Cover

Monika Felten

Das Erbe der Runen

Band 1:
Die Nebelsängerin

Roman

hockebooks

22

Das Bild in der Wasserschale zeigte eine kleine Gruppe von Reitern, die vor dem Hintergrund eines glutroten Himmels über die Steppe preschten. In der zunehmenden Dämmerung waren ihre Gesichter nicht zu erkennen, aber Vhara war es gleichgültig, welche der zwölf Krieger lebend nach Udnobe zurückkehrten. Das Einzige, was zählte, war das Mädchen, das gefesselt über dem Widerrist eines Pferdes lag.

Ein zufriedenes Lächeln umspielte Vharas Mundwinkel.

Voller Genugtuung hatte sie den Kampf im Spiegel der Wasserschale beobachtet. Die Verfolgten hatten sich den Uzoma mit überraschend heftiger Gegenwehr zum Kampf gestellt und mit dem Mut der Verzweiflung gekämpft. Für eine Weile hatte sie sogar um den Sieg ihrer Krieger gebangt. Ein bärtiger Hüne, der ein gewaltiges Schwert führte, hatte gleich drei Uzoma getötet, und auch die anderen hatten die Attacken der Tempelgarde geschickt pariert. Zu ihrem Bedauern hatte der aufgewirbelte Staub die Sicht getrübt. Dann aber hatte sie gesehen, wie die Uzoma das gesuchte Mädchen ergriffen und zu den Pferden schleppten.

Endlich gelangte die Nebelsängerin und mit ihr auch das Amulett der Elbenpriesterin in ihre Gewalt!

Die Vereinigten Stämme hatten ihre letzte Karte verspielt. Die Festung würde fallen, und die Macht ihres Meisters konnte nach langer Zeit des Wartens endlich auch in das Land südlich des Pandarasgebirges Einzug halten!

*

Die Erschütterungen im Boden waren nicht mehr zu spüren, der Lärm des nahen Kampfes war seit endlosen Minuten verstummt. Die Dämmerung schob sich langsam über die Steppe und nahm das Licht mit sich fort, während der Wind ein wenig auflebte und den feinen Sand, den die Kämpfenden aufgewirbelt hatten, über den flachen Sandhügel hinwegtrug, unter dem Ajana in bangem Entsetzen ausharrte.

Nur einmal hatte sie versucht, den Kopf zu wenden, um einen Blick auf den Schauplatz des Kampfes zu werfen. Doch die trockenen Gräser vor ihrem Gesicht versperrten ihr die Sicht und ließen nicht zu, dass sie Genaueres erkennen konnte.

Das Gefecht war vorbei, daran gab es keinen Zweifel. Doch so sehr Ajana auch lauschte, der Ausgang des Kampfes blieb für sie ungewiss. Waren die Gefährten, die ihr inzwischen schon fast zu Freunden geworden waren, noch am Leben, oder …

Wie zur Antwort hörte sie in diesem Augenblick aus weiter Ferne den Ruf eines Falken. Horus lebte!

Ajana verspürte neuen Mut. Vielleicht war doch nicht alles verloren. Vorsichtig regte sie sich in ihrem Versteck und versuchte den Kopf zu drehen, doch die Bewegung führte nur dazu, dass noch mehr Sand den Weg unter ihre Kleidung fand. Sehen konnte sie nichts.

»Thorns heilige Rösser, ich hätte nicht gedacht, dass ich das noch erlebe«, hörte sie plötzlich eine vertraute Stimme rufen und spürte, wie jemand die schützenden Gräser fortnahm. Feiner Sand rieselte ihr ins Gesicht. Hastig schloss sie die Augen; als sie sie wieder öffnete, blickte sie in das von Staub und Blut verschmutzte Gesicht des Heermeisters über ihr. Eine tiefe Schnittwunde verunstaltete seine Stirn, und er machte einen erschöpften Eindruck. Dennoch gelang ihm ein Lächeln.

»Kommt heraus«, sagte er freundlich. »Es ist vorbei.«

»Heermeister Bayard!«, rief Ajana glücklich und fragte mit einem Blick auf die blutende Wunde: »Geht es Euch gut?«

»Ein paar Kratzer, mehr nicht.« Bayard streckte ihr die Hand entgegen. Ajana nahm die Hilfe des Katauren dankbar an und klopfte sich den Sand von der Kleidung. Dabei wanderte ihr Blick suchend nach Norden. Das Erste, was sie sah, war eine Gruppe von Pferden, die das dürre Steppengras fraßen. Ein Stück entfernt kauerten zwei dunkle Gestalten beieinander, deren Gesichter sie jedoch nicht erkennen konnte.

Am Ort des Kampfes zeichneten sich im Licht der aufgehenden Monde die Umrisse mehrerer regloser Körper auf dem Steppenboden ab. Der Anblick der Toten versetzte Ajana einen schmerzhaften Stich. »Wo sind die anderen?«, fragte sie mit bebender Stimme. Am liebsten hätte sie gleich nach Keelin gefragt, doch sie fürchtete sich vor der Antwort.

»Feanor ist tot«, erwiderte Bayard knapp. »Abbas und Keelin sind dort hinten, und Maylea, nun …« Er zog bedauernd die Schultern hoch.

Keelin! Ajana spürte, wie ihr Herz vor Erleichterung einen Satz machte. Er lebte! Ein heißes Glücksgefühl durchströmte sie. »Gehen wir zu ihnen?«, fragte sie, doch Bayard schüttelte den Kopf. »Geht Ihr nur«, sagte er, und ein Schatten huschte über sein Gesicht. »Ich werde Feanor die letzte Ehre erweisen.«

Ajana nickte und machte sich auf den Weg. Doch bevor sie die beiden jungen Männer erreichte, sah sie, wie Abbas plötzlich aufsprang. »Mein Entschluss steht fest!«, rief er und bückte sich, um die Feuerpeitsche vom Boden aufzuheben. »Sie ist meines Blutes. Ich werde sie nicht so einfach ihrem Schicksal überlassen.«

Ajana stutzte.

»Sei vernünftig, Abbas.« Keelin erhob sich und legte dem Freund in einer beruhigenden Geste die Hand auf die Schulter. »Du weißt doch gar nicht, wo sie sie hinbringen.« Er beschrieb eine weit ausholende Geste. »Wie willst du sie in dieser endlosen Einöde finden?«

»Ich finde sie!«, beharrte Abbas, und sein Blick zeugte davon, dass er fest entschlossen war, das Wagnis einzugehen. »Ich finde sie, verlass dich darauf. Fünf Pferde hinterlassen eine gut sichtbare Spur. Ich werde ihnen folgen – und wenn sie bis in die Feuer des Wehlfangs hineinreiten.« Mit diesen Worten schüttelte er Keelins Hand ab und ging auf eines der Pferde zu, die nicht weit entfernt grasten.

»Abbas!« Verzweiflung lag in Keelins Stimme, als er dem Freund hinterhereilte. »Abbas, überleg es dir doch noch einmal. Sie sind zu fünft, und du bist allein. Was glaubst du, gegen sie ausrichten zu können? Was du vorhast, ist Wahnsinn. Du kannst ihr nicht mehr helfen.«

»Aber ich muss es wenigstens versuchen!« Abbas ließ sich nicht beirren. Er hob einen gefüllten Wasserschlauch vom Boden auf und warf ihn sich über die Schulter, dann streckte er lockend die Hand aus und ging langsam auf einen prächtigen schwarzen Hengst zu.

»Wo will er hin?« Ajana, die nicht recht wusste, worüber die beiden sich so ereiferten, trat neben Keelin und sah zu Abbas hinüber, der dem Hengst nun sanft über die Nüstern strich. Die Ohren des Pferdes waren vor Anspannung nach hinten gelegt und es schnaubte nervös. Es schien jedoch zu spüren, dass ihm keine Gefahr drohte, und ließ Abbas gewähren.

»Er hat sich in den Kopf gesetzt, Maylea zu befreien«, erklärte Keelin mit unterdrückter Wut und Kummer in der Stimme. »Warum? Wo ist Maylea?«, fragte Ajana verwundert.

»Sie wurde von den Uzoma verschleppt.«

»Verschleppt?« Ajana war zutiefst erschüttert. »Warum haben sie das getan?«

»Das fragen wir uns auch«, erwiderte Keelin mit finsterer Miene. »Die Uzoma waren in der Überzahl. Hätte der Kampf nur wenig länger gedauert, wäre vermutlich keiner von uns mehr am Leben. Aber das war wohl nicht ihre Absicht.« Er wandte sich um und sah Ajana geradewegs in die Augen. »Es sieht ganz so aus, als hätten sie dich gewollt.«

»Mich?« Ajana erschauerte. Plötzlich wurde ihr bewusst, welch ungeheures Glück sie gehabt hatte. »Aber dann haben sie …«

»… Maylea vermutlich mit dir verwechselt«, beendete Keelin den Satz für sie. »Eine glückliche Fügung für uns, doch für Maylea …« Er verstummte und wandte seine Aufmerksamkeit wieder Abbas zu, der inzwischen aufgesessen war und die Zügel in der Hand hielt. »Abbas, warte«, rief er, und diesmal lag kein Zorn in seiner Stimme. Mit gemäßigten Schritten ging er auf den Hengst zu, um das nervöse Tier nicht zu erschrecken, und klopfte ihm mit der Hand beruhigend auf den Hals. »Möge Gilian, der Herrscher der Lüfte, über dich wachen«, sagte er leise und streckte Abbas zum Abschied die Hand entgegen. Abbas beugte sich ein Stück herunter und umfing den Unterarm des Falkners in der traditionellen Art der Krieger. »Ich werde sie finden, und ich werde sie befreien. Emo!«, schwor er mit den Worten der Wunandamazonen und fügte leise hinzu: »Wünsch mir Glück, mein Freund.«

Ein sanfter Tritt mit den Fersen genügte, und das Pferd trabte an. Im schwindenden Licht des Sonnenuntergangs, dessen feurige Farben im Westen in zarten Pastelltönen verblassten, folgte Abbas der Spur der Uzoma und war bald nur noch als dunkler Umriss vor dem hellen Steppensand zu erkennen.

»Beim Schwerte des Asnar, der Küchenjunge hat es faustdick unterm Sattel.« Bayard gesellte sich zu Ajana und Keelin, die Abbas schweigend nachblickten. »Wo hat er nur das Reiten gelernt?«

»Wie es scheint, sind wir Stallburschen manchmal auch gute Lehrer«, sagte Keelin, ohne den Blick von dem sich rasch entfernenden Freund abzuwenden. »Aber es ist lange her, seit wir das letzte Mal heimlich zusammen ritten.«

»Nun, er scheint es jedenfalls nicht verlernt zu haben«, sagte der Heermeister anerkennend. »Ich möchte nur wissen, was er vorhat.«

*

Maylea wurde von wirren Träumen geplagt.

Sie hastete durch dunkle Orte, und ihre einzigen Gefährten waren Worte im leeren Raum – Worte voller Hass und Verachtung.

Ist sie es? Ist sie es?

Vernichtet sie!

Werft sie in den Schatten!

Nichtswürdige Humardin!

Eine Gestalt ragte vor ihr auf ein Schatten, schwarz und gewaltig wie ein Berg. Der Kopf wurde von einer leuchtenden Aura gekrönt, und die Augen schimmerten wie Eis in der Finsternis, die das Gesicht sein mochte. Eisig war auch die Schattenhand, und als sie Maylea packte, war es, als pressten sich ihr frostige Zapfen in die Haut.

Gespenstische Gesichter umtanzten den dunklen Koloss, schwankten wie schimmernde Nebel in der Finsternis, verloren die Gestalt und flossen auseinander, um aus den dünnen Schleiern neue, grauenhafte Fratzen zu formen.

»Das Rad dreht sich. Sterbliche«, wisperten sie ihr zu, und eine schrille Stimme kreischte: »Zerquetscht sie!«

Die eisigen Finger folgten dem Ruf und verstärkten den Druck auf ihre Kehle. Sie schrie, doch nur ein krächzender Laut entfloh ihren Lippen. In Todesfurcht hob sie die Arme und schlug nach dem finsteren Peiniger, aber ihre Hände fuhren wirkungslos durch den Schattenleib, und höhnisches, unbarmherziges Gelächter drang an ihre Ohren …

Sie erwachte aus dem Wirbel wispernder Stimmen, höhnischen Gelächters und frostkalter Hände, die nach ihr griffen, und fand das Spiegelbild ihres Traums im Kreis der über sie gebeugten Gesichter wieder. Im unsteten Fackelschein wirkten sie düster und grimmig, und in den flüsternd gewechselten Worten lag keine Freundlichkeit. Hinter ihnen schien die Nacht mit glühendem Feuer gesäumt, das den Himmel erhellte.

»Sie wacht auf«, sagte eine Stimme, und auf einmal waren die Gesichter klar zu erkennen – Uzoma!

»Sie ist mehr tot als lebendig«, meinte eine tiefe Stimme. »Wenn sie stirbt, ist es deine Schuld.«

»Ich habe sie nicht fest geschlagen. Sterben … pah! Die tut doch nur so«, knurrte der Erste. »Ich bin sicher, sie steht bald wieder auf den Beinen.« Ein harter Fußtritt bohrte sich in Mayleas Rippen, und ein stechender Schmerz durchzuckte sie wie ein Peitschenhieb. Sie keuchte und krümmte sich.

»Siehst du, sie lebt!«, knurrte der Uzoma zufrieden.

»Das muss sie auch«, sagte ein anderer mit mahnendem Unterton. »Die Hohepriesterin will sie lebend.«

»… und zwar bald«, fügte die tiefe Stimme hinzu. »Wir haben lange genug gerastet. Schafft sie wieder aufs Pferd.«

Grobe Hände packten Maylea an den Armen. Die Fesseln schnitten ihr tief in die Haut, doch sie biss die Zähne zusammen und schwieg. Sie wusste nicht, wie lange sie besinnungslos gewesen war, aber da es noch immer tiefdunkle Nacht war, konnte es nicht allzu lange gewesen sein.

An den Ritt erinnerte sie sich nur dumpf. Er bestand für sie aus Schmerzen, Dunkelheit, holpernden Bewegungen und dem durchdringenden Schweißgeruch des Pferdekörpers. Einmal hatte sie versucht, in vollem Galopp seitlich vom Pferd zu gleiten, doch der Uzomakrieger neben ihr hatte sie brutal zurückgezerrt und ihr heftige Schläge versetzt. Danach wusste sie nichts mehr.

Jetzt zerrten die Krieger sie wieder aufs Pferd. Ein Ruf ertönte, das Tier trabte an, und die Welt um Maylea herum versank wieder in Dunkelheit, Schmerzen und beißendem Schweißgeruch.

*

Der Angriff auf die Festung am Pass begann leise, aber nicht unerwartet im ersterbenden Licht des Tages.

Die Krieger der Vereinigten Stämme von Nymath standen dicht gedrängt auf den Wehrgängen der Festungsanlage und starrten hinab in die finstere Klamm, in der sich ein Meer aus Tausenden von Fackeln bis hin zum fernen Ende des Grinlortals erstreckte.

Es war still. Totenstill.

Auch Gathorion hatte auf der Brustwehr Posten bezogen. Nicht die kleinste Regung verriet, was in ihm vorging, und seine Stimme wirkte ruhig und gefasst, als er seine Befehle an die Meldegänger weitergab, die nach einer kurzen Verbeugung wieder in der dicht gedrängten Menge der Verteidiger verschwanden.

»Callugar stehe uns bei«, hörte er einen Krieger in unmittelbarer Nähe flüstern. Die Worte, obwohl leise gesprochen, hallten durch die Nacht und wirkten fast wie ein Frevel in der bedrückenden Stille.

Der Elbenprinz wandte den Blick von dem Geschehen in der Klamm ab und schaute hinüber zu dem Krieger, der gesprochen hatte. Der junge Onur hielt sein Schwert so fest umklammert, dass die Knöchel weiß hervortraten. Sein Gesicht war von einer unnatürlichen Blässe, die selbst im Fackelschein zu erkennen war, und sein Blick starr auf das herannahende Heer gerichtet.

Plötzlich wurde die Stille vom Dröhnen der feindlichen Trommeln zerrissen, deren dumpfer, pulsierender Rhythmus düster und bedrohlich durch die Klamm hallte und von den steil aufragenden Felswänden als hundertfaches Echo zurückgeworfen wurde.

Die Uzoma rückten vor – eine nicht enden wollende Masse gesichtsloser, gepanzerter Gestalten im Fackelschein. Langsam und stetig kamen sie näher an die Festung heran, und der Marschtritt ließ den Boden im Takt der Trommelschläge erbeben. Metall klirrte und hartes Leder knarrte, als Waffen und Rüstungen kampfbereit gemacht wurden.

»Pfeile?« Die Frage des Heermeisters schien berechtigt, doch Gathorion hob die Hand und schüttelte den Kopf. »Noch nicht«, sagte er, den Blick nun wieder fest auf das Heer gerichtet. Er wusste, dass die Bogenschützen hinter den Schanzen nur auf sein Kommando warteten, doch der rechte Moment für einen Pfeilhagel war noch nicht gekommen.

Das Dröhnen der Trommeln wurde lauter, als das Heer bis knapp auf Pfeilschussweite auf die Festung vorrückte. Dann verstummten sie plötzlich, und die Truppen kamen zum Stehen.

Einige Herzschläge lang erfüllte wieder eine tiefe Stille die Klamm, dann erschallte aus abertausend Kehlen ein ohrenbetäubendes Gebrüll. Speere wurden auf den Boden gerammt, Schwerter prallten gegen Schilde, während sich über dem Brüllen und Stampfen langsam ein einziges Wort erhob, das als dumpfer, monotoner Rhythmus gegen die Mauern der Festung brandete.

»Whyono … Whyono … Whyono …«

Die Stimmen und das Stampfen wurden lauter und fordernder, und Gathorion sah, wie sich die Reihen der Fackeln langsam zu einer schmalen Gasse teilten.

»Whyono … Whyono … Whyono …«

Immer weiter öffnete sich die dicht gedrängte Phalanx des Heeres, und schließlich konnten auch die Verteidiger auf der Brustwehr eine Gruppe von Reitern erkennen, denen die Uzomakrieger respektvoll Platz machten.

»Whyono … Whyono … Whyono …«

Gefolgt von den Stammesoberhäuptern der Uzoma, die an ihrem aufwendigen, mit bunten Perlen und prächtigen Federn verzierten Kopfschmuck gut zu erkennen waren, näherte sich ein Reiter in imposanter Rüstung der Festung. Der rubinrote Umhang wallte im Wind, die polierten Eisenringe und Silberplättchen des Harnischs blitzten im Fackelschein, und auf der Stirn des Reiters brach sich das Licht in einem breiten goldenen Reif.

»Wer ist das?« Der Fath-Heermeister, der unmittelbar neben Gathorion stand, sprach aus, was alle bewegte. Obwohl es entsprechende Gerüchte gab, war nie zuvor ein Angehöriger ihrer Rasse unter den Uzoma gesehen worden, und die Nachricht, dass diesmal ein Andaurier das Heer der Uzoma anführte, verbreitete sich wie ein Lauffeuer auf den Wehrgängen der Festung.

»Whyono … Whyono … Whyono …«

Die Reiter nahmen vor der ersten Angriffslinie der Uzoma Aufstellung. Der Anführer mit dem goldenen Stirnreif hob Einhalt gebietend die Hand, und der huldigende Sprechgesang verstummte.

»Wo versteckt sich der Feigling, der dieses marode Bauwerk befehligt?« Die spöttische Stimme des Anführers hallte durch die Klamm.

Gathorion ergriff eine Fackel. »Welcher Fremde erhebt den Anspruch, für die Uzoma sprechen zu dürfen?«, rief er herausfordernd.

Ein empörtes Raunen aus Tausenden von Kehlen erfüllte die Luft, doch der Anführer hob erneut die Hand, und die Stimmen verstummten. »Fremd bin ich nur für jene, die ich meine Feinde nenne«, gab er gelassen zur Antwort. »Jene, die mir treu ergeben sind, nennen mich den Whyono, der die Stämme der Uzoma unter einer Herrschaft vereinte, auf dass sie endlich in ihre Heimat zurückkehren und die Allmacht des einzigen Gottes nach Nymath tragen werden.« Er hob drohend die Faust. »Ich bin gekommen, um der Vernichtung dessen beizuwohnen, was die Vereinigten Stämme noch an jämmerlichen Kriegern aufzubieten haben.«

»Dann bist du zu früh gekommen«, erwiderte Gathorion furchtlos. »Die Vereinigten Stämme Nymaths sind noch lange nicht geschlagen.«

»Worte!«, höhnte der Whyono. »Hohle Worte. Wenn die Sonne aufgeht, wirst du anders darüber denken.« Er wendete sein Pferd, riss einem Uzoma die brennende Fackel aus den Händen und preschte an der Phalanx des Heeres entlang zu einem riesigen Kessel, den die Krieger dorthin geschafft hatten. Unmittelbar davor brachte er sein Pferd zum Steigen, streckte die Fackel in Siegerpose in die Luft und stieß sie tief in den Kessel hinein.

Unbändiger Jubel brandete auf, als eine gewaltige silberne Feuersäule aus dem Kessel in die Höhe schoss und die Klamm bis tief ins Grinlortal hinein erhellte.

»Sie rufen die Lagaren«, rief Gathorion, der das Zeichen richtig deutete, den Meldegängern über das Lärmen der Uzoma hinweg zu. »Katapulte bereit!«

*

Bayard, Ajana und Keelin gönnten sich nur eine kurze Rast. Die beiden Männer waren von dem zermürbenden Kampf erschöpft, doch als sich die Monde über den Horizont erhoben, drängte Bayard zum Aufbruch. Wie schon zwei Nächte zuvor, nach dem Angriff des Ajabani, schien er sich nicht lange mit trüben Gedanken aufhalten zu wollen, sondern richtete den Blick nach kurzem Gedenken an Feanor gleich wieder nach vorn. »Wir haben Glück«, hörte Ajana ihn zu Keelin sagen. »Die Pferde der Uzoma werden uns gute Dienste leisten. Wenn alles gut verläuft, sind wir bei Sonnenaufgang am Arnad.«

»Glück?« Für Ajana klangen die Worte des Heermeisters wie bittere Ironie. Zu Abbas und Maylea hatte sie in den vergangenen Tagen ein freundschaftliches Verhältnis aufgebaut, und der Gedanke, die beiden nie mehr wiederzusehen, bereitete ihr großen Kummer. »Wie könnt Ihr jetzt von Glück sprechen? Feanor ist tot, Maylea verschleppt und Abbas in großer Gefahr.« Sie schüttelte verständnislos den Kopf. »Ein Glück wäre es, wenn wir alle noch beisammen wären.«

»Kein Kampf bleibt ohne Verluste«, erwiderte Bayard, doch der kurze Seitenblick, den er dabei auf den frischen, vom Mondlicht beschienenen Grabhügel warf, zeugte davon, dass auch er nicht frei von bedrückenden Gefühlen war. »Maylea wusste um die Gefahr«, fuhr er mit fester Stimme fort. »Sie hätte in der Festung bleiben können. Aber sie bestand darauf, uns zu begleiten. Und dieser starrköpfige Küchenjunge«, er spie auf den Boden, »unterstand nicht meinem Befehl. Für seine Torheiten ist er selbst verantwortlich.« Er verstummte kurz und sah zu den Pferden hinüber, die noch immer im Mondschein grasten. »Das sind gute Pferde«, sagte er bewundernd.

»Ich wusste gar nicht, dass die Uzoma reiten können«, warf Keelin ein.

»Ich auch nicht.« Bayard wandte sich um und sah zu den getöteten Uzomakriegern hinüber, deren Körper steif und leblos auf dem Boden lagen. »Sieht ganz so aus, als ob diese Krieger etwas Besonderes waren.« Er seufzte und zog die Schultern hoch. »Nun, sie sind tot und werden uns nichts mehr verraten. Sucht unsere Sachen zusammen. Ich hole die Pferde.« Der Heermeister drehte sich um und ging langsam auf die grasenden Tiere zu.

Ajana sah Keelin von der Seite an. Seit Abbas fortgeritten war, war er sehr schweigsam und wirkte niedergeschlagen. Sie hatte das Gefühl, etwas zu ihm sagen zu müssen, etwas Tröstliches, das ihm zeigte, dass auch sie die beiden Wunand vermisste. »Es tut mir sehr leid um Abbas«, meinte sie leise und schaute Keelin mitfühlend an.

»Er hätte mir nicht folgen dürfen.« Bitternis schwang in Keelins Worten mit, und Ajana spürte, dass er sich große Vorwürfe machte. »Es ist nicht deine Schuld«, sagte sie schnell.

»Das stimmt. Aber wenn ich mich nicht von ihm verabschiedet hätte, hätte er vermutlich erst viel später erfahren, dass ich fort bin, und uns nicht mehr folgen können.«

»Wenn er uns nicht gefolgt wäre, stünden wir vielleicht jetzt nicht hier«, wandte Ajana ein und fasste Keelin sanft an der Schulter. »In meiner Welt gibt es Menschen, die mit der Überzeugung leben, dass nichts zufällig geschieht. Sie sagen, alles sei vom Schicksal vorherbestimmt, und keiner könne sich dem entziehen.«

»Und du? Glaubst du daran?«, wollte Keelin wissen.

»Hättest du mich das vor zwei Wochen gefragt, hätte ich Nein gesagt«, gab Ajana ehrlich zur Antwort. »Doch jetzt …« Sie hielt inne, um nach den richtigen Worten zu suchen. »Ja, jetzt denke ich, es stimmt.« Sie holte das Amulett hervor. »Das ist mein Schicksal«, sagte sie. »Wir alle müssen das tun, was uns bestimmt ist. Das gilt für Abbas genauso wie für mich und jeden anderen.«

»Eine tröstlicher, aber auch beängstigender Gedanke.« Keelin versuchte ein Lächeln, sammelte die Pfeile vom Boden auf, die er kurz zuvor vom Kampfplatz geholt hatte, und steckte sie in den Köcher zurück. »Ich hoffe nur, dass das Schicksal für Abbas und mich ein Wiedersehen vorherbestimmt hat.«

*

Aus der Dunkelheit im Norden flogen sie heran und glitten wie schwarze Schatten durch die frostkalte Nacht. Ihre Leiber verdeckten das Funkeln der Sterne, und ihre furchterregenden Schreie hallten verzerrt von den steil aufragenden Felswänden wider.

Sie kamen wie die Boten des Todes, und mit jedem Flügelschlag, mit dem sie sich der Festung näherten, schien sich die Nacht ein wenig mehr zu verfinstern.

Ein jeder starrte zum Himmel empor, Angreifer und Verteidiger vereint in der bedrückenden Stille, die dem nahenden Grauen vorauseilte. Das Dröhnen der großen Kriegstrommel war verstummt, die begeisterten Rufe der Uzoma verklungen. Es schien, als hielten selbst die Götter den Atem an.

»Das ist das Ende«, hörte Gathorion einen jungen Raiden hinter sich murmeln. Der Elbenprinz stand noch immer auf seinem Posten in der Mitte der Festungsmauer und blickte dem Feind mit unbewegter Miene entgegen. Die letzten Anweisungen waren gegeben, alle Krieger kampfbereit. Bald würde sich entscheiden, ob es die richtigen Befehle gewesen und die Positionen der Krieger gut gewählt waren. Und es würde sich zeigen, ob die wenigen Pfeilkatapulte, die sie in der kurzen Zeit hatten fertigstellen können und auf die er so große Hoffnungen setzte, tatsächlich eine wirksame Waffe im Kampf gegen die Lagaren waren.

Die Menge der Krieger teilte sich, um einen Meldegänger durchzulassen. Der Junge war völlig außer Atem. »Die Katapulte zur Rechten sind bereit«, teilte er dem Elbenprinzen keuchend mit. Sein Gesicht war von dem Lauf gerötet, und obwohl er darum kämpfte, Haltung zu bewahren, huschte sein Blick angstvoll zu dem feindlichen Heer.

»Gut gemacht.« Gathorion ließ die Angreifer keinen Herzschlag lang aus den Augen. Nicht die kleinste Regung verriet, was er fühlte oder dachte. Fast beiläufig nahm er zur Kenntnis, wie der zweite Meldegänger zurückkehrte und berichtete, dass die Katapulte zur Linken ebenfalls schussbereit seien.

Dann waren die Lagaren heran.

Etwas zischte dicht über Gathorions Kopf hinweg und bohrte sich mit einem dumpfen Schlag in die Brust des hinter ihm stehenden Kriegers. Der Raide riss keuchend die Augen auf, umklammerte mit beiden Händen den gefiederten Pfeil, der ihm aus der Brust ragte, und sank in die Knie.

Auf der Brustwehr brach die Hölle los. Die Luft war erfüllt vom Rauschen mächtiger Schwingen, dem Sirren von Pfeilen und den gellenden Schreien der Verwundeten. Gleißende Lichtblitze zuckten über den Himmel und machten die Nacht zum Tag, als die Lagarenreiter ihre todbringende Fracht über der Festung entluden. Gewaltige Feuersäulen flammten auf, in denen zahllose tapfere Krieger einen grauenvollen Tod fanden. Der giftige Atem der Lagaren riss klaffende Lücken in die dicht gedrängten Reihen der Verteidiger.

Doch auch die Katapulte blieben nicht ohne Wirkung.

Gathorion sah, wie sich eine Handvoll der gewaltigen Pfeile tief in den ungeschützten Leib eines Lagaren bohrte. Ein lauter, furchterregender Schrei erklang, grünes Blut spritzte und ergoss sich wie stinkender Regen über die Verteidiger. Der Lagar gewann noch einmal flügelschlagend an Höhe, als versuchte er den Geschossen auszuweichen. Doch dann verließen ihn die Kräfte, und er stürzte mit der Wucht eines Felsens auf den freien Platz vor der Festungsmauer, wo der schuppige Körper mit einem schauerlichen Krachen zerschellte. Ein weiterer Lagar stürzte in den hinteren Teil der Festung, wo er unter den Äxten und Schwertern der herbeigeeilten Krieger ein grausames Ende fand. Ein dritter fiel mitten in das wartende Heer der Uzoma.

Verhaltener Jubel brandete auf, als das riesige Tier Dutzende Uzomakrieger unter sich zermalmte. Doch Gathorion war schmerzlich bewusst, dass die wenigen errungenen Erfolge nicht ausreichten, um den Verlauf der Schlacht zu ihren Gunsten zu beeinflussen.

Schon jetzt brannten überall Feuer – rauchlose Feuer, die quälende Hitze und ätzenden Schwefelgestank verbreiteten. Allerorten versuchten die Krieger und Bewohner der Festung die Brände mit den bereitgestellten Wasservorräten zu löschen. Unermüdlich kämpften sie gegen die Flammen an, doch sie waren nicht schnell genug, und der Himmel über der Festung erglühte im Licht des gleißenden Infernos. Dort, wo die Feuer alles verschlangen, zerfiel die Ordnung im nackten Kampf ums Überleben. Doch an anderer Stelle schleppten die Menschen weiterhin unermüdlich Wasser herbei, um die Brände in der feuchten Flut zu ersticken.

Dann war es vorbei.

So plötzlich, wie die erste Angriffswelle gekommen war, so schnell verebbte sie auch wieder. Nachdem sich die Lagarenreiter der tödlichen Fracht entledigt hatten, stiegen sie hoch hinauf und flogen außerhalb der Reichweite der Pfeilkatapulte nach Norden davon. Niemand zweifelte daran, dass sie schon sehr bald zurückkommen würden, doch die kleine Atempause verschaffte den Kriegern kostbare Zeit, um sich einen Überblick über die Verluste und die entstandenen Schäden zu verschaffen.

Gathorion berief die Heermeister zu sich. »Der nächste Angriff wird sich zielgenau gegen die Katapulte richten«, knurrte er grimmig. »Sie wissen jetzt, wo sie stehen, und werden versuchen, sie rasch zu zerstören.«

»Wenn das geschieht, sind wir verloren«, wandte Artis ein, der Onur-Heermeister. »Schon jetzt haben wir erhebliche Verluste zu beklagen. Und die Schlacht hat noch nicht einmal richtig begonnen.«

»Noch mehr Brände können wir nicht löschen«, rief ein anderer. »Wir haben schon jetzt zu wenig Männer und zu wenig Wasser. Ein erneuter Angriff wird die Festung in Schutt und Asche legen.«

Gathorion nickte zustimmend, doch seine Stimme war voller Entschlossenheit, als er sagte: »Dann müssen wir beim nächsten Angriff dafür sorgen, dass die Lagaren die Festung gar nicht erst erreichen.«

»Aber wie?«

»Wir wissen jetzt, woher sie kommen«, sagte Gathorion und schaute nach Norden, wo sich die Lagaren kaum sichtbar vor dem funkelnden Sternenhimmel abzeichneten. Sein Blick wanderte weiter zu dem wartenden Heer, und ein grimmiges Lächeln huschte über sein Gesicht. »Wenn wir die Uzoma schon nicht aufhalten können, wollen wir ihnen zumindest ein wenig einheizen.«

*

Dort wird als Zeichen meiner Verehrung ein ganz besonderes Abendrot dein Herz erfreuen …

Die Worte, die Othon ihr zum Abschied gesagt hatte, kamen Vhara in den Sinn, als sie im Mondlicht auf den abseits gelegenen Tempel des dunklen Gottes zueilte und über den fernen Bergen im Süden einen feurigen Lichtschein entdeckte. Entgegen Othons Versprechen war die Sonne längst untergegangen und die Nacht weit vorangeschritten. Doch die Hohepriesterin war so sehr damit beschäftigt gewesen, alles für die bevorstehende Ankunft der Nebelsängerin vorzubereiten, dass sie das Versprechen des Whyono darüber ganz vergessen hatte.

Umso mehr nahm sie es mit Genugtuung auf, dass der Angriff auf den Pass anscheinend wie geplant verlief. Kurz erwog sie, noch einmal in den Spiegel der Wasserschale zu schauen, um sich ein Bild von der Schlacht zu machen, verwarf diesen Gedanken aber sogleich wieder. Der Augenblick des Triumphes – ihres Triumphes! – stand unmittelbar bevor. Die Krieger der Tempelgarde würden bald mit der Gefangenen zurückkehren. Dann würde das Amulett endlich in ihre Hände gelangen, und sie würde erfahren, welche Magie sich hinter den Schriftzeichen verbarg, die es zierten. Sie würde lernen, wie diese Magie zu erwecken war, und sie sich zunutze machen.

Mit dem magischen Amulett würde ihre Macht weiter anwachsen. So weit, dass sie eines Tages …

Vhara schüttelte den Kopf. Für solche Träumereien war es noch zu früh. Zunächst musste sie der Trägerin des Amuletts das nötige Wissen entlocken. Vhara lächelte boshaft. Über die Verschwiegenheit des Elbensprosses musste sie sich wahrlich nicht dem Kopf zerbrechen. Dagegen kannte sie einige sehr nützliche und Erfolg versprechende Mittel, die schon so manchem störrischen Gefangenen die Zunge gelöst hatten.

Mit einem letzten Blick auf das feurige Leuchten über den Bergen betrat die Hohepriesterin ein niedriges Gebäude, das wie ein Armstumpf von dem großen Tempel des dunklen Gottes abzweigte. Der Geruch von Blut haftete ihm so unauslöschlich an, und es lag so düster und lauernd da, dass es in der Sprache der Uzoma oft nur n Terbelan oder das Bluthaus genannt wurde.

*

Der rote Feuerschein im Süden verhieß nichts Gutes, doch Abbas achtete nicht darauf. Im schwachen Mondlicht waren die Spuren, welche die Pferde der Uzoma auf dem sandigen Boden hinterlassen hatten, nur schwer zu erkennen gewesen, und der junge Wunand hatte zunächst alle Mühe gehabt, ihnen zu folgen. Doch zum Glück gab es auch in diesem Teil der Steppe immer wieder flache Mulden, in denen der Wind den lockeren Sand in dicken Schichten abgelagert hatte. Dort hatten sich die Hufe der Pferde so tief eingegraben, dass er die Abdrücke gut erkennen konnte.

Inzwischen folgte er der Spur schon so lange, dass er nur noch hin und wieder auf den Boden schaute, um sich zu vergewissern, dass die Uzoma noch immer die eingeschlagene Richtung beibehielten.

Sie ritten nach Nordwesten. In einer schnurgeraden Linie trieben sie die Pferde durch die Steppe, ohne Rast und ohne langsamer zu werden. Sie schienen es sehr eilig zu haben und ihr Ziel genau zu kennen.

Wieder schaute Abbas zu Boden, wo die Steppe unter den galoppierenden Hufen des Pferdes dahinflog, und wieder brauchte er nicht lange zu suchen. Als er den Blick hob, sah er das silberne Band eines breiten Flusses in der Ferne schimmern.

Das musste der Arnad sein.

Und die Reiter hielten genau darauf zu.

Was wäre, wenn sie dort ein Floß oder ein Fährmann erwartete? Abbas’ Mut sank. Emos zornige Töchter, das darf nicht sein! – flehte er in Gedanken und betete darum, dass es einen anderen Weg über den Fluss geben möge.

Es war noch nicht Mitternacht, als er das Ufer des Arnad erreichte. Der breite Strom floss langsam dahin und lag silbern schimmernd im Mondlicht. Kein Schilf, keine Binsen und nicht einmal das zähe Stachelgras, das überall in der Steppe zu finden war, säumten das Ufer, kein Tier schwamm auf den träge plätschernden Wellen, und kein Fisch durchbrach die glänzende Wasserfläche. Der Arnad war ein toter Fluss. Die Magie der Nebel hatte die Uzoma verbannt, aber sie hatte auch alles Leben im Fluss und um ihn herum vernichtet. Die Wunden, die sie der Landschaft zugefügt hatte, waren nicht zu übersehen.

Abbas richtete sich auf dem Rücken des Pferdes auf und spähte voraus, bereute die Bewegung aber sogleich. Er war es nicht gewohnt zu reiten und hatte inzwischen das Gefühl, als säße er auf blanken Knochen. Wunandmänner ritten nie und die Frauen seines Blutes nur selten, doch wenn sie ritten, dann stets mit Sattel und nicht, wie die Uzoma, auf einer gewebten Decke. Als Keelin noch Stallbursche gewesen war, hatte er Abbas oft mit hinaus auf die Weiden genommen und ihn dort, unbemerkt von allen, das Reiten gelehrt. Abbas besaß ein natürliches Gespür für Pferde und hatte schnell gelernt. Immerhin war seine Mutter eine der wenigen Wunandamazonen gewesen, die es in der Reitkunst sogar mit einem Katauren hätte aufnehmen können. Sie war als eine der ersten Kriegerinnen mit an den Pass gegangen und hatte Abbas, ihr einziges Kind, in Keldas Obhut gegeben.

»… bis ich zurückkomme«, hatte sie zum Abschied gesagt und ihm lächelnd einen Kuss auf die Stirn gehaucht, aber er hatte sie nie wiedergesehen.

Abbas schüttelte den Kopf, als könnte er den Kummer darüber auf diese Weise vertreiben, und richtete sein Augenmerk auf die Spuren, die mitten ins Wasser hineinführten. Es bestand kein Zweifel daran, dass die Krieger, die Maylea entführt hatten, hier entlanggeritten waren. Doch wohin er auch blickte, von einem Floß oder einem Fährmann war weit und breit nichts zu sehen. Vor ihm lag das mondbeschienene Wasser, das zu tief und dessen Strömung zu schnell war, um eine Durchquerung zu wagen. Dennoch hatte es ganz den Anschein, als wären die Uzoma einfach in den Fluss hineingeritten.

Abbas zögerte. Sollte er es wagen, ihnen zu folgen? Vorsichtig ließ er das Pferd ins seichte Wasser am Ufer gehen. Er rechnete damit, dass es sehr bald tiefer würde, doch zu seiner großen Überraschung reichte das Wasser dem Pferd kaum bis über die Fesseln.

Eine Furt! Abbas konnte sein Glück kaum fassen und blickte sich um. Jetzt sah er auch die dunklen Pfähle, die zu beiden Seiten der Furt aus dem Wasser ragten, um deren Breite zu markieren. Sie waren im Mondlicht nur schlecht zu erkennen, aber wenn er wachsam bliebe, würden sie ihm den sicheren Weg über den Fluss weisen.

Nun, da er eine Möglichkeit gefunden hatte, den Arnad zu durchqueren, kehrte auch die Zuversicht zurück, und obwohl er noch immer nicht wusste, wie, war er fest davon überzeugt, Maylea retten zu können.

Ich werde sie befreien, dachte er entschlossen. Irgendwie – wenn ich sie nur erst gefunden habe.

23

»Die Festung steht in Flammen!« Keelin, der vor Ajana ritt, zügelte erschüttert sein Pferd, als er das Bild des rot glühenden Himmels über den Gipfeln des Pandarasgebirges von Horus empfing.

Unmittelbar nachdem sie losgeritten waren, hatte sich der Falke in die Lüfte geschwungen und war ungeachtet der Dunkelheit nach Westen geflogen, was Keelin sehr verwundert hatte. Für eine Weile hatte er keine Botschaft empfangen, aber das Bild der brennenden Festung erklärte Horus’ plötzliche Unruhe.

»Asnar stehe uns bei! So früh?« Bayard hielt sein Pferd abrupt an. »Was kann dein Falke noch erkennen?«

»Nicht viel …« Keelin hielt die Augen weiter geschlossen und presste die Hände an die Schläfen. »Er ist noch zu weit von der Festung entfernt und sieht nur den Feuerschein über den Bergen.«

»Thorns heilige Rösser!« Bayard fuhr sich mit der Hand über den Bart. Es war nicht zu übersehen, wie sehr ihn die unerwartete Nachricht aufwühlte. Zum ersten Mal hatte Keelin das Gefühl, dass der forsche und stets unerschütterliche Kataure zögerte. Doch der Eindruck verflog so schnell, wie er gekommen war. Nur wenige Augenblicke später hatte Bayard sich wieder im Griff und wirkte so gefasst und zuversichtlich wie zu Beginn der Reise.

»Ruf den Falken zurück«, wies er Keelin an. »Wir werden nicht zulassen, dass diese verfluchten Uzoma die Festung stürmen.« Er nahm die Zügel fest in die Hand und ließ sein Pferd antraben. »Worauf wartet ihr noch!«, rief er Ajana und Keelin zu, während er das Tier mit gezielten Fersenhieben anspornte. »Wenn wir uns beeilen, erreichen wir den Arnad noch vor Sonnenaufgang.« Der schwarze Hengst wieherte schrill, sprang vorwärts und setzte sich mit donnernden Hufen vor die Pferde der anderen, die sogleich in den gestreckten Galopp einfielen.

Wie Schattenreiter preschten Bayard, Ajana und Keelin im Mondlicht dahin. Die Körper der Pferde waren schweißnass, die Nüstern weit gebläht.

Ajana spürte die zunehmende Erschöpfung der Tiere und schaute ängstlich zu Bayard hinüber. Das Gesicht des Heermeisters war von tiefer Sorge gezeichnet. Die dunklen Augen erforschten das Land, das sich vor ihnen auftat, als könnte er den Arnad herbeizwingen, während er sein Pferd mit grimmiger Entschlossenheit weiter antrieb.

Ajana warf Keelin einen schnellen Blick zu. Die Züge des jungen Falkners spiegelten die gleiche Sorge wider, die auch den Heermeister quälte, und Ajana ahnte, was die beiden bewegte: Die Festung stand in Flammen, und sie fürchteten, dass sie zu spät kämen.

So galoppierten sie durch flache Talmulden, die sich zwischen sanften Hügeln auftaten, und über niedrige Anhöhen hinweg und jagten ohne Rast durch die schweigende nächtliche Steppe.

Endlich kam der Arnad in Sicht, ein breites, im Mondschein silbern funkelndes Band. Der Anblick ließ Ajanas Herz höherschlagen, doch bei aller Freude, das Ziel endlich erreicht zu haben, weckte er auch Zweifel in ihrem Innern.

Es war nicht die Furcht vor dem Versagen, nicht die bange Frage, ob sie das, was von ihr erwartet wurde, auch zu vollbringen vermochte. Es war etwas anderes, das sie schon seit Tagen wie ein düsterer Schatten begleitete. Etwas, das Abbas mit seinen Worten in ihr geweckt hatte, das den Sinn der Reise, der vielen Opfer und ihre Aufgabe so sehr infrage stellte und das Ajana die ganze Zeit über bei sich unterdrückt hatte.

Es war eine Frage, die sie niemandem zu stellen wagte. Doch welchen Sinn konnte die Magie der Nebel noch haben, welchen Schutz noch bieten, wenn das Heer der Uzoma schon bis zum Pandarasgebirge vorgedrungen war?

Gerade jetzt, so kurz vor dem Ziel, ließen sich die Zweifel nicht mehr verdrängen. Hartnäckig setzten sie sich in ihr fest, und der Dreischlag der Hufe verwandelte sich wie von selbst in eine monotone Melodie, in deren Rhythmus eine einzige, bohrende Frage hinter ihrer Stirn hämmerte: »Wozu noch?«

*

Der Umstand, dass die Lagaren einen langen Weg zurücklegen mussten, um eine neue tödliche Ladung des feurigen Wassers aufzunehmen, und die Tatsache, dass das Heer der Uzoma offensichtlich den Befehl hatte, so lange mit dem Angriff zu warten, bis das Feuer seine zerstörerische Wirkung voll entfaltet hatte, gewährte den Verteidigern eine unerwartete Verschnaufpause. Die Verwundeten konnten versorgt und die Toten fortgeschafft werden; die Schäden am Mauerwerk wurden wenigstens notdürftig behoben. Wer konnte, half beim Löschen der Brände oder dabei, die gewaltigen Katapulte nach Norden auszurichten.

»Eine ungewöhnlich zögerliche Angriffstaktik.« Artis, der Onur-Heermeister, der neben Gathorion auf der äußeren Festungsmauer stand, schüttelte den Kopf.

»Eine vorsichtige«, berichtigte Gathorion, ohne den Blick von dem feindlichen Heer abzuwenden. »Die Lagaren sind eine so zerstörerische Waffe, dass sich die Uzoma selbst davor fürchten. Sie werden kaum das Wagnis eingehen, selbst Opfer der Flammen zu werden, und erst angreifen, wenn die Lagaren ihnen den Weg bereitet haben.«

»Dann sind sie nicht nur zögerlich, sondern auch feige«, bemerkte Artis mit finsterer Miene. »Sie …«

»Ich bringe Nachricht von den Befehlshabern der Katapulte.« Ein Meldegänger erklomm die hölzerne Treppe der Brustwehr, trat vor Gathorion und deutete eine Verbeugung an. Er wirkte erschöpft. Vermutlich hatte er gar nicht mitbekommen, dass er dem Heermeister auf unziemliche Weise ins Wort gefallen war.

Doch obwohl Artis dem Knaben einen zornigen Blick zuwarf, verzichtete Gathorion darauf, ihn zu maßregeln. »Ich höre«, sagte er ruhig.

»Die Katapulte zu Rechten und zur Linken sind bereit«, berichtete der Bursche mit ernster Miene. »Es sind noch ausreichend Pfeile vorhanden, doch die Befehlshaber geben zu bedenken, dass die neue Angriffswelle nicht viel länger andauern darf als die vorherige.«

»Ich danke dir.« Gathorion entging nicht, dass der Knabe vor Aufregung und Schwäche zitterte. Wie alle in der Festung war auch er schon die halbe Nacht auf den Beinen und verrichtete unermüdlich seine Aufgabe. »Richte den Befehlshabern aus, dass die Lagaren diesmal gezielt die Katapulte angreifen werden. Wir müssen die Flugechsen schon im Anflug erwischen, nur so gibt es Hoffnung.«

»Ja, Herr.« Der Meldegänger deutete wiederum eine Verbeugung an, eilte zur Treppe und entschwand den Blicken des Elbenprinzen, der ihm nachdenklich hinterherschaute. Es ist nicht recht, dass halbe Kinder in einen solchen Kampf ziehen, dachte er betrübt und fragte sich, wo die Götter sein mochten, die dergleichen zuließen. Hatten sie sich abgewendet? Oder sahen sie dem hundertfachen Sterben womöglich seelenruhig zu, wie Spieler, die ihre Figuren in einer großen finalen Schlacht gegeneinander setzten?

Gathorion vermochte es nicht zu sagen. Bekümmert richtete er den Blick wieder nach Norden und erkannte, was die dröhnenden Hörner der Wachtposten gleich darauf verkündeten.

Die Lagaren kamen. Die zweite Angriffswelle begann.

*

Auf dem freien Platz vor dem Tempel ertönte lauter Hufschlag. Die Tempelgarde!

Hastig legte Vhara zwei Eisenstäbe in die Glut des Kohlebeckens und schritt zur Tür, um die Krieger zu empfangen. Sie kamen im rechten Augenblick. Alles war bereit.

Die Uzomakrieger waren schon abgesessen, als sie den Hofplatz erreichte und zu ihnen trat, um die reglose Gestalt zu betrachten, die gefesselt und besinnungslos über dem Rücken eines Pferdes hing. Es war eine junge Frau mit schwarzen Haaren, die sie in der Art der Wunand geflochten trug. Auch die Kleidung entsprach der Gewandung der stolzen Kriegerinnen. Eine gelungene Täuschung. Vhara lachte abfällig. Wie einfältig diese Ungläubigen doch waren und wie leicht zu durchschauen. Wenn der Feind glaubte, sie auf so lächerliche Weise in die Irre führen zu können, hatte er sich gründlich getäuscht.

»Ihr habt mir gute Dienste geleistet«, wandte sie sich an die wartenden Krieger. »Mein Dank ist euch gewiss.« Das gönnerhafte Lächeln wich einem entschlossenen Gesichtsausdruck, und sie zeigte auf zwei der Krieger. »Ihr zwei kommt mit mir«, befahl sie und deutete mit einem Kopfnicken auf die Gefangene. »Nehmt ihr den Umhang ab und schafft sie rein.«

Wenig später lag die Wunand im Schein der glühenden Kohlebecken auf der dicken, vernarbten Tischplatte des Terbelan, hinter dessen Mauern die Krieger der Tempelgarde schon so manchem Unwilligen die Zunge gelockert hatten. Hand- und Fußgelenke der Gefangenen wurden von dicken Eisenbändern umschlossen, an denen schwere, stramm gespannte Ketten hingen, die durch eigens dafür angefertigte Öffnungen unter der Holzplatte verschwanden. Ein breiter Ledergurt hielt sie um die Taille.

»Weckt sie auf.« Ungeduldig schritt Vhara neben dem Tisch auf und ab. Sie hatte die Gefangene gründlich durchsucht, aber kein Amulett gefunden. Dass die junge Frau es nicht bei sich trug, beunruhigte die Hohepriesterin zutiefst. Eine Nebelsängerin auf dem Weg zum Arnad ohne Amulett?

Was mochte das bedeuten?

Diese Frage konnte ihr nur die Gefangene beantworten, doch diese hatte sich noch immer nicht geregt. Ihr Gesicht war stark angeschwollen, die pacunussbraune Haut an vielen Stellen bläulich verfärbt. Nach den Schilderungen der Uzoma hatte sie sich während des Ritts aufs Heftigste gewehrt und war nur mit Gewalt zu bändigen gewesen. Dabei schienen sie nicht gerade zimperlich mit ihr umgegangen zu sein und Vhara hatte große Sorge, dass die Gefangene für längere Zeit nicht wieder zu sich käme.

Mit zweifelnder Miene beobachtete sie, wie die beiden Krieger kaltes Wasser über das Gesicht der jungen Frau gossen, und stellte verärgert fest, dass es keine Wirkung zeigte. »Bei Serkses feurigen Haaren, ich wollte sie lebend«, fuhr sie die Krieger an. »Lebend! Ging das nicht in eure haarlosen Schädel? In diesem halb toten Zustand nützt sie mir nichts.« Sie machte eine drängende Handbewegung. »Worauf wartet ihr? Los, versucht es noch einmal.«

Aber auch der zweite Wasserschwall brachte nicht den gewünschten Erfolg.

Vhara war außer sich. Der Gedanke, dem Ziel so nahe zu sein und vielleicht doch noch zu scheitern, war ihr unerträglich. »Verschwindet«, herrschte sie die beiden Uzoma an und fuchtelte aufgebracht mit den Armen. »Los, los, geht mir aus den Augen, bevor ich mich vergesse! Wenn sie stirbt, werdet ihr dafür büßen. Alle! Darauf könnt ihr euch verlassen.«

Die Krieger der Tempelgarde zuckten unter den Worten der Priesterin zusammen, verneigten sich mit gesenktem Blick und verließen eilig den Raum.

Es dauerte eine Weile, bis Vhara sich wieder so weit beherrschte, dass sie den nächsten Schritt wagte. Es war lange her, seit sie die Tore eines fremden Bewusstseins geöffnet hatte, sehr lange. In den Geist eines Fremden einzudringen, barg viele Gefahren, nicht nur für den Fremden, sondern auch für sie selbst. Türen, die besser verschlossen blieben, konnten geöffnet werden, Erinnerungen, die nicht zerstört werden durften, mochten vernichtet werden. Die Fähigkeit, den Geist eines anderen zu berühren, war sowohl Fluch als auch Segen. Doch Segen war es, den Vhara ersehnte. Ihr unbändiges Verlangen, das Amulett zu besitzen, und die Furcht, dass die Fremde sterben könnte, ohne noch einmal das Bewusstsein erlangt zu haben, waren so übermächtig, dass sie bereit war, das Wagnis auf sich zu nehmen.

Als sie die nötige innere Ruhe gefunden hatte, trat Vhara hinter die Gefangene, legte ihr die Hände flach auf die Schläfen und atmete tief durch. Den Blick starr geradeaus gerichtet, schloss sie die Augen und versank langsam in jene tiefe Meditation, durch die sie das Wissen zu erlangen hoffte, nach dem es sie verlangte.

*

Unter den Hufen des schwarzen Hengstes flog die Nacht dahin, bis das erschöpfte Tier sich weigerte, weiterzugaloppieren.

Mit harten Zügelschlägen und Fersentritten versuchte Abbas das Pferd anzutreiben, doch es war am Ende seiner Kräfte, und schließlich musste er einsehen, dass es nun nur mehr langsam voranging.

Der junge Wunand fluchte leise vor sich hin.

Seit er den Arnad überquert hatte, hatte sich die Gegend stetig verändert. Die weite Steppe war fast unmerklich in eine sanft gewellte Landschaft übergegangen, deren flache Anhöhen und sandige Mulden dem erschöpften Tier das Vorankommen zusätzlich erschwerten. Obwohl der Boden immer noch unfruchtbar und karg wirkte, bot das seichte Hügelland dem Auge zumindest ein wenig Abwechslung.

Als das Pferd nur noch mit müden Schritten vorantrottete, entdeckte Abbas in der Ferne die Umrisse von Gebäuden. Die niedrigen, kuppelförmigen Hütten erweckten den Eindruck, als hätte hier das Kind eines Giganten im feuchten Sand gespielt und ihn hundertfach in halbrunde Formen gepresst.

Eine Stadt.

Abbas spürte, wie sich sein Herzschlag beschleunigte. Er war sich sicher, dass die Krieger Maylea dorthin verschleppt hatten, und die Hoffnung, sie nun bald zu finden, gab ihm neue Kraft.

In einiger Entfernung von der Stadt ließ er das Pferd in einer Senke anhalten und saß ab. Ein beißender Schmerz durchfuhr ihn, als er die ersten Schritte machte, doch er achtete nicht darauf und erklomm den Rand der Senke mit zusammengebissenen Zähnen. Oben angekommen, legte er sich flach auf den Boden, spähte zur Stadt hinüber und fand seinen ersten Eindruck bestätigt. Die kleinen kuppelförmigen Hütten glichen sich wie ein Ei dem anderen. Sie waren ringförmig um einen ausgedehnten, flachen Hügel errichtet worden, auf dem gleich mehrere erstaunlich große Gebäude thronten, die völlig anders aussahen als die übrigen Hütten.

Wenn ich Maylea finde, dann irgendwo dort oben! Abbas war sich seiner Sache ganz sicher. Doch wie sollte er sich der Stadt unbemerkt nähern? Die karge Landschaft bot ihm keinerlei Deckung; weit und breit gab es nichts, hinter dem er sich hätte verstecken können. Die Mulden zwischen den Anhöhen vermochten ihn zwar für kurze Zeit vor Blicken zu schützen, doch er konnte sich ja nicht ewig darin aufhalten. Er musste in die Stadt gelangen.

Aber wie?

Abbas seufzte und fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.

Die Ungeheuerlichkeit der Aufgabe, die er sich selbst gestellt hatte, entmutigte ihn. Nachdenklich sah er zum Nachthimmel auf, als könnte er dort eine Lösung finden. Dünne Wolken waren von Westen herangezogen und hingen träge zwischen den Monden und der Dunkelheit der schlafenden Steppe. Die Nacht ging ihrem Ende entgegen.

Er musste handeln – und zwar sofort.