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Antonia Pauly, 1961 in Köln geboren, studierte Archäologie, Byzantinistik und Vor- und Frühge­schichte, Promotion 1991. Neben wissenschaftlichen Tätig­keiten widmet sie sich dem Schreiben. Von ihr erschien der Episodenroman »Zimmer mit Meerblick«. Heute lebt und arbeitet die Autorin in Bonn.





Wilhelm H. Wichert, 

1949 in Elsdorf/Rhld. geboren, verließ in jungen Jahren seine Heimat und kehrte 1988 nach langjährigen Erfahrungsjahren in der Hotelerie und Gastronomie ins Rheinland und nach Köln zurück. Seitdem widmet er seine Arbeitskraft als Wirt dem denkmalgeschützten und historischen Haxenhaus in der Kölner Altstadt. Sein Hobby ist die Schriftstellerei. So entstand nach seiner Recherche und Idee in Zusammenarbeit mit Antonia Pauly dieses interessante Buch über das illegale Glücksspiel im Mittelalter in Köln.




Dieses Buch ist ein Roman. Die Handlung ist frei erfunden, wenngleich im historischen Umfeld eingebettet. Einige Personen, Ereignisse und Orte sind historisch, einige sind es nicht. 



© SASPAN Verlag - 9783958496033

Alle Rechte vorbehalten




Einleitung


In diesem Roman geht es – neben vielen anderen agierenden Personen – um die des Büttels, auch genannt Bodel, Butel, Pu­til, Fronbote, Vronebote, Gerichtsdiener, Schaderer, Freibote, Am­mann, Heimbürge, Scherge, Selman, Weibel, Waibel, Nach­rich­ter oder Blutrichter. Er konnte zugleich Nachtwäch­ter sein, man­cherorts auch Abdecker beziehungsweise Schin­der und trat oftmals in der Funktion des Scharfrichters oder Hen­kers auf.

Aber keine Angst! Hier rollen weder Köpfe, noch fallen an­dere Gliedmaßen, das Blut fließt nicht in Strömen. Kurz: In diesem Buch stehen nicht die aus heutiger Sicht grausamen Rechtspraktiken des Mittelalters im Zentrum, vielmehr wird eine ganz bestimmte Seite am Beruf des Büttels beleuchtet. Als Vollstreckungsbeamter und Handlanger der Obrigkeit war der Büttel mit vielfältigen Aufgaben betraut: Verbrecherjagd, Befragung auf der Folter und Urteilsvollstreckung machten nur einen Teil seines Zuständigkeitsbereiches aus. Vor allem hatte der Büttel in den Städten für Ruhe und Ordnung zu sor­gen. Er musste jederzeit dienstbereit sein, bei Aufruhr und Zuchtlosigkeit einschreiten und allerorten Verstöße gegen das Gesetz ahnden. Der Sachsenspiegel, das älteste deutsche Rechts­buch, sagt über den Büttel (iii 56): »… thut daran ein Gottes werck, das er den sünder umb seiner sünde willen straf­fet. Dann damit wird Gottes zorn versünet.«* 


Ein im Mittelalter weit verbreiteter Gesetzesverstoß war das verbotene Glücksspiel. Gespielt wurde sowohl um Naturalien als auch um Geld. Das Währungssystem im Cöln des 13.. Jahr­hunderts ist ziemlich verworren und unübersichtlich. Als Norm galt die »Kölnische Mark«. Sie wurde unterteilt in: 8 Unzen = 16 Lot = 64 Quäntchen = 256 Pfennige = 512 Heller = 4020 Kölnische As = 65..536 Richtpfennige.

Unser Büttel ist im Jahre 1271 in Cöln unterwegs, ständig auf der Suche nach Höhlen des Lasters: nach Gasthäusern und an­deren Orten, an denen Glücksspiel stattfindet. Sein Weg führt ihn in unregelmäßigen Abständen auch ins Haxenhaus, ein di­rekt am Rhein gelegenes Brauhaus. Er wird den Verdacht nicht los, gerade hier auf Ungesetzmäßigkeiten zu stoßen, tut sich jedoch aus unterschiedlichen Gründen schwer mit der Be­weis­führung.


Büttel gingen in blutroten Mänteln als Zeichen des örtlich aus­zuübenden Blutbanns, der Gerichtsbarkeit über Leben und Tod. Zur Kleidung gehörte ebenfalls ein quer gestreifter Rock beziehungsweise ein ebensolches Wams.

Das Prestige des Berufsstandes von Büttel und Scharfrich­ter variierte zeitlich und örtlich sehr stark. Im 12. Jahrhundert genoss der Büttel durchweg hohes Ansehen und war durch den Königsfrieden geschützt, das heißt, als Angehöriger des königlichen Haushalts stand er unter besonderem Rechts­schutz. Im südwestdeutschen Raum blieb er bis zum Ende des 13.. Jahrhunderts ein freier, begüterter Mann. Vielerorts jedoch setzte im 13. Jahrhundert eine Abwertung des Berufsstandes ein. Das ging nicht von heute auf morgen vonstatten. Unser Kölner Büttel entstammte der mit mäßigem Besitztum ausge­statteten Mittelklasse, er war ein freier Bürger und wurde in der Ausübung seines Amtes respektiert.

Die Entwicklung ging im Verlauf des 14.. Jahrhunderts da­hin, dass Büttel und Scharfrichter zwar weiterhin gefürchtet wurden, man sie aber fast wie Aussätzige behandelte. Sie wur­den zu Ausgestoßenen der Gesellschaft, durften sich weder in der Kirche noch sonst in der Öffentlichkeit Bank oder Tisch mit anderen Bürgern teilen; man scheute jeden Kontakt mit ih­nen. Diese tief verwurzelte Abneigung führte oft dazu, dass sich niemand fand, der einen verstorbenen Obrigkeitsdiener zu Grabe tragen wollte. Der Gedanke, der dieser Aversion zu­grunde lag, ist logisch nachvollziehbar: Man glaubte, dass sich durch den Umgang mit Verbrechern zwangsläufig eine Art Seelenverwandtschaft zwischen diesen und den Rechtshand­langern einstellen müsste.

Doch der Büttel zu Cöln Anno Domini 1271 galt noch nicht als Schreckgestalt.








Das Leben im Mittelalter wurde bestimmt durch die kanoni­schen Stunden des Klosterlebens, welche bis zur Liturgiere­form 1969 gebräuchlich waren. Die Klosterzeit wiederum wurde durch das Tageslicht reguliert; je nach Jahreszeit war ei­ne Stun­de länger oder kürzer. In den Städten gaben die Glo­cken der Kirchen und Klöster die Uhrzeit an:


Matutin – Mitternacht

Prim – 6..00 Uhr (beziehungsweise Sonnenaufgang)

Terz – 9..00 Uhr

Sext – 12..00 Uhr

Non – 15..00 Uhr

Vesper – 18..00 Uhr (Abendessen – »Vesperbrot«)

Komplet – 21..00 Uhr (beziehungsweise Sonnenuntergang)


Das Haxenhaus, den zentralen Ort des Geschehens, gibt es tatsächlich (www.haxenhaus.de). Es existierte auch wirklich schon im Mittelalter als Brau- und Wirtshaus. Die erste ur­kundliche Erwähnung dieser traditionsreichen Gastronomie geht auf das Jahr 1231 zurück, und zwar unter der Bezeich­nung »Hus am Bootermaate«. So wie es heute ein geselliger Treff­punkt für Jung und Alt aus aller Herren Länder ist, darf man es sich auch 1271 als lebhaften Ort vorstellen, an dem die ver­schiedensten Menschen verkehrten. Haxen in vielerlei Va­ria­tionen und hausgemachte Bratwurst zählten und zählen zu den Spezialitäten des Hauses. Die historische Architektur gibt dem fröhlichen Beisammensein im Haxenhaus eine besondere At­mosphäre. Die Anzahl der Tische, heute wie damals durch­num­meriert, beträgt neununddreißig.

Diese Tischnummerierung bestimmt den Aufbau des vor­liegenden Romans. Wir werden durch das Kalenderjahr 1271 geführt, und in jedem Monat des Jahres wird eine Tischge­mein­schaft im Haxenhaus mit ihren Eigenheiten, Berufen, Proble­men, freudigen, spannenden oder erotischen Erlebnis­sen le­ben­dig.


Ein Register zu den historischen Personen und Orten sowie ein allgemeines Glossar befinden sich im Anhang. 

Handelnde Personen


Florian Grimm – Büttel zu Cöln

Bartholomäus Wille – Wirt des Haxenhauses

Elisabeth – Schankmagd im Haxenhaus


An Tisch xiv am 2. Januar 1271

Berthold von Kessel – zukünftiger Graf von Kessel und Broich

Dietrich von Kranenburg – Neffe des Grafen Dietrich v. von Kleve

Arnold von Warnecke – Freund von Berthold und Dietrich


An Tisch xxii am 24. Februar 1271

Heinrich Deutz – Zimmermann, Meister aus Cöln

Franz – sein Geselle

Ulrich Weyden – Schiffszimmermann, Freund des Heinrich

Otto Gailenkirchen – Schneidermeister aus Cöln

Jakob Zwirner – Freund des Otto, ebenfalls Schneider von Beruf


An Tisch iv am 17. März 1271

Gunther von Veynau – junger Kreuzritter aus der Eifel

Reinald von Wachendorf – junger Kreuzritter aus der Eifel


An Tisch xxxi am 30. April 1271

Bruder Anselm – Benediktiner aus Cöln

Bruder Mathias – Benediktiner, Novize

Bruder Paulus – Franziskaner, Wanderprediger

Bruder Zacharias – Franziskaner, Wanderprediger


An Tisch xxiv am 27. Mai 1271

Winfried Rinck – Patrizier, Parteigänger der Overstolzen

Walther Junkersdorf – Patrizier, Parteigänger der Weisen


An Tisch vii am 18. Juni 1271

Gregor Quentel – Kranenmeister

Gudrun Quentel – seine Frau

Tilman Sittler – Holzmesser

Andreas Naegeli – Salzmüdder


An Tisch xxxiv am 7. Juli 1271

Totnan Heidingsfelder – Steinmetz aus Herbipolis

Balthasar Winterhausen – Steinmetz aus Herbipolis

Notker Kohlscheid – Steinmetz aus Aquisgranum

Carl Krugenofen – Steinmetz aus Aquisgranum

Gobelinus – Student aus Cöln


An Tisch ii am 22. August 1271

Lothar Bürvenich – Apotheker aus Medamana

Damian – sein Gehilfe und Neffe

Doorche – Cölner Hübschlerin

Ooschel – Cölner Hübschlerin

Martinus Steiner – Pfarrer von St. Stephanus in Magenza

Wilhelmus Kelsterbach – Diakon und Freund des Martinus


An Tisch xi am 29. September 1271

Walram Merten – Viehhändler aus Civitas Sibergensis

Hermann Much – Viehhändler aus Civitas Sibergensis

Manfred Merten – Lederschneider, Walrams Bruder

Valentin Hinnebusch – Schuster, Freund des Manfred


An Tisch xxix am 13. Oktober 1271

Werner Gummersbach – reicher Weinhändler

Richmodis Gummersbach – seine Frau

Helene Gummersbach – die ältere Tochter der beiden

Luise Gummersbach – die jüngere Tochter der beiden

Cornelius Staufenfels – Patriziersohn

Gustav von Lechenich – Hofbeamter beim Grafen von Jülich

Bruno Kranenfuß – Schöffe und Freund des Weinhändlers

Johannes Keppel – Kanonikus von St. Laurenz

Albinus Fragner – Elisabeths Schwager


An Tisch xxx am 11. November 1271

Melchior Schmitz – Bauer aus dem Eigelsteinviertel

Aenne Schmitz – seine Frau

Remigius Riphahn – Töpfer aus Brüggen

Demetrius Bliesheim – Fassbinder


An Tisch x am 14. Dezember 1271

Burkhard Winzen – Fernkaufmann

Mauritz Glückauf – sein Gehilfe und Reisebegleiter



 

tisch xiv

2.. Januar 1271


Die Wucht des Sturms riss dem hochgewachsenen Mann die schwere, aus massiven Eichenbohlen gefertigte Tür aus der Hand. Krachend fiel sie ins Schloss. Die Blicke der in der Schankstube Versammelten richteten sich auf den Neuan­kömmling. Mit ruhiger Hand nahm dieser seinen Hut ab und schlug ihn dreimal kräftig gegen seinen Oberschenkel. Schnee­flocken stoben von dem Kleidungsstück und hinterlie­ßen feuchte Flecken auf dem mit Sand ausgestreuten Holzbo­den der Schankstube. Auch der Schnee, der den Umhang des Man­nes bedeckte, schmolz rasch in der Wärme des Raumes und brachte die Farbe seines Mantels zum Vorschein: tiefrot mit dunklen Partien, wo die Nässe in den groben Stoff einge­drun­gen war, reichte er der Gestalt bis fast an die Knöchel. Au­gen­blicklich verstummten Gelächter, Gezanke und Geklap­per. Die Musikanten ließen ihre Instrumente sinken. In die unver­hohlene Neugier der Wirtshausbesucher mischten sich Furcht und Respekt.

Der Mann blieb regungslos an der Tür stehen und machte keinerlei Anstalten, sich einer der Tischgemeinschaften anzu­schließen. Seine stechend grünen Augen durchforsteten den durch viele Kerzen an den Wänden und auf den Tischen gut beleuchteten Raum. Die Luft war geschwängert von den ver­schiedensten Düften: dem gebratener Speisen, von Bierdunst, Körpergerüchen und verbranntem Holz.

Die bunte Gesellschaft der Zecher bestand aus Reisenden, Handwerkern und Händlern, aber auch einige Vertreter des Klerus und etwa ein Dutzend Frauenzimmer – Hübschlerin­nen zumeist – saßen in gemischten Gruppen beieinander. An einem Tisch entdeckte der Mann drei junge Edelleute, die durch ihre elegante Kleidung aus der Menge herausstachen. Eine gut gebaute Frau Anfang zwanzig mit üppigen rotblon­den Locken stellte gerade drei schäumende Krüge vor den jun­gen Männern ab. Sie schien als Einzige wenig beeindruckt von dem einschüchternden Aufzug des Mannes an der Tür. Unbe­fangen lächelte sie ihm zu, und er konnte nicht umhin, ihr ebenfalls freundlich zuzunicken.

Doch sogleich wurde seine Miene wieder ernst. »Florian Grimm, Büttel zu Cöln am Rhein«, stellte er sich mit volltö­nender Stimme vor. »Wer ist der Wirt dieses Gasthauses?«

Von einem der hinteren Tische erhob sich ein mittelgroßer Mann mit schütterem Haar, das in schweißnassen Strähnen an seinem Haupt klebte. Ein kugelrunder Bauch wölbte sich über den schmalen Gürtel, der sein Surkot zusammenhielt. Ge­schäftig rieb er sich beim Heraneilen die Hände. »Bartholo­mäus Wille, stets zu Euren Diensten«, sagte er und fuhr fort: »Es ist mir schon zu Ohren gekommen, dass die Schöffen ei­nen neuen Büttel bestellt haben, nachdem der gute Gambrinus zu Martini von uns gegangen ist. Von schwerem Durchfall da­hingerafft, in nur fünf Tagen, der Ärmste.«

»Ja, sehr bedauerlich«, entgegnete der neue, auffällig junge Büttel ohne jede Anteilnahme. »Nennt mir den Namen Eurer gut besuchten Gastlichkeit. Bei dem scheußlichen Schnee­sturm, der draußen tobt, war es mir nicht möglich, das Schild über Eu­rer Pforte zu entziffern.«

»Haxenhaus, Herr Büttel, Ihr befindet Euch im Haxen­haus, einem der beliebtesten Gasthäuser in ganz Cöln – was sage ich: im ganzen Reich! Unsere Spezialitäten –«

»Genug! Ich komme nicht zum Verkosten Eurer Speziali­täten«, unterbrach der Büttel ihn. »Sagt mir, über wie viele Ti­sche verfügt dieses Lokal?«

»Neununddreißig, für jeweils vier Personen, das macht hun­dertsechsundfünfzig zufriedene Gäste.«

Mit raschem Blick über die Gaststube, in der kaum ein Ho­cker unbesetzt war, schätzte Florian Grimm die Angabe des Wirtes ein und gab sich zufrieden. »Und Euer Bier, das braut Ihr selbst, nehme ich an?«

»Selbstverständlich! Wenn Ihr durch die Tür rechts neben dem Eingang geht, gelangt Ihr direkt in unsere Brauerei. Wir stellen zwei Sorten her: das edlere Hopfenbier und ein einfa­ches Gruit, beide ganz vorzüglich!« Er wischte sich über die glänzende Stirn. Bartholomäus Wille schwitzte immer.

»Und Ihr haltet Euch natürlich an alle Bestimmungen der Stadtbehörde?«

»Zwei Gebräue pro Woche produzieren wir, nicht mehr! Ganz, wie es die Vorschrift will. Die Qualität wird regelmäßig geprüft, unsere Preise entsprechen der Norm – zwei As fürs Gruit und drei für den Hopfentrunk –, und ich zahle pünkt­lich meinen Bierpfennig.«

»Das freut mich, mein Bester. Mir scheint, hier gibt es nicht viel zu tun für mich.«

»Setzt Euch doch und nehmt einen Trunk! Natürlich als mein Gast.«

Um die Unterhaltung der beiden Männer herum hatte das Wirtshaustreiben wieder angehoben. Nur die näher Sitzenden lauschten dem Gespräch; von den übrigen Tischen drangen Stimmengewirr und Trinksprüche herüber.

»Lisbeth, du Flatschmul«, rief der Wirt in Richtung der at­traktiven Schankmagd. »Hör up, do eröm zu schawenzele, und bräng dat Bier för den Büttel.«

»Augenblick noch«, bremste dieser den Eifer des Wirtes. »Was ist denn das da hinten in der Ecke?« Der Blick der Amts­person war auf einen mannshohen schwarzen Kasten gefallen, aus welchem am oberen Ende ein halbes Rad herausschau- te.

»Oh, das! Das ist nichts. Nichts Besonderes! Nur so ein al­tes Glücksrad. Ich hatte es schon fast vergessen.« Bartholo­mäus Wille blickte hilfesuchend um sich und rang sichtlich nervös nach einer passenden Erklärung. Dieser neue Büttel machte nicht den Eindruck, als ob er sich mit leeren Ausreden zufriedenstellen ließe. Und bestechlich war er ganz gewiss nicht! Aber auch er selbst war nicht gerade auf den Kopf gefal­len. Nicht umsonst sperrte er stets die Ohren auf, wenn seine Gäste Interessantes aus aller Welt zu berichten wussten. Vor allem vom fahrenden Volk, welches sein Lokal frequentierte, hatte er in den vergangenen Jahren so manches an Wissen auf­schnappen können. So hob er schließlich wieder an: »Es han­delt sich um ein Rad der Fortuna. Das hat Tradition! Ihr wisst doch, dass die Römer ihre Schicksalsgöttin mit Füllhorn, Steu­erruder und Rad abbildeten? Das Rad ist das wichtigste Merk­mal der Fortuna. Es bietet Schutz vor den Unbilden unseres harten Daseins und gewährt das Gelingen unserer geschäftli­chen und privaten Vorhaben.«

Die Wangen des Wirtes hatten sich gerötet, er schwitzte stark, und seine Miene hatte einen frömmelnden Ausdruck an­genommen.

»Das müsst Ihr mir genauer erklären.« Die Skepsis des Büt­tels war nicht zu überhören, und er machte bereits einen gro­ßen Schritt auf die halb verborgene Konstruktion zu.

»Aber gern. Kommt her und seht.« Bartholomäus Wille sah ein, dass er wohl nicht darum herumkommen würde, der Amts­person sein Rad zu zeigen. So eilte er auf den schwarzen Kas­ten zu und bedeutete dem Büttel, ihm zu folgen. Mit einer flinken Handbewegung klappte der Wirt den Kasten in der Mitte auf, sodass das ganze Glücksrad zum Vorschein kam. Es war aus Holz und hatte einen Durchmesser von einem guten Meter. In der Mitte prangte das Bild eines fröhlichen Gast­wirts, welches entschieden Ähnlichkeit mit dem lebenden Ori­ginal aufwies. Um dieses Konterfei herum waren Spielkar­ten und Zahlen angeordnet. Die Hand des Wirtes versuchte, das Rad in Bewegung zu setzen.

»Seht her! Es lässt sich gar nicht drehen; es ist verschlos­sen.«

Er zeigte auf eine kleine Verriegelung aus Metall am unte­ren Ende des Rades. »Nur dreimal im Jahr wird es benutzt: zu Weihnachten, wenn bald das neue Jahr beginnt, im Oktober zur Aussaat des Getreides und im Juli zum Erntebeginn. Es si­chert armen Bierbrauern wie mir quasi die Existenz. Das Rad der Fortuna verhindert, dass die Saat nicht aufgeht oder die Ernte verhagelt. Was sollte ich auch ohne Gerste anfangen? Ich wäre ruiniert!«

»Das ist alles hochinteressant. Aber sagt: Das Rad dient nicht zufällig noch anderen Zwecken? Dem Glücksspiel et­wa?«

»Welch eine abstruse Idee«, empörte sich der Kleinere. »Mir scheint, der stete Umgang mit Bösewichtern und Strol­chen lässt Euch bei jedem braven Bürger Übles vermuten. Glücks­spiel hier? In meinem Gasthaus? Niemals!«

»Wenn Ihr es sagt.« Der Büttel hatte das Rad inzwischen ei­ner gründlichen Inspektion unterzogen. »Erstaunlich scheint mir, dass das Rad neununddreißig Zahlen und Karten zeigt – ebenso viele, wie Tische hier im Raum stehen«, sagte er miss­trauisch.

»Das kann nur ein Zufall sein. Seltsam, dass mir das noch gar nicht aufgefallen ist.«

»Wir werden gemeinsam überprüfen, ob es sich um einen Zufall handelt oder ob vielleicht doch ein Zusammenhang be­steht.«

Der Büttel ließ seinen Blick durch den Raum wandern. Als er bei der Schankmagd ankam, bedachte diese ihn mit einem reizenden kleinen Lächeln. Sie faszinierte ihn. Auf keinen Fall wollte er das Haxenhaus und damit auch die sympathische Frau in ernsthafte Schwierigkeiten bringen. Andererseits konn­te er dem Wirt dieses ominöse Glücksrad unmöglich durch­gehen lassen. Am besten wäre wohl eine Zeugenbefra­gung. Doch das würde ihn viele Stunden kosten, denn die Zahl der Gäste in der Schankstube war nicht gering. Irgendwie muss- te er eine Auswahl an Zeugen treffen. Eine Idee fing an, in sei­nem Kopf Gestalt anzunehmen. Doch er zögerte noch, die­se zu formulieren, weil er sich als Vertreter von Recht und Ord­nung nicht selbst ins Unrecht setzen konnte. Schließlich wandte er sich an die Gäste und verkündete laut: »Ich habe den Verdacht, dass hier im Haxenhaus dem verbotenen Glücks­spiel gefrönt wird! Ich werde deshalb eine Tischgemeinschaft zu meinen Zeugen bestimmen, die mir Rede und Antwort ste­hen.«

Verunsicherung schlich sich in die vielen auf den Büttel ge­richteten Augenpaare.

»Keine Angst! Wer ehrliches Zeugnis ablegt, hat nichts zu befürchten und erhält als Anerkennung seines Dienstes für die Obrigkeit den Freyzech, muss also für das, was er bis dahin verzehrt hat, nicht bezahlen.«

Bartholomäus Wille schluckte schwer, verkniff es sich aber, Einspruch zu erheben.

»Wer jedoch Falsches aussagt, den erwarten Pein und Schmach. Ich, Florian Grimm, Büttel zu Cöln, werde jetzt ge­hen und kehre in genau einer Stunde zurück. Dann werde ich mit dem Rad der Fortuna – welches praktischerweise so viele Zahlen trägt, wie Tische hier stehen – meine Zeugen bestim­men. Das Rad wird ausschließlich zum Zwecke der Kontrolle der öffentlichen Ordnung von mir benutzt werden. Keiner verlässt in der folgenden Stunde das Lokal, und überlegt Euch bis dahin gut, was Ihr zu antworten gedenkt.«

Mit diesen Worten stülpte sich der Büttel seinen Hut über die halblangen dunklen Locken und verließ die Wirtsstube.


Erregtes Stimmengewirr breitete sich im Raum aus. Bartholo­mäus Wille gab den Musikanten ein Zeichen, und schon misch­ten sich Fidel, Laute, Sackpfeife und Tamburin in den Lärm. Dann winkte er seine Schankmagd Elisabeth heran. »Und? Was hältst du von dem neuen Büttel?« Vertraulich leg­te er ei­nen Arm um die wohlgeformten Hüften der Frau.

»Ihr fragt mich nach meiner Meinung? Das tut Ihr doch sonst nie.«

Der Wirt hatte den kurzen Blickkontakt zwischen der Amts­person und seiner Magd genau beobachtet und blitz­schnell be­griffen, dass er sich durch eine Förderung der Sym­pathie zwi­schen den beiden manch zukünftigen Ärger würde ersparen können.

»Nun sag schon! Ist er ein scharfer Hund oder ist er ein scharfer Hund? – Du weißt schon, ich meine beide Arten von ›scharfem Hund‹!«

»Ach, so genau wollt Ihr es wissen? Dann lautet meine Ant­wort: ja und ja!« Damit entwand sie sich seiner Umarmung und steuerte die Küche an.

Eine Welle von Gerüchen entströmte der niedrigen Tür im hinteren Teil der Gaststube: der Duft kross gebratenen Flei­sches, gepaart mit säuerlichen Schwaden, Fischgestank und Würzaromen. Beladen mit einem flachen Holzbrett voller Schalen und Schüsseln, kam Elisabeth gleich wieder zum Vor­schein. Am Tisch mit der Nummer xiv setzte sie ihre Fracht ab.

»So, hier kommt der Nachtisch: Eiersuppe mit Honig und einer Spur Safran und dazu gefilte Dorttem*. Ich hoffe, Kalb und Gänsebraten haben den Herren gemundet?« Sie lud die vollen Gefäße ab und die leeren auf ihr Holzbrett.

»Knusprig wie dein Hinterteil, meine Schöne«, sagte einer der jungen Männer am Tisch, wobei seine blasse, feingliedrige Hand, an deren Mittelfinger ein auffälliger Ring prangte, Eli­sabeths Pobacken tätschelte. »Und alles äußerst appetitanre­gend«, fügte er zweideutig hinzu. »Komm, setz dich ein Weil­chen zu uns.«

Mit kraftvollem Schwung zog er die Magd auf seinen Schoß. Begeistert applaudierten seine beiden Begleiter. Alle drei tru­gen reich bestickte Röcke über Hemden aus edlem Stoff. Die schweren Pelzmäntel hatten sie achtlos über ihre Hocker ge­breitet und die Federkappen an einem Ende des Ti­sches depo­niert. Wären diese Äußerlichkeiten nicht untrügli­ches Zeichen von der adligen Herkunft der drei jungen Män­ner gewesen, Elisabeth wäre wohl sogleich empört aufgesprun­gen. So aber blieb sie steif auf den Knien des einen sitzen, der nun unge­nierte Blicke in den Ausschnitt ihres Mie­ders warf.

»Welch wunderbare Fleischgenüsse Ihr hier anbietet … Wisst Ihr eigentlich, wer ich bin?«

»Nein, mein Herr, aber gewiss seid Ihr von hoher Abstam­mung.«

»Das will ich meinen! Seht!« Während er ihr seine beringte Hand ganz dicht vor die Augen führte, legte er die andere wie zufällig an ihre dralle Brust.

»Ein schöner Ring«, sagte Elisabeth mit sichtlichem Unbe­hagen.

»Das Siegel des Grafen von Kessel und Broich, der ich bald – sehr bald – sein werde.«

Ein breiter Goldreif umschloss einen rötlichen Halbedel­stein, in welchen das Haussiegel des Geschlechts der von Kes­sels geschnitten war: ein sich aufbäumendes Ross zwischen den Majuskeln H – B – K – B.

»Hübsch, wirklich hübsch«, murmelte Elisabeth. »Ich mag das Pferdchen.«

»Sie mag das Pferdchen – ei, ei, ei.« Der junge Adlige bog sich vor Lachen und sagte zu seinen Kumpanen: »Mit den Ini­tialen wird sie auch nicht viel anfangen können. Oder kannst du etwa lesen, du Dummchen?«

Die Frau errötete leicht und wollte sich erheben.

»Warte, ich lese es dir vor: H steht für Heinrich, B für Bert­hold – das bin ich, K für von Kessel und nochmals B für Bro­ich: Wir sind ein sehr altes maasländisches Geschlecht. Alle männ­lichen Sprosse werden auf dieselben Vornamen getauft, wobei der Rufname von einer Generation auf die andere zwi­schen Hein­rich und Berthold wechselt. Wie heißt dann also mein Va­ter? Na?«

»Heinrich natürlich«, antwortete sie, ohne zu zögern, und nutzte den Augenblick der Verwirrung, der ob der prompten Erwiderung eintrat, um aufzuspringen. »Ihr entschuldigt mich«, rief sie im Davoneilen. »Ich muss mich um die anderen Gäste kümmern.«

»Gar nicht so schlecht, die Kleine, was, Berthold aus dem maasländischen Geschlecht der Sowieso …« Grölend schlu­gen sich die beiden anderen auf die Schenkel.

»Halt’s Maul, Dietrich! Und du, Arnold, grins nicht so blöd!« Der junge Herr von Kessel war offensichtlich ver­stimmt.


Neun Jahre zuvor hatte sein Vater, Heinrich von Kessel, die Grafschaft Broich an der Erft erworben, mit weiten Länderei­en im Kreuzpunkt zweier Römerstraßen. Die Burg Broich hatte man auf einer Kiesbank inmitten der sumpfigen Land­schaft errichtet und bezogen, als Berthold ein Knabe von elf Jahren gewesen war. Inzwischen hatte man sich gut eingelebt; mehrere Dutzend Bewohner hielten sich ständig in der Burg auf: Edelleute, Knechte, Mägde und sonstiges Gesinde, dazu Soldaten und Stallburschen. Burg Broich war eine rundum be­festigte Wehranlage mit großem Innenhof, der von Wohn- und Wirtschaftsgebäuden umgeben war.

In den Sommermonaten veranstaltete man Turniere vor den Toren der Burg, und viel fahrendes Volk – Schauspieler, Akrobaten, Händler und Minnesänger – versammelte sich zur Unterhaltung der Burgherrschaft. Man bewirtete Gäste von anderen Herrschaftssitzen oder zog selbst mit Gefolge über Land.

Die Wintermonate jedoch waren zum Reisen ungeeignet, und auf den Burgen verstrichen die Tage in quälender Lang­samkeit. Die Männer verbrachten ihre Zeit beim Schachspiel im Palas, die Frauen verließen nur selten ihre Kemenaten. Hat­te man im Sommer reichlich Gelegenheit zum Schäkern, Um­werben und heimlichen Liebestreffen, so begegneten sich die Unverheirateten beider Geschlechter in der kalten Jahreszeit nur zu den Mahlzeiten.

Ein Ausflug in die Stadt im Januar bedeutete für die jungen Edelleute eine willkommene Abwechslung zur Langeweile und Eintönigkeit des winterlichen Burgendaseins.

Graf Heinrich von Kessel konnte, schwer gichtgeplagt, sein Anwesen kaum noch verlassen und betraute seinen achtzehn­jährigen Sohn Berthold mit allen wichtigen Reisen.


An diesem Tag war eine Schriftrolle des Grafen mit Angaben zu seinen Besitzungen an den Stadtvogt, den Vertreter des Cölner Erzbischofs Engelbert ii. von Falkenburg, zu über­bringen gewesen. Im Morgengrauen war Berthold von Kessel in Begleitung seiner Freunde Dietrich und Arnold aufgebro­chen. Nach einem mehrstündigen Ritt durch die karge Win­terlandschaft hatten sie Cöln erreicht und sich bis zum Mit­tagsmahl in dem lebhaften Trubel der Stadt treiben lassen. Gesättigt waren sie zur Residenz des Erzbischofs geritten, wo sie einige Stunden auf den Stadtvogt warten mussten. Sich vor diesem mit dem Ring seines Vaters ausweisend, hatte Berthold von Kessel das Dokument übergeben und sich seiner Pflicht entledigt. Als die drei jungen Leute aus dem erzbischöflichen Palais wieder ins Freie traten, hatte ein heftiges Schneege- stö­ber eingesetzt, und die Dunkelheit brach herein. An eine Heimkehr am selben Tag war nicht zu denken. Das kam den Burschen gelegen, hatten sie doch so die Chance, das Stadtle­ben noch einen Abend lang in vollen Zügen zu genießen. Diet­rich, um ein Jahr älter als die beiden Freunde, hatte das Haxen­haus am Rheinufer entdeckt. Er führte ein eher freudloses Leben unter der Obhut seines gleichnamigen Onkels, des Grafen Dietrich v. von Kleve und dessen Gemahlin Aleidis. Nur selten gewährten sie ihm die Freiheit, Freunde auf be­nachbarten Gütern zu besuchen. Er war von kleiner, gedrun­gener Statur, dabei aber drahtig und sehr muskulös. Glatte, schwarze Strähnen umrahmten sein wenig ansehnliches Ge­sicht. Arnold von Warnecke war mittelgroß, braunhaarig und ganz und gar unscheinbar. Seit zwei Jahren lebte er dauerhaft auf Burg Broich und diente dem jungen Hausherrn als Prell­bock seiner Launen. Dieser, ein magerer Jüngling mit hell­braunen, schulterlangen Locken, hatte ein schwaches und ver­letzliches Äußeres. Innerlich verfügte er über ein mehr als ge­sundes Selbstvertrauen und einen ausgesprochen wankel­mütigen Charakter. Schon von frühester Kindheit an war sei­ne Neigung zu Spielen aller Art ebenso auffällig wie sein Un­vermögen, sich mit einer Niederlage abzufinden. Die Spiel­leidenschaft des Sohnes war dem Vater ein ständiger Dorn im Auge, und er achtete sorgsam darauf, dass Berthold auf Rei­sen niemals mehr Bargeld bei sich trug, als er unbedingt benötigte.

Den vom Büttel geäußerten Verdacht hatte der Jüngling da­her mit größter Hellhörigkeit vernommen.

»Ein kleines Spielchen wäre jetzt genehm«, sagte er und schaute seine Freunde Zustimmung heischend an.

»Ich dachte, das Geld, welches dir dein Vater heute früh ausgehändigt hat, reicht gerade für Kost und Logis«, erwider­te Arnold.

»Ein bisschen könnte man sicherlich für einen Spieleinsatz abzwacken …« Berthold überlegte fieberhaft, auf welche Art er den Wirt auf sein Gelüst ansprechen könnte.

»Zumindest sollten wir warten, bis der Büttel seine ange­drohte Visite beendet hat«, entschied Dietrich. »Lasst uns der­weil noch einen Trunk nehmen.«

Er hob drei gespreizte Finger in Richtung der Schankmagd, die wenig später die frischen, schäumenden Krüge brachte.

»Wenn wir spielen und du verlierst«, sagte Arnold, »dann wirst du wieder unausstehlich.«

»So? Werde ich das?« Bertholds Stimme klang schnippisch. »Ich wäre also ein schlechter Verlierer, meinst du? Ich kann gar kein schlechter Verlierer sein, weil ich nämlich nie verliere!«

Arnold verdrehte die Augen. »Und wie war das im vergan­genen Mai, beim Turnier zu Ehren des Grafen von Berg? Da hast du wohl auch keine Niederlage einstecken müssen und warst anschließend drei Wochen lang nicht ansprechbar vor Wut.«

»Vor Wut? Ich habe verletzt daniedergelegen; konnte mich tagelang nicht von meiner Bettstatt erheben.«

Arnold tauschte einen wissenden Blick mit Dietrich. Nur zu genau erinnerten sich beide an den schmachvollen Sturz Bertholds beim Stechen mit Stäben. Das Los hatte ihm als Gegner einen um drei Jahre jüngeren Edelknaben zugedacht, und Berthold war des Sieges sicher herangetrabt. Auch hatte er bei diesem Kräftemessen einer Edeldame, die von Burg Gelren zu Besuch in Broich weilte, gefallen wollen.

Doch dann war er gleich beim ersten Anritt vom Pferd ge­stürzt und hatte humpelnd die Feierlichkeit verlassen.

»Ja, dein Knöchel war schon arg verstaucht«, entsann sich Dietrich.

»Aber eigentlich verletzt war nur deine Ehre«, sagte Ar­nold.

Berthold leerte seinen Krug in einem Zug und lächelte ver­söhnlich. »Das war nicht mein Tag. Ihr habt ja recht. Ich ge­winne eben lieber als zu verlieren.« Drei weitere Krüge wur­den geordert. »Immer kann man nicht auf der Seite des Sieges stehen.« Bertholds mittlerweile vom Bier stark getrübter Blick nahm etwas Melancholisches an. »Die Schlacht an der Ulre­pforte haben wir ja auch verloren. Ausgerechnet die erste rich­tige Schlacht, an der ich beteiligt war.«


Er dachte zurück an jenen stürmischen Oktobertag des Jahres 1268, an dem der Regen unbarmherzig niederprasselte und von den Windböen in alle Richtungen zugleich getrieben wur­de. Die Cölner Bürger unter Führung der Overstolzen hatten die Herrschaft des Erzbischofs mehr und mehr untergraben und ihre härtesten Konkurrenten, das Patriziergeschlecht der Wei­sen, aus Cöln vertrieben. Mit Hilfe der Truppen seines Va­ters, des Grafen von Heinsberg und Falkenburg, sowie dessen Va­sal­len wollte der Erzbischof gemeinsam mit den Weisen die Stadt zurückerobern. Die von Kessels waren im Heer Graf Dietrichs v. mit auf Cöln geritten, und Berthold durfte seinen Vater zum ersten Mal zu einem echten Kampfgeschehen be­gleiten. Stolz hatte er seine Waffen umklammert gehalten, sie jedoch kaum zum Einsatz bringen können, weil sein Vater ei­nige Getreue damit beauftragt hatte, ihn zu decken und aus dem Kampfgetümmel bestmöglich herauszuhalten. An der Ul­re­pfor­te hatte ein Bürger der Stadt – ein Schuster namens Ha­ve­nith, der an der Stadtmauer wohnte – die Angreifer ein­gelassen. Na­türlich war der Verräter für diesen Dienst gut be­z­ahlt wor­den. Doch der Überfall wurde von den Cölnern blu­tig zurück­ge­schlagen; einziger Triumph Engelberts und der Weisen war die Tatsache, dass Matthias Overstolz, das Ober­haupt der Cöl­ner, in diesem Kampf sein Leben hatte lassen müssen.

Arnold rückte seinen Schemel dicht neben den des Freundes. »Du warst doch noch sehr jung und unerfahren im Kampf. Es war nicht deine Niederlage. Nun sei mal wieder fröhlich.«

Berthold seufzte schwer und jammerte: »Mir wird auf ein­mal ganz schwindelig und speiübel.« Sein Fliegengewicht war dem übermäßigen Alkoholgenuss offensichtlich nicht ge­wach­sen. »Ich werde etwas an die frische Luft gehen.«

»Besser noch wäre ein Brunnen«, sagte Dietrich. »Eiskaltes Wasser ins Gesicht und auf die Pulsadern, und du bist im Nu wieder klar im Kopf.«

Sie ließen sich vom Wirt den Weg zur Pforte der Brauerei weisen, in der sich der hauseigene Brunnen befand. Den schwan­kenden Junggrafen untergehakt, erreichten sie die be­zeichnete Stelle. Dietrich hatte einen Leuchter mit zwei Talg­kerzen aus der Wirtsstube mitgenommen. Berthold stützte sich schwer auf den gemauerten Rand des Brunnens, während Arnold den Eimer herabließ. Dietrich stellte die Lichtquelle auf den Bo­den und krempelte dem Betrunkenen die Ärmel sei­nes Hem­des hoch. Dietrich streifte Berthold auch den massi­ven Sie­gel­ring vom Finger und legte ihn auf den Brunnenrand. »Damit er sich nicht das Gesicht verletzt!« Arnold hatte in­zwischen den gefüllten Holzbehälter nach oben gezurrt und setzte ihn ab. Berthold tauchte seine Arme in das eisige Nass, füllte mehr­mals seine zu einem Halbrund geformten Handflä­chen mit Wasser und klatschte es sich ins Gesicht. Er richtete sich auf, ergriff den Eimer, setzte ihn an den Mund und trank in langen, durstigen Zügen.

»Ah! Besser, viel besser«, ächzte er und stülpte den Kübel kopfüber auf den Brunnenrand. »Jetzt können wir weitertrin­ken.« Mit einer übermütigen Geste stieß er den Eimer in den Brunnen zurück und mit diesem auch seinen Ring, der unter dem Eimer gelegen hatte. »Halt!«, rief Dietrich, aber es war bereits zu spät.

»Jetzt wird mich mein Vater zu Recht einen unzuverlässi­gen Tollpatsch schimpfen«, sagte Berthold, als ihm der Verlust des Ringes klar wurde.

»Wir holen ihn morgen früh wieder herauf«, tröstete Ar­nold. »Nur jetzt, bei der spärlichen Beleuchtung, werden wir nicht viel ausrichten. Lasst uns in die Wirtsstube zurückkeh­ren.« Die drei jungen Edelleute nahmen wieder an ihrem Tisch Platz und ließen auf den Schreck das Bier kräftig weiterfließen.


Auch an allen anderen Tischen flossen Wein und Bier in Strö­men. Dazu wurden große Mengen an Speisen bestellt. Elisa­beth schleppte im Laufschritt ihr beladenes Holzbrett und die gefüllten Krüge durch das Lokal. Jeder der Gäste nahm in der vagen Hoffnung auf den Freyzech so viel Fest und Flüssig zu sich, wie der Leib fasste. Vergessen war der Umstand, dass Völ­lerei zu den sieben Todsünden zählte. Gestikulierend, schrei­end, begütigend saßen die Zecher um die Tische, als Flo­rian Grimm das Haxenhaus zum zweiten Mal an diesem Abend betrat.

»Dun mer de Freyzech!«, rief einer dem Büttel zu, sprang auf und schwenkte seinen Bierkrug so heftig, dass sich die Hälfte der goldgelben Flüssigkeit über Kopf und Wams seines Tischnachbarn ergoss.

»Do Päädskopp! Isch du disch jlisch midden in dr Rhing schmieße!« Der Begossene schüttelte sich den Schaum aus dem Haarschopf.

»Do bes ävver hück pingelisch«, maulte der Erste und plumpste auf seinen Hocker zurück.

Der Büttel hatte seinen Hut und den roten Umhang abge­legt. Sein wadenlanges Surkot war in breite rote und weiße Querstreifen unterteilt. Darunter schauten die Beinlinge aus grober Wolle hervor, die in halbhohe Schuhe mündeten. Mit festem Schritt näherte er sich dem Rad der Fortuna. Bartholo­mäus Wille folgte ihm und öffnete den schwarzen Kasten auf ein Neues.

»Wenn Ihr nun die Güte hättet, den Drehmechanismus zu entriegeln.«

Der Wirt griff unter sein speckiges Hemd und nestelte ei­nen kleinen Schlüssel hervor, den er – gemeinsam mit einem kleinen Filzbeutelchen – an einem Lederband um den Hals trug. Flink steckte er ihn in das Schloss des Metallriegels, das sogleich aufschnappte. Das Rad vibrierte ganz leicht unter der Berührung. Aufmerksam betrachtete Florian Grimm die ein­zelnen Karten und ihre symbolischen Darstellungen: »Turm«, »Narr«, »Sonne« und Ähnliches las er.

»Und Ihr kennt Euch also aus in der Deutung dieser mysti­schen Karten? Oder lasst Ihr die drei Mal im Jahr, wenn Ihr das Rad in Bewegung setzt, einen Quacksalber oder Gaukler kommen?«, fragte der Büttel.

»Bei aller Bescheidenheit, mein Herr, das ist nicht nötig. Ich selbst verstehe mich ein wenig auf diese okkulten Dinge.«

»Nun gut! Heute Abend jedoch wollen wir dem Rad einen anderen Dienst abnötigen. Neununddreißig Zahlen am Rad, neununddreißig Tische im Raum! Ich werde es jetzt drehen, und wer auch immer an dem Tisch mit der auf diese Weise aus­gelosten Nummer sitzt, ist mir zur Zeugenaussage verpflich­tet. Kann man mich zufriedenstellen, so winkt als Lohn der Freyzech; gelingt es nicht, so kann es leicht geschehen, dass dieses Rad hier« – er klopfte mit der Faust auf die Holzschei­be an seiner Seite – »die falschen Zeugen auf ein anderes Rad befördert.« Die Androhung der peinlichen Befragung auf dem Rad ließ manch einen Gast in der Schankstube unwillkürlich zusammenzucken.

Der Büttel gab dem Rad der Fortuna einen kräftigen Stoß, und ratternd begann es zu kreisen. Kein anderer Laut war zu vernehmen. Alle Augen waren auf das wirbelnde Schicksal ge­heftet. Ein Hund, der plötzlich zu kläffen begann, bekam von dem ihm am nächsten Sitzenden einen Tritt und war sofort ru­hig. Das Rad verminderte nun das Tempo seiner Umdrehun­gen; es wurde langsamer und langsamer und blieb schließlich stehen. Neugierig reckte sich Bartholomäus dem oberen Ende des Rades entgegen, um die himmelwärts zeigende Zahl zu er­kennen; für den deutlich höher gewachsenen Büttel stand die Schicksalszahl exakt auf Augenhöhe.

»Der Tisch mit der Nummer xiv wird mir heute Rede und Antwort stehen«, dröhnte Florians Stimme durch den immer noch stillen Raum. Alle Blicke richteten sich zunächst auf die eigene Tischplatte, um dann suchend umherzuschweifen, wel­che Tischgemeinschaft wohl die geloste Zahl hätte. Der Wirt zeigte auf den Standort des ausgewählten Zeugentisches und trippelte aufgeregt hinter dem Büttel her.


Berthold, Dietrich und Arnold war das viele Hopfenbier zu Kopf gestiegen. So waren sie sich, als nun der Büttel an ihren Tisch trat, des Ernstes der Lage nicht recht bewusst. Sie grins­ten ihm fröhlich zu, Arnold deutete eine unbeholfene Verbeu­gung an, und Berthold grüßte mit schwerer Zunge: »’n Abend, Büttelchen!«