den BMW von der Straße gedrückt hat. Hat der Arzt dem Fahrer Blut abgenommen?«

»Hm.«

Die Zwillinge sammeln ihre Lacksplitter ein. Sie haben starke Lampen aufgestellt, deren Licht flach bis hierher dringt. Dass die Straße in diesem Licht ganz fabelhaft glitzert, darüber verliert niemand ein Wort.

Noch in der Nacht verfasst Resnais seinen Bericht. Da der Tote keine Papiere bei sich hatte, ist seine Identität noch nicht eindeutig geklärt. Der Wagen ist auf Michel Descombe zugelassen, aber das muss überprüft werden. Also schickt Resnais der Frau vom Sozialdienst eine Mail, in der er sie bittet, sich mit den Eltern oder Verwandten des Opfers in Verbindung zu setzen, damit die ihn identifizieren.

Es ist halb zwei, als er nach Hause kommt und sich zu seiner Frau ins Bett legt. Constance will ihm unbedingt von der Einweihung des neuen Bahnhofs erzählen, aber Resnais schläft ein, ehe sie auch nur drei Sätze gesagt hat.

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Als er aufwacht, ist es fast eins. Zuerst versucht er das, was er gerade gedacht hat, zu verdrängen und wieder einzuschlafen. Er redet sich ein, er hätte geträumt, dabei weiß er genau, dass es nicht so ist. Der Gedanke im Moment des Aufwachens war bewusst gewesen und hatte einem Befehl geglichen. Er lauscht angestrengt. Als er sich sicher ist, dass seine Frau tief schläft, steht er so leise wie möglich auf und schleicht in die Küche.

Er macht Licht. Aber auch das zaubert keine andere Realität herbei. Es gibt etwas Wichtiges zu tun, und doch hat er bis jetzt nicht den Mut aufgebracht, es zu erledigen. Er kennt sich, sein Verstand wird keine Ruhe geben. Also geht er wieder ins Schlafzimmer und holt seine Sachen. Dann schleicht er zurück in die Küche. Das alles kommt ihm richtig vor. Als er schon fast damit fertig ist, sich anzuziehen, merkt er, dass sein rechter Strumpf fehlt. Er zieht also den Schuh über den nackten Fuß. Zuletzt nimmt er im Flur seinen Mantel vom Haken, fühlt, ob die Schlüssel in der Tasche sind, und verlässt das Haus.

Er durchquert seinen Garten auf präzise verlegten Platten aus Sandstein und folgt dann der Straße, die durch die Südpol genannte Siedlung führt. Sie beschreibt einen Kreis, wobei sie sich leicht hin und her schlängelt, damit die Autos nicht zu schnell fahren. Alle Häuser der Siedlung sind weiß. Sie sind alle zur selben Zeit im selben Stil von der selben Baugesellschaft errichtet worden, und doch wirkt jedes, auf fast schon erschreckende Weise, individuell. Es gibt keine Zäune, und die Vorgärten am Südpol sind nicht mehr als geschorene Flächen mit Büschen und Zwergbäumen, deren Laub selbst im Sommer rot und herbstlich aussieht.

Im Moment ist allem, was er sieht, jegliche Farbe entzogen.

Während er geht, denkt er an eine Frau. Die ist zwei Jahre jünger als er und trägt fast immer rote Kleider. Mit ihr muss er dringend reden.

Was hindert mich …?

Er gehört doch zu der Sorte Männer, die Frauen gefällt.

Trotz dieser guten Voraussetzungen hat er das Gespräch immer wieder verschoben. Warum traut er sich nicht? Weil sie jünger ist als er? Weil sie schön ist? Weil so viel auf dem Spiel steht?

Seit fast einem Jahr hat er sich immer wieder damit getröstet, dass sie früher oder später auf ihn zukommen würde. Er hätte gerne mit seiner Frau über sie gesprochen, aber das hätte alles nur noch schlimmer gemacht. Seine Frau hätte ihn ermutigt: ›Na los, Alain, trau dich!‹

Nein, er kann nicht mit seiner Frau über sie reden, denn über manches sprechen Männer besser nicht mit ihren Frauen.

Müsste man dieser nächtlichen Wanderung einen Titel geben, so würde er lauten: Das Gefühl, wenn man etwas unbedingt will.

Allmählich lässt der Druck nach. Ein idiotischer Druck, denn letztlich macht er ihn sich ja selber.

Als er nach der dritten Runde auf sein Haus zugeht, haben sich seine Gedanken geklärt. Nichts zwingt ihn, irgendetwas zu übereilen, sein Leben ist doch in Ordnung, so wie es ist. – Nun … Nicht so ganz offenbar, denn das ist nicht der erste Spaziergang dieser Art. Als er die Haustür vorsichtig aufschließt, kommt ihm ein amüsanter und auch erleichternder Gedanke: Wahrscheinlich gibt es in Frankreich hunderte, wenn nicht tausende von Männern, die zeitgleich mit ihm solche nächtlichen Wanderungen unternehmen.

Er zieht sich gefasst und sicher auf dem Flur vor dem Schlafzimmer aus, doch als er die Tür vorsichtig öffnet, ist er wieder beunruhigt. Er stellt sich vor, dass seine Frau genau in dem Moment, wo er in der Tür steht, das Licht anmachen und fragen würde: »Wo warst du? Warum hast du deine Sachen unter dem Arm?«

»Wo kommst du her?«

»Geh schlafen.«

»Wie siehst du denn aus! Und du riechst nach Benzin. Was ist passiert?«

»Ich hatte ein Problem beim Tanken. Komm, geh wieder schlafen.«

Nina muss nun doch lächeln. Ihre Mutter sieht aus wie ein Gespenst, in ihrem Nachthemd. Nachdem sie sie ins Schlafzimmer gebracht hat, geht Nina nach oben in ihr Studio, setzt sich im Dunkeln auf einen Stuhl.

Das Klavier … Damit setzen die Gedanken ein, und die sind weit entfernt von den Straftaten, die sie heute Nacht begangen hat. Ist das eine Fähigkeit? Eine Ungeheuerlichkeit?

Sich kaum eine Stunde nach einem Einbruch, wahrscheinlich einer Verdeckungstat, als Kind zu sehen, als elfjähriges Mädchen. Dabei ist sie nun wirklich kein Mädchen mehr. Nina ist 28 Jahre alt und mit ihren 1,82 groß für eine Frau. Man hat sie nach der Lieblingsschwester ihrer Mutter benannt, einer talentierten Sängerin, die es fast bis in die Oper von Paris geschafft hätte. Leider war sie mit 21 an einer schweren Krankheit gestorben.

Diese erste Nina war bereits acht Jahre tot, als sie selbst geboren wurde, und ihre Mutter hatte ihr, ohne an irgendwelche Implikationen zu denken, den Namen der Toten gegeben. Und Klavierunterricht, denn sie war Klavierlehrerin.

Ein komischer Gedanke macht sich in Ninas Kopf breit: Vielleicht wäre alles, was in dieser Nacht geschehen ist, nicht so passiert, wenn ich nicht musikalisch begabt wäre, wenn Mutter mich bei Familienfeiern nicht hätte vorspielen lassen, wenn sie nicht immer wieder gesagt hätte: ›Wie meine Schwester …‹

Nina hat, seit sie mit dem Klavier begann, eine sonderbar kalte innere Haltung entwickelt. Nicht, dass sie anderen Menschen gegenüber kalt wäre, nein, sie ist sogar ziemlich lustig, wirkt auf Außenstehende verspielt und manchmal auch ein bisschen verwirrt. Aber das täuscht. Sie kann sich mühelos von sich selbst distanzieren. Man könnte auch sagen, sie ist extrem diszipliniert. Nur hat sie zum Leidwesen ihrer Mutter kein besonderes Faible für die Oper oder große Orchesterwerke entwickelt. Ein paar Jahre Keyboard in verschiedenen Bands, aber das war es nicht. Denn es gibt noch etwas, das zu ihr gehört. Etwas, das weder mit ihrer Mutter noch mit ihrer Tante zusammenhängt. Nina hat eine Schwäche für Geld.

Also ist sie Musikproduzentin geworden, und seit zwei Jahren läuft es.

Irgendwann steht sie auf, räumt ein paar Kinderspielzeuge zusammen und verlässt ihr Studio. Sie geht nach unten und legt sich ins Bett. Im Licht ihrer Nachttischlampe, in der Sekunde, bevor sie die ausmacht … Ein kurzes Erschrecken.

›Michel ist tot.‹

Was für eine Verzögerung. Was für eine ungeheuerliche Verzögerung. Es hat fast vier Stunden gedauert, bis Yvonnes Satz in ihrem Bewusstsein angekommen ist.

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