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Über das Buch

In Der Ohrenzeuge greift Elias Canetti die Methode der Beschreibung auf, die der antike Philosoph und Naturforscher Theophrast mit seinen Charakteren begründet hat. Als wären ihm Psychologie und Soziologie gänzlich unbekannt, schildert Canetti Typen – etwa den Größenforscher und die Habundgut, die Mannstolle und den Leidverweser –, die in ihrer knappen Kennzeichnung und den zuweilen surrealistischen Bildern unmittelbar einleuchten und unvergesslich sind.

 

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Elias Canetti

Der Ohrenzeuge

 

 

 

 

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

 

 

 

Für Hera und Johanna

 

Inhaltsverzeichnis

Die Königskünderin

Der Namenlecker

Der Unterbreiter

Die Selbstschenkerin

Der Hinterbringer

Der Tränenwärmer

Der Blinde

Der Höherwechsler

Die Geruchschmale

Die Habundgut

Der Leichenschleicher

Der Ruhmprüfer

Der Schönheitsmolch

Die Mannsprächtige

Der Schadenfrische

Die Schuldige

Der Fehlredner

Die Tischtuchtolle

Der Wasserhehler

Der Wortfrühe

Die Silbenreine

Der Ohrenzeuge

Der Verlierer

Die Bitterwicklerin

Der Saus und Braus

Die Mondkusine

Der Heimbeißer

Der Vermachte

Der Tückenfänger

Die Schadhafte

Die Archäokratin

Die Pferdedunkle

Der Papiersäufer

Die Versuchte

Die Müde

Der Verschlepper

Der Demutsahne

Die Sultansüchtige

Die Verblümte

Der Gottprotz

Die Granitpflegerin

Der Größenforscher

Die Sternklare

Der Heroszupfer

Der Maestroso

Die Geworfene

Der Mannstolle

Der Leidverweser

Die Erfundene

Der Nimmermuß

Die Königskünderin

Die Königskünderin hat etwas Hoheitsvolles, sie weiß, was sie ihrem Auftrag schuldig ist, und ist bekannt dafür, wie gut sie ihre Gäste bewirtet. Aber mit der Bewirtung allein ist es nicht getan, und alle ahnen, daß etwas Besonderes bevorsteht. Sie sagt nicht gleich, was es diesmal ist, das erhöht die Spannung. Unter einem König kann es nicht sein, weniger verkündet sie nicht. Sie ist groß und stattlich, und unerschöpflich ist ihr Vorrat an Verachtung. An jeder kleinsten Bewegung erkennt sie Untertanen und hält sie, noch bevor er verkündet ist, vom König fern. Aber auch für Höflinge hat sie einen guten Blick, diese versteht sie geschickt zu fördern und verwendet sie für sämtliche Höfe. Man spürt, wie sie ihren Überschwang sammelt und für die große Gelegenheit verspart. Sie ist hart und verachtet Bettler, es sei denn, sie stellen sich auf, wenn sie gebraucht werden. Mit einer ganzen Schar von ihnen wartet sie auf, sobald die Königskündigung bevorsteht. Dann fliegen alle Türen in ihrem Hause auf, es erweitert sich zum Palast, Engel singen, Bischöfe segnen, in ihrem neuen Ornat liest sie ein Telegramm von Gott und verkündet jubilierend den König.

 

Ergreifend ist es, sie mit vergessenen Königen zusammen zu sehen, sie vergißt sie nie, auch die abgetakeltsten Exemplare unter ihnen merkt sie sich, schreibt ihnen, schickt ihnen angemessene kleine Geschenke, verschafft ihnen Arbeit, und wenn die Ehre längst zu Ende ist, ist sie die einzige, die sich noch daran erinnert. Unter den Bettlern, mit denen sie bei großen Gelegenheiten aufwartet, findet sich manch ein früherer König.

Der Namenlecker

Der Namenlecker weiß, was gut ist, er riecht es auf tausend Kilometer und scheut keine Mühe, in die Nähe des Namens zu gelangen, den er zu lecken gedenkt. Im Auto, mit Flugzeugen geht das heute leicht, gar zu groß ist die Mühe nicht, aber es ist zu sagen, daß er sich auch mehr Mühe geben würde, wenn es notwendig wäre. Seine Gelüste entstehen beim Zeitunglesen, was nicht in der Zeitung steht, schmeckt ihm nicht. Kommt ein Name öfters in der Zeitung vor und steht er gar schon in den Überschriften, so wird sein Gelüste unwiderstehlich, und er macht sich schleunigst auf den Weg. Hat er genug Geld für die Reise, so ist es gut, hat er's nicht, so borgt er sich's aus und zahlt mit der Glorie seiner großen Absicht. Es macht immer Eindruck, wenn er davon spricht. »Ich muß N.N. lecken«, sagt er, und es klingt wie früher die Entdeckung des Nordpols.

 

Er versteht es überraschend anzukommen, ob er sich auf andere beruft oder nicht, er klingt immer, als wäre er am Verschmachten. Es schmeichelt Namen, daß man aus Lust nach ihnen verdursten könnte, die ganze große Welt eine Wüste und sie der einzige Brunnen. So erklären sie sich, nicht ohne zuvor ausführlich über ihren Zeitmangel zu klagen, bereit, den Namenlecker zu empfangen. Man könnte sogar sagen, daß sie ihn mit einiger Ungeduld erwarten. Sie legen sich ihre besten Partien für ihn zurecht, waschen sie, aber nur sie gründlich und polieren sie auf Glanz. Der Namenlecker erscheint und ist geblendet. Seine Gier ist indessen gewachsen, und er verbirgt sie nicht. Er nähert sich unverschämt und packt den Namen. Wenn er ihn lange und gründlich abgeleckt hat, photographiert er ihn. Zu sagen hat er nichts, vielleicht stottert er etwas, das wie Verehrung klingt, aber niemand fällt ihm darauf herein, man weiß, daß es ihm nur auf eines ankommt, die Berührung seiner Zunge. »Mit dieser eigenen Zunge«, verkündet er später, streckt sie heraus und nimmt eine Ehrfurcht entgegen, wie sie noch keinem Namen je zuteil wurde.

Der Unterbreiter

Der Unterbreiter hat Pläne in seiner Aktentasche, Aufrufe, Zeichnungen und Zahlen. Er kennt sich unter ihnen aus, fix und fertig aus seiner Tasche ist er ins Leben gesprungen. Er wurde nie gezeugt, keine Mutter hat ihn getragen, Lesen und Zählen konnte er schon immer. Ein Wunderkind war er nie, schon weil er nie ein Kind war. Älter wird er nie, weil er nie jünger war: Seine Planhaftigkeit ist frei von Jahren. Er ist pünktlich, ohne es zu merken. Er ist nie zu früh und er ist nie zu spät, aber frägt man ihn nach der Zeit, so schlägt er sich auf den Kopf über so viel Dummheit.

 

Es macht ihm gar nichts, daß er umsonst unterbreitet, und wenn er um Unterschriften in einer guten Sache kommt, hat er immer schon einige vorzuweisen, die können sich sehen lassen. Wie er zu ihnen gekommen ist, ist rätselhaft, er schweigt und hat seine Methoden. Er ist geduldig und unterbreitet dasselbe seit Jahren. Die Tasche ist voll und für Abwechslung ist gesorgt. Niemand merkt, wenn er mit demselben kommt, weil es schon zu lange her ist. Er merkt sich alles, denn er trägt's mit sich herum, zu seinem Charakter als Unterbreiter gehört es, daß er nie etwas aufgibt. Er besteht auf Überzeugung; ohne daß man ihn genau versteht, erlaubt er niemandem zu unterschreiben. Zwar sucht er immer Namen, aber er will sie ganz, wen er einmal in der Tasche hat, der soll auch darin bleiben. Er verachtet Leute, die sich aus seiner Tasche davonmachen, es gelingt nur wenigen. Diese hält er als warnendes Beispiel hin und unterbreitet weiter.

Selbst hat er nie etwas davon, er tut alles umsonst. Er gibt zu verstehen, daß er für sich kaum etwas braucht, und läßt sich nicht einmal zu einem Kaffee einladen. Manchmal holt ihn ein anderer Unterbreiter ab, wie ein Zwilling, aber sie heißen anders. Wenn sie zusammen weggehen, weiß man nicht mehr, welcher von ihnen zuerst da war. Vielleicht holen sie schließlich doch ihre Herkunft nach und werden nach einiger Zeit des Unterbreitens zu Eiern.

Die Selbstschenkerin

Sie lebt von den Geschenken, die sie zurückholt. Sie hat kein Geschenk vergessen. Sie kennt sie alle, sie weiß, wo jedes ist. Sie grast die Orte nach ihnen ab und findet immer Vorwände. Sie geht gern in Häuser, die sie nicht kennt, und hofft auch da ein Geschenk von sich zu finden. Selbst welke Blumen blühen wieder auf, um sich von ihr zurückholen zu lassen.

 

Wie hat sie nur je so viel schenken können, und wie hat sie's nicht früher schon geholt. Sie, die alles vergißt, Geschenke vergißt sie nicht, und Schwierigkeiten hat sie nur mit verspeisten Geschenken. Das ist schon bitter, wenn sie erscheint, und alles ist aufgegessen. Dann sitzt sie nachdenklich und verloren da und erinnert sich an etwas, was da sein sollte. Verstohlen sieht sie sich um, ein höflicher Mensch, ob nicht etwas versteckt sein könnte. In Küchen geht sie besonders gern, ein Blick in den Abfall, ein Stich ins Herz, da sind sie, die Schalen ihrer Apfelsinen. Hätte sie sie nur später gebracht, oder wäre sie sie früher holen gekommen.

 

»Meine Teekanne!« sagt sie und nimmt sie an sich. »Mein Schal! Meine Blumen! Meine Bluse!« Wenn die Beschenkte die Bluse trägt, bittet sie, sie anprobieren zu dürfen, und geht, nicht ohne sich zuvor im Spiegel hin und her bewundert zu haben, in der Bluse davon.

 

Aber erwartet sie nicht, daß man's ihr von selbst zurückträgt? Nein, sie holt es lieber selber. Aber läßt sie nichts mitgehen? Nein, es ist ihr um ihre Geschenke zu tun. An diesen hängt sie, diese will sie, diese gehören ihr. Aber wozu hat sie sie hergegeben? Um sie zurückzuholen, dazu hat sie sie hergegeben.

Der Hinterbringer

Der Hinterbringer mag nichts für sich behalten, was einen andern kränken könnte. Er beeilt sich und kommt anderen Hinterbringern zuvor. Manchmal ist es ein bitteres Rennen, und obwohl sie nicht alle vom gleichen Punkt losgehen, spürt er, wie nah die andern schon sind, und überholt sie in riesigen Sprüngen. Er sagt es sehr rasch, und es ist ein Geheimnis. Niemand darf davon erfahren, daß er es weiß. Er erwartet Dankbarkeit, und sie besteht in Diskretion. »Ich sag's nur Ihnen. Es geht nur Sie etwas an.« Der Hinterbringer weiß, wenn eine Stellung bedroht ist. Da er sich so rasch fortbewegt, er beeilt sich sehr, wächst die Bedrohung auf dem Weg. Er kommt an, und es ist schon ganz sicher. »Sie werden entlassen.« Der Betroffene erbleicht. »Wann?« fragt er und: »Wieso? Man hat mir nichts gesagt.« »Man hält es geheim. Man wird es Ihnen im allerletzten Augenblick sagen. Ich mußte Sie warnen. Verraten Sie mich aber nicht.« Dann hält er eine ausführliche Rede darüber, wie furchtbar es wäre, wenn man ihn verriete, und während das Opfer noch keine Zeit hatte, die eigene Gefahr ganz zu ermessen, fühlt es schon Mitleid mit dem Hinterbringer, diesem besten Freund.

Der Hinterbringer läßt sich keine Beleidigung entgehen, die im Zorn geäußert wurde, und sorgt dafür, daß sie den Beleidigten erreicht. Weniger gern hinterbringt er Lob, aber um zu beweisen, wie gut er gesinnt ist, zwingt er sich bisweilen dazu. In solchen Fällen beeilt er sich nicht und zögert noch an Ort und Stelle. Das Lob liegt ihm wie ekles Gift auf der Zunge. Bevor er es ausspuckt, glaubt er zu ersticken. Schließlich sagt er's, aber sehr keusch, als hätte er Scheu vor der Nacktheit des andern.

 

Sonst kennt er weder Scham noch Ekel. »Sie müssen sich wehren! Sie müssen etwas tun! Sie können das nicht einfach hinnehmen!« Er berät den Betroffenen gern, schon weil es länger dauert. Seine Ratschläge sind so, daß sie die Angst des Opfers vergrößern. Es ist ihm ja nur um das Vertrauen der Menschen zu tun, ohne Vertrauen kann er nicht leben.

Der Tränenwärmer

Der Tränenwärmer geht täglich ins Kino. Es muß nicht immer etwas Neues sein, ihn zieht es auch zu alten Programmen, Hauptsache ist, daß sie ihren Zweck erfüllen und ihm reichlich Tränen entlocken. Da sitzt man von anderen ungesehen im Dunkel und wartet auf Erfüllung. Es ist eine kalte, herzlose Welt, und ohne das warme Naß auf den Wangen zu fühlen, möchte man nicht leben. Sobald die Tränen zu strömen beginnen, wird einem wohl zumute, man ist sehr still und man rührt kein Glied, man hütet sich davor, mit dem Taschentuch etwas wegzuwischen, jede Träne soll ihre Wärme bis zur Neige spenden, und ob sie nun bis zum Mund gelangt oder bis zum Kinn, ob es ihr gar gelingt, übern Hals und bis auf die Brust zu fließen – er nimmt es mit dankbarer Zurückhaltung an und erhebt sich erst wieder nach einem ausgiebigen Bade.