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Total durchgeknallt, die Jungs!

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Total durchgeknallt, die Jungs!

Roman

von Tina Zang

 

1

 

Für mich ist jeder Tag ein guter Tag und manche Tage sind sogar noch besser. Erste Ferientage fallen in diese Kategorie, darum komme ich an diesem Sommermorgen pfeifend in die Küche geschlendert. Laut und schief pfeifend, wie ich gestehen muss, was mir eine erhobene Augenbraue von meiner Mutter einbringt.

Ich hebe ebenfalls eine Augenbraue und pfeife dabei weiter. Gar nicht einfach, so viel Feinmotorik am frühen Morgen. Ja, früher Morgen, trotz Ferien! Langschläfer verpassen die Hälfte des Lebens, und vor allem erwischen sie die Morgenzeitung nicht als erste. Vor drei Wochen habe ich angefangen, sie täglich zu studieren, bevor meine Mutter sie in die Finger bekommt, weil sie interessante Artikel ausschneidet und sammelt.

Ich beende mein Pfeifkonzert, um die Nerven von Tom, Todd und Tadeus zu schonen, die um den Tisch herumtapsen. Ich knuddle sie zur Begrüßung, gleite auf die Eckbank, schiebe Honigglas und Käseteller zur Seite, damit ich die Zeitung ausbreiten kann, und lese hochkonzentriert den Leitartikel. Ich habe eine Mission und wenn ich mir etwas vornehme, ziehe ich es eisern durch.

Mum, die darauf wartet, dass der Toast hüpft, fragt etwas, das ich nicht verstehe, weil ich nicht zuhören kann, während ich lese.

„Das Gesundheitssystem reformieren“, murmele ich. Dann sehe ich auf. „Wie war die Frage?“

„Was du heute vorhast.“

„Abschieds-Brunch bei den Verrückten, weil der Lange nach Madrid fliegt.“

Die Verrückten habe ich vor einem Jahr kennengelernt, als Mum, die bei einer Stuttgarter Hausverwaltungsgesellschaft arbeitet, ihnen eine WG-geeignete Fünfzimmerwohnung zeigte. Ich bin zu dem Besichtigungstermin mitgekommen, weil ich ein Referat über den Arbeitsalltag meiner Eltern schreiben sollte. Es wurde ein kurzes Referat, denn mehr Elternteile als Mum habe ich nicht vorzuweisen.

Ich fand die vier jungen Männer, die zur Besichtigung kamen, auf Anhieb super lieb. Sie waren alle ein bisschen durchgeknallt, aber auf sehr nette und spannende Art. Auch Mum war von ihnen angetan, weil sie in ganzen Sätzen redeten und gut rochen. Damit stachen sie aus allen Interessenten heraus und bekamen den Zuschlag für die Wohnung. Allerdings fand Mum sie auch etwas unkonventionell, wie sie es ausdrückte. Inzwischen wurde aus „die etwas unkonventionellen jungen Herren“ kurz und knapp „die Verrückten“.

Einer von ihnen, Lasko, von allen nur der Lange genannt - er misst stolze 1,58 m und ist damit einen halben Kopf kleiner als ich - wird ein Auslandssemester in Spanien verbringen und reist heute ab.

Ich vertiefe mich wieder in die Tagespolitik. Nach drei Seiten ist mein Wissenshunger gestillt und ich lese die nächste Seite nebenher, während ich die Toastscheibe buttere, die Mum mir auf den Teller gelegt hat. Wieder erreichen mich Satzfetzen.

Ich blicke auf. „Entschuldige, was hast du gesagt?“ Ich weiß, das klingt übertrieben höflich, aber das hängt alles mit meiner Mission zusammen.

 

Meine Mission

Ich will die Sommerferien bei den Verrückten verbringen, da das Zimmer des Langen frei wird. In der WG ist es schrill, wild und lustig. Absolutes Kontrastprogramm zu hier. Bei uns ist alles spießig, langweilig und beige, vom Teppichboden bis zur Kloschüssel. Ich kleide mich stets sehr bunt, um meine reizarme Umgebung zu kompensieren.

Ferien in der WG wären das Paradies. Nicht mehr wegen jedem Quatsch um Erlaubnis fragen! Weit weg von den sinnlosen Ermahnungen einer krankhaften Pedantin, sprich: meiner Mutter! Yessss!!!

Bevor ich sie um Erlaubnis bitte, will ich ihr zeigen, dass ich alle Pubertätsflausen hinter mir gelassen habe und erwachsen, verantwortungsbewusst und zuverlässig genug bin, um für eine Weile daheim auszuziehen. Bildung und gutes Benehmen sind dabei die Kernkompetenzen, mit denen ich sie beeindrucken werde.

 

„Ich sagte, du hast die Butter unregelmäßig geschmiert.“

Ich halte die Toastscheibe auf Augenhöhe. Die Butter liegt wie Wellblech darauf. „Das ist die neueste Diätsensation aus Hollywood. Mach es wie die Stars. Verliere 7 Pfund in 7 Stunden mit der Bite-by-Bite-Methode!

Mum seufzt, wie so oft, wenn Humor gefordert ist. Ach, wie ich daheim meine Talente verschwende! Ich sprühe vor Esprit - und ernte nur seltsame Blicke und skeptische Bemerkungen. Bei den Verrückten wäre sofort eine Nonsensdiskussion in Gang gekommen.

Julius würde mir beipflichten. „Aber natürlich, dass da noch nicht früher jemand draufgekommen ist. Mal viel, mal wenig Fett, bei jedem Bissen eine andere Menge. Das bringt den Stoffwechsel in Schwung.“

Vally würde mir das Brot wegnehmen und sage, dass ich dünn genug wäre, darum müsse er sich opfern und an meiner Stelle die Diät machen.

Und was bekomme ich hier? Eine geballte Ladung Besorgnis wegen so einer Nichtigkeit. Aber ich fange mich schnell, streiche die Butter glatt und lasse den Honig in gleichmäßigen Streifen vom Löffel laufen.

Mum ist schon beim nächsten Tagesordnungspunkt. „Wie lange dauert denn das Brunch?“

Ha, mein Stichwort! „Es heißt der Brunch“, sage ich und freue mich tierisch, etwas von dem Wissen auspacken zu können, das ich in letzter Zeit gesammelt habe. „Brunch ist ein so genanntes Kofferwort, also ein Kunstwort aus Segmenten, die zu einem neuen Wort verschmolzen sind. Genau wie Smog, Motel und Bollywood.“

Mum lächelt und streichelt mir über den Kopf, eine Geste, die sonst den drei T’s vorbehalten ist. „Was du alles weißt.“

„Je mehr man weiß, desto besser findet man sich in der Welt zurecht.“ Hey, das ist so ziemlich das Erwachsenste, was ich je gesagt habe und es ist mir spontan eingefallen. „Wieso willst du wissen, wann ich zurück bin?“

„Weil ich dich brauche. Also, deine Hilfe. Weil … ich treffe mich abends mit jemandem und … will einigermaßen nett aussehen.“

Sie stammelt! Wahnsinn. Es ist so weit. Sie hat einen Mann kennengelernt. Heureka, hossa und hurray!

Als ich noch klein war, hatte ich Angst davor, Mum könnte einen Mann anschleppen. Ich wollte keinen Fremden im Haus haben, und schon gar keinen Stiefvater. Hin und wieder tauchte einer auf, aber alle tauchten auch schnell wieder ab, vertrieben von den seltsamen Anwandlungen meiner Mutter. Ich meine, welcher Mann will sich vorschreiben lassen, dass er die Gurkenscheiben auf einem Leberwurstbrot in Reih und Glied anordnen soll?

In letzter Zeit hat sich meine Einstellung geändert. Jetzt finde ich, dass Mum dringend einen Partner bräuchte, damit sie nicht mehr so auf mich fixiert ist.

Hoffnungsfroh frage ich: „Hast du ein Date?“

„Ähm, ja. Ich hoffe, das ist okay für dich.“

„Absolut. Wer ist es denn? Doch nicht jemand, den du aus dem Internet kennst? Du weißt, wie gefährlich das sein kann.“

Lächelnd tätschelt Mum meine Hand. „Sicher weiß ich das, sonst hätte ich es dir nicht ständig gepredigt.“

„Also, wer?“

„Ein Immobilienmakler, der seit kurzem mit uns zusammenarbeitet. Um die vierzig, geschieden, gutaussehend. Und er mag Hunde.“

Die drei T’s wedeln mit dem Schwanz, als hätten sie das verstanden.

„Klar helfe ich dir.“ Ich stütze die Ellenbogen auf den Tisch und das Kinn auf die Fäuste und studiere Mums Gesicht: Ihre formlosen Haare, die ungezupften Augenbrauen, die randlose Brille, die ihrem Blick etwas Leeres gibt.

Ich habe Mum tausend Mal gesagt, dass sie mehr aus ihrem Typ machen muss, aber jetzt, wo sie dabei meine Hilfe will, bin ich komplett ratlos. Anstelle der Tageszeitung hätte ich lieber Frauenmagazine studieren sollen.

Zum Haare färben wird die Zeit jedenfalls nicht reichen. Dieses fade Mausbraun ist eine Katastrophe. Ich kann von Glück sagen, dass ich es nicht geerbt habe, und das verdanke ich meinem Vater.

 

Mein Vater

Die goldblonden Haare sind angeblich das Einzige, was ich von meinem unbekannten Erzeuger habe. Genau genommen ist die Haarfarbe schlichtweg alles, woran meine Mum sich bei dem Kerl erinnert. Selbst seine Nationalität kann sie nicht genau sagen, denn sie hatte zu viel getankt, als „es passierte“. Ich bin entweder Halbschwedin, Halbdänin oder Halbnorwegerin.

Mein Vater war ein Urlaubsflirt. Das ist jedenfalls Mums Bezeichnung dafür. Ich würde es einen One-Night-Stand nennen. So oder so war dieser Spontanfi… (hüstel) während einer Stockholmreise das einzig Leichtsinnige, das sie je in ihrem Leben getan hat. Und auch, wenn sie mir oft versichert, dass sie es nicht bereut hat, weil sie ja mich dafür bekam, frage ich mich, warum sie seitdem so übertrieben brav und gewissenhaft ist.

 

„Ich würde dir liebend gern helfen, aber ich habe nur ein bisschen Mascara und Puder. Komm doch nach der Arbeit in die WG und lass dich von Vally stylen. Er hat es echt drauf.“

Mum verzieht den Mund. „Wird er es auch nicht übertreiben? Ich will am Ende nicht wie eine Transe aussehen.“

„Vally ist keine Transe, nur weil er schwul ist. Er hat einen Blick für Farben und alles, sonst würde er ja nicht Kunst studieren. Schminken ist eine seiner Leidenschaften. Er hat schon in der Schule seine Klassenkameradinnen gepimpt.“

Mich motzt er ebenfalls regelmäßig auf, wovon Mum nichts zu wissen braucht. Wenn ich abends weggehe, verlasse ich das Haus züchtig in Jeans und T-Shirt. Vally verschönert mich, und ab geht‘s ins Nachtleben.

„Ja, okay, meinst du, er würde das machen?“, fragt Mum unsicher.

„Bestimmt.“

„Also dann … dann komme ich um vier.“

„Schön, bring eine Auswahl an Klamotten mit.“ Sicherheitshalber füge ich hinzu: „Aber bloß nichts Beiges!“

2

 

Nachdem Mum zur Arbeit gegangen ist, wasche ich mir die Hände, die so mit Druckerschwärze beschmiert sind, dass man mir ohne Stempelkissen die Fingerabdrücke nehmen könnte.

Ich fahre mir kurz durch die Haare und trete bestens gelaunt in den sonnigen Morgen hinaus. Mit jeder Faser meines Körpers spüre ich, dass es ein besonderer Sommer wird. Und er beginnt mit einem Tag, der prallvoll ist.

Zuerst geht es mit den drei T’s in den Park, danach zum Brunch, der bestimmt superlecker wird, denn der Lange ist ein genialer Koch.

Anschließend folgt das Umstyling meiner Mutter, das der WG jede Menge Pluspunkte einbringen wird und mich damit näher an das Ziel meiner Mission.

Um sechs Uhr abends steht ein Besuch bei Elektro-Hinz auf dem Programm, wo mein Freund Theo seine Ausbildung macht. Donnerstags arbeitet er immer bis 22 Uhr, also haben wir nur seine Pause, um herumzuknutschen, aber das wird reichen, um mich für den Rest des Abends in einen Taumel der Leidenschaft zu versetzen, denn:

 

Mein Theo kann …

1. super küssen

2. genial küssen!

3. absolut unfassbar toll küssen!!!

 

Leider sind wir bisher nicht übers Küssen hinausgekommen, denn Theo weigert sich standhaft, mich daheim zu besuchen oder mich gar zu sich mitzunehmen. Er sagt, Eltern würden ihn verlegen machen, besonders seine eigenen. Also können wir uns nur in der Öffentlichkeit sehen: an seinem Arbeitsplatz, im Kino, im Freibad, in der Disco, in Kneipen oder auf einer Bank im Kurpark. In den zwei Monaten, die wir zusammen sind, haben wir noch keine fünf Minuten echte Privatsphäre erlebt. Ein Grund mehr für mich, in die WG zu ziehen. Dort gibt es weit und breit keine Eltern, und Theo und ich werden endlich zur Sache kommen.

Nach dem Knutschintermezzo mit Theo wird mein Tag dann um halb acht erst richtig losgehen, denn dann treffe ich mich mit meinem besten Freund Arik, mit dem ich einen Salsakurs machte. Das ist für mich immer das Highlight der Woche.

Zu den Verrückten ist es eine Viertelstunde mit der U2, die so leer ist, dass ich mir die Zeit mit Tanzschritten vertreiben kann. Da ich mich dabei an einer Stange festhalte, könnte es glatt als Poledancing durchgehen. Dann jogge ich die zweihundert Meter von der Station bis zur WG und klingle Sturm, weil ich nicht weiß, wohin mit all meiner Energie.

Der Türsummer geht, ich sause die Treppe hoch in den vierten Stock und umarme den erstbesten Menschen, der mir entgegenkommt und sich als mir unbekannte Frau im Seeräuberkostüm entpuppt - samt Augenklappe und Plüsch-Papagei auf der Schulter. Da die Frau deutlich kleiner ist als ich, piekt mich der Schnabel des Papageis ins Auge. Ich lasse sie los und meine: „Sie müssen Laskos Mutter sein. Ich bin Flora.“

„Was für ein hübscher Name.“

„Danke.“

 

Wieso ich Flora heiße

Mum dachte, ich würde ein Junge werden. Auf den Ultraschallbildern sieht es tatsächlich so aus, davon konnte ich mich selbst überzeugen. Weil Mum schon vor meiner Geburt mit mir sprechen wollte, nannte sie mich Florian. „Hallo mein kleiner Flo, wie geht es dir da drin?“ Als ich mich als Mädchen entpuppte, hat sie mir den erstbesten mit Flo beginnenden Mädchennamen gegeben, der ihr einfiel. Man stelle sich vor, ihr wäre Florentine oder Florence in den Sinn gekommen. Ups.

 

„Unser erster Gast ist da“, ruft Laskos Mutter in die Wohnung, was mir seltsam vorkommt, denn ich betrachte die WG als mein zweites Zuhause.

Ein Mann, vermutlich Laskos Vater, winkt mit einem Dolch. Auf dem Weg in Laskos Zimmer werfe ich einen Blick in die Küche. Das kalte Büffet kann sich sehen lassen. Da haben die Eltern bestimmt geholfen.

Mal sehen, ob wir es schaffen, das alles bis drei Uhr zu vernichten, weil Lasko und seine Eltern dann zum Flughafen aufbrechen. Das wird eine tränenreiche Angelegenheit. Trotz meiner Frohnatur habe ich extrem nah am Wasser gebaut. Ich bin ein lebendes Venedig. Bei Beerdigungen heule ich immer am meisten von allen, und wir gehen oft auf Beerdigungen, weil Mums Bruder Matthias Pastor ist, ein vielbeschäftigter Mann. Wir sehen ihn viel zu selten. Also gehen wir uns seine Trauerreden anhören. Nach zwei Sätzen von ihm öffnen sich bei mir jedes Mal die Schleusen. Am Ende bekomme ich die meisten Umarmungen ab, obwohl ich den Verstorbenen nicht kenne. Oft weiß ich nicht mal, ob da Mann, Frau oder Hund beigesetzt wurde.

Heute werde ich mich auf jeden Fall zusammenreißen, egal wie sehr der Abschiedsschmerz mich ergreift, denn ich will Laskos Mutter nicht die Show stehlen. Ich werde mich ablenken, indem ich an etwas Schönes denke. Zum Beispiel an den Pudding, den der Lange an meinem sechzehnten Geburtstag gemacht hat: Vanille und Schoko, immer abwechselnd geschichtet, und nach dem Erkalten in Scheiben geschnitten. Die so entstandenen gestreiften Stücke hat er mit Sahne und aromatischen Erdbeeren garniert. Oh Mann, auf solche Köstlichkeiten werde ich nun ein Jahr lang verzichten müssen.

„Danke für die Einladung“, will ich höflich sagen, als ich den Vater begrüße, komme aber nur bis „-ke“, dann klappt mir vor Staunen der Unterkiefer runter. Die Eltern und die Jungs müssen die Nacht durchdekoriert haben, um dem Langen einen rauschenden Abschied zu bereiten.

Auf dem Bett ist ein Schiffsrumpf aus Pappe aufgebaut, von dem kleine Plüschratten fliehen. An der Wand hängt ein Riesenposter der Titanic. Ein Fischernetz mit Plastikfischen baumelt von der Decke. Aus dem CD-Player tönt der Soundtrack von Fluch der Karibik.

Der Lange, in einem Käpt’n-Blaubär-T-Shirt, reicht mir ein Glas Sekt Orange.

Julius, dessen einzige Verkleidung eine Augenklappe ist, fragt, ob jemand daran gedacht hat, Vally zu wecken. „Der hatte sich noch mal hingehauen“, erklärt er mir.

Ches kommt in einem Matrosenanzug aus dem Flur und meldet: „Ich hab ihn geweckt. Stilgerecht mit einem Nebelhorn. Habe ich mir als Klingelton runtergeladen. Hallo, Flora.“

Da erscheint Vally in einem altmodischen, gestreiften Herrenbadeanzug. Die vier Verrückten sind vollzählig. Bald werden es nur noch drei sein, aber ich gedenke ja, die entstehende Lücke zu füllen, falls Mum es erlaubt.

 

Die Verrückten

Lasko (der Lange), könnte ein begnadeter Koch werden, aber als Arzt wird er bestimmt ebenfalls eine gute Figur machen.

Valerian (Vally), studiert Kunst, atmet Kunst, lebt Kunst. Wenn er nicht malt, bildhauert oder schminkt, spielt er temperamentvoll E-Geige oder kämpft tapfer mit seinen schwarzen Kräusellocken, die sich gegen jegliches Styling sperren. Er hat ein ansteckendes Lachen und sammelt Theater- und Bühnenklamotten.

Julius studiert Biologie und ist ein wandelndes Kunstwerk, das nicht Vally geschaffen hat, sondern Sandra, die Freundin von Julius. Sie ist Tätowiererin und hat sich auf Julius verewigt. Er hat außerdem die seidigsten blonden Haare, die je ein Mensch auf diesem Planeten gehabt hat. Sie reichen ihm bis zum Po. Wenn er sie offen trägt, sieht er aus wie ein Engel. Ein tätowierter Engel. Er hält als Haustiere eine Rotknievogelspinne und eine Python.

Chester (Ches) ist Sportstudent, ein drahtiger Typ von der Sorte Schlag-den-Raab-Kandidat mit ständig wechselnden Freundinnen. Ich habe es aufgegeben, mir ihre Namen zu merken und nummeriere sie nur noch. Derzeit bin ich bei Freundin Nummer 7, kurz F7, nicht eingerechnet die Frauen, die er hatte, bevor ich ihn kennengelernt habe.

 

Ich bestaune noch die Dekoration, da drückt Vally den Hai Laskos Vater in die Pranken, nimmt mich an der Hand und zieht mich rüber in sein Zimmer. „Du hattest wohl nichts Passendes“, sagt er, während er in seinem Fundus wühlt. Er fördert einen Degen zutage und schnallt ihn mir um.

„Ich wusste nicht mal, dass es eine Themenparty sein würde.“

Vally drückt mir einen Dreizack in die Hand. „Hat Theo es dir nicht ausgerichtet?“

Ich vermute, dass Vally ihn beim Kauf seines neuen Glätteisens getroffen hat. „Er ist bei der Arbeit immer so gestresst, da ist es ihm wohl entfallen.“

„Nein, das war nicht bei Elektro-Hinz-und-Kunz. Ich hatte dich angerufen und Theo ging ran.“ Vally klebt mir einen Kinnbart an. „So, fertig. Flora, der Schrecken der Weltmeere.“

„Wann war das?“

„Der Anruf? Samstagabend. Er sagte, du wärst grad auf der Keramik.“

„Ach so“, meine ich leichthin, doch in meinem Kopf beginnt es zu rattern.

Inzwischen sind weitere Gäste eingetroffen, alles Studienkollegen von Lasko. Einer will wissen, was es mit dem Piratenthema auf sich hat. „Möchte Lasko jetzt etwa Schiffkoch werden anstatt Internist?“

„Das kommt daher“, sagt Vally, „dass ich dafür die meisten Kostüme und Props habe. Raumfahrt wäre auch gegangen, ich habe ein paar echt scharfe Alienoutfits, aber Piraten passten dann doch besser. Weißt du, Spanien war eine der größten Seefahrernationen. Entdecker, Weltumsegler, Freibeuter und so.“

Ich zupfe an meinem Bart. „So so.“ Da es in mir immer noch rattert, gehe ich in die Küche, nehme mir ein Häppchen, in dem ein Zahnstocher mit einer winzigen Seeräuberflagge steckt, und überlege, wieso ich auf Theo sauer bin.

So schlimm ist es nun auch wieder nicht, dass er mir die Nachricht von Vally nicht weitergegeben hat. Aber hoppla: Wieso ist er an mein Handy gegangen? Am Samstagabend waren wir im Kino, in einem Film, den Theo ausgesucht hat. Ich bevorzuge romantische oder lustige Filme, er mag es laut, actionlastig und schnell.

Als ich von Verfolgungsjagden und sinnlosem Blutvergießen genug hatte, sagte ich Theo, ich müsse mal aufs Klo, und bin für eine Weile rausgegangen. Meine Handtasche ließ ich bei Theo, ich wollte ja nur ein bisschen frische Luft schnappen. Und da muss Vally angerufen haben.

Was ist also passiert? Mein Handy war in meiner Handtasche, auf lautlos gestellt. Das weiß ich genau, denn als ich nach der Vorstellung den Ton wieder angestellt habe, dachte ich, dass bei dem Krach sowieso niemand einen Klingelton herausgehört hätte. Um zu merken, dass mein Handy vibrierte, muss Theo die Hände in meiner Handtasche gehabt haben. Hat er etwas gesucht? Kaugummis vielleicht oder ein Taschentuch? Oder hat er neugierig herumgewühlt? Und wieso ist er rangegangen? Ich würde nie an sein Handy gehen - und wenn ich es täte, würde er mir die Hölle heiß machen. Er hat seine Mutter kürzlich mit seinem Tagebuch erwischt und drei Tage lang kein Wort mit ihr gesprochen.

Mein lieber Schollikowski! Heute Abend werden wir nicht nur knutschen, Theo wird mir Rede und Antwort stehen müssen.

3

 

Wenn man Vally um etwas bittet, läuft er zu Höchstform auf. Er spielt hin und wieder als Statist oder in kleinen Rollen am Staatstheater, für ihn ist alles im Leben eine Inszenierung.

Nachdem der Lange und seine Eltern fort sind, trockne ich die Tränchen, die ich beim Abschied allen guten Vorsätzen zum Trotz vergossen habe. Dann erzähle ich Vally, dass meine Mutter so gegen vier vorbeikommen wird, damit er sie modisch beraten und ihr ein schmeichelhaftes Make-up verpassen kann. „Ich hoffe, es war okay, dass ich das arrangiert habe.“

Vally ist begeistert. „Großartig. Deine Mutter ist eine echte Herausforderung. Das war nicht beleidigend gemeint. Mir ist längst aufgefallen, dass sie ihr Äußeres sträflich vernachlässigt. Ich werde sofort Paul anrufen, damit er mir hilft.“

Sein Freund Paul ist Hairstylist. Vally beginnt bereits, alles generalstabsmäßig zu planen. Die Aufräumarbeiten nach der Party werden ausgesetzt, dafür soll Ches alle Spiegel in der Wohnung verhängen. „Deine Mutter soll sich erst sehen, wenn alles fertig ist“, begründet Vally diese Maßnahme.

Julius wird damit beauftragt, die Kleiderständer mit den Theaterkostümen aus dem Zimmer zu rollen, damit Vally mehr Platz hat.

Kurz darauf erscheint Paul und ich muss auf Vallys Anweisung hin mein Handy nach Fotos durchsuchen, auf denen meine Mutter zu sehen ist. Ich finde einige von unserem Pfingsturlaub am Bodensee, samt den drei T’s.

Paul schnalzt mit der Zunge. „Eure Hunde sind besser frisiert als deine Mutter. Wie viel Zeit habe ich?“

„Eine halbe Stunde“, sagte Vally. „Danach komme ich dran.“

„Da lässt sich was machen“, versichert Paul.

Dann klingelt es und ich hoffe, dass die geballte Styling-Energie, die durch die WG flutet, meine Mutter nicht wegblasen wird. Ich bitte Ches, runterzulaufen und meiner Mutter beim Tragen zu helfen, denn sie sollte ja Klamotten mitbringen.

„Hi“, sagt Mum, als sie oben ankommen. Sie versucht, lässig zu wirken. „Ich hoffe, ich mache Ihnen nicht zu viel Mühe. Es war Floras Idee. Eigentlich brauche ich nur ein bisschen Rouge und … so was in der Art.“

Vally nimmt sie am Ellenbogen. Er trägt natürlich nicht mehr das Badekostüm, sondern ist in seriöses Schwarz gewandet. „Liebe Frau Schmitt, oder darf ich Bettina sagen?“

„Ähm, huch, ja, gern.“

„Liebe Bettina, wir werden eine entspannte Wellness-Stunde miteinander verbringen und danach sind Sie ein neuer Mensch.“ Er schnippt mit den Fingern, woraufhin Julius mit einem Tablett aus der Küche erscheint. „Käffchen?“

Ich grinse in mich hinein. Das ist erstklassiges Schmierentheater, und doch total echt und authentisch. Ich liebe die Verrückten, weil sie ihre Widersprüche leben. Ich folge der Gruppe zu Vallys Zimmer, wo Paul mit Schere und Kamm wartet. Vally und Mum verschwinden im Zimmer. Ches trägt Mums Reisetasche hinein, Julius das Tablett, aber Vally scheucht die beiden danach gleich wieder raus und schließt die Tür. Mich hat er nicht mal rein gelassen.

Ich vertreibe mir die Zeit, indem ich die Spülmaschine einräume und dabei ein paar Reste vertilge. Was um Himmels Willen werden sie aus Mum machen?

Ich lausche eine Weile an Vallys Tür. Von Zeit zu Zeit ist Gelächter zu hören. Wird Vally es richtig hinbekommen? Wird er übertreiben und Mum total entstellen? Sie ist doch so ein graues Mäuschen, es könnte ein Schock für sie sein, zum Vamp gemacht zu werden. Weniger ist mehr - das hätte ich Vally einschärfen müssen. Mum geht ja nicht in einen angesagten Club, sondern nur zu einem Date mit einem Immobilienmakler. Ob ich hineingehen soll und das Schlimmste verhindern?

Nein, man muss auch loslassen können. Ich geselle mich zu Julius, der das Terrarium reinigt, während die hellgelbe Schlange um seinen Hals optisch mit seinen Engelshaaren verschmilzt. Sie heißt Carlotta, ist zwei Meter lang und könnte Julius jederzeit zerquetschen, so wie Pythons es mit größeren Beutetieren machen, bevor sie sie fressen. Woher weiß eine Würgeschlange, wann ihr Opfer tot ist? Sie kann ja nicht googeln, wie lange beispielsweise eine Ziege ohne Sauerstoff auskommt. „Sag mal, woher weiß eine Schlange, wann sie fertiggewürgt hat?“

„Wenn ihr Magen leer ist.“

Ich muss lachen. Julius hat natürlich verstanden, dass ich nicht meine, wann sie aufhören kann, sich zu übergeben.

„Das ist so“, sagt er. „Die Schlange spürt den Pulsschlag. Wenn keiner mehr da ist, kann sie loslassen.“

„Cool. Darf ich Ravenna füttern?“ Das ist seine Rotknievogelspinne, wunderschön haarig und so groß wie mein Handteller.

„Sie isst gerade nichts, weil sie sich bald häutet.“

Es zieht mich wieder in den Flur, wo ich unruhig auf und ab tigere.

So muss Mum sich gefühlt haben, als ich mit neun Jahren meinen Blinddarm rausbekam, und sie mit ihrer Sorge um ihr einziges Kind alle Krankenschwestern verrückt gemacht hat.

Endlich ist es so weit. Die Tür öffnet sich. Heraus kommt ein sichtlich erschöpfter aber zufriedener Vally, doch er winkt mich nicht herein, sondern ruft nach Ches. „Bettina braucht ein Coaching in Körperhaltung.“

Vally nimmt seine Aufgabe wirklich sehr ernst.

Nach fünf Minuten öffnet sich die Tür erneut und eine sportlich-elegante Lady tritt in den Flur. Meine Mutter strahlt Frische und Lebensfreude aus. Sie leuchtet von innen. Sie ist kaum wiederzuerkennen. „Sehe ich gut aus?“, fragt sie unsicher.

„Blendend, Mum. Wie neu. Ich bin sprachlos. Und alles ohne Schönheits-OP!“ Ich zücke mein Handy und schieße ein paar Fotos.

Vally zieht mit einer schwungvollen Bewegung das Bettlaken vom großen Flurspiegel. Mum schaut sich an, dreht sich, lässt den Mund aufklappen, schließt ihn wieder, grinst, lacht, quietscht, quiekt und quakt. Ich wusste nicht, dass sie über dieses Repertoire an Lauten verfügt. Sie muss völlig aus dem Häuschen sein. „Ihr seid Genies. Absolute Genies! Ich liebe euch.“ Sie fällt Vally um den Hals. „Das bekomme ich selbst niemals so hin. Kann ich bei euch einziehen?“

He, das ist mein Text!

Vally lacht. „Liebe Bettina, Sie können natürlich jederzeit vorbeikommen, wenn Sie Hilfe brauchen. Ich bringe Ihnen alles bei, bis Sie alleine zurechtkommen.“

Mum strahlt. „Also, wenn ich jemals etwas für Sie tun kann …“

„Das könnten Sie tatsächlich.“ Vally drückt mir die Schulter, und ich ahne, hoffe, wünsche mir, dass er sagt, wovon ich denke, dass er es sagen wird.

„Da Lasko für ein Jahr weg ist, bräuchten wir jemanden, der uns bekocht. Wenn Sie uns Flora für ein paar Wochen ausleihen könnten, das wäre super.“

Mum zieht die Augenbrauen zusammen. „Aber Flora kann nicht kochen.“

Da sieht man mal, wie schlecht meine Mutter mich kennt. „Das denkst du, weil du mich seit dem Tomatensaucendebakel kaum noch an den Herd lässt.“ Ich hatte Tomatensauce in der Mikrowelle erhitzt. Als ich den Topf rausholte und öffnete, war noch alles okay. Doch als ich dann den Saucenlöffel nahm und umrühren wollte, gab es einen Vulkanausbruch. Siedend heiße Tomatensauce spritzte durch die Küche, und wenn ich dank jahrelangen Tanztrainings nicht so wendig und reaktionsschnell wäre, hätte ich auch etwas abbekommen. „Es war nicht meine Schuld, es lag am Siedeverzug. Das hat mir Lasko erklärt. Und er hat mich oft mitkochen lassen. Er beherrscht nicht nur die Basics, wie Nudeln kochen und Sauce anrühren, sondern richtig hohe Kochkunst. Zabaione, Soufflés, Molekularküche.“

„Ja, also dann …“ Mum nickt. „Du kannst in den Ferien ja tun und lassen, was du willst. Wenn du hier jeden Mittag den Kochlöffel schwingen möchtest, nur zu.“

„Am praktischsten wäre es, wenn ich hier wohnen würde“, sage ich. „Nur für eine Weile.“

„Hm.“

Da fehlen wohl noch ein paar gute Argumente. „Julius, Ches und Vally werden super auf mich aufpassen.“

„Hm.“

„Du hättest dann daheim deine Ruhe, wenn du deinen Freund mitbringst. Ist doch viel angenehmer, als wenn ich nebenan schlafe, und alles mitbekomme.“

„Hm. Was wird Arik dazu sagen, wenn er es so weit zu dir hat?“

Seit Arik und ich händchenhaltend in den Kindergarten gegangen sind, ist Mum der festen Überzeugung, dass wir füreinander geschaffen sind, und lässt sich keine Gelegenheit entgehen, auf unsere gemeinsame Zukunft hinzuarbeiten.

„Arik hat kein Problem damit“, sage ich. In Wirklichkeit wird er es nicht weit haben, im Gegenteil. Doch von seinem Catsitting erzähle ich Mum lieber nicht.

 

Watson hat nur drei Tatzen

Ariks Großmutter Lene wohnt auf der Karlshöhe, nur wenige Busminuten von der WG entfernt. Lene fährt morgen für fünf Wochen in Kur und Arik wird so lange in ihrer Wohnung leben, bei Watson, Lenes dreibeinigem Kater. Watson braucht viel Streicheleinheiten und noch mehr Ansprache. Mit zweimal am Tag füttern ist es nicht getan, sonst könnte Lenes Nachbarin das übernehmen.

Wenn Mum mitbekommt, dass Arik in Lenes schmucker Zweizimmerwohnung nächtigt, wird sie nicht mehr davon abzubringen sein, dass Arik und ich dort gemeinsam wohnen könnten, als Ehe auf Probe, mit Watson als Kind-Ersatz.

 

„Hm, und was ist mit der Giftschlange?“, fragt Mum.

„Pythons sind doch nicht giftig“, versichere ich. „Das sind Würge-“

Julius zwickt mich in den Po, woraufhin ich so tue, als müsse ich husten. Ich sollte mir endlich angewöhnen, nachzudenken bevor ich etwas sage, oder mir ein Lippenpiercing in Form eines Vorhängeschlosses stechen lassen.

„Das sind würglich ganz zahme Schlangen“, sagt Julius.

„Hm hm hm.“

„Ist das ein Ja?“

Mum schaut noch einmal in den Spiegel. Ihr neues, vor Selbstbewusstsein strotzendes Ich ist anscheinend das beste Argument. „Ja.“

Ich verspreche ihr, dass ich superbrav sein werde, die Nächte nicht durchmachen werde, keine Drogen zu nehmen gedenke, niemals Sex ohne Kondom haben werde, und siebentausend andere Sachen, die sie hören will.

Dann zieht sie glücklich von dannen zu ihrem Immobilienmakler-Date.

Vally und ich klatschen uns ab. Ches sagt, dass er am liebsten Steaks mag wegen der Proteine, und Julius fragt, ob ich Ravenna gern bei mir im Zimmer haben möchte, damit ich zuschauen kann, wie sie sich häutet.

Ich fühle mich wie zuhause. Wenn ich Zeit hätte, würde ich meine Sachen gleich holen, aber mein Abend ist komplett verplant.

4

 

Nun muss ich mich aber sputen, um pünktlich bei Theo zu sein. Seine Pause dauert nur eine halbe Stunde.

Im Bus schicke ich Arik die Fotos, die ich gerade geschossen habe. „Rate mal, wer das ist?“, schreibe ich dazu. Dann ist Theo dran. „Ich habe eine tolle Überraschung! Lieb dich! ❤ Flora.“

Als ich alles abgeschickt habe, fällt mir ein, dass ich mit ihm noch ein Hühnchen zu rupfen habe, oder - wie Arik sagen würde - eine Möhre zu schälen. Arik ist Hardcore-Vegetarier und nimmt auch in Redewendungen nichts Tierisches in dem Mund. Aus „Du blöde Kuh“ wird bei ihm beispielsweise „Du dämlicher Tofuwürfel“.

Tatsache ist, ich bin viel zu gut drauf, um Theo Stress zu machen wegen einer kleinen Unstimmigkeit, für die es bestimmt eine simple Erklärung gibt, zum Beispiel: Der Mann, der im Kino neben Theo saß, hat sich zu breit gemacht und ist an Theos Ellenbogen gestoßen. Daraufhin ist das Popcorn, das Theo sich in den Mund schieben wollte, in meine Handtasche gerieselt, die er auf dem Schoß stehen hatte. Als er es rauspfriemeln wollte, rief Vally an, Theo kam versehentlich mit dem Daumen aufs Ruf-Annahme-Feld, und dann blieb ihm nichts anderes übrig, als mit Vally zu reden. Dass er hinterher vergessen hat, mir davon zu erzählen, liegt an der wilden Knutscherei, die wir uns gegönnt haben, während der Abspann lief. Die hat bei mir mit Sicherheit auch einiges aus dem Kurzzeitgedächtnis gekickt.

Die Antwort von Theo kommt. „Prima, ich habe auch eine Überraschung für dich, mein Gänseblümchen.“

Was mag das sein? Haben wir bald sturmfreie Bude? Theos Eltern könnten ja übers Wochenende verreisen. Dann darf ich endlich in Theos Zimmer, ohne dass er sich vor peinlichen Momenten fürchten muss. Und wir werden uns gegenseitig verführen. Er hatte bisher zwei Freundinnen, und mit meiner Vorgängerin Emily war er auch im Bett. Theo ist bestimmt ein begnadeter Lover, genau der Richtige fürs erste Mal. Ches meint zwar, dass man frühestens nach der zehnten Frau dahintersteigt, was guten Sex ausmacht, aber ich glaube, dass er nur sein Lotterleben rechtfertigen will.

Bei Theo kann ich mich darauf verlassen, dass er mir treu ist, denn darauf legt er großen Wert, ebenso wie auf absolute Ehrlichkeit und vollkommenes Vertrauen. Das hat er mir gleich bei unserem ersten Date gesagt.

Ich betrete den Elektro-Hinz, in dem die Klimaanlage viel zu kalt eingestellt ist. Wie gut, dass Theo mich gleich mit seinen starken Armen wärmen wird. Er ist ein wunderbar kuscheliger Typ, kein bisschen sperrig, wie manche Jungs sind, vor allem die sportlichen. Theo ist erstaunlicherweise sowohl athletisch als auch anschmiegsam.

Ich finde ihn bei den Fernsehern, wo er eine Kundin berät. Wie erwachsen er wirkt in seiner schwarzen Hose und dem hellblauen Hemd mit Schlips! Er ist nur ein Jahr älter als ich und verdient sein eigenes Geld.

Ich warte ungeduldig, bis die Kundin geht, dann werfe ich mich in Theos Arme. „Theobärchen.“

Er küsst mich auf die Haare und loggt sich aus seinem Arbeitscomputer aus. Dann gehen wir in den Pausenraum, den wir zum Glück für uns allein haben. Ich hocke mich auf den Tisch, ziehe Theo zwischen meine Beine und suche seinen Mund. Er hat die weichsten und wunderbarsten Lippen, die man sich nur vorstellen kann. Er pflegt sie auch sehr gut. Keine Spur von Schrunden oder eingerissener Haut, und schon gar kein Herpes. Rosig und sanft sind seine Lippen, und dann erst seine Zunge. Mein Gehirn geht auf Sendepause und schaltet sich erst wieder ein, als Theo sich auf einen Stuhl setzt, ein belegtes Brot auspackt und zu essen anfängt. „Erzähl mir von deiner Überraschung.“

Ich drehe mich auf dem Tisch in seine Richtung und schlage die Beine übereinander. „Aaaalso, Mum hat mir erlaubt, für ein paar Wochen auszuziehen.“

„Wohin? Doch nicht etwa zu mir?“ Brotkrumen fliegen aus seinem Mund. „Du weißt doch, dass ich das nicht will.“

„Keine Sorge, deine Eltern müssen von meiner Existenz nie erfahren, wenn dir das lieber ist. Wobei ich mich natürlich frage, was dir genau peinlich ist. Dass ich deine Eltern kennenlerne, oder sie mich?“

„Weder noch. Ich mag es nicht, wenn meine Mutter zu viel über mich weiß. Sie muss immer alles kommentieren und manipulieren. Und mein Vater will mir ständig beweisen, dass er auch mal so jung war wie ich. Egal, was ich sage, er kennt es auch, hat es selbst so erlebt, weiß genau Bescheid, kann sich total in mich einfühlen. Blaaaaah.“

Ich grinse. „Meine Mum ist okay, ein bisschen pedantisch aber ansonsten recht pflegeleicht.“

„Aber sie ist eben eine Mutter.“

„Das ist Schubladendenken.“

„Tja, dann ist es das halt.“ Theo steht auf, holt einen O-Saft aus dem Kühlschrank, schraubt ihn auf und trinkt ihn aus der Plastikflasche. Mich lässt er auch einen Schluck nehmen. Das würde ich daheim nie wagen, denn Trinken aus der Flasche gehört für Mum zu den sieben Todsünden.

Ich wische mir den Mund ab und reiche Theo die Flasche zurück. „Ich ziehe in die WG ein. Super, oder? Dort können wir es uns endlich richtig kuschelig machen. Nur du und ich.“

Theo steht da wie erstarrt, die Flasche in der Hand. „Du ziehst in eine WG mit vier Männern? Vier Männern?“

„Erstens sind es derzeit nur drei, und zweitens - wo ist das Problem? Wenn ich mit einem von ihnen was hätte anfangen wollen, wäre es längst passiert. Sie sind für mich wie große Brüder.“

„Das kann sich ganz schnell ändern. Ihr benutzt dann dasselbe Bad. Und wenn du nackt unter der Dusche stehst, und einer von ihnen kommt rein …“ Kopfschüttelnd stellt Theo die Flasche ab.

„Vally ist schwul, Julius ist in festen Händen und Ches hat immer so Modeltypen am Start, mit denen ich weder konkurrieren kann noch will. Beruhigt?“

„Kein bisschen. Ich bin absolut dagegen.“

Ja, Hölle, was tue ich denn nun? Ihn an seine Prinzipien erinnern. „Vertraust du mir etwa nicht?“

„Dir ja - aber anderen Männern nicht.“

Ich versuche es auf die sanfte Tour, greife Theo in den Nacken und ziehe ihn zu mir. „He, Bärchen, pack den Macho weg, der steht dir nicht. Außerdem kannst du mich sowieso nicht rund um die Uhr überwachen. Wir brauchen beide unseren Freiraum. Du unternimmst oft genug etwas mit anderen.“

„Erstens sind es alles Jungs, und zweitens machen wir Sport, das kann man nicht vergleichen. Aber deine so genannten großen Brüder werden mit dir bestimmt nicht zum Fußballtraining gehen, sondern dich nachts durch die Clubs schleifen.“ Das Wort „Clubs“ spricht er aus, als wäre es ein Synonym für „der letzte Ort, an dem ich lebend gesehen werden möchte“. Ich weiß Bescheid, denn Theo hat mir schon gesagt, was er dort schrecklich findet: die Musik, die Leute, die Getränke. Also alles.

Keine Sorge, denke ich, die brauchen mich nicht zu schleifen, ich gehe freiwillig. „Hör mal, Schatz, seit zwei Wochen bin ich endlich sechzehn und darf in Clubs rein. Das lasse ich mir nicht entgehen, nur weil du nicht drauf stehst.“

„Dann geh eben mit deinen Freundinnen aus.“ Er küsst mich spröde. Seine Gesichtsmuskulatur ist wie erstarrt. Schlechte Laune ist extrem schlecht für seine Kusstechnik.

Ich seufze. Dummerweise habe ich keine Freundinnen.

 

Warum habe ich keine Freundinnen?

Meine Mum hat auch keine Freundinnen, aber sie kennt wenigstens den Grund. Melanie, ihre letzte beste Freundin, mit der sie damals in Stockholm war, als ich „passiert bin“, hat danach nichts mehr von ihr wissen wollen. „Du wirst bald eine brave Mutti und dann kann man mit dir keinen Spaß mehr haben“, sollen ihre Abschiedsworte gewesen sein. Ich glaube, das grämt Mum mehr als die Tatsache, dass mein Erzeuger nicht einmal von meiner Existenz weiß.

Ob ich unbewusst einen Vaterersatz suche und mich deswegen mit männlichen Wesen umgebe? Das muss sich ändern, denn in ein paar Jahren, wenn die echten Frauenprobleme losgehen, brauche ich dringend eine geeignete Gesprächspartnerin.

 

Mit einem Mal bin ich traurig. Etwas ist bei mir schiefgelaufen, und ich habe es nicht bemerkt. Ich seufze aus tiefster Seele und merke, wie mir die Tränen kommen, die ja bei mir recht locker sitzen.

Theo versteht es falsch. „Ach, mein Gänseblümchen, ist ja okay. Zieh halt in die WG, wenn es dich glücklich macht. Aber verspricht mir, dich anständig zu benehmen.“ Es folgen Ermahnungen, die denen von Mum nicht unähnlich sind, und ich verspreche alles hoch und heilig und dreimal schwarzer Kater.

Uff, das war eine schwere Geburt. Ich hätte nicht gedacht, dass eine Beziehung mit solchen Kämpfen einhergehen kann. Arik erzählt mir manchmal, wie seine Eltern sich fetzen und anschließend versöhnen, aber aus eigener Anschauung kann ich nichts beisteuern.

deine