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Über das Buch

»Kommt einer mit einem bestimmten Quantum Leben zur Welt, oder ist dieses Quantum unbestimmt, so dass derselbe Mensch, 70 oder bloß 40 werden könnte? Und wann wäre der Punkt erreicht, wo die Begrenzung klar ist? Wer das erstere glaubt, ist ein Fatalist; wer es nicht glaubt, schreibt dem Menschen ein erstaunliches Maß an Freiheit zu und räumt ihm einen Einfluss auf die Länge seines Lebens ein.« Elias Canetti über das nach dem Tod seiner Geliebten Friedl Benedikt verfasste Stück Die Befristeten.

 

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Hanser E-Book

 

 

Elias Canetti

Die Befristeten

 

 

 

 

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

 

 

 

Für Veza Canetti

 

Die Befristeten

Personen

Prolog über die alte Zeit

Erster Teil

Zweiter Teil

Personen

Fünfzig

Der Freund

Der Kapselan

 

Einer

Ein Anderer

Mutter, 32

Junge, 70

Mann, Dr. 46

Frau, 43

Grossmutter

Enkelin

Der Junge Zehn

Zwei Kollegen

Das Paar

Junge Frau beim Begräbnis ihres Kindes

Zwei junge Herren, 28 und 88

Zwei Damen

Chor der Ungleichen

Zwei ganz alte Frauen, 93 und 96

Prolog über die alte Zeit

Einer: Damals!

Ein Anderer: Damals? Du glaubst an dieses Ammenmärchen!

Einer: Aber es war wirklich so. Du brauchst nur die Berichte von Augenzeugen einzusehen!

Der Andere: Hast du sie denn gelesen?

Einer: Natürlich. Darum erzähle ich es dir doch.

Der Andere: Und was stand darin?

Einer: Was ich dir eben gesagt habe. Ein Mann ging von zu Hause weg, um Zigaretten zu kaufen. »Ich bin in ein paar Minuten wieder da«, sagte er zu seiner Frau, »ich komme gleich.« Er trat zu der Haustür hinaus und wollte die Straße überqueren, das Geschäft lag gegenüber. Ein Auto kam plötzlich um die Ecke und stieß ihn nieder. Er blieb liegen. Doppelter Schädelbruch.

Der Andere: Und? Was weiter? Er wurde ins Spital geschafft und ausgeheilt. Er lag einige Wochen im Spital.

Einer: Nein. Er war tot.

Der Andere: Tot. Es war sein Augenblick.

Einer: Eben nicht. Das ist ja der Witz bei der Sache.

Der Andere: Wie hieß er denn?

Einer: Peter Paul.

Der Andere: Aber was war sein wirklicher Name?

Einer: Peter Paul.

Der Andere: Das will man mir immer einreden. Glaubst du denn wirklich, daß die Leute damals ohne rechte Namen leben konnten?

Einer: Ich sag dir, es war so. Sie hatten irgendwelche Namen und die Namen hatten gar nichts zu bedeuten.

Der Andere: Da hätte man die Namen einfach vertauschen können.

Einer: Gewiß. Es war gleichgültig, wie jemand hieß.

Der Andere: Und der Name hatte mit dem Augenblick nichts zu tun?

Einer: Nichts. Der Augenblick war unbekannt.

Der Andere: Ich verstehe es nicht. Du willst sagen, daß kein Mensch, kein einziger Mensch eine Ahnung davon hatte, in welchem Augenblick er stirbt?

Einer: Genau das. Kein einziger.

Der Andere: Jetzt sag einmal, ernsthaft: kannst du dir so etwas überhaupt vorstellen?

Einer: Ehrlich gesagt: nein. Darum finde ich es so interessant.

Der Andere: Aber das hätte doch niemand ausgehalten! Diese Unsicherheit! Diese Angst! Da hätte ich ja keine Minute Ruhe gehabt! Ich hätte an nichts anderes denken können. Wie haben diese Menschen gelebt? Wenn man nicht einmal einen Schritt vors Haus tun kann! Wie haben die Leute Pläne gemacht! Wie haben sie sich irgend etwas vorgenommen? Ich finde das furchtbar.

Einer: Das war es. Ich kann es mir genausowenig ausmalen!

Der Andere: Aber glaubst du es? Glaubst du, daß es so war?

Einer: Dazu studiert man doch Geschichte.

Der Andere: Geschichten – willst du sagen. Ich will dir gern glauben, daß es Menschenfresser gegeben hat …

Einer: Und Pygmäen …

Der Andere: Und Riesen, Hexen, Mastodonten und Mammute, aber das ist doch was anderes!

Einer: Wie soll ich es dir noch beweisen?

Der Andere: Ich habe es mir vielleicht nie klarzumachen gesucht. Es klingt ungeheuerlich! Es klingt unglaublich!

Einer: Und doch ist die Welt so weitergegangen.

Der Andere: Vielleicht waren die Leute viel dümmer als jetzt. Stumpfsinnig.

Einer: Du meinst wie Tiere. Die denken auch an nichts.

Der Andere: Ja. Die jagen, fressen und spielen, und was ihnen dabei geschehen kann, daran denken sie einfach nicht.

Einer: Da haben wir's schon ein bißchen weiter gebracht.

Der Andere: Ein bißchen? Das andere kann man gar nicht Menschen nennen.

Einer: Und doch haben die Leute gemalt und geschrieben und Musik gemacht. Es gab Philosophen und große Geister.

Der Andere: Lächerlich. Jeder armselige Schuster bei uns ist ein größerer Philosoph, denn er weiß, was mit ihm geschehen wird. Er kann sich seine Lebenszeit genau einteilen. Er kann planen ohne Angst, er ist seiner Spanne sicher, er steht so sicher auf seinen Jahren wie auf seinen Beinen.

Einer: Ich halte die Bekanntwerdung des Augenblicks für den größten Fortschritt in der Geschichte der Menschheit.

Der Andere: Es waren eben Wilde vorher. Arme Teufel.

Einer: Bestien.