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mare

Allard Schröder

Der Hydrograf

Roman

Aus dem Niederländischen
von Andreas Gressmann

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Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet
diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;
detaillierte bibliografische Daten sind im Internet
unter http://dnb.ddb.de abrufbar.

Die niederländische Originalausgabe erschien 2002
unter dem Titel De hydrograaf bei De Bezige Bij, Amsterdam.
Copyright: © 2002 Allard Schröder, Amsterdam

Der Verlag dankt der Niederländischen Literaturstiftung
für die Förderung der Übersetzung.

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© 2016 by mareverlag, Hamburg

Covergestaltung Nadja Zobel / Petra Koßmann, mareverlag, Hamburg

Abbildung [M]: © Susan Adams / Bridgeman Images

Typografie (Hardcover) Farnschläder & Mahlstedt, Hamburg

Datenkonvertierung eBook bookwire

ISBN eBook: 978-3-86648-329-3

ISBN Hardcover-Ausgabe: 978-3-86648-262-3

www.mare.de

INHALT

Part I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Part II

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Part III

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Part IV Und ein Narr wartet auf Antwort …

1 Der Verein

2 Die Erklärung des Arztes

3 Die Kanzlei des Notars

4 Die Aussage der Haushälterin

Anmerkungen

Über das Buch

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I

1

Im Leben des Franz von Karsch-Kurwitz hat sich dem Anschein nach wenig ereignet, was heute, sechsundfünfzig Jahre nach seinem Tod, vielleicht noch erwähnenswert sein könnte. So ist es mit vielen Leben; die Leidenschaft, mit der sie gelebt wurden, bleibt meistens unbemerkt, ihre Fanfarenstöße verklingen ungehört, weshalb im Nachhinein stillschweigend angenommen wird, dass es solche auch gar nicht gegeben hat. Für die Nachkommen bleibt in der Regel nur wenig übrig: die Karteikarte im Einwohnermeldeamt, die wegen der schönen Handschrift des Beamten ins Auge fällt, sowie einige persönliche Habseligkeiten des Verstorbenen – mögen sie auch mit dem Tode des Besitzers die Bedeutung verloren haben, die sie einst für ihn hatten. Im Fall des Franz von Karsch sind es Schaukästen voll aufgespießter Schmetterlinge und eine kleine Kiste mit Instrumenten aus Messing, von denen niemand mehr weiß, wozu sie einst gedient haben könnten. Aus dem nachgelassenen Reisepass geht hervor, dass Karsch ausgedehnte Reisen unternommen hat, doch dass die letzte seinem Leben eine neue Wendung gab, lässt sich daraus nicht entnehmen, und ebenso wenig, dass die kleinen, unbedeutenden Vorfälle, welche den Anlass dazu gegeben haben, sich später zu den Chimären auswachsen würden, die Karsch bis zu seinem Todestag verfolgen sollten. Seine Hinterlassenschaften haben ihn daher auch nicht zu einer tragischen Figur gemacht, dafür hätte er im Übrigen auch kein Talent gehabt – auch als ironische Figur erscheint er nicht, weil er wie so viele seiner Zeit schon zu einer Stimme im Chor derer geworden war, die weder tragisch noch ironisch sind. Wenn Sie erlauben, werde ich versuchen, diese Stimme zum Leben zu erwecken und für Sie erklingen zu lassen – nicht im Chor, sondern solo.

2

Als der Viermaster Posen am 15. April des Jahres 1913, zwei Tage nach dem Ablegen aus seinem Heimathafen Hamburg, den Kanal hinter sich ließ und mit dem Ziel Valparaíso Kurs auf Süden nahm, herrschte als Folge eines ausgedehnten Hochdruckgebiets über Westeuropa ruhiges Frühjahrswetter. Ein schwacher, zuweilen abflauender Wind sorgte ab und zu für ein leichtes Flattern der Segel, und kleine Wellen klatschten bockig gegen die Bordwand. So lustlos gab sich das Meer, dass Franz von Karsch, der sich ohne Reiseziel eingeschifft hatte, vielmehr mitfuhr, um wissenschaftliche Beobachtungen vorzunehmen, seine Kamera und seine Messinstrumente in seiner Kabine gelassen hatte, als er auf der Höhe von Brest nach einem Mittagsschläfchen mit leichtem Kopfschmerz an Deck ging. Das helle Sonnenlicht blendete ihn, wodurch sich das unerwartete Gefühl von Verlassenheit, mit dem er aufgewacht war, noch verstärkte. Als er die Augen aufgeschlagen hatte, wusste er nicht, wo er war, hatte kurz sogar geglaubt, die Schiffskabine gehöre zu einem alten, unangenehmen Traum, an dessen Einzelheiten er sich inzwischen schon nicht mehr erinnern könne. Als ihm dann klar geworden war, wo er sich befand, war er merkwürdigerweise einen Augenblick lang enttäuscht gewesen, als seien seine Träume ihm lieber gewesen als die Wirklichkeit, doch zugleich hatte er sich auch keinen Ort vorstellen können, an dem er gerade wirklich gern gewesen wäre. Minutenlang war er liegen geblieben, unfähig, sich zu erheben, bis er sich abrupt aus seiner Lähmung befreite, indem er sich auf die Seite drehte und aus dem Bett wälzte.

Einer seiner beiden Mitreisenden lehnte an der Reling und betrachtete den Horizont. Mechanisch und ohne jedes Anzeichen von Genuss zog er an einer dünnen Zigarre, als sei Rauchen keine Sucht, sondern Arbeit. Bei einer früheren Gelegenheit hatte er sich als Amilcar Moser vorgestellt, aus Triest stammend, wo er, wie er gleich hinzufügte, auch seine Jugendzeit zugebracht habe. Er arbeite als Einkäufer für eine Hamburger Salpeterfirma und befinde sich auf einer Geschäftsreise nach Chile.

Auf die Frage nach seinem Reiseziel hatte Karsch nach kurzem Zögern geantwortet, er habe keins. Der Salpeterhändler hatte ihm erst geglaubt, als ihm Karsch mit knappen Worten erläutert hatte, dass er sich an Bord befinde, um wissenschaftliche Beobachtungen vorzunehmen und Daten zu sammeln. Er wolle Seegang, Wind und Wogen messen und Strömungen untersuchen.

Ungläubig schaute Moser auf die behäbig schäumende See und wollte wissen, was es denn in aller Welt an diesem eintönigen Hin und Her der unzähligen, sich alle bis aufs Haar gleichenden Wellen zu untersuchen gebe.

Karsch hätte ihm erklären können, dass es ihm darum zu tun sei, die Gesetzmäßigkeiten von Seegang und Wellenbewegung zu analysieren und mithilfe mathematischer Modelle zu beschreiben, doch stattdessen lächelte er nur entschuldigend und hoffte, dass Moser nicht weiterfragen würde.

»Nun, ein Meervermesser ist mal was anderes als ein Landvermesser.« Moser hielt das offenbar für eine gelungene Pointe. Zumindest lachte er geräuschlos, mit aufgesperrtem Mund, in dem eine schlanke, nach hinten breiter werdende Zunge frei zu schweben schien.

Unwillkürlich trat er einen Schritt zurück und wollte weggehen, doch Moser hielt ihn auf.

»Dann können Sie mir natürlich auch erklären, was dies für eine Art von Seegang ist«, sagte er, indem er auf die kleinen Wogen deutete, die sich mit bedächtiger Regelmäßigkeit hoben und wieder senkten.

»Drei bis vier«, antwortete Karsch automatisch. Und als der andere ihn fragend ansah: »In der Hydrografie wird der Seegang auf einer Skala von null bis neun angegeben. Null bedeutet vollkommen glatte See. Neun ist das Maximum: Orkanstärke, Wellen hoch wie Berge.«

Moser warf seinen Zigarrenstummel über die Reling. »Drei bis vier also. Gut zu wissen.«

»Wissen Sie, was die Trochoidentheorie besagt?«, fragte Karsch etwas steif, sehr wohl wissend, dass sein Gegenüber noch nie davon gehört hatte. »Nein, natürlich nicht, warum sollten Sie«, fuhr er fort, ohne eine Antwort abzuwarten. »Diese Theorie liefert eine Erklärung für die Beziehungen zwischen den einzelnen Elementen der Wellenbewegung.« In seiner Stimme schwang ein müder Unterton mit. Er ärgerte sich, weil er sich doch noch hatte hinreißen lassen, einem grinsenden Laien gegenüber Rede und Antwort über seine Untersuchungen zu stehen.

»Die Wissenschaft hat eine Formel aufgestellt, mit der die Dynamik der Wellenbewegung unter verschiedenen Bedingungen beschrieben werden kann. Mein Ziel ist es, mithilfe meiner Beobachtungen den Nachweis zu erbringen, dass diese Theorie richtig ist.«

Karsch machte eine Pause. »Verstehen Sie?«, fragte er sarkastisch, in der Hoffnung, Moser ausreichend eingeschüchtert zu haben, damit dieser nicht weiter nachfragte. Später würde er dasselbe noch einmal dem anderen Passagier erklären müssen, der sich als Ernst Todtleben aus Halle vorgestellt hatte, denn auch der würde ihn früher oder später mit seinen Instrumenten an Deck antreffen.

Moser blickte aufs Meer, als sehe er es zum ersten Mal. Eine Zeit lang verfolgte er die Bewegungen der Wellen, wobei er im Takt der Dünung leicht mit dem Kopf nickte. Schließlich zuckte er verständnislos die Schultern. Ihm war nichts Besonderes aufgefallen.

Karsch hätte den Mann am liebsten einfach stehen lassen, doch er beschloss, ihn lieber nicht vor den Kopf zu stoßen. Die Reise nach Valparaíso könnte unter widrigen Umständen länger als drei Monate dauern, und für die Stimmung an Bord war es besser, wenn man sich vertrug.

»Alles, was sich vor Ihren Augen abspielt, gehorcht den Gesetzen der Physik«, erklärte er dem Salpeterhändler, wobei ihm die eigene Stimme pedantisch vorkam. »Es ist theoretisch sogar denkbar, dass alle Bewegungen des Meeres mit einer einzigen allumfassenden Formel beschrieben werden könnten, aber so weit sind wir noch nicht.«

Moser wollte wissen, wozu das gut sein sollte.

Karsch zuckte verärgert die Achseln. »Um es zu wissen.«

Moser war enttäuscht. »Mehr nicht?«

Nein, nicht mehr, als »es zu wissen«. Diese Antwort war korrekt, diese noble abwehrende Phrase verlieh aller Wissenschaft ihren Sinn. In Wirklichkeit gab es – abgesehen von den schulmeisterlichen Pedanten – nur wenige, die sich tatsächlich mit diesem Anspruch begnügten. In ihren Köpfen schlummerten andere Antworten, Visionen eines kosmischen Uhrwerks, des stillen, leeren Unendlichen – auch wenn man diese Wörter untereinander austauschen konnte –, der lenkenden Hand Gottes des Schöpfers, oder gar noch mystischere Träume von Untergang und Auferstehung der Welt, alles Visionen, die sie niemals der Öffentlichkeit preisgeben würden. Ihren Glauben oder ihren Nihilismus behielten sie lieber für sich.

»Vielleicht werden wir eines Tages voraussagen können, dass zum Beispiel am 14. Juni 1946 auf der Höhe der Galapagosinseln schwerer Seegang herrschen wird, den Schiffe besser meiden sollten«, antwortete Karsch. Mit so etwas konnte man wenigstens den Utilitaristen abschütteln.

»Ah. Und das ist Ihr Lebenswerk?«

Karsch tat, als habe er den spöttischen Unterton nicht bemerkt. Zu seinem eigenen Erstaunen verzichtete er auch auf eine weitere Verteidigung seines wissenschaftlichen Interesses, obwohl er es eigentlich schlecht ertrug, wenn ein Außenstehender nur das Nutzlose darin erkennen konnte. Warum reagierte er überhaupt so gleichgültig auf Mosers Ironie, und warum fiel ihm keine bessere Antwort ein als ein dümmliches Auflachen?

Mit zusammengekniffenen Augen suchte er die See ab, als ließe sich dort eine Stütze für seine Unsicherheit finden, ein Zeichen dafür, dass er nicht aufgeben durfte, weil einst der Tag kommen werde, an dem er in den Geheimnissen ihrer Tiefen würde lesen können wie in einem Buch, doch er sah nichts.

3

Die Reise stand von Anfang an unter keinem guten Stern. Karsch bereitete seine Forschungen für gewöhnlich gründlich vor, doch diesmal hatte er sich ganz gegen seine Gewohnheit Hals über Kopf und ohne einen bestimmten Plan auf der Posen eingeschifft. Absprachen mit dem Institutsdirektor, Formulieren von Forschungszielen, Anschreiben von wissenschaftlichen Zeitschriften – all diese Dinge hatte er diesmal unterlassen. Am Tage vor der Abfahrt hatte er kurz überlegt, seine Reise zu verschieben und vielleicht später mit einem anderen Schiff zu fahren, doch die Aussicht, vielleicht noch einen weiteren Monat an Land verbringen zu müssen, hatte ihn zu dieser selbst für ihn unerwartet kommenden Entscheidung bewogen. Erst als Hamburg allmählich am Horizont verschwand, war er bereit, sich einzugestehen, dass seine überhastete Abreise eine Flucht gewesen war.

4

Das regelmäßige Leben, welches Franz von Karsch als Privatdozent am Ozeanographischen Institut führte, war ihm im Lauf der Jahre immer träger vorgekommen, sodass die Zeit nach seinem Gefühl immer schneller zu vergehen schien, als fahre er mit dem Fahrrad einen Abhang hinunter und sause, ohne in die Pedale treten zu müssen, in rasender Fahrt in die Tiefe, dem Tal entgegen. Eines Tages, als er sich gerade in seine Arbeit vertieft hatte, war er, von plötzlicher Angst gepackt, von seinem Schreibtisch aufgesprungen und danach unentschlossen stehen geblieben. Er spürte sein Herz heftig pochen, die Zeit rauschte und rann wie Sand durch seine Finger.

Als er sich wieder gesetzt hatte, verspürte er einen fauligen Geschmack im Mund. In den Tagen danach war es ihm nicht besser ergangen. Stundenlang hatte er in unheimlichem Nichtstun vor sich hin gestarrt und gehofft, dass jemand käme, um mit ihm zu sprechen und ihn aus seiner Betäubung zu befreien.

Niemand war gekommen. Hatte er nicht immer darauf bestanden, nicht gestört zu werden?

Er floh von seiner Arbeit in seine Wohnung, nur um dort den restlichen Tag lustlos auf und ab zu wandern. Hin und wieder blieb er stehen und betrachtete die Fotos aus seiner Jugend in Pommern, die er damals aufgehängt hatte, um etwas Vertrautes um sich zu haben. Doch auch sie vermochten ihn nicht aus seinen trüben Gedanken zu reißen. Einsame Flure und Zimmer, in denen sich niemand aufhielt, das lustlose Geklimper seiner Mutter auf dem Flügel im Salon, der Duft ihres Parfüms, das dort verwaist zurückblieb, wenn sie sich in ihre Gemächer zurückgezogen hatte, die schweigende, geschlossene Zimmertür seines Vaters.

Er wandte sich dem Bücherregal zu. Ohne darin zu lesen, starrte er in seine Reiseberichte und langweilte sich. Mit zweiunddreißig Jahren war er bereits zu einem Mann geworden, dessen Erinnerungen interessanter waren als seine Perspektiven.

Die anhaltende Stagnation ließ ihn schwermütig werden. Vielleicht sollte er sich um Ablenkung bemühen. All die quälend langen Tage voller Müßiggang hätte er mit Konzerten füllen können, mit Verwandtenbesuchen oder notfalls auch mit einer sportlichen Betätigung, in einem Schützenverein, zum Beispiel.

Aber er unternahm nichts.

Nachdem er einen Abend im Verein für Handel und Schifffahrt im Kreise vor sich hin dösender Kollegen verbracht hatte, bekam er Atembeschwerden und ließ sich fortan nicht mehr blicken. Wenig später gewöhnte er sich an, nach der Arbeit nicht mehr schnurstracks nach Hause zu gehen, sondern in der Stadt zu verweilen. In den Kneipen blätterte er die Abendzeitungen durch oder schaute mit leerem Blick auf die Lampen und machte Bekanntschaft mit anderen, die aus demselben Grund das Gasthaus besuchten. Er trank ein Glas Bier mit ihnen, und sie plauderten über Dinge, die sie in der Zeitung gelesen hatten. Als man sich eines Tages beiläufig bei ihm erkundigte, was er eigentlich beruflich mache, antwortete er, dass er Physiker sei, womit er zwar nicht log, aber auch nicht ganz die Wahrheit sagte. Darum ging er an jenem Abend in schlechter Stimmung nach Hause und grübelte darüber nach, warum er sich nicht offen zu seinem eigentlichen Interessengebiet bekannt hatte. Weil er sich nicht ein weiteres Mal in diese Verlegenheit bringen wollte, mied er die Kneipe und blieb notgedrungen wieder zu Hause, wo er mit den Händen auf dem Rücken im Zimmer auf und ab ging, Fotos in die Hand nahm, sie mit einer Art Verwunderung betrachtete und wieder zurückstellte.

Befremdet, als begreife er nicht, was das mit ihm zu tun habe, betrachtete er immer wieder das kleine Bild von Agnes Saënz, das er in den Rahmen eines Spiegels gesteckt hatte. Die Aufnahme war erst kürzlich gemacht worden. Sie zeigte ein scheues Mädchen mit glattem, dunkelblondem Haar und einem spitzen Gesicht, das in seiner Jugend von den Pocken entstellt worden war. Vielleicht hatte die Natur sie so früh hässlich werden lassen, um auf diese Weise einen Grund für ihre spätere Schüchternheit zu liefern. Möglicherweise war es auch umgekehrt. Eigentlich wusste Karsch recht wenig über sie. Sie las französische Romane in geschmackvoll illustrierten Luxusausgaben und spielte Klavier, wenn auch mit wenig Selbstvertrauen. Sie schlug die Tasten so zaghaft an, als schäme sie sich für das damit verbundene Geräusch, mit dem sie überdies und zu ihrem Schrecken die allgemeine Aufmerksamkeit auf sich zog, denn die Höflichkeit gebot es, dass man den Mund hielt und zuhörte, wenn gespielt wurde.

Mit größter Wahrscheinlichkeit würde Karsch sie heiraten. So hatten es ihre Familien vereinbart, und er hatte sich bis heute nicht dagegen gewehrt, obwohl er durchaus die Absicht gehabt hatte, dies zu tun. Auf die eine oder andere Art ließ ihn die Angelegenheit ungerührt, und er hatte sich nicht dazu durchringen können; vielleicht auch, weil Agnes sich in Gesellschaft seiner Familie nie ganz wohl in ihrer Haut zu fühlen schien und er sie nicht hatte verletzen wollen. Als die Heirat zum ersten Mal vorsichtig zur Sprache gebracht worden war, hatte er hilflos nach draußen geschaut. Das Einzige, woran er sich von diesem Nachmittag erinnern konnte, war das Wetter, das damals geherrscht hatte. Zunehmende Schleierbewölkung, feucht und zu warm für die Jahreszeit.

Bei der folgenden Begegnung hatten Agnes Saënz und Karsch einander aus den Augenwinkeln beobachtet, um dann den Blick hastig wieder abzuwenden, unangenehm berührt durch die Fragen, die sie sich dabei gestellt hatten. Wie würde es sein, wenn ich mit ihm oder ihr … Er hatte damals auch versucht, sich ihre schmächtige Brust vorzustellen, die in einem hochgeschlossenen Leibchen mit unzähligen Knöpfen dem Blick entzogen war, unerreichbar für die Liebe.

Man schickte sie auf einen Spaziergang nach draußen. Karsch sollte ihr das Gut zeigen, damit sie sich schon etwas … Nun, man wolle den Geschehnissen nicht vorgreifen. Unterwegs hatte sie sich entschuldigt, weil sie ihm vielleicht zur Last falle, vielleicht hätte er seine Zeit besser nutzen können, als mit ihr über die Wiesen zu wandeln. Er versicherte ihr, dass er nichts lieber täte. Unterwegs war eine ältere Bäuerin vor ihnen auf den Wegrand ausgewichen, um sie vorbeizulassen. Dabei hatte sie ihr Gleichgewicht verloren und war mit ihrem Korb voller Äpfel auf den matschigen Boden gestürzt. Ohne zu zögern, hatte sich Agnes Saënz gebückt, um ihr dabei zu helfen, die Äpfel wieder einzusammeln. Das Kinn emporgereckt, die Hände auf dem Rücken verschränkt, hatte Karsch zugesehen, wie sie vornübergebeugt den Korb der Frau füllte, die über ihr Missgeschick jammerte und den jungen Herrn bat, er möge ihr verzeihen. Was sollte er tun? Immer Haltung bewahren, mein Junge! Er hätte auch einen Apfel in den Korb zurücklegen können als Zeichen seines guten Willens. Im selben Augenblick hatte sich Agnes Saënz gebückt, um einen Apfel aufzulesen, der zwischen seine Füße gerollt war. Karsch hatte sich unbehaglich gefühlt, weil er dabei auf sie hinunterblicken musste. Am liebsten wäre er weitergegangen, doch er musste warten, bis sie den Schmutz von den Kleidern der Alten geklopft hatte. Auf dem Rückweg fragte er zynisch, ob sie jetzt bei dem Weib einen Wunsch frei hätte. Schweigend wandte sie ihr Gesicht ab. Um seine Grobheit wiedergutzumachen, zeigte er ihr noch ein paar Wiesen und führte sie an einen Rübenacker, doch es half alles nichts.

Als er nach Hamburg zurückgekehrt war, hatte Karsch sich einzureden versucht, dass es ihm schon gelingen werde, sich auf die eine oder andere Weise wieder aus der Verbindung zu lösen, doch so ganz hatte ihn der Gedanke nicht losgelassen, dass es bereits ausgemachte Sache sei, dass er sein Leben als Ehemann an der Seite von Agnes Saënz verbringen werde. Und bei dieser Aussicht hatte ihn plötzlich eine solche Beklommenheit überfallen, dass er ihr Bild aus dem Spiegelrahmen entfernt und in eine Schublade gelegt hatte.

Am Tag daraufhatte er durch Zufall erfahren, dass die Posen in zwei Tagen in Richtung Valparaíso auslaufen würde.

5

Ernst Todtleben besaß langes, leicht krauses Haar, das ihm bis in den Nacken reichte, und einen Kopf, der wohl für jeden Körper zu groß gewesen wäre, ganz bestimmt jedoch für jemanden von so langer, hagerer Statur wie ihn. Meistens saß er auf einem Deckstuhl und las mit einem entrückten Lächeln in einem gelben Buch, oder er verfolgte die akrobatischen Sturzflüge der Möwen.

Moser hatte schon eine Stunde nach dem Ablegen herausgefunden, dass Todtleben einen Posten als Lehrer für Sprachen und Geschichte des klassischen Altertums am Deutschen Gymnasium in Santiago de Chile angenommen hatte.

Nachdem Todtleben eine Zeit lang schweigend zugesehen hatte, wie Karsch seine Messungen vornahm, ging er auf ihn zu und erklärte ohne jegliche Umschweife, dass er das Meer verabscheue. Nachts liege er wegen des nervtötenden Klatschens der Wellen gegen den Schiffsrumpf wach, tags an Deck werde ihm übel von der Dünung und der geistlosen, ewig in sich selbst versunkenen, unermesslichen Ausdehnung um ihn herum. Leere Flächen weckten bei ihm ein Gefühl der Unruhe, an Land jage ihm bereits ein Horizont ohne Turmspitze Angst ein. Wenn er auf das Meer blicke und ihn wieder Schwindel überkomme, hoffe er stets, dass aus dem Dunst am Horizont plötzlich die Inseln der Glückseligen auftauchten, um ihm wenigstens eine Ahnung von festem Boden unter den Füßen zu vermitteln.

Danach kehrte er zu seinem Deckstuhl und seinem Buch zurück.

Auch während des Essens, das er hastig und über den Teller gebeugt in sich hineinschlang, sagte Todtleben meistens wenig, er überließ Moser das Wort, der mit Kapitän Paulsen oder dem Ersten Offizier über ihr Vorankommen an diesem Tag sprach und die Position der Posen in einem Notizbuch festhielt. Ob es gerade passte oder nicht, stets aber mit einem gewissen Stolz, erklärte der Salpeterhändler, dass er ein Mann der Tatsachen sei. Von jeder seiner früheren Reisen nach Chile bewahre er ein solches Notizbuch auf. Mit deren Hilfe könne er genau bestimmen, wo und auf welcher Höhe er an einem bestimmten Tag gewesen sei. Es handle sich um einen bedeutsamen Besitz, und er erwäge daher, sie in Leder einbinden zu lassen. Als er die amüsierte Miene Todtlebens bemerkte, fuhr er ihn an und schnaubte, sein arrogantes Lächeln sei hier fehl am Platz. Vielleicht habe Todtleben es noch nicht bemerkt, aber sie lebten in einer Welt, in der es in zunehmendem Maße um Tatsachen und nichts als Tatsachen gehe und schon lange nicht mehr um diese angeblich gehobenen Haarspaltereien, mit denen Todtleben sich beschäftige. Bald werde eine Zeit anbrechen, in der alle Menschen genauso dächten wie er, Moser, und dann würden die Todtlebens dieser Welt dumm aus der Wäsche schauen mit ihrem süffisanten Lächeln.

Er rückte an die Kante seines Stuhls vor. »Tatsachen und nichts als Tatsachen, Todtleben. Das ist die Zukunft. Alles wird sich verändern, alles wird sich in eine ganz neue Richtung entwickeln. In hundert Jahren wird der Mensch den überflüssigen Ballast der Vergangenheit von seinen Schultern abgeworfen haben und selbst zu einer Tatsache geworden sein. Fragen Sie doch Karsch, das ist ein Mann der Wissenschaft.«

Karsch blickte nach draußen, wo seine »Tatsachen« ruhig auf und ab wogten und ihre Gestalt sogleich wieder verloren, sobald sie sich auch nur halbwegs gebildet hatte.

Todtleben lächelte selbstsicher. Sein verträumter Blick richtete sich auf einen Punkt über dem Kopf des Salpeterhändlers.

»Verändern? Es wird sich nie etwas verändern, Moser. Alles wird ewig dasselbe bleiben, weil alle scheinbaren Veränderungen nichts anderes sind als Manifestationen des Einen Großen Unveränderlichen Seins.« Er sprach langsam und betonte dabei jedes einzelne Wort.

»Demnach gibt es nichts Neues unter der Sonne.« Etwas hilflos durchbrach Karsch die Stille, ihm war in diesem Moment nichts Besseres eingefallen.

Nun jedoch setzte Todtleben zu einer längeren Rede an. Er ließ den Blick schweifen, um sich zu vergewissern, dass auch jeder zuhörte, und erklärte, das Neue ziehe nur deshalb so viel Aufmerksamkeit auf sich, weil es schon bei seiner Geburt nicht mehr wisse, woher es gekommen und warum es auf der Welt sei. Es täte ihm leid, aber er müsse feststellen, dass es nur ein unbedeutendes Strohfeuer sei, verglichen mit jener Kraft, die ewig und unveränderlich alles durchdringe. Hier auf Erden und droben inmitten der Sterne. Niemand könne ihr entkommen, jedermann sei ihr unterworfen. Er wandte sich Karsch zu. Sogar das Meer. Träumerisch blickte er in die Runde. Nein, die Welt werde nicht von Mosers Tatsachen regiert, sondern von einem übersinnlichen Eros, der sich dem einfachen irdischen Verständnis von Gut und Böse entziehe. Dieser sei rein, daher gleichgültig. Alles drehe sich um Ihn, nicht um Mosers Tatsachen. Nein, was über uns herrsche, sei Sein ehernes Gesetz, mit dem Er die Menschheit fortwährend vorantreibe, sie ansporne.

Immer eindringlicher und schärfer klang seine Stimme. Niemand sagte etwas, der Zweite Offizier war irgendwann aufgestanden und hinausgegangen – er war ein frommer Mensch –, Kapitän Paulsen löffelte geräuschvoll seinen Teller leer.

Moser hatte eingeschüchtert die ganze Zeit über seinen Mund gehalten. Die Leichtigkeit, mit der Todtleben diese gehobenen Dinge anschnitt und große Worte in den Mund nahm, als könne er all ihre Dunkelheiten ergründen, machte ihn unsicher – als Kaufmann war er so etwas nicht gewohnt. Er war am Tisch schon bei früheren Gelegenheiten verstummt, weil er sich in Todtlebens unergründlichen Gedankengängen nicht mehr zurechtgefunden hatte. Was ihn im Nachhinein – so hatte er zugegeben – dabei immer am meisten geärgert habe, sei der unerwartete Aufruhr unter den verborgenen Überbleibseln seines ehemaligen Glaubens, den er dabei an sich selbst wahrgenommen habe. Als er in jungen Jahren die Wahrheiten der Kirche gegen die Welt der Tatsachen eintauschte, habe er mit seinem Sinn für das Praktische die alten Lehrsätze nicht weggeworfen, sondern auf dem Dachboden seines Geistes deponiert, als mögliche Lebensversicherung, für die keine Prämie mehr gezahlt werden müsse. Jetzt hätten sie sich wieder gerührt und Todtleben am liebsten mit ihren Doktrinen zum Schweigen gebracht. Das habe ihm zu schaffen gemacht, als einem Mann der Tatsachen.

6

Sie liefen Lissabon an, wo die Posen in der Mündung des Tejo vor Anker ging. Karsch ließ sich an Land rudern, um den einen Tag, den sie dort bleiben sollten, in der Stadt zu verbringen. Auf dem Fallreep war ihm Moser nachgestiegen. Ohne Widerspruch zu dulden, hatte er angekündigt, Karsch an diesem Tag Gesellschaft leisten zu wollen, vier Augen sähen schließlich mehr als zwei, außerdem beherrsche er das Portugiesische ganz leidlich, was ihnen zum Vorteil gereichen werde.

Karsch hatte eingewilligt. Eigentlich hatte er ohne festes Ziel in der Stadt herumlaufen wollen, doch Moser hatte einen Baedeker aus der Manteltasche gezogen und las bei jeder Sehenswürdigkeit, die auf seinem Programm stand, laut die Beschreibungen aus dem Reiseführer vor. Als sie bei einer Kirche anlangten, deren Besuch empfohlen wurde, wollte er sie unbedingt betreten.

Karsch zögerte.

»Worauf warten Sie?«

Karsch zuckte die Achseln. »Ich bin nicht katholisch«, antwortete er, um der Sache zu entkommen.

»Ich auch nicht. Aber Sie befürchten doch nicht etwa, sich anzustecken, wenn Sie dort hineingehen?«

Karsch schüttelte den Kopf. Glauben, das war für ihn die Prozession der Bauern und Pächter, die an hohen Feiertagen kamen, um dem Herrn Grafen mit der Mütze in der Hand ihre Aufwartung zu machen, das bedeutete Tage andauernde Festessen an Ostern und Weihnachten und den Besuch des Pfarrers, der seine warme Hand segnend auf den Kopf des jungen Franz legte, sich zu ihm hinunterbeugte und ihm etwas Unverständliches zuflüsterte. Dem Jungen ekelte vor den weichen, feuchten Fingern, die ihn auf die Knie zu zwingen schienen, damit er ein Leben voller Bescheidenheit und geistiger Demut führe, und die nicht zulassen wollten, dass er all dem jemals entkommen könnte. Ginge es nach diesen Fingern, bliebe er für immer ein Kind. Nicht wahr, mein Sohn? Weil seine Eltern und der Rest der Familie zusahen, wartete er geduldig, bis der Pfarrer seine Hand wieder zurückzog; niemals wäre ihm in den Sinn gekommen, aus eigenem Antrieb aufzustehen. So etwas hatte man ihm nicht beigebracht. Tagein, tagaus wurde ihm eingetrichtert, dass er niemals die Selbstbeherrschung verlieren dürfe.

Immer Haltung bewahren, mein Junge!