THOMAS HARLAN

VEIT

GESAMMELTE WERKE

in Einzelausgaben

Band 5

 

 

Katrin Seybold zugedacht

 

 

nenia Judaeis,

qui hac aetate perierunt

 

 

Ich habe dieses Buch nicht geschrieben. Ich habe es diktiert. Insofern ist es mir fremd. Wer zehn Finger besitzt, die ihm gehorchen, wer das Glück hat, schreiben zu dürfen, der schreibt, wenn er schreibt, zumeist etwas anderes als das, was er sich zu schreiben vorgenommen hat. Hier wäre das andere die Gestalt meines Vaters: der Riese, die Eiche meiner Kindheit. Dies alles gibt es nicht mehr. Dennoch hat dieses Buch vielleicht einen Sinn, dennoch sage ich vielleicht so etwas Ähnliches wie die Wahrheit.

 

T. H.

DIE GESCHICHTE WAR KURZ. Sie war kürzer als, zusammengenommen, alle Kurzgeschichten, die sie enthielt. Die dritte Kurzgeschichte war ein Abschnitt im Leben des Chemikers und Kapitäns zur See Helmut Blaurock.

Blaurock erreichte im März 1942 die ostpolnische Stadt Lublin mit dem Auftrag des Kriminaltechnischen Instituts, Trinkwasseranalysen vorzunehmen. In Lublin, wo mein Vater vor einiger Zeit nach Komparsen für seinen Spielfilm Jud Süß gesucht hatte, traf Blaurock auf den Autoschlosser und Massenmörder Erich Fuchs, der augenblicklich in ihm seinen Kameraden Helmut Kallmeyer wiedererkannte, mit dem zusammen er in der Reichsmarine gedient hatte. Bereits am Vormittag des 15. März ließ Blaurock-Kallmeyer von einem Fuhrwerker vier Statisten und Kleindarsteller herbeischaffen, die Fuchs, wie zuvor mein Vater für seinen Film, ausgewählt hatte, sperrte sie in eine Badekammer des Durchgangslagers Bełżec und probte noch am selben Tag um zwei Uhr nachmittags den Tod im Gas.

Und als unter dem Druck ständig dünner werdender Luft die Filmschauspieler Sinn und Verstand verloren, standen sie doch noch hoch, lang sich reckend und wie bereits ineinander übergegangen, fast flüssig schon, schon Säulen, schon an das Wunder gewöhnt, Liebespaare zu sein, knieten noch nicht, knieten dann, rollten ab, bald schon gebettet in den Kohlenstoff, den Gnaderufen der Vögel nachtrauernd, Gott nah, dem in ihren Weichteilen bis in die Unendlichkeit abgefederten Glück der Verschmelzung, den Winden voraus, dem doppelten Körper folgend in die Gewißheit, sich niemals mehr von ihm verabschieden zu können. Dann war Ruh. Das Sterben in der Badekammer klang wie das Schnattern von Gänsen. So Fuchs, später.

Eineinhalb Jahre zuvor, am 5. September 1940, hatte Jud Süß in Venedig Premiere gehabt.

 

GELIEBTER, WEISSHAARIGER, SCHNEEBEDECKTER, KOPFLOSER, VERFEMTER, MIT SEINEN OPFERN SICH VERWECHSELNDER, SEINER EIGENEN GESCHICHTE ENTRATENER, WUNDERBARER, UNVERZEIHLICH VON SEINEM SOHN MISSACHTETER, UNVERZEIHLICH VON SEINEM SOHN VERRATENER, SÜSSESTER, ZÄRTLICH ANGEBETETER, ÜBERSCHULDETER, DER ICH DEINE SCHULD NICHT HABE ABTRAGEN HELFEN, DER ICH DICH IN DER NOT DES VERBRECHENS DER UNSCHULD VERDÄCHTIGTE, DER ICH JENEN VERURTEILTE, DER DU NICHT WARST, DER DU BIST, DER ICH DEINEN SEGEN SUCHTE, DEINE VERZEIHUNG, DEINE NACHSICHT, DEINE ANTWORT AUF MEINE ANKLAGEN, DER ICH DICH ANKLAGTE, DER ICH DICH ALS HERSTELLER VON MORDWERKZEUGEN ANGEKLAGT HABE, DER ICH MICH DER UNNACHSICHTIGKEIT ANKLAGE, DASS DU BIST DER DU BIST, SCHÖNSTER, VON SCHULDBERGEN ÜBERFORDERTER, VON SCHULDGEBIRGEN UNBEZWINGBARER, IM ABGRUND WINSELNDER, ZU BEKENNTNISSEN UNFÄHIGER, LIEBSTER, VERGREISTER, VERSCHÜTTETER, DER WAHRHEIT ENTFREMDETER, LÜGNER, HAKENSCHLAGENDER, FLÜCHTIGER, DU HERRLICHER, DU UNWISSENDER, DU GEWISSENLOSER, DU WISSENDER, WEISS GOTT DU LEUGNENDER, DICH VERLEUGNENDER, UNABSCHÄTZBARER UNTER DEN TÄTERN, TATENLOSER GEWALTMENSCH, TADELLOSER GEWALTTÄTER, IN DAS NICHTS ZURÜCKGLEITENDER, VERFAHRENER, ALLERLIEBSTER, DU MEIN VATER, DU NICHT ENDEN WOLLENDE AUFZÄHLUNG, DU UNGEZÄHLTER, DU VIELFÄLTIGER, DU STERBENDER, DU EINZIGER, GELIEBTER, UNGLÜCKLICHER VATER, DU UNGLÜCKLICHER.

 

Du hast nie mit mir gesprochen, deshalb schreibe ich, Du hast nie mit mir gesprochen, deshalb schreibe ich Dir, Du hast immer nur zu mir gesprochen, deshalb schreibe ich Dir, Du hast nichts gesagt, Du hast nichts als die Unwahrheit gesagt, deshalb schreibe ich Dir, daß es so gut wie nichts war, weil Du so gut wie nichts, die Unwahrheit, gesagt hast, weil Du gesagt hast, daß es ein Verbrechen war, den Film Jud Süß zu machen, daß Dein Erzteufel, der Minister für Volksaufklärung und Propaganda, Dich gezwungen hat, Dein Verbrechen zu begehen, daß Dein Minister gedroht hat, Dich wie eine Wanze an der Wand zu zerquetschen, falls Du Widerspruch einlegtest, und weil das unwahr war, weil Du Deine Frau, Kristina, über alles liebtest, mehr als jedweden Menschen auf der Welt, und sie nie gezwungen hättest, mit Dir ein Verbrechen zu begehen, deswegen schreibe ich Dir, weil Du ihr nie die Hauptrolle in dem Film Jud Süß übertragen hättest, es sei denn, Du hättest sie in ein Verbrechen verwickeln wollen, deswegen schreibe ich Dir, weil Dich niemand zu Deinem Verbrechen gezwungen hat, weil Du das, was Du getan hast, aus freiem Willen getan hast, weil es niemand anders war, der es getan hat, weil Du Dein Verbrechen gern begangen hast.

VON DEM GEHWEG hoch über den Faraglioni von Capri und dem schäumenden Meer hatten die Bußschwestern Deinen Leib in das Stahlbett des Krankenhäuschens an der Via Tragara geschoben und es Dir unter Deinem Tuch in der Abendsonne überlassen, die Segel zu streichen. Das Aufgeben des Geistes ist die schwerste aller Arbeiten. Ganz und gar erschlafft und unfähig zu atmen, zähltest Du die Wellen, die in Deiner Brust zusammenschlugen und unter dem Druck der Wirbel die Säule sich wie eine Rute biegen ließen, unter dem Tosen halbherziger Gebete, von denen Du zu hoffen schienst, sie könnten Dich erlösen. Dein Leib war weiß. Hinter den Falten der Höhle tobte noch ein Herz. Es war das zerschlissene Segel, das gegen die Leere pochte, in der das Ende auf ein Zeichen wartete, das es mit letzter Kraft unendlich werden lassen würde. Zum ersten Mal sah Veit den schwarzen Schwan, der ihn auf seinen Schwingen in das Nordlicht tragen sollte, das Ende der Welt, das ihn blendete. Veit hörte Sibelius. Er sprach mit den ausgewilderten Vögeln. Er beruhigte die Bußschwestern, die nicht wußten, wo der See Tuonela hingehörte. Das Ende war nicht die Endlosigkeit, es war ihr durch die Lebensjahre verzögerter Anfang, der Auftakt, der Auftakt des wunderbar Unumkehrbaren. Veit kehrte in etwas zurück, das er nie gekannt hatte.

Dort, wo der Gehweg über dem Riff in den Abgrund vorstieß, schlich der Kater der Bußschwestern durch den Garten und sprang aufs Fensterbrett, ein schwarzer Riese mit grünen Augen, Funksignalen in die weiche Welt der Nacht. Veit streichelte das dunkle Tier, solange er noch konnte, dann versank er in Schlaf, einen Haufen von sich übertönenden Schreckensnachrichten, ein Gewühl der Hölle, letzten Zuckungen der Eifersucht eines liebenden Machtmenschen, dem die Welt verlorenging. Veit schluchzte nicht, es war die Verschleimung der Bronchien, die ihn in einem Regenwald von heißem Gewitter in Feuchtigkeit baden ließ. Im Vorhof schrien die Katzen. Es war Frühling.

Das war die erste Nacht. Selbst die Bußschwestern schienen zu ahnen, was Lust ist. Ich schmiegte mich an Dich, ich hielt Dich im Arm, ich spürte, wie der Schüttelfrost Dich träumen ließ, spürte das stete Aufwachen und Wiedereinschlafen des Königs unterwegs in seine Grabkammer, sah kreuz und quer über dem Sterbebett das fahle Mondlicht, das schon jetzt anzeigte, daß es immer dasein würde. Du hieltest meine Hand und schienst glücklich zu sein, daß ich sie Dir gegeben hatte. Deine Großzügigkeit kannte keine Grenzen, auch jetzt nicht, im Schlaf. Du hattest mir meinen heiligen Krieg gegen Dich verziehen.

Um sechs Uhr früh kam Gott zum ersten Mal. Der sich weit öffnende, ständig an Größe zunehmende Brustkorb verweigerte sich allen Zeichen des Lebens, das sich noch unter der Hülle versteckte. Das Konzert der Katzen brach mit dem ersten Morgenlicht ab. So stark war der Husten, so schrill das Geräusch der Kehllaute, des Erzitterns der Stimmbänder, des sich mit dem Speichel mischenden Lärms, daß der Kranke zu ersticken schien, nein, nicht zu ersticken, leicht zu werden. Die Bußschwester, die mit Kaffee kam, fand einen Halbtoten vor. Veit wartete auf die Ruhe der Leere, das Flimmern des stillen Lichts, das er ohne Unterlaß in seinem Kopf aufspürte und das der Abglanz seines nimmerwährenden Lebens zu sein schien. So war Veits Blick, sein schon gebrochenes Auge, was immer das Zwinkern noch hätte bedeuten können. Das Herz war groß.

Veit liebte Kristina abgöttisch. Sie stand, als er die Augen aufschlug, am Kopfende seines Bettes. Sie küßte ihm die Stirn. Sie segnete den Geliebten, den längst Verratenen. Sie zählte die zwölf Paar Trauerstrümpfe, die der Quelle-Versand ihr schon hatte zukommen lassen angesichts des Unausbleiblichen. Sie schämte sich nie. Sie war befreit, jetzt schon. Veit war ihr Kreuz, sagte sie einer englischen Journalistin. So fromm waren die Geister, die Veit aufgegeben hatten. Er, der den Namen Veit trug wie der polnische König der Holzschnitzer, Veit Stoß, hoch, oben, auf seinem Haupt, fast wie einen Lorbeerkranz, umzingelte seinen Abschied mit letzten funkensprühenden Bruchstücken von Gedanken. In jedem Gedanken ein Geist zuviel, ein aufgegebenes Leben zuwenig, eine noch nicht eingekehrte Stille. So laut waren die Windstöße, die Stein gewordenen Winde, daß sie den Schrei überhörten, der sich ihnen entgegengeworfen hatte. Hier, wo Du so gut wie nichts gesagt hast, sagtest Du nichts als Mein Sohn und noch einmal. Mein Sohn.

ICH GLAUBE, ich habe dich verstanden, ich habe deine Kämpfe verstanden, auch die Kämpfe gegen mich, so scheint es mir. Als mein Vater das sagte, weinte er. Ich weiß nicht, ob er weinte. Seine Augen waren feucht. Es gibt stille Erschütterungen, bei denen sich nichts bewegt. Mein Vater bewegte sich nicht. Fünfunddreißig Jahre lang hatte er zu mir ein Verhältnis gehabt, das man zu Sachen hat, an die es sich zu gewöhnen lohnt. Es lohnte sich für ihn, einen erwachsenen Sohn zu haben, und es hatte ihn betrübt, daß der Sohn unbrauchbar war, kein Erbe, kein von Stolz unbekümmerter Nachfolger, nur ein Liebling.

Die Liebe zu Veit hatte kaum Grenzen, als ich Anfang des Jahres 1946 von Berlin durch das russisch besetzte Gebiet reiste und in die britische Zone wechselte, um meinen Vater in Hamburg wiederzusehen. An seiner Tür in der Alstervilla, die er mit der Kronprinzessin und einem Stockholmer Autoreifenhändler bewohnte, klebte eine von den britischen Besatzungsbehörden mit der Aufschrift Off Limits versehene Karte des schwedischen Roten Kreuzes. Niemand durfte sein Reich betreten. Ein britischer Offizier, dem mein Vater versehentlich öffnete, hatte durch den Türspalt mit der Peitsche nach ihm geschlagen. Hohenzollernprinzessin Cecilie (war sie es wirklich?) häufte Lebensmittel an, Butter und Milchpulver, Corned-beef-Büchsen für die magere deutsche Gesellschaft. Der Krieg war zu Ende, die Geschäfte begannen wieder, die lebendigen Geschäfte des Tauschs von Wintermänteln gegen Hundefutter. Das Glück des Zuckerempfängers, der seine Briefmarkensammlung auf die Waage geworfen hatte und sie nun verschenken mußte. Karl Råberg, der Autoreifenhändler, reiste zwischen Schweden und dem englischen Deutschland hin und her und brachte Nachschub. Mein Vater arbeitete als Tischler, er stellte Möbel für sich her, Wandschränke, Galerien von kunstvoll geschnitzten Bücherregalen, einen Schreibtisch aus schwerer Eiche, ein Bett für Cecilie. Schauspielerinnen kamen zu Besuch, die herrliche schwarze Mayberg, die noch nie gespielt hatte, die herrliche blauäugige Margit aus Haltingen bei Lörrach mit ihrem Bruder Aarens, der Schweizer werden wollte. Der alte Ruhm holte die Kinder des Paradieses wie Mücken ans Licht. Veit küßte sie allein durch seine Aufmerksamkeit, er schmeichelte ihrer Jugend, er ließ sie vorsprechen, auch wenn ihnen das Zeug dazu fehlte.

Im Oktober 1946 bekam Kristina ihren Sohn Caspar. Auch für die Totenglocke heute war diese Nachricht noch zu groß, zu groß auch für Caspar, sie drückte Veit Tränen aus den Augen, die er mit der Faust abwischte, sie rührte tief an seinen schon beschlossenen Schlummer und weckte einen der bereits untergegangenen Geister für einen Augenblick, den Veit als heilig empfand, für die Stunde der Geburt und Wiedergeburt. Die erste Anklage kam öffentlich bei einem Theaterbesuch. Die Intendantin der Hamburger Kammerspiele habe gefordert, so hieß es, Veit Harlan und seine Frau Kristina sollten den Saal verlassen. Auf den Verbrecher von Jud Süß war zum ersten Mal mit einem Finger gezeigt worden; jetzt rollte der Donner mitten in das noch stille Haus des schwedischen Roten Kreuzes. Fritz Bauer, Generalstaatsanwalt in Braunschweig, wandte sich an den Hamburger Staatsanwalt Kramer und forderte ein Verfahren wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit aufgrund des Kontrollratsgesetzes Nummer zehn. Richter war Dr. Tyrolf. 1949 sprach Tyrolf meinen Vater in allen Anklagepunkten frei. Er sprach ihn ein zweites Mal frei, als das Kölner Oberlandesgericht das Verfahren an denselben Strafsenat zurückverwiesen hatte. Der Klüngel der Verehrer brach in Taumel aus. Jud Süß (Blutbad, morgen schon) war erlaubt. Ein dritter Fall war die Geschichte einer Euthanasie-Ärztin. Aller guten Dinge waren vier. Richter Tyrolf ließ die Ermittlungen gegen Ingeborg Wetzel wegen Mordes in der Hamburger Kinderklinik Rothenburgsort einstellen und heiratete sie später. Mein Vater wußte nicht, wer Dr. Tyrolf war. Meine Schwester Maria, Schauspielerin, wußte es nicht, und auch meine Schwester Susanne, Tierärztin, wußte es nicht, und meine Brüder Kristian und Caspar waren zehn und vier Jahre alt und konnten es nicht wissen, und wissen konnte es nur ich. Mit meinem Vater darüber zu sprechen habe ich nie gewagt. Zurückgehalten hat mich immer der Gedanke, daß besser schweigt, wer zuviel weiß und die tödlichen Folgen kennt, die eine Wahrheit mit sich bringen kann. Mein Vater selbst schwieg nie. Schwester Maria und Schwester Susanne waren glücklich, daß ihr Vater nicht verurteilt worden war, aber sie schämten sich. Mein Vater schämte sich nie, die Scham war den Kindern vorbehalten. Schwester Maria schämte sich ein Leben lang, ein Leben lang auch Susanne. Maria und Susanne legten den Namen Harlan ab. Maria und Susanne heirateten Überlebende der Shoah. Auch dies änderte nichts an der Scham und an ihrem Unglück. Susanne wurde der Übertritt zum Judentum durch das Berliner Rabbinat verwehrt. Als sie hochverschuldet zusammenbrach, als sie sich 1989 mit einer Todesspritze für Hunde das Leben nahm, war mein Vater schon lange tot. Wer sie auf dem Gewissen hatte, hatte ein gutes Gewissen.

Hinzu zu den Schamwelten komme ich. Ich hatte wegen Dir Deutschland verlassen. Es ging mir wegen Dir in Deutschland zu gut. Freie Miete, freie Kost, freies Studium wegen Dir, freie Fahrt, freie Liebe wegen Dir. Ich hatte meine Mutter wegen Dir verlassen. Ich hatte meine Schwestern wegen Dir hinter mir gelassen. Ich hatte einen Führerschein für Lastkraftwagen gemacht, wegen Dir. Ich hatte aus der Slowakei wegen Dir Waffen für den jüdischen Kämpferbund Hagana nach Israel geschmuggelt. Ich hatte meine deutsche Sprache vergessen. Ich hatte Dich vergessen. Ich hatte in der französischen Sprache zu schreiben begonnen. Ich hatte wegen Dir ein Buch mit dem Titel No Man’s Land Fugues geschrieben. Ich hatte mich in der französischen Sprache nicht mehr an Dich erinnert. Ich hatte immer noch nicht vergessen, wer Dr. Tyrolf war. Ich sagte das meinem Vater an jenem Morgen, der mit dem Satz begann: Mein Sohn, ich glaube, ich habe dich verstanden. Mein Leben hatte mich verändert. Ich hatte mein Leben geändert. Du hattest Dein Leben nicht geändert, Du Unabänderlicher.

Staatsanwalt Dr. Tyrolf diente dem Sondergericht Hamburg mit über zwanzig Todesurteilen und fünfzehn Vollstreckungen wegen Bagatellen, insbesondere wegen Plünderungen nach Luftangriffen, wegen Diebstahls von Feldpost-Päckchen, von Enten, Gänsen und Kaninchen aus Schrebergärten. Also warst Du vor dem Landgericht in Hamburg von einem Mordgehilfen freigesprochen worden. Der Mordgehilfe blieb Richter in Deutschland. Tyrolf beendete seine Richterkarriere unbescholten und in Ehren. Doch auch jetzt, da er es wußte, machte mein Vater sich aus alldem nichts. Entsetzt es Dich nicht, daß Du Deinen Freispruch einem Mordgehilfen verdankst? Mein Vater, Liebster, weißt Du wirklich nicht, in welchem Land Du lebst? Vor welchen Gerichten Du standest? Nach dem Freispruch gingst Du zum Film zurück, die Tischlerarbeit war beendet. Du drehtest Sterne über Colombo. Weiter konnte die Wanze nicht von ihrem Propagandaminister entfernt sein als hier, in Sri Lanka, mit all den für den Film gemieteten Tigern und Elefanten. Das Glück kam zurück, das eheliche, auch das Geld. Die geschiedene Frau, Hilde, meine Mutter, hätte zugrunde gehen können oder unfähig sein, ihre Kinder großzuziehen, weil ihr nicht geholfen wurde. Veit ließ sie im Stich. Alimente zahlte er nie. Auf seinem Gold hockte er wie ein Gott.

Als er krank wurde, übersiedelte er von Bayern nach Italien. Hier hörte seine Geschichte auf. Vergeblich versuchte er, sie nachzuerzählen; es haperte mit den Wahrheiten, jenen Wahrheiten von damals, die er nicht aufgeben mochte und die der Wahrhaftigkeit im Weg standen. Sein Vaterland war zu ihm zurückgekehrt. Ihn störte daran nichts, er ließ es auf sich zukommen, ließ sich erneut umarmen, er pflegte sein Andenken und nannte es heilig. Heilig waren auch, unschuldig, die Kriegsverurteilten, die aus Rußland zurückkamen, nun danket alle Gott, die Mörder aus der Union der Sowjetrepubliken, die KZ-Schergen, die Buchenwalder, die Sachsenhausener, die Gestapo-Beamten aus den weißrussischen Kommandozentralen, die Blutrünstigen, die sich in Friedland um Adenauer scharten, der sie mit offenen Armen in der Heimat empfing. Mein Vater empfand Glücksgefühle, Wallungen des auffahrenden Herzens, die ihn entzückten, scheue Glut, mit der er, der Unschuldigste, der üblen, der verfluchten Zeit

Deutschen Nähmaschinenzeitung

Frankfurter Zeitung  Der Fall Dr. Sorge Verrat an Deutschland

Goodyear,