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Harry Schmidt

Der Sprosser und die
Gottesbrille

ein nachdenklicher Thriller

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© 2016 Harry Schmidt

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN
Paperback: 978-3-7345-4390-6
e-Book: 978-3-7345-4391-3

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Tag eins

Daag lässt den Karabinerhaken einschnappen.

Rauhaarteckel Finn fiept alarmiert. Stemmt sich mit den Vorderpfoten gegen seine Matte. Die buschigen Brauen weit oben in der Stirn, als begreife er nicht. Und sei auch nicht willens mitzukommen. Daag zieht an mit einem Ruck, der keinen Widerstand duldet. „Dawai, Finn! Denkst du, mir macht das Spaß!“ Seine Nasenwurzel ist gerötet. Die lederartigen Lippen grienen starr, wie eingefroren im hageren Gesicht. Er verschließt mit der Fernbedienung die Türen des Transporters, rüttelt noch mal am Griff. Verstaut den Schlüssel in der Brusttasche. Drückt zu, sich überzeugend, dass der Verschluss noch hält. Graue Uniformbluse, derber Stoff, abgewetzt, mit blanken Nähten. Das Naturpark-Emblem verwaschen bis zur Unkenntlichkeit. Alles auf Verschleiß! Auch für Dienstbekleidung fehlt seit Jahren das Geld.

Der Teckel gibt seinen Protest auf. Schnüffelt nun, überprüft wichtigtuerisch die frischen Spuren auf dem Platz. Den Daag notdürftig gesäubert hat von Plastikbechern, Folien und Essenresten. Zwischendurch hebt der Hund die Schnauze in Richtung der Uferbefestigung. Als wittere er etwas, das vom Fluss her kommt. Kurzzeitig setzt er sich sogar auf seine Keulen, die dicke Pfote über die Augen hebend, als müsse er genauer hin gucken. Um die Lefzen herum ähneln sich Mensch und Teckel: Braune, schief hängende Lippen. In den Winkeln etwas wie eingewachsene Häme.

Drei Leute nur stehen vor dem POINT. Der aufgebockte Wohnwagen zeigt noch Spuren des Feuers. Mit angekohlten Brettern, mit Rauchfingern um die Ecke herum bis hoch zum Fenster. Es stinkt nach Gummi. Zwei Reifen sind auf den Felgen zerflossen. Geronnene Reste hängen ins Gras. Das umgedrehte Kreuz daneben hat Daag stehen lassen. Vielleicht als Zeichen, als nutzlosen Appell, er weiß es nicht. Die zur Pyramide geschichteten Äste wurden gar nicht angezündet. - Seltsamerweise!

Kurzer Blick. Ein Aufblitzen nur zwischen braunen, zerknitterten Lidern: Feuer und Kreuz sind kein Thema hier. Jeder steht für sich. Jeder mit leuchtender Brillendiode. Die Frau gegen die Wagentür gelehnt. Nach dem sie sich überzeugt hat, dass kein Ruß dort hinreicht, wo ihre Schulter das Holz berührt. Immer schön die Augen offen halten, Cyber-Lady; das Böse lauert überall. Eine ständige signifikante Zunahme destruktiven Handelns, wie die Soziologen zugeben. Einmütig sogar. Daag wird in Zukunft hier übernachten müssen. Zumindest übers Wochenende! Es gießt nicht jedes Mal mit Blitz und Donner, wenn DIE kommen. Aber gegen den echten FLASHMOB hat er natürlich keine Chance. Da holt er sich nur blutige Knochen. „Tag!“

„Hallo!”

„Könnte ich Ihre Quittung sehen?”

Der Mann mit der schmalen Glatze und dem sorgsam bis auf einen Rahmen ausrasierten Bart lächelt ergeben. Schaltet seine Brille ab, in der Stimme sanften Vorwurf. „Dr. Ander von den Deutschen Demokraten, Landtagsabgeordneter. Direktor Frans war so freundlich, uns einzuladen.” Sein Lächeln gleitet hinüber zu der Frau, die mit dem Rücken am Point lehnt.

Über dem Overall ein langes, grünes Kleid. Zerknitterter Leinenstoff. Verlebtes Gesicht. Die Augen in Höhlungen, jedoch blitzend vor Neugierde, vor Unternehmungslust. Bestimmt nicht die Mutter seiner Kinder, schlussfolgert Daag. Eher schon die Gespielin des erfolgreichen Politikers. - Was denn sonst ! Die hat sogar ZWEI Smart-Brillen mit, die sie abwechselnd aufsetzt, einschaltet, ungeduldig wieder abnimmt. Zwischendurch blickt sie noch in den Himmel. Er wendet sich der dritten Person zu. „Und Sie ?”

„Tuchus-AG, Werbedesign und freier Journalismus.” Der Hagere lacht scheppernd, als wäre die Vorstellung schon ein Gag. Aus dem Gestrüpp seines Bartes leuchtet rot und wulstig der Mund. „Mein Onkel war so nett. Wir wollen eine neue Kampagne initiieren: Zugkräftige Slogans, geile Bilder, euer dreckiges Licht! - Alles zu blutlos jetzt.“ Er zückt seinen Ausweis. An seinem langen Hals baumeln mehrere Fotoapparate.

Armes Deutschland! - Schon wieder drei, die kein Geld reinbringen! Aber es ist nicht nur die wirtschaftliche Situation, die Daag beschäftigt. Er konstatiert eine unbegreifliche, selbstzerstörerische Gier, auch noch den Rest kaputt zu machen. Jugendliche randalieren landauf, landab. Zündeln, als wäre Feuer die Lösung. Ein Trupp hat zum ersten Mal das Grenztalmoor besucht. Leute vom BFLASH, wie es aussieht. Und passend dazu: Der Geschmack im Mund. Das Gefühl, die Zunge sei geschwollen. Zu groß geworden für den Raum zwischen den Zähnen. Es fing harmlos an. Als hätte Daag nur mal seinen Tee zu heiß getrunken. Bloß, es ging nicht wieder weg. Alles schmeckt, wie mit Asche gewürzt. Brennt nesselartig, vor allem am Zungenrand. Ordentlich riechen kann er auch nicht mehr. Große Allergie-Prüfung des Hautarztes, der ganze Rücken ein Testfeld. Check beim HNO -Spezialisten, Untersuchungen der inneren Organe bis hinunter zur Blase. - Die Mediziner arbeiteten optimistisch ihre Algorithmen ab. Und wollten viel Geld. (Komplexe Diagnostik außerhalb der Grundversorgung.) Daag kneift die bräunlichen Lider zusammen. Geld, das er sich borgen musste. So weit ist es gekommen mit ihm. - Einen Lachanfall könnte er kriegen! Und natürlich ohne Ergebnis: Beobachten, im Auge behalten! Bei einer Homöopathin war er auch schon.

„Und der Herr im offenen Auto da ?”

Der Abgeordnete gibt keine Antwort. Er spricht ins Mikrofon seiner Brille. Klar, die Achtzig-Stunden-Woche des Politikers. Ein unaufschiebbares Gespräch nach dem anderen. Auch am Sonntagnachmittag.

„Engel, unser Fahrer und Personenschützer“, antwortet seine Freundin. „Wenig Interesse für Flora und Fauna, unterstelle ich einfach mal.”

Eine grauhaarige Frau mit Kind ist noch eingetroffen. Steht neben ihrem Fahrzeug. Diskutiert mit dem kleinen Mädchen.

Finn hat nur flüchtig die lange Schnauze gehoben. Mehr als die Menschen selbst interessiert ihn der Geruch ihrer Fußabdrücke.

Daag kennt die Frau. Er geht steifbeinig hin zu ihr. Muss er ja wohl.

„Wir wollen uns endlich mal eure tierischen Baumeister angucken.” Und stolz: „Stella, mein Enkelkind.” Flüchtiges, unpersönliches Lächeln. Ein mechanischer Händedruck.

Daag blickt gleichgültig zurück. Wie sich Menschen verändern. Ihre Miene war ständig in Bewegung. Jetzt sieht es aus, als hätte sie alle Züge mit einer Schablone ausgerichtet. Und so fixiert. Die Haare inzwischen stahlgrau, kurz und streng geschnitten. Dafür eine Brille mit auffälligen Bügeln. - Seine ehemalige Mitschülerin, Rea genannt (die Abkürzung von Rebecca). Damals umschwärmt, immer im Mittelpunkt: Diese Beißer! Dieses blitzende Weiß im kleinen, von der Sonne gebräunten Gesicht. Und erst die Stimme! Metallisch, dunkel. Ein Klang, der das Banale zum Geheimnis machte. Als Fünfzehnjähriger war er schon beeindruckt. Vermutete verborgene Tiefen. Und schrieb dem Mädchen Briefe, obwohl sie jeden Tag im selben Raum saßen. Sie haben sich dann ein paarmal wieder gesehen auf Klassentreffen. Rea, jetzt selbst Lehrerin, erzählte von ihren Schulproblemen. Von der Inklusion der Behinderten. Und der Flüchtlingskinder. Nur davon. Ansonsten hatten sie sich nichts mehr zu sagen. Inzwischen arbeitet sie wohl bloß noch stundenweise. Bis Mitte fünfzig hält ja kein Pädagoge mehr durch.

Daags zieht die Unterlippe noch schiefer. Mit Überraschungen für die Kleine könne er nicht dienen. Keine kindgerechten Attraktionen ! Keine Streicheltiere. Die Zeit der blauen Frösche schon vorbei. Seine Biber, knarzt er, seien NACHTAKTIV. Seine beiden Schreiadlerpaare brüteten. Es gehe hier mehr um eine Bilanz, sagt er. Das renaturierte Moor nach vierzig Jahren weitgehender Naturbelassenheit. Durchaus ein Erfolg. Doch einfach nur lächerlich angesichts der weltweiten Katastrophen.

Rea guckt ihn an mit frostigem Spott. „Immer noch das Große, das Ganze im Kopf? Immer noch erhaben über die täglichen Siege VOR ORT?"

„Deshalb auch MOORRANGER geworden", spottet er zurück.

„Ach, na ja.“

„Der Bärenwald dahinten, der gehört schon nicht mehr dazu.”

Rea legt erst den Finger auf den Mund, dann die ganze Hand auf den Scheitel des Kindes. „Sie will partout keine Stiefel anziehen.” „So, WILL sie das nicht ?”

„Die Frau da hat auch keine an”, protestiert das Kind mit der zarten, fast durchscheinenden Haut. Und zeigt auf die Gespielin, die gerade dem Abgeordneten ins Ohrläppchen beißt. Dabei einen Fuß anhebend, Ballerinas aus Stoff.

Daag geht zurück zu den anderen. „Darf ich deinen Hund streicheln?” ruft die Kleine hinter ihm her.

„Wir warten noch zehn Minuten“, sagt er zu Finn, dem Teckel.

Die Brille des Dr. Ander leuchtet. Die des Journalisten ebenfalls. Die Frau im grünen Kleid hat sich erneut mit dem Rücken gegen die Tür gelehnt, das Gesicht dem Fleck der Sonne zugekehrt im körnigen Dunst. Die erdigen Lider geschlossen. Wenn sie nicht den Mann betrachtet, der bestimmt ein Jahrzehnt jünger ist als sie. Sinnend und nicht ohne Genugtuung.

Hoffnungsträger wohl dieser alten, lebensgierigen Augen! Daag hat die Gespielin schnell eingeordnet. Sein Urteil längst gefällt. (Etwas Orientierung in all dem Zerfall ringsum. Etwas System. Zumindest die weiblichen Besucher betreffend.) Natürlich auch ein paar Ungereimtheiten, die nicht hinein passen wollen in seine Personendatei: Haare wie Stroh. Absichtlich vernachlässigt, vergessen wie ein Erntekranz vom letzten Jahr. Keine Ähnlichkeit mit der Ballonfrisur von Leuten, die ihre Eizellen wirklich auftauen und so etwas wie eine Familie gründen nach ihrer Karriere. Dazu raue, aufgesprungene Lippen, doch dunkelrot geschminkt.

Es ist böig geworden. Die diesige, fast granulöse Luft bekommt Schlieren. Ein Bussard, sich im Aufwind wiegend. Nicht der Schreiadler ! Über dem ersten Torfstich mehrere weiße Vögel. Sehr schlank. Gezackte Pfeile nur. Daag denkt an seine ornithologische Kartierung. Doch wohl keine unbekannten NEOZOEN? (Invasive Pflanzen rodet er das halbe Jahr. Das wird immer mehr zu seiner Hauptbeschäftigung.) Finn fiept ab und zu halblaut. Als könne er seine Besorgnis nicht loswerden. Sie auch nicht gänzlich unterdrücken.

Dr. Anders Brillengläser klaren für einen Moment auf. „Meinen Sie nicht, wir sollten uns so langsam auf den Weg machen?“

„Es fehlen immer noch drei Leute.“

„Die Deutschen waren mal berühmt für ihre Pünktlichkeit.“

Seine Freundin beugt sich vor. Legt ihm die Hand auf den Arm. „Lass doch!“ Sie hält einen Fuß im Stoffschuh hoch. „Ist der Weg so einigermaßen?”

„Unsere Baumeister haben das Wasser gerade neu aufgestaut.”

„Na, wunderbar !“ Sie lacht kiesig. Dann zeigt sie zum Fluss hin. „Guck doch mal, Deutscher Demokrat, da naht ein Mensch, der sich noch anstrengt. Sich noch bewegt im Schweiße seines Angesichts!”

Es plätschert rhythmisch. Die junge Frau im Kajak ist bereits vorbei. Zeigt schon ihren muskulösen, stark glänzenden Rücken. Statt des Overalls Tätowierungen auf der Haut. Ein Netz aus schwarzen, verschlungenen Linien, das am Hals anfängt und oberhalb der Hüften in der Sitzluke verschwindet. Kraftvolle Bewegungen, geschmeidiges, wie in Öl gebettetes Spiel der Schulterblätter. Die Tattoos tanzen. Das vom Bug zerteilte Wasser spritzt auf, umschwappt den schmalen Rumpf.

Tuchus hat eine seiner Profi-Kameras in Stellung gebracht. Lässt sie in Serie klicken.

Der Fahrer, ausgestreckt im offenen Wagen, hebt den Arm. Winkt lässig hinüber.

Die Frau im Kajak lüpft nicht weniger leger ihr Paddel. Hält einen Moment lang auf das Ufer zu. Hebt das Blatt. Scheint zu horchen, den ganzen Oberkörper nach vorne beugend. Und rudert zurück zur Mitte des kleinen, trägen Flusses. Nicht mehr ganz so elegant, etwas hastig sogar. Sie entfernt sich in Richtung der Klappbrücke. Tuchus lässt den Fotoapparat sinken. „Schade! Das war doch die Grit vom Sonnen-Eck.”

Der Abgeordnete ruckt mit dem Kinn, dem schmalen Ziegenbart. „Komm nicht auf die Idee, VON UNS Bilder zu machen!”

Tuchus feixt. Die Diode seines Brillenrahmens leuchtet schon wieder. „Ich gucke mir gerade an, wie euch beiden die Haut abgezogen wird. – Ohne Ton noch.“

Dr. Ander ist blass geworden, schüttelt befremdet den Kopf.

Ungewohnte Geräusche, ein sattes Röhren über dem Kopfsteinpflaster. Auf der anderen Seite des Flusses jagt ein Benzinauto heran. Vollbremsung dicht vor der Brücke. Es kracht im Schotter, als hätte ein Geschoss eingeschlagen. Provozieren um jeden Preis ! - Verbieten, diese stinkenden Mistviecher endlich VERBIETEN ! Daag begreift den Rechtsstaat schon lange nicht mehr.

Der Wagen kommt erst auf dem Bohlenbelag zum Stehen. Zwei Jugendliche springen heraus. Stark übergewichtig und teigig der eine; der andere blauschwarz und schlaksig dünn. Beide tragen flackernd bunte Overalls. Sie öffnen die Kofferklappe. Beugen sich vor. Ziehen etwas Schweres zu sich heran. Einen Feldstein wohl.

Der freie Journalist reißt die Kamera mit dem Teleobjektiv hoch.

Trommelfeuer! Könnte ja sein, dass echtes Blut fließt. Daag wird unruhig. Fühlt, wie der vertraute Ärger in ihm aufwallt. Versucht sich abzuschotten. Lässt sein graues Gesicht gerinnen.

Die Jugendlichen schleppen den Stein gemeinsam. Wuchten ihn auf das Geländer. Beugen sich vor. Lassen ihn johlend fallen. Ein Aufschlag, als zerreiße Gewebe. Dann erst klatscht es. Das Wasser spritzt hoch bis zu den beiden triumphierenden Köpfen. Der Kajak hat einen Satz zur Seite gemacht. Sich steil aufgerichtet bevor er zurück fällt wie ein getroffenes Tier. Die tätowierte Frau duckt sich.

Jetzt reagiert der Personenschützer. Springt brüllend aus seinem Dienstwagen. Läuft etwas schwerfällig los. Ein Muskelmensch, kein Sprinter. Die beiden auf der Brücke holen den nächsten Stein aus ihrem Auto.

Daag starrt hinüber mit tränenden Augen. Er sieht auch schlechter in letzter Zeit. Aber hier hat er genug gesehen. Er greift in seine Uniformbluse. Öffnet die eigentlich für Dokumente gedachte Tasche. Entsichert. Zielt auf einen der Köpfe über dem Geländer. Zieht im letzten Moment erst den Lauf ein wenig höher. Bedauernd, keinesfalls erschrocken.

Trockener Knall; die Luft zerreißt. Ein weinroter Schweif, der zwischen den Holzpfeilern, zwischen den Spannketten hindurch zischt. Sich in den verhängten Himmel brennt. Verblüffte Gesichter. Alle Brillengläser sind klar geworden. Zeigen Augen ohne Filter. Die Frau im grünen Kleid guckt ihren Abgeordneten so lüstern an, als erhoffe sie sich einen Eklat.

Die Jugendlichen lassen den zweiten Stein zu Boden fallen. Springen in ihr Benzinauto. Sie fahren rückwärts, mit offener Klappe. Die Bohlen poltern. Der Schotter kreischt auf.

„Nun haben sie ´s eilig, die Mistviecher.” Daag grient zufrieden. Er atmet schon wieder ganz normal.

Inzwischen hat der Personenschützer die Brücke erreicht. Er beugt sich noch auf der anderen Seite über das Geländer. Spricht noch mit der Tätowierten. Nickt ihr zu.

Dr. Ander nimmt seine Brille ab. Klappt sogar die Bügel zusammen. Blickt Daag zum ersten Mal richtig an aus kleinen undeutlichen Augen. Der Mund, groß, empfindsam. Mit skeptisch gewölbter Oberlippe. „Sie trauen sich ja was!”

Daag zieht eine Grimasse. „Nur Signalmunition; kann trotzdem Ärger geben.”

„Wir sind ja Brüder im Geiste. Kennen Sie unser Programm?”

„Nein.”

„Das sollten Sie aber.“ Er wendet sich an seine Freundin. Mit einer Botschaft für alle. „Wenn ihr mich wählt, ist auch DAMIT Schluss. - Heid, meine PR-Beraterin.”

Rea stampft heran, Enkelin Stella hinter sich her ziehend. „Bist du wahnsinnig, Mensch?”

Bekloppte Pädagogin, denkt Daag. „Frag lieber, ob diese Idioten wahnsinnig sind!” knarzt er.

Rea bückt sich, stopft dem Kind schnaufend die Hosenbeine in die Stiefel. Sie stellt sich zu den anderen. Demonstrativ, die Furchen beiderseits der Nase wie mit Henna nachgezeichnet. „Muss die sich auch ohne Overall in ihr Boot setzen!“

„Warum? - Halt eine SONNENANBETERIN“, entgegnet Heid leichthin. Ob Rea glaube, DAS sei hier das Problem! Sie lächelt. Greift erneut an ihren Brillenrahmen.

„Na, wissen Sie!“ Rea knöpft sich die Jacke zu über dem breiten Busen. Außerdem sei es mehr als leichtsinnig. Die Warnung der Meteorologen gelte ja wohl immer noch. „Waren das deine Schüler?“ fragt Daag.

„Ja und?“

„Herzlichen Glückwunsch!“ Er mustert seine anderen Besucher. Die sind längst wieder ONLINE: Immer diese Störungen! Diese Einbrüche lästiger Realität !

Bis es erneut plätschert am Fluss. Zwei Paddler ganz anderer Art. Ein Paar in einem offenen Boot. Sie rudern gegen die träge Strömung. Etwas ungeübt, etwas müde; sie kommen nur langsam vorwärts.

„Die Zeit läuft”, kräht Tuchus.

Heid im grünen Kleid guckt ihren Politiker an. „Multikulti besucht das Grenztalmoor.”

Eine schmale Frau, vermummt nach Art streng gläubiger Musliminnen. Ein Tuch vor dem Gesicht. Und ein sandfarbener Umhang, der sie bei jeder Bewegung behindert. Den sie lüpfen muss als sie endlich angelandet sind. Und sie, gestützt von ihrem Partner im Nerd-Over, einen langen Schritt auf die Uferbefestigung macht.

Dr. Ander beugt sich vor, seine Oberlippe kräuselnd. „Nanu, hatte Deutschland die Burka nicht endlich verboten - im öffentlichen Raum?”

Der Mann neben der Verschleierten hat ihn trotzdem verstanden. „Bevor noch mehr solcher Sprüche kommen: Meine Frau trägt Schutzkleidung aus Lycra; sie hat eine Dermatose, Typ drei. Für alle: eine Sonnenallergie. -Seid froh, dass ihr keine habt.“

Dr. Ander grient skeptisch. „Okay!”

Schon wieder Konfliktpotential. Ein GEEK und ein Deutsch-Nationaler. - Zwei WELTEN; alles driftet immer weiter auseinander. Seltsam, was die überhaupt hier wollen? In Stoffschuhen, im Kaftan, mit eingeschalteten Brillen … Daag schluckt noch mal den bitteren Speichel runter, verkürzt die Hundeleine und beginnt seinen Rundgang. Steifbeinig, den Oberkörper vorgebeugt. Er weiß ja: ganz und gar nicht so, wie man sich einen Ranger vorstellt. Auf dem ersten Abschnitt, dem Weg bis zu den Torfstichen - nach wie vor genutzt vom Anglerverband gibt es nicht viel zu zeigen. Da erzählt er etwas aus der Geschichte. Mürrisch, widerwillig um Interesse werbend. Und immer komprimierter im Laufe der Jahre. Kaum noch Daten, keine langen Erklärungen mehr. Auch keine ganzen Sätze, nur ELLIPSEN. Die Spaßgesellschaft will es kurz und knackig: Ein paar Zitate, ein paar Schlüsselwörter, einige Körnchen Grusel ...

Feuchtes, sumpfiges Land. Düster, unheimlich von alters her. Ein schwankender Grund, gefährlich, menschenfeindlich. Ohne Not begab sich niemand dort hin. Und auch kaum zu nutzen für die Landwirtschaft. Kümmerliche Weiden, minderwertiges Heu. Keine Reaktion; alle Brillen leuchten. Zu germanischer Zeit auch Opferplatz. Zumeist Waffen, die ins Moor geworfen wurden, Speere und Schwerter. Manchmal aber auch Menschen. Die Freundin des Abgeordneten lächelt mit geöffnetem Mund. Und wechselt ihre Brille.

Frühe Brandkultur. Dafür oberflächlich entwässert. Eine dünne Torfschicht mit der Hacke gelockert, damit sie abtrocknen konnte. Dann angezündet. Und Buchweizen in die Asche gesät. „Der Vorrat an Nährstoffen war allerdings schnell erschöpft.” Daag bleibt stehen. Dreht sich schroff um. Warum nur macht er sich derart zum Affen? Ein synthetische Stimme vom Player hätte den gleichen Effekt: Freundliches Hintergrundgemurmel, unverbindlich, nichts erwartend. „1882 Gründung des DEUT-SCHEN VEREINS zur Kultivierung der Moore”, knarzt er. „Und erstmals Düngung mit Kalisalzen.”

Die anderen sind ebenfalls stehen geblieben. Mehr passiert nicht. Da hilft auch kein Schlüsselwort. Dr. Anders Freundin lächelt, die dunkelroten Lippen immer noch geöffnet. Der Journalist feixt in sich hinein, als sehe er schon wieder Trash.

Daag geht weiter. Teckel Finn fiept. Torfgewinnung für die Städte. Streu für das Vieh. Entwässerung durch das Anlegen tiefer Kanäle mit Seitengräben, Auffüllen des dazwischen liegenden Landes mit der ausgehobenen Erde. Torfstich und als Rückfracht Kunstdünger, das Prinzip der holländischen FEHNKULTUR.

Keine Reaktion; die Brillen leuchten. Das Kind Stella planscht durch eine Pfütze. Idioten! Die würden sich umgucken, hätten es ihre fleißigen und findigen Vorfahren nicht so weit gebracht. Nahrung in Hülle und Fülle - eine Selbstverständlichkeit. Kein Thema - bis zur nächsten Krise … Schon wieder der Mund voller Spucke, die nach Asche schmeckt. Letzter Versuch: Die ersten großen Maschinen. Dampfer, die bis ins Moor fuhren. Die ausgehobene Masse gleich zu Torfriegeln pressten und hinter sich auch noch den Kanal ausbaggerten.

„Guck an”, sagt der Geek zu seiner verschleierten Frau.

Existenz auf schwankendem Grund. Kein AUSSTIEG mit wohligem Gruseleffekt. Keine Lebensform, die man aus Langeweile, Überdruss, dem Zeitgeist folgend, mal eben ausprobiere, erwidert Daag. „Den Eersten sien Dod, den Tweeten sien Not, den Drütten sien Brot”*, zitiert er mit knarrender Stimme. „Die Sümpfe waren gerade gut genug, um landlose Bauern, aber auch Entwurzelte, Gestrandete, Strafgefangene anzusiedeln.”

Die Frau im grünen Kleid hat sich spielerisch gegen Dr. Anders Arm gelehnt. „Hör doch mal zu; ihr sucht doch immer nach Alternativen. Zum Beispiel für den Strafvollzug, die Explosion der Kosten.”

Er nickt abwesend. Er organisiert gerade eine Publishing-Tour seiner Partei. In einem Tonfall leiser Enttäuschung. Als könne er sich nur noch wundern.

Aber Rea greift ein, scharf, entrüstet. Das führe zu weit. Sei ja profaschistisches Gedankengut. Ein Tabubruch nach DACHAU, den Moorsoldaten mit den Spaten.

Daag zeigt sein hämisches Grienen. Auf DIE Idee sei bereits die preußische Justiz-Verwaltung gekommen. „Im Jahr 1911, als vom Nationalsozialismus noch keine Rede war !” Und mit Nachdruck: Er sei bekennender Populist. Er würde es gut finden, wenn die unzähligen VANDALEN endlich ernsthaft bestraft würden. Endlich etwas Nützliches für die Gesellschaft …

Seine ehemalige Mitschülerin bleibt abrupt stehen. Als wolle sie kehrtmachen. Als könne sie das hier nicht länger mit anhören. Die kleine Stella protestiert: „Wo sind die Frösche, Oma? Ich will die blauen Frösche sehen!”

„Dann nimm erst mal deine blöde Brille ab“, raunzt Daag.

Rea zuckt zusammen. Nestelt am Aufschlag ihrer Jacke. „Ist doch nur eine Kinderbrille - mit eingeschränkter Netzfunktion.”

Daag starrt auf ihr Handgelenk. Damals mädchenhaft dünn. Jetzt so breit, dass die Spangenuhr absteht.

Die verschleierte Frau hat sich hingehockt. Dicht vor dem kleinen, verschilften Graben, der neben dem Weg durch die Wiese läuft. Sie winkt Stella heran. Dabei einen Finger an den Mund legend. An den sandfarbigen Stoff davor. Sie zeigt auf das Wasser, das mit Linsen gesprenkelt im Röhricht blinkt.

„Die sind ja gar nicht blau!” murrt das Kind.

„Doch, sieh mal genau hin, ein ganz kleines büschen schon”, singt die Stimme hinter dem Schleier. „Der mit dem Streifen auf dem Rücken da.”

Das Kind nickt eifrig. „Und der Dicke an sein Maul.”

Daag ist gerührt. „Wir haben im Point noch welche aus Ton. Leuchtend blau. Das ganze Jahr über.”

Die kleine Stella zieht eine Flunsch. „Ich will aber einen lebendigen Quarkfrosch!”

Daag ist nicht mehr gerührt; er zuckt mit den Schultern. Alles ICHLINGE*, keine Erziehung, kein Benehmen. Und das schon seit Generationen. Er dreht sich um. Wartet auf die beiden Nachzügler, Dr. Ander und Freundin. Die schlendern Hand in Hand. Wortlos; ihre Brillen leuchten.

„Wir gehen jetzt - bitte - im Gänsemarsch am Ufer entlang.” Er blickt über die erste der beiden Wasserflächen: Hinten ein leerer Spiegel, vorne graue, monoton ins Schilf schwappenden Wellen. „Die meisten Vögel brüten um diese Jahreszeit.”

Das Kind verzieht gelangweilt das zarte, fast durchscheinende Gesicht. Dann greift es nach einer Blütendolde und will den Namen wissen.

„Baldrian“, antwortet die verschleierte Frau. „Aus der Wurzel kannst du dir einen Sud brühen, der macht dich ganz ruhig. So cool und öde wie Erwachsene sind.“

„Und dis da?“ Das Kind zerreibt eine große, blassrote Blüte zwischen den Händen. „Beinwell, auch eine alte Arzneipflanze.“

„Und das?“

„Schaumkraut.” Die verschleierte Frau zeigt in die Wiese. Diese Nester da habe man früher Hexenspucke genannt.

Und wozu seien all die Puschelköpfe gut? erkundigt sich Dr. Ander. Wie in Gedanken über das strohige Haar der Freundin streichend.

Zwischen Daags Lidern blitzt es belustigt auf. PALUDIKULTUR, die ökonomische Nutzung der Seggenwiesen. Aber dazu komme er noch. Das sei eine relativ neue Technologie - für eine alte Idee.

„Und das und das ?” unterbricht ihn Stella. Fragt immer schneller, immer mutwilliger. Springt herum zwischen den Pflanzen am Ufer. Reißt weiße Dolden ab.

„Die hattest du schon. Das war der Baldrian. Und dies hier ist Wasserschierling. Der ist so giftig, schon wenn du nur mal kostest, kannst du sterben.” Der Singsang hinter dem Schleier bleibt freundlich und geduldig.

Oma Rea kommt angeprescht. Und ihr Gesicht hat nichts Erstarrtes, nichts Schablonenhaftes mehr. Daag zieht an der Hundeleine; geht schnell einen Schritt zur Seite. Die reinste Feuerwehr! - Ganz wie damals. Nicht lange überlegen, handeln.

Sie reißt dem Kind die Blüten aus der Hand. Schöpft Wasser. Reibt die Finger einzeln ab. Holt ein Taschentuch aus ihrer Jacke. „Ist ja kreuzgefährlich hier. Da denkt man, eine Exkursion in einem halbwegs zivilisierten Land …”

Daag hat sich hinunter gebeugt zu seinem Teckel, fingert am Halsband. Im Mundwinkel die eingefrorene Häme. Er wusste es nicht. Obwohl er schon unzählige Führungen gemacht hat. Immer wieder hier vorbeigeht. Schlimmer noch: Er hatte gar keine Ahnung, wie Schierling aussieht.

Rea wendet sich mit kurzem, demonstrativem Schwenk des Oberkörpers der Verschleierten zu. Was sie schon lange einmal fragen wolle. Wo eigentlich liege der Unterschied zwischen diesem Niedermoor und einem Hochmoor, einem Regenmoor zum Beispiel?

Die Angesprochene erhebt sich taumelig. Blickt durch ihre Augenspalten, als müsse sie Daags Erlaubnis einholen.

Er zieht den Mund noch schiefer. „Sie wissen ja besser Bescheid als ich.”

Der Geek streicht seiner Partnerin über die stoffbedeckte Wange. „Meine Frau ist Biologin. Die kennt jede Pflanze.” Er kommt näher, sich die Nase reibend in seinem listigen, fuchshaften Gesicht. Die Tekla sei leider in der Aqua-Kultur hängen geblieben. Aufzucht von Forellen und Pangasius. Unbefriedigend auf die Dauer. Rein kommerziell ausgerichtet. Maximale Erträge durch maximalen Besatz. Nur möglich mit Antibiotika, tonnenweise. Man kenne das ja. Prangere es an seit Urzeiten. Er verbeugt sich unvermittelt. „Täo, App-Programmierer.”

Biologin Tekla indes gibt ausführlich Auskunft in ihrem Singsang. Und nennt auch gleich typische Pflanzen, Vogelarten, Amphibien, Insekten. Indikatoren für den Grad der Renaturierung.

„Allgemeine Fragestunde ?” Die Frau im grünen Kleid guckt Daag belustigt an. Sie wüsste gerne mal, was es auf sich habe mit dem BIBERGEIL.

Darauf habe er gewartet, sagt Daag zu seinem Hund. Ein Sekret aus den Drüsensäcken. Harzartig, mit scharfem Aroma, erklärt er. Von der Natur gedacht zum Einfetten der Haare. Keinesfalls als Parfüm oder als Aphroditi- . Keinesfalls für aphrodisische Zwecke. „Zum Regenmoor gehen wir zum Schluss”, knarzt er übergangslos.

Die Biologin nickt zustimmend. Und erkundigt sich, wie der Alltag eines Rangers denn so aussehe. Neben den Führungen und der Öffentlichkeitsarbeit, meine sie. Neben der bestimmt aufwendigen Kontrolle und Dokumentation dieser Renaturierung. Sie kommt näher. Stellt sich so dicht auf vor Daag, als dürfe sie sich kein Wort entgehen lassen.

Die Hälfte der Zeit bekämpfe er Invasoren, antwortet er. Pflanzliche und tierische, Tendenz steigend. Zum Beispiel die Wasserhyazinte aus Schwarzafrika. Innerhalb von 14 Tagen verdopple sich die Oberfläche ihrer Blätter. Nehme anderen Pflanzen das Licht, lasse die Fische sterben.

„Nichts mit Multikulti!“ lästert die Frau im grünen Kleid.

„Bitte keine biologistische Hetze“, spöttelt der Deutsche Demokrat.

Rea wendet sich angewidert ab. Sie habe ihn immer für einen verantwortungsbewussten Menschen gehalten, sagt sie halblaut zu Daag.

„Ja und?“

„Man gibt der rechten Fraktion keine Vorlage!“

„Es geht um BIOINVASION!“

„Es geht um unser humanistisches Menschenbild.“

„Ich dachte, um eine ehrliche Antwort.“ Er winkt ab. Er muss schon wieder bitteren Speichel runterschlucken. Dann zieht er an Finns Leine.

Der Teckel knurrt empört; Stella, neben ihm hockend, streichelt ihm gerade die Hängeohren.

„Das da vorne war mal unser Aussichtsturm!” Daag zeigt auf ein Gestell, das wie ein Galgen mit Podest und Geländer aufragt hinter den Weidenbüschen am anderen Ufer.

Rea hat nur ein Schulterzucken. Kurz und straff in ihrer Jacke.

„Von den Bohlen des Steges sind viele ganz und gar herausgebrochen. Den müssten wir sperren! Hätten wir lange schon gemusst!“

„Nun ja, der Zahn der Zeit.“

„Nicht die Zeit, die VANDALEN !”

„Und was willst du dagegen tun?”

„EINE MAUER“, höhnt er. „Mindestens drei Meter hoch.” Er weiß, wie kindisch das klingt. Grient böse und steigert sich noch: „Oben mehrere Reihen Stacheldraht.”

„Nie wieder !” Sie stutzt. „Ach DU !“ Sie schlägt mit der Hand nach ihm. Das hat sie früher nicht gemacht. „Die langen Dornen müssen nach außen zeigen.”

„Ja, ja ! Und der Letzte wirft den Schlüssel weg.“

Daag hat das Gefühl, als lasse das Brennen auf der Zunge ein wenig nach. Die Homöopathin fragte auch nach psychischen Ursachen. Aber daran glaubt er nicht.

Da müssten ja die meisten Leute nur noch Asche schmecken. - Wenn sie überhaupt noch bezahlte Arbeit haben. Er bleibt vor dem Knüppeldamm stehen, der zwischen großem und kleinem Torfstich hindurch führt. Sein Hund läuft geschäftig zu der schilffreien Stelle, an der er immer trinkt.

Vorsicht, sagt er, auf der Brücke, in der Mitte, seien einige Bretter - auf natürliche Weise -. Auch das gebe es noch. Ja, und dicht am Wasser blühe der Nelkenwurz, außen rotbraun, innen rosa. Den kennt er. Aber MUSS man den kennen? - Seinen Vortrag muss er noch mit Anstand zu Ende bringen. Drüber auf dem Trockenen, auf dem Bohlensteg am besten.

Die großen Meliorationsmaßnahmen erwähnt er nur kurz. Nichts über den Trebnitzkanal, die Vision einer schiffbaren Verbindung vom Überseehafen bis zum Oderhaff. Nichts über Grünlandgewinnung und die Bedeutung historisch gewachsener Kulturlandschaften. Das interessiert niemanden mehr: Ökologische Sünden der Planwirtschaft. Aber zur Renaturierung muss er noch etwas sagen. Nicht, dass DIE glauben, damit hätte man hundert Jahre früher schon anfangen können. Oder es sich ganz gespart - ohne den langen Irrweg davor.

„Vorsicht, die Lücken!“

Der Programmierer nickt. Und beguckt sich die schwarze, aufgewühlte Erde neben dem Steg.

„Wilde Schweine?”

„Ja, nachts ist hier Holiday.”

Dafür sei am Tag tote Hose, stellt der Journalist fest, der lange nichts gesagt hat.

Daag starrt auf den wulstigen Mund inmitten des Bartes. Sumpftblüte, denkt er. Wieder vernässter Bruchwald, sagt er, sei nun mal unwirtlich und alles andere als eine Event-Landschaft.”

„Euer Konzept ist unwirtlich. Macht nicht neugierig, lockt keinen müden Hund.“

Teckel Finn will immer wieder nach unten springen, hin zu den Suhlen. Er fiept und raunzt. Zerrt an der Leine. Wendet fordernd den Kopf mit den Hängeohren. „

Das könnte dir so passen”, raunzt Daag zurück.

Tuchus überlegt laut, wie man die Attraktivität des Moores vergrößern könne. "Der Sumpf unter dem dreckigsten Licht Deutschlands!" kräht er.

Daag entgegnet, er wäre schon froh, wenn sie Geld hätten, den Steg zu reparieren. Und dann weiter zu bauen bis hin zu den Bibern.

„Im Gegenteil !” kräht der Journalist. „Ganz weg damit! Seile spannen, hangeln von Baum zu Baum, über Sumpf und Modder, waten durch Wassergräben …”

Enkelin Stella meldet sich. Erzählt aufgeregt, dass sie auch ein Seil hätten im Kindergarten. So hoch! Sie zeigt in den Himmel.

„Da hört ihr ´s. Touristische Erschließung heute heißt: ERLEBNISRÄUME schaffen, die an Grenzen stoßen.“ Der Journalist greift nach einem seiner Fotoapparate. Lacht scheppernd. „Die klassische Führung ist tot, verreckte schon vor zwanzig Jahren. Wenn ich heiß bin auf Zahlen und Fakten …“ Er tippt gegen sein Brillenglas.

Die Biologin widerspricht sanft. Entscheidend sei doch, dass der Torf wieder wachse, dass die Emission von Treibhausgasen gestoppt worden sei und der Verlust an Habitaten. Hoch spezialisierte Tiere und Pflanzen wären heimgekehrt ins Moor. Die Rohrdommel zum Beispiel.

Die Rohrdommel ! " Daag grient erbittert. „Und die WELTWEITEN Katastrophen ? - Halb Amerika lebt schon unter der Erde!“

Biologin Tekla seufzt hinter ihrem Tuch.

Ohne Moos nix los, knarzt Daag. Ohne Förderung durch die EU - speziell durch das LIFE-Projekt - hätten solche großen Vorhaben - damals - gar keine Chance gehabt. Er ärgert sich über sich selbst, über seinen aggressiven Ton. Er stellt sich neben die Biologin. Nun ja, eine gewisse Aufbruchstimmung hätte es wohl auch gegeben -DAMALS, vor seiner Zeit.

„Hörst du, Geld von der bankrotten Wertegemeinschaft!” Heid im grünen Kleid umhalst ihren Abgeordneten. Zärtlich, ironisch und ein wenig zügellos. Als wolle sie ihn schon wieder provozieren.

Er nickt abwesend. Seine Diode leuchtet. „Wir brauchen ein Modell, das hieb- und stichfest durchgerechnet ist.“ Er hebt den schmalen Kopf. „Wie groß, wie viele Quadratkilometer - ? ”

„Etwa vierhundert und dreißig Hektar.“

Tuchus tippt gegen sein Brillenglas. „Vierhundertsiebenundzwanzig, das gesamte Grenztalmoor!“

„Meinetwegen! In einem Naturschutzgebiet von 10 000 Hektar.“

„Von 9900!“ kräht der Journalist.

Daag starrt ihn an. Starrt schon wieder auf den feuchten, glänzenden Mund im Bartgestrüpp. „Meinetwegen! Also nur 9900.“ Er reißt sich los. Gleich werde es ein bisschen beschwerlich, verkündet er. Und blickt nicht ohne Schadenfreude auf die Stoffschuhe unter dem Saum des grünen Kleides. Wer immer schön von Bülte zu Bülte hüpfe, behalte sogar trockene Füße. Im Prinzip zumindest.

Der Abgeordnete winkt ab: Nebensächlichkeiten. Er habe noch eine Frage. Mit welchem Aufwand wäre die Wiederherstellung des alten Zustandes verbunden. Die Abflussgräben, die Kanäle und Drainagen, das ganze Entwässerungssystem existiere doch noch, auch wenn vieles zugeschüttet sei. Er krault seiner Freundin nachdenklich am Kinn entlang. Über glatte, gebräunte Haut, einen kräftigen Unterkiefer umspannend.

Daag schüttelt den Kopf, dass ihm die strähnigen Haare ins Gesicht rutschen. Er weigert sich, über solchen Unsinn auch nur nachzudenken: Die Re-Kultivierung der Renaturierung! - Die Deutschen Demokraten sind doch keine Alternative.

„Eine Abkehr von der globalisierten Nahrungsgüterwirtschaft bis hin zur konsequenten Eigenversorgung“, meint Dr. Ander sinnend. „Grünlandnutzung, Milchrinder. Darin war unsere Region doch mal führend. Die deutsche Hochleistungskuh … !”

Daag kneift die Lider zusammen: So ein Spinner! Am besten, antwortet er grollend, man würde hier DICHT MACHEN, ringsum einen Zaun ziehen. Jeder Rundgang sei schließlich eine Störung, streng genommen ein Eingriff. Die Beobachtung des Objektes beeinflusse das Objekt, sage nicht nur die Quantenmechanik.

„Sind Sie Physiker?” fragt Täo verwundert.

„Nein, Wasserbauingenieur.”

„Ist nicht die Natur für den Menschen da?” Tuchus blickt in die Runde. Er scheint es ernst zu meinen. Hat sogar seine Brille abgeschaltet.

Ja, so stehe es in der Schöpfungsgeschichte, sinngemäß zumindest. Daag verzieht den Mund, als schmecke er Saures statt des Bitteren am Zungenrand.

„Ein Sumpf zieht am Gebirge hin“, deklamiert der Journalist, „und verpestet alles schon Errungene.*”

Dr. Ander lächelt beifällig.

Idioten, alles Idioten, konstatiert Ranger Daag. Und folgt steifbeinig seinem Teckel, der vom Ende des Steges gesprungen ist. Der zielstrebig einbiegt auf den Trampelpfad längs des Ufers. Endlich keine Fragen mehr, keine neunmal klugen Kommentare. Die Besucher haben mit sich zu tun. Zwischen den Bülten und Seggen ist es glitschig. Da steht braunes Wasser.

Die Stämme der Erlen sind wie von Rost zerfressen. Mit Zweigen so kahl als wäre die Vegetationszeit bereits zu Ende. Wenige Blätter nur, verkrümmt, klumpig zusammengerollt. Blätter, die toten Früchten gleichen. Daneben die Kätzchen vom letzten Jahr, schwarze Fäden, totes Gespinst. Nach den Kastanien, den Eichen, den Eschen, nach all den anderen Laubbäumen sind jetzt die Erlen an der Reihe.

„Ich will endlich die Biber sehen!” schreit das Kind. Und stampft auf, dass es platscht.

„Kannst du bitte etwas vorsichtiger laufen!” sagt die Oma.

Gleich seien sie da, verspricht Daag, ohne sich umzudrehen. Keine Vertröstung für ungezogene Kinder, die alles sofort wollen. Vor ihm stehen die beiden Moorbirken. Umeinander gewachsen, die Rinde grau und schrundig. Bis auf ein paar seidig weiße Stellen. Sämtliche Äste vertrocknet. - Die Wegmarke.

Teckel Finn kennt sich aus. Er wechselt hinter dem Baumpaar die Richtung. Biegt ab zum Bibersee. Und bleibt ruckartig stehen, eine Vorderpfote noch in der Luft. Sein Kopf mit der langen, struppigen Schnauze dreht sich langsam. Wie von einer Schnur gezogen. Viel weiß im Auge. Schielender Blick von unten herauf. Fragend, vorwurfsvoll.

Daag versteht gar nicht, was der Hund hat. Aber das Kind wird jeden Moment wieder losbrüllen. „Dort, Stella !” ruft er nach hinten, die Kleine sogar mit Namen anredend. Und erschrickt: Zwischen den Bäumen ist nichts! Keine Burg aus Knüppelholz, kein See. Nur das leuchtende Grün einer Wiese. Viel zu grell, auch für diese Jahreszeit. Das kann nicht sein! Sie sind noch keine Stunde unterwegs. Er versucht, ruhig durchzuatmen: Schwankender Grund ! - Nicht zum ersten Mal. Das Alltagsgerüst aus Fakten und Vernunft hat schon mehrfach gewackelt. Anscheinend nur bei ihm. - Schon beängstigend. Ein schleichender Verlust an gesichertem Wissen ? Erste Vorboten der Volkskrankheit ? - Er schließt das nicht mehr aus. Aber sein Hund ? Mit DER Nase ?

Das KANN alles nicht sein. Er presst den Mund zusammen und merkt, wie ihm schwindelig wird. Die Bäume bewegen sich vor seinen Augen. Rucken, zerren auf der Stelle, als wollten sie sich losreißen. Egal ! Einfach NEUSTART, alles von vorne ! - Das zumindest hat er von seinem Sohn gelernt. Zeit gewinnen. Darauf hoffen, dass es nur ein Aussetzer war.

„Ich hab noch etwas vergessen!” ruft er viel zu laut, während er an den anderen vorbei hastet. Zusätzlich gezogen von Finn, der es genauso eilig hat.

„Hoffentlich nicht den Weg”, spottet der freie Journalist.

„Kann ja mal passieren”, meint die Frau im grünen Kleid.

Rea zieht ihre Enkelin zu sich heran. „Wir können ja hier warten.”

Nein, das gehe leider nicht! Daag ist schon vorbei. Er guckt sich auch nicht um. Eilt steifbeinig zurück mit seinem Hund. Läuft fast. Bis er wieder anlangt vor dem Ende des Steges. Dem festen Punkt im Luch, das - wie es scheint - gerade seinem alten, fast vergessenen Ruf gerecht wird. Er lehnt sich gegen das letzte Brett. Fährt ziellos mit den Fingern über die verwitterte, silbrig graue Oberfläche. Teckel Finn gähnt und hechelt abwechselnd.

Dann sind alle wieder da. Gemurmel. Stellas weinerliche Stimme. Kiesiges Lachen der Gespielin. Daag guckt nicht hoch. Er beginnt, die Lebensweise der Biber zu erklären. Gepresst, in einer Mischung aus Ärger und Ratlosigkeit: Der große Bau, gar nicht zu übersehen. Zehn Meter im Durchmesser und mindestens einen halben Meter hoch. Aufgeschichtet aus Knüppelholz, Schlamm, abgenagten Ästen. Der Wohnkessel selbst mit Zugang unterhalb des Wasserspiegels. Die Tiere bis zu 35 Kilo schwer, in Einehe lebend.

„Hörst du!” sagt die kiesige Stimme.

„Früher hausten sie mal hier an der ersten Torfgrube. Dann sind sie umgezogen zum oberen See. Dort gibt es keine Angler. Keine Leute, die sich beschweren - über ihre Bautätigkeit.” Daag merkt, dass er ruhiger wird. Ist nicht jeder Fakt ein Argument für die Vernunft. Dafür, dass sich alles aufklärt! Einfach aufklären MUSS! Er hebt den kantigen Schädel. „Zweiter Versuch! Gestern waren sie noch da.”

Tuchus bekommt große Kinderaugen hinter seiner Brille. „Originell! Etwas bescheuert vielleicht, aber originell.”

Daag sagt nichts dazu. Er nimmt die Leine kurz. Jetzt gibt er die Richtung vor. Immer parallel zum verschilften Ufer. (Weiter rechts ist vermintes Gebiet. Bis auf Höhe der Birken: Eine Nesselraupe, eine invasive Art, die nicht nur die Blätter, sondern auch das Holz der kranken Erlen frisst.)

„Hier waren wir schon mal!” kräht Tuchus.

Ein Grollen. Mehr ein Schwingen des Torfbodens als ein hörbarer Ton. Pause. Dann erneut, dumpf und machtvoll.

„Die Moorgeister rufen!” Tuchus lacht unnatürlich hohl.

Daag ist stehengeblieben. Er spürt es. Direkt unter seinen Stiefeln. Teckel Finn spürt es auch. Reibt sich wimmernd am Hosenbein.

„Was ist das, Oma?”

„Ein kleines Erdbeben wohl”, sagt Rea. Ganz als sei das durchaus möglich, hier im Norden. Nichts Besonderes, nicht weiter schlimm.

Daag bewundert sie in diesem Moment. Trotz seiner Angst, so unheilvoll, so beherrschend, dass sie alle Farbe nimmt aus seinem zerfurchten Gesicht: Das war doch erst der Anfang ! Der Auftakt zu etwas Großem, Schrecklichem. Er lässt die Leine fallen. Greift mit beiden Händen nach oben. Umfasst einen der Äste, die noch grün sind.

Der erste harte Ruck. Jetzt wird es laut, poltert und dröhnt unter der Erde, als sei dort alles in Bewegung geraten. Als donnerten ganze Gesteinsschichten gegeneinander. Daag umklammert den Ast. Finn liegt der Länge nach im Schopf einer Segge.

„Nein!” schreit fremd und schrill eine Stimme.

Es war wirklich erst der Anfang. Stoß folgt auf Stoß. Die Erde scheint aufzureißen, an vielen Stellen zu brechen unter dem Moorboden. Der Lärm ist so ohrenbetäubend, dass er zu einem einzigen Krachen verschmilzt. Gleich, sagt Daag zu sich, gleich gibt ES uns den Rest. Er wundert sich nicht; er findet ein derartiges Ende irgendwie logisch und gerechtfertigt. Kurz nur denkt er an seinen Sohn - nach zehn Jahren heimgekehrt für einen Zwischenstopp. Der wird jetzt vergebens warten. An seine Frau denkt er auch. Aber das macht er ja jeden Tag. Finn, der Hund, tut ihm leid.

Dann birst etwas. Scharfkantig krachend und klirrend. Der Erdboden reißt weg unter seinen Füßen. Der Ast bricht. Daag fällt. Alles um ihn herum fällt. Losgelöst, ohne Widerstände, ohne Halt. Durch einen leeren Raum, der scheinbar nicht endet. Daag erwartet dennoch den Aufprall. Den letzten tödlichen Schlag. Er kneift die Augen zusammen. Verkneift das Gesicht. Sich wundernd, dass es so lange dauert. Schluss soll sein! - „HILFE!“

Er landet neben dem Wurzelstock der Erle. Die Hände, die Arme klatschen vor ihm in den Morast. Das Kinn stößt in die Blätter einer Schwertlilie. Die linke Kniescheibe brennt flächig auf. Wasser schießt ihm ins Gesicht. Viel Wasser, in immer neuen Schwallen. Wo das nur herkommt? Sein Herz rast. Er hält die Luft an. In Panik hoffend, dass die Güsse endlich nachlassen.

Sie lassen nach. Werden dünner. Verebben wie ein Regenschauer. Daag bewegt vorsichtig den Kopf. Zieht erst das eine, dann das andere Bein zu sich heran. Er kann wieder atmen, kann sich bewegen. Er ist auch nicht ins Bodenlose gestürzt. Vielleicht war es ja nur die Größe! Ein Schmetterling mit riesigen Flügeln, heraus geschnitten aus einem ganzen Land, dem halben Globus. Oder hier aus dem Grenztalmoor. Vielleicht ist das Problem ja immer SEINE GRÖSSE!

Wasser in den Ärmeln der Dienstbluse. Auf der Brust, auf dem Bauch bis hin zum Nabel. Geradezu wohltuend, den aufgeschürften Ellenbogen kühlend. Unter der Erde knirscht und poltert es, als bewegten sich dort weiterhin gewaltige Gesteinsmassen gegeneinander. Oben hat es sich beruhigt bis auf ein Zittern, das wellenartig über die Halme streicht. Ein Moorfrosch taucht auf, rudert auf der Stelle, glotzt.

Daag greift zur Seite. Tastet herum mit den Fingern: Das struppige Fell, am Bauch nass, weiter oben trocken. Warme, pochende Haut. Die lange Nase kühl und feucht -wie es sich gehört. Sie blicken sich an. Finn knurrt gekränkt. Zwischen seinen Lefzen blinkt ein Zahn.

Daag erhebt sich. Ganz langsam, als müsse er jedes Gelenk ausprobieren, bevor er es benutzt. Sein Hund ist mit einem Satz bei ihm.

Daag dreht sich um. Hauptsache, keiner hat Schaden genommen von diesen -, diesen Brillen-Affen ! Dicht hinter ihm liegt die Freundin des Abgeordneten. Sie ist der Länge nach ins Wasser gefallen. Um sie herum bauscht sich ihr Kleid. Dr. Ander hockt neben ihr. Streichelt ihre Schulter. Stützt sie am Unterarm. Hilft ihr beim Aufstehen. Er hat nur ein paar Schlammspritzer auf seinen ausrasierten Wangen. Aber den weißen Mund eines Clowns. Rea versucht, ihre schreiende Enkelin zu beruhigen. Über sie gebeugt. Mit den Augen nach den fehlenden Stiefeln suchend. Biologin Tekla scheint sich verletzt zu haben. Sie hinkt, sich schwer an Täo hängend. Ein Stück ihres Umhangs schleift hinter ihr her.

Journalist Tuchus kommt gerannt. Greift der Biologin von der Seite her unter die Achsel. Mit der freien Hand hektisch an seiner Brille herumtastend.

Das Getöse unter ihnen lässt ein wenig nach. Die Erlenblätter zucken immer noch, als würden sie geschlagen. .

„Was war das denn?” Die Frau im ehemals grünen Kleid blickt an sich herab. Zieht mit Fingerspitzen den durchnässten Stoff auseinander.

Daag wiederholt Reas Erklärung. Doch er glaubt ihr nicht: Hinter den Bäumen fehlt nicht nur der See mit der Biberburg. Dort fehlt das halbe Grenztalmoor.

„Zieh bloß den Lappen aus!” Dr. Anders Oberlippe bebt, als könne er den Anblick kaum ertragen.

Seine Freundin guckt sich - das Kleid in der Hand - ihren Overall an. „Ich sehe ja aus wie ein Alien!”

„Menschenskind, wir sehen alle so aus.”

Daag bückt sich nach der Hundeleine. Geht langsam, tastend weiter. Schleicht geradezu über den vibrierenden, stoßenden Boden. Mit einem Gesichtsausdruck, so listig und entrückt, als wolle er sich davonstehlen. Dabei weiß er ja: Er müsste sich um seine Gruppe kümmern. Müsste die Leute beruhigen, Antworten finden, die plausibel klingen. Jetzt die Richtung vorgeben, einen Weg zeigen. -Irgendeinen zur Not! Aber er kann das nicht. „Hauptsache, wir leben noch“, flüstert er, sich zu Finn beugend.

Es wird licht. Der Trampelpfad endet unvermittelt. Daag steht vor der Wiese, die in der Sonne glitzert. Überaus friedvoll nach dem gerade Erlebten: Ein weites, abfallendes Terrain. Leise in sich schwingend, gekräuselt vom böigen Wind. Das Lieschgras, hohe Halme schon. Durchsetzt mit rehbraunen Flecken, blühendem Sauerampfer. In einiger Entfernung die hölzerne Klappbrücke über die Trebnitz. Dazu ein Gluckern und Plätschern, wie er es nur aus dem Gebirge kennt. Der Lärm unter der Erde ist zu einem gereizten Grollen geschrumpft. Längs des Bruchwaldes türmen sich nasse Schollen, Hügel aus Seggen. Wie aufgeworfen von einem überdimensionalen Pflug.

„Wir müssen weiter”, sagt Daag zu seinem Hund. Da erst sieht er, dass die Wiese überschwemmt ist. Zum größten Teil unter Wasser steht. Er kneift den Mund zusammen. Er wusste doch, dass es erst der Anfang war.

Teckel Finn versucht zu schwimmen. Er rudert immer schneller mit den kurzen Beinen, verfängt sich aber bald in den Halmen. Daag nimmt ihn auf den Arm.

„Ich will nach Hause!” schreit schrill das Kind. Rea hat es bereits huckepack genommen. Sie überholt Daag. Das Wasser spritzt. „Komm bloß! Vielleicht gibt ´s noch Nachbeben.“

Es ist wie ein Signal. Jetzt zieht auch Tuchus vorbei. Er hat lange Beine. Er läuft schnell, doch torkelnd. Sich oft verfangend im hohen Gras. Mit seinem milchig weißen Overall gleicht er einem Gespenst, das sich verirrt hat in die reale, von der Sonne beleuchteten Welt.

Dr. Ander und seine Freundin rennen Hand in Hand. Bewegen geradezu synchron ihre Beine. Scheinen kein Problem zu haben mit den Pflanzen, die sich um die Füße wickeln.

„Rufen Sie den Katastrophenschutz an!” Der Abgeordnete hat sich nicht umgedreht; er ist schon vorbei.

Aus anderem Holz geschnitzt diese beiden. Trotz milchiger Overalls. Sie laufen, als wüssten sie genau, worauf es jetzt ankommt. Die Frau ist größer als ihr Parteivorsitzender. Ihre nassen, schmutzigen Haare stehen ihr vom Kopf ab wie ein Stachelkranz. - Ja, versuchen muss er es wohl. Daag umfasst den Hundeleib mit einer Hand. Tastet mit der anderen nach seinem Dienst-Handy. Er glaubt nicht an staatliche Hilfe. Glaubt nicht, dass hier überhaupt noch etwas funktioniert.