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Monika Felten

Das Erbe der Runen

Band 2:
Die Feuerpriesterin

Roman

hockebooks

26

Bayard erlangte das Bewusstsein nicht wieder.

Als die aufgehende Sonne zu ihrer vollen Kraft zurückfand, erlag der Katauren-Heermeister seinen schweren Verbrennungen, ohne die Augen noch einmal geöffnet zu haben.

Inahwen schlug die Hände vor das Gesicht und trauerte stumm, Maylea schluchzte leise, und auch Ajana weinte um den Heermeister, der ihr so unerschütterlich zur Seite gestanden hatte und ihr zum verlässlichen Freund geworden war.

»Er war ein großartiger Heermeister!«, hörte sie Abbas voller Bewunderung sagen. »Erfüllt von Gram und einer tiefen Trauer und doch ein Mann der Ehre. Ich wünsche ihm, dass er gefunden hat, was er all die Winter so schmerzlich vermisste.«

»Er erzählte mir einmal, dass die Katauren glauben, die Seelen tapferer Krieger würden nach dem Tod in den Körpern prächtiger Hengste wiedergeboren«, sagte Keelin leise und fügte hinzu: »Für mich war er wie der Vater, den ich nie hatte. Immer wenn ich einem stolzen Hengst begegne, werde ich mich seiner erinnern.«

Dem gab es nichts hinzuzufügen.

Während Keelin, Abbas, Maylea und Kruin mit den Talpungas losritten, um Bayards sterblicher Hülle in einer der ausgedehnten, mit Sand gefüllten Mulden die letzte Ehre zu erweisen, saßen Ajana und Inahwen nebeneinander und starrten voller Sorge zur Höhle hinüber. Die Gefahr, dass die Hohepriesterin noch einmal erschien, war ihnen nur allzu bewusst, doch brachten sie es nicht übers Herz, Bayards Leichnam unbestattet zurückzulassen.

»Was wird nun?« Ajana schaute Inahwen fragend an. Bayards überraschender Tod hatte ihre Zuversicht nahezu erlöschen lassen. Sie hatte so sehr auf den Heermeister vertraut, doch jetzt?

»Wir gehen weiter!« Inahwen sah sie nicht an. »Wir haben eine Aufgabe übernommen und werden diese auch erfüllen.«

»Aber sie weiß alles!« Ajana legte all ihre Mutlosigkeit in die Worte. »Diese Priesterin ist eine mächtige Magierin. Was können wir gegen sie ausrichten? Wir haben nichts …«

»Wir haben die Magie der Runen!«, erwiderte Inahwen. »Isaz, die Eisrune, und Laguz, die Rune des Wassers. Die Magie der Hohepriesterin hingegen gründet sich auf die Macht des Feuers. Wenn es uns gelingt, zur Quelle dieser Magie vorzudringen, vermögen wir sie vielleicht zu zerstören. Wenn das Band zwischen Vhara und den Feuerwesen nicht mehr besteht, werden sie verwundbar. Dann …«

»Und ich war die ganze Zeit in dem Glauben, ich sei nur mitgekommen, um Euch den Weg zu weisen.« Ajana sah die Elbin bestürzt an. »Warum habt Ihr mir das verheimlicht?«

»Ylva und ich hielten es für sicherer, wenn du es erst am Ende der Reise erfährst.« Inahwen sah Ajana an. »Verantwortung belastet, und eine Last zu tragen macht schwach. Du zweifeltest schon daran, dass es dir gelingen würde, den Mondstein anzurufen. Das Wissen um das wahre Ausmaß der Aufgabe hättest du über den langen Weg nicht zu ertragen vermocht.«

»Und wenn ich unterwegs umgekommen wäre?«, fragte Ajana. »Wenn ich und nicht Tarun im Sandsturm verschollen wäre?«

»Dann wäre Nymath verloren!« Inahwen ergriff Ajanas Hand und sah ihr fest in die Augen. »Ylva glaubt an dich«, sagte sie ernst. »Die Magun glaubt an dich. Ich glaube an dich – und auch Bayard glaubte an dich. Die Eisrune Isaz vermag nicht nur die Magie des Feuers zu brechen, sie steht auch für die Verbindung zwischen den Lebenden und den Toten. Hab Vertrauen. Ich bin sicher, Gaelithil wird dir zur Seite stehen, wenn es so weit ist.«

Ajana schwieg. Was Inahwen ihr offenbarte, war ungeheuerlich. Doch langsam wurde ihr bewusst, dass sie es schon die ganze Zeit über vermutet hatte. Und obwohl sie sich fürchtete, wusste sie, dass sie es versuchen würde. Zu viele hatten ihr Leben gegeben, um Nymath zu retten. Selbst wenn sie es gewollt hätte: Sie konnte nicht mehr zurück!

*

Wenn es eine Hölle gibt, dachte Ajana, dann muss sie so aussehen wie diese Höhlen im Herzen des Wnutu. Seit sie nach Nymath gekommen war, hatte sie schon vieles gesehen, das ihr Angst machte, aber die rot erleuchteten, von glühenden Lavaströmen durchflossenen Felsengänge waren furchterregender als alles, was ihr bisher begegnet war. Der ganze Berg schien in seinem Innern ein einziges, weit verzweigtes Tunnellabyrinth zu sein, das sich, vom Jahrtausende währenden Strom der Lava ausgewaschen, immer wieder zu kleinen und großen Höhlen erweiterte. Unzählige Risse und Spalten, die oft bis zum Rand mit glühender Lava gefüllt waren, durchzogen den Boden. Häufig konnten sie den Weg nur durch einen beherzten Sprung oder einen gewagten Schritt fortsetzen. Ohne das Licht des Mondsteins hätten sie sich längst hoffnungslos verirrt, doch Raido wies ihnen so unerschütterlich den Weg, dass Ajana sich bald fragte, ob sie wohl auch wieder hinausfinden würden.

Es war heiß. Unerträglich heiß.

Erschöpft wischte sie sich die Schweißperlen von der Stirn. Die dünnen Gewänder klebten ihr schwer auf der Haut, und immer wieder raubten ihr die rinnenden Schweißtropfen die Sicht.

Einmal kam ihr der Gedanke, dass sich die Hohepriesterin ihnen gar nicht stellen würde. Wenn Vhara sie lange genug durch die Höhlen irren ließ, war es nur eine Frage der Zeit, bis sie verdursteten oder vor Erschöpfung tot umfielen. Dennoch setzte sie den Weg unbeirrt fort.

Irgendwann, nach einer Zeit, die niemand zu ermessen vermochte, legten sie eine Rast ein. Sie hatten ihre Vorräte mitgenommen, aber niemand hatte Hunger. Auch Gespräche kamen keine auf. Die allgegenwärtige Hitze und der immer unerträglicher werdende Schwefelgestank legten sich wie ein betäubender Schleier auf ihre Seelen und machten sie schläfrig.

Keelin saß neben Ajana. Er lehnte mit dem Rücken an der Wand und sah so erschöpft und elend aus, wie Ajana sich fühlte. Als er ihrem Blick begegnete, lächelte er, doch der Versuch, zuversichtlich zu wirken, scheiterte kläglich. »Ziemlich heiß!«, versuchte er verkrampft ein Gespräch zu beginnen und fragte dann: »Wie lange mag es wohl her sein, dass der Wnutu ausgebrochen ist?«

Ajana sah ihn an. »Ich bin doch kein Geologe«, erwiderte sie eine Spur unfreundlicher als beabsichtigt. Der unwirsche Tonfall tat ihr augenblicklich leid, aber die Hitze setzte ihr arg zu und machte es ihr unmöglich, gelassen zu antworten.

Aber die Frage, so belanglos sie zunächst wirkte, weckte ganz unvermittelt einen Gedanken in ihr. Einen furchtbaren Gedanken, bei dem sie trotz der Hitze fröstelte. Unbewusst rieb sie sich mit den Händen über die Arme, doch das konnte die Kälte, die sie erfasst hatte, nicht vertreiben. Das, was sie spürte, war keine Kälte, es war Angst. Angst vor ihren eigenen Gedanken und davor, dass ihre Befürchtungen schon bald furchtbare Wahrheit werden könnten. Verunsichert sah sie sich um, in der Hoffnung, sich zu irren, doch was sie entdeckte, stachelte ihre Furcht nur noch weiter an.

»Was ist mit dir?«, fragte Keelin.

»Wir müssen weiter, schnell!« Ajana raffte ihr Bündel an sich. Mit einem kurzen Blick vergewisserte sie sich, dass es dem Lavinci gut ging, dann erhob sie sich.

»Du hättest es nicht mitnehmen sollen«, meinte Keelin, dem ihr besorgter Blick nicht entgangen war.

»Damit Horus da draußen etwas zu fressen hat?«, schnappte Ajana und ärgerte sich sogleich über ihren bissigen Ton. Aber da waren die Worte schon heraus. »Tut mir leid«, sagte sie schnell. »Ich wollte dich nicht verletzen. Aber ich habe furchtbare Angst.«

»Angst?« Keelin lachte freudlos. »Da bist du wahrlich nicht die Einzige.«

»Nein, das meine ich nicht«, beeilte sich Ajana zu erklären. »Es ist nicht so, wie du denkst. Es sind nicht die Höhlen, die Enge und die Hitze, es ist …« Sie hockte sich wieder hin und senkte die Stimme, als sie weitersprach. »Ich habe nachgedacht«, sagte sie und sah Keelin eindringlich an. »Vhara hat den Sandsturm heraufbeschworen, da bin ich mir ganz sicher. Selbst Kruin war der Ansicht, dass es kein gewöhnlicher Sandsturm war. Erinnerst du dich, dass Vhara sagte, sie beobachte uns schon lange? Sie weiß es, Keelin. Sie weiß, dass wir hier im Berg nach ihr suchen werden.«

»Und?«, fragte Keelin. »Was willst du damit sagen?«

»Siehst du das?« Ajana deutete auf einen Riss in der Wand.

»Ein Riss«, stellte Keelin überflüssigerweise fest. »Was ist daran so Besonderes? Hier gibt es Tausende von Rissen im Gestein.«

»Er ist neu.« Ajana war selbst erstaunt, wie nüchtern ihr die Worte über die Lippen kamen.

»Neu? Ich denke, du bist kein Geo…« Keelin stockte, dann fragte er: »Woran erkennst du das?«

»Weil er gerade eben noch nicht so groß war und dort oben endete.« Ajana deutete aufeine Stelle in der Wand.

»Das ist unmöglich.« Keelin schüttelte den Kopf. »Das hätten wir hören müssen.«

»Und wenn wir es nicht hören sollten?« Ajana sah Keelin scharf an. »Weil das Ganze hier eine heimtückische Falle ist?«

»Unsinn!« Keelin schüttelte den Kopf. »Dieser Vulkan hat Tausende Winter gesehen. Die Hohepriesterin kann ihn nicht …«

»Wer einen Sandsturm beschwören kann, der kann auch einen Vulkan zum Ausbruch bringen«, unterbrach Ajana Keelin. »Ich bete darum, dass ich mich irre, aber ich fürchte, wir haben nicht mehr viel Zeit.«

Sie weckte die anderen aus dem leichten Schlummer, mit dem sie der Hitze und Erschöpfung Tribut zollten, und berichtete ihnen eilig von ihrem furchtbaren Verdacht. Keiner widersprach ihr, und so kam es, dass sie die Suche schneller als geplant fortsetzten. Wenn Ajana mit ihrer Vermutung recht behielt, bestand ihre einzige Hoffnung darin, Vhara zu finden, bevor sie den Zauber vollendete.

Es dauerte nicht lange, da hörten sie ein erstes Rumoren im Felsgestein. Alle hielten erschrocken inne und lauschten, doch das Geräusch wiederholte sich nicht – jedenfalls nicht sofort.

Bald aber begleitete sie das unheilvolle Rumoren auf ihrem Weg durch die feurigen Höhlen; es wurde lauter und kräftiger und schürte in ihnen die Furcht vor dem nahenden Unheil. Es trieb sie aber auch zur Eile an und ließ sie Hindernisse überwinden, die sie sonst vermutlich umgangen hätten.

Sie waren noch nicht einmal eine Stunde unterwegs, als Kruin plötzlich innehielt. Er fasste Ajana warnend am Arm, während er mit der anderen Hand nach vorn deutete. Ajana folgte der Geste mit wachem Blick und erkannte, dass sich vor ihnen eine gewaltige Höhle auftat. Sie wurde von einem breiten Feuerstrom in zwei Hälften geteilt, dessen Glut die ganze Halle in ein unheimliches rotes Licht tauchte.

Der Wehlfang!

Ajana wollte etwas sagen, doch Kruin legte mahnend den Finger auf die Lippen und bedeutete ihr zu schweigen.

Und dann hörte sie es. Über das Rauschen des feurigen Flusses hinweg drang eine leise Frauenstimme zu ihnen, die in einer fremdartig anmutenden Sprache eine monotone Litanei hersagte.

»Vhara!«, flüsterte Ajana mit bebender Stimme.

»Sie ist im Herzen des Wnutu, an der Quelle des Wehlfangs.« Kruin deutete mit einem Kopfnicken auf die Höhle. Er wollte noch etwas hinzufügen, doch ein jähes Dröhnen übertönte seine Stimme.

»Emo sei uns gnädig, wir kommen zu spät«, hörte sie Abbas ausrufen. Der junge Wunand war aschfahl im Gesicht. Mit schreckgeweiteten Augen starrte er auf die Höhle, während er unentwegt den Lederriemen seines Proviantbeutels in den Händen knetete.

»Reiß dich zusammen!«, fuhr Maylea ihn an. »Noch ist nichts verloren.« Mit forschem Schritt schloss sie zu Kruin und Ajana auf, die Hand fest am Heft ihres Kurzschwertes, den Blick voller Hass nach vorn gerichtet. »Worauf wartet ihr?«, fragte sie knapp. »Dass Vhara euch persönlich hineinbittet?« Sie machte einen Schritt auf die Höhle zu und sah sich noch einmal um. »Sie weiß, dass wir kommen. Wenn sie uns hätte töten wollen, hätte sie das schon längst getan. Dass wir noch am Leben sind und der Mondstein uns nicht in die Irre führte, kann nur eines bedeuten: Sie erwartet uns!«

Dicht beieinander betraten sie die Höhle. Keiner von ihnen wusste, was sie darin erwarten würde, und so tasteten sie sich langsam und mit vorsichtigen Schritten voran.

Die Höhle war gewaltig: ein riesiger schwarzer, von gleißendem Feuer erhellter Felsendom, dessen Kuppel sich so weit über ihren Köpfen spannte, dass sie seine Höhe nicht zu ermessen vermochten. Das matte Schwarz des Bodens unter ihren Füßen schimmerte rötlich im Licht des Wehlfangs, der inmitten der Höhle in pulsierenden Stößen aus der Tiefe der Erde hervorquoll und sich als glühender Fluss seinen Weg nach draußen bahnte. Hier also begann die lange Reise des geheimnisvollen flüssigen Feuers, das der Lava, die Ajana aus ihrer Welt kannte, so täuschend ähnlich war und doch um ein Vielfaches zerstörerischer wirkte.

Ajana nahm das Amulett ab und hielt es fest in der Hand. Sie war am Ziel. Bald schon würde sich entscheiden, ob sie kraft ihres Erbes dazu fähig war, die Runen anrufen, um einen Zauber zu weben, der die Magie der Hohepriesterin widerrief und ihre Verbindung zu den Feuerkriegern zu zerstören vermochte. Einen Eiszapfen vielleicht, herbeigerufen durch Isaz, den sie als Schwert oder Speer einsetzen konnte, um die magischen Bande zwischen der Priesterin und den Kriegern zu durchtrennen, oder eine eisige Starre, die jegliche Magie einfror. Inahwen hatte sie in der Bedeutung der Runen unterwiesen, aber sie war nicht so erfahren im Umgang mit der Magie wie eine Elbenpriesterin. Dennoch hatte sie Ajana hilfreiche Hinweise geben können. Ob es ausreichen würde, Vharas Magie zu vernichten, vermochte jedoch auch sie nicht zu sagen.

»Das Leben ist doch voller Überraschungen.« Der herablassende Spott in den Worten riss Ajana aus ihren Gedanken. Sie blickte sich um und erkannte Vhara, die wie aus dem Nichts nahe der Quelle des Wehlfangs auf einer Erhebung aus erstarrter Schlacke stand. Das unheimliche Licht des flüssigen Feuers warf zuckende Schatten auf ihr Gesicht und ließ sie noch unheimlicher erscheinen, während sie mit dem gestohlenen Stab der Elben in der Hand auf die fünf herabschaute. »Ihr habt euch Zeit gelassen«, stellte sie fest.

»Es kommt nicht darauf an, wie lange wir dich suchen mussten.« Wie abgesprochen traten Inahwen, Kruin, Maylea und Abbas schützend vor Ajana, die mit klopfendem Herzen versuchte, sich auf das Amulett zu konzentrieren. »Was zählt, ist, dass wir dich fanden.«

»Fanden?« Vhara lachte schallend und wie um ihre Verachtung zu unterstreichen, schossen im selben Augenblick überall aus dem Boden feurige Fontänen in die Höhe. »Glaubt ihr wirklich, dass ihr mich gefunden habt?« Sie schüttelte den Kopf. »Ihr Narren! Ich selbst habe euch hierhergeführt!«

In der Höhle war es jetzt so heiß, dass Ajana glaubte, bei jedem Atemzug vor Schmerzen aufschreien zu müssen. Die Hitze lähmte ihre Gedanken und hinderte sie daran, die Macht der Runen anzurufen.

»Warum?«, hörte sie Inahwen fragen, die Zeit gewinnen wollte. »Du hasst uns. Warum hast du uns nicht längst getötet?«

»Weil ihr etwas besitzt, nach dem es mich verlangt!«, erwiderte Vhara kühl. »Aber du hast recht, Elbin. Als Herrin über die Elemente hätte ich euch längst vernichten können.« Sie lächelte boshaft. »Erinnerst du dich an den Sandsturm, der zweien von euch das Leben kostete?«, fragte sie kalt lächelnd. »Eine kleine Spielerei, ein Zeitvertreib, um es euch nicht allzu leicht zu machen. Ihr solltet euch schließlich wie echte Sieger fühlen.« Ihre Stimme gewann an Kraft, als sie weitersprach. »Doch die Zeit der Spielchen ist nun vorbei. Von nun an gibt es keine scheinbaren Siege mehr und auch keine Gnade. Ein Zeichen von mir genügt, und diese Höhlen und Tunnel werden sich zum Bersten mit glühender Schlacke füllen. Die Glut würde eure Knochen augenblicklich zu Asche verbrennen. Ein wahrhaft kärglicher Rest, der von dem Häuflein Verblendeter übrig bliebe, die sich in gnadenloser Selbstüberschätzung dem Lauf des Schicksals widersetzten.« Siegessicher verließ sie das natürliche Podest und trat auf Inahwen zu. »Aber so weit muss es nicht kommen«, sagte sie in einem Ton, als wisse die Elbin genau, wovon sie sprach. »Nicht wahr?«

Obwohl Kruins Rücken der Hohepriesterin die Sicht versperrte, glaubte Ajana, ihren Blick auf sich zu spüren. Ihre Hände zitterten, und wieder verlor sie die Verbindung zum Amulett.

»Gib dir keine Mühe, Kindchen!«, hörte sie Vhara gelassen sagen. »Der lächerliche Elbenzauber hat hier keine Macht. Und selbst wenn, du könntest die Feuerkrieger niemals vernichten. Sie sind keine magischen Geschöpfe – sie leben und sind unsterblich! Ihnen wohnen die Seelen jener inne, deren Leben in den Fluten des Wehlfangs ein Ende fand. Einmal in die Welt entlassen, folgen sie nur mehr ihrem Instinkt, der sie dazu antreibt, immer neue Feuer zu entfachen!«

Die vier, die sich wie eine schützende Mauer vor Ajana aufgebaut hatten, wechselten betroffene Blicke. Selbst Inahwen wirkte bestürzt.

»Oh!« Vhara schlug in gespielter Betroffenheit die Hand vor den Mund. »Wusstet ihr das etwa nicht?«

»Deine Lügen machen uns keine Angst«, hörte Ajana Maylea sagen. Die Worte sollten entschlossen klingen, doch dazu fehlte es ihnen an Überzeugungskraft.

Ajana bemerkte, wie Maylea sich zu ihr umsah, als wolle sie sich vergewissern, dass Ajana erfolgreich ihre Magie wirkte, doch was sich der jungen Wunand offenbarte, war nur dazu angetan, ihre Verzweiflung weiter zu schüren.

Das Amulett lang völlig nutzlos in Ajanas Händen. Es war, wie Vhara es ihnen soeben prophezeit hatte: Die Runenmagie versagte hier kläglich.

»Seht ihr? Ihr könnt nichts gegen mich ausrichten!«, triumphierte Vhara. »Das Amulett ist nutzlos. Da das nun hinreichend geklärt ist, können wir endlich mit den Verhandlungen beginnen. Es ist ganz einfach. Ihr gebt mir das Amulett, und im Gegenzug lasse ich euch am Leben.«

»Wir verhandeln nicht mit dir«, gab ihr Inahwen ruhig zur Antwort.

»Dies ist wahrlich nicht der rechte Moment für Hochmut«, fuhr Vhara sie an. »Das Amulett ist für euch nicht mehr von Nutzen – euer Leben hingegen schon. Und selbst wenn es euch gelänge, diese Höhlen lebend zu verlassen, würde es früher oder später doch in meine Hände fallen.« Sie hob die Stimme und rief Ajana zu: »Tritt vor, ich will dir etwas zeigen!«

»Geh nicht!«, zischte Keelin Ajana zu, und Maylea warnte: »Das ist eine List.«

Ajana hörte nicht auf sie. Sie wusste, dass die Hohepriesterin mit jedem Wort recht hatte. Das Amulett war hier nicht mehr als ein schönes Schmuckstück. Die Hoffnungen, die sie alle in die Magie der Runen gesetzt hatten, würden sich niemals erfüllen.

Entschlossen zwängte sie sich zwischen Kruin und Abbas hindurch und trat vor.

»Ich wusste, dass du vernünftiger bist als dieser elende Haufen Lagarengeschmeiß«, lobte Vhara und deutete auf das Amulett. »Du hängst daran, nicht wahr?«, fragte sie gespielt verständnisvoll. »Die Runen sind der Schlüssel für den Weg zurück in deine Welt.« Ihre Stimme wurde eine Spur härter, als sie fragte: »Doch was ist ein Schlüssel ohne Schloss?« Ein boshaftes Lächeln umspielte ihre Lippen. »Ich will es dir sagen: nichts! Dieses Amulett wird dich niemals nach Hause führen, denn für den Schlüssel, der darin verborgen liegt, gibt es kein Schloss mehr.«

»Das ist nicht wahr!«, rief Inahwen erbost aus. »Hör nicht auf sie, Ajana! Der Ulvars ist …«

»Der Ulvars ist tot!« Vharas Worte waren so schneidend wie ihr Blick. »Seht, was von ihm geblieben ist!« Wie schon am Nachmittag vollführte die Hohepriesterin auch jetzt wieder eine kreisende Handbewegung und schuf erneut eine schimmernde Fläche in der Luft, auf der das schwarz verkohlte Skelett eines mächtigen Baums zu sehen war. Der dicke Stamm war dicht über dem Boden gespalten, doch beide Hälften hatten neue Kronen ausgebildet, deren verbrannte Äste nun wie dürre Finger in den Himmel ragten.

»Nein!«, hauchte Ajana erschüttert. »Das … das kann niemals wahr sein!«

»Es ist so wahr, wie ich hier vor dir stehe«, triumphierte Vhara.

»Sie lügt!« Außer sich vor Wut zog Maylea ihr Kurzschwert. »Wie kannst du es wagen, Ajana das anzutun, du verlogenes …«

»Wie kannst du es wagen, in meinem Reich eine Waffe zu ziehen!« Ein Fingerzeig von Vhara genügte, um Maylea das Kurzschwert aus der Hand zu reißen. Wie von Geisterhand getragen, wirbelte es durch die Luft und verglühte zischend im flüssigen Feuer des Wehlfangs. Maylea schrie auf und presste das Handgelenk mit schmerzverzerrtem Gesicht an sich. Ihr Blick war vernichtend und voller Hass, doch sie war klug genug, ihre Gefühle zu mäßigen, während Vhara sich wieder Ajana zuwandte. »Du siehst, das Amulett kann dir nichts mehr bieten«, sagte sie. »Aber du kannst dein Leben und das deiner Freunde hier retten, wenn du es mir gibst.« Sie streckte Ajana auffordernd die Hand entgegen.

Ajana zögerte. Der Schock über das, was Vhara ihr soeben offenbart hatte, saß zu tief, um auch nur einen klaren Gedanken fassen zu können.

»Gib es ihr nicht!«, hörte sie Keelin ausrufen. »Wenn sie es erst besitzt, wird sie uns alle töten.«

»Schweig, Bastard!« Unmittelbar neben Keelin schoss jäh eine zischende Flammensäule in die Höhe, der er nur durch ein blitzschnelles Ausweichen entging. »Wie kannst du es wagen, mich eine Lügnerin zu nennen! Es wäre mir ein Leichtes, euch alle auf der Stelle zu töten. Aber ich …«

»La … la … la.« Verblüfft hielt Vhara inne und starrte auf das winzige hellbraune Fellknäuel, das mit kleinen Sprüngen auf sie zulief.

»Ja, was haben wir denn da?«, fragte sie sichtlich entzückt.

»Komm sofort zurück!«, rief Ajana erschrocken aus. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass das Lavinci aus der Schultertasche geklettert war. Noch mehr erstaunte es sie aber, dass das Baumhörnchen nicht wie gewohnt auf ihre Schulter kletterte, sondern direkt auf die Hohepriesterin zueilte. »Komm zurück!«, rief sie noch einmal befehlend, während sie dem Lavinci hinterhersetzte. »Komm zurück!«

Das Baumhörnchen ließ sich nicht beirren. Mit einem weiten Satz überwand es die letzten Schritte und landete sanft auf Vharas ausgestreckter Hand. »Wie niedlich!« Die Hohepriesterin war so außer sich vor Entzücken, dass sie für einen Augenblick das Amulett darüber zu vergessen schien. Lächelnd hob sie das Baumhörnchen auf und schmiegte das weiche Fell sanft an ihre Wange. »Was hast du da für einen putzigen kleinen Freund«, sagte sie zu Ajana, die nur wenige Schritte von ihr entfernt innegehalten hatte und jede Bewegung von Vhara voller Sorge beobachtete. »Hat er auch einen Namen?«

»La.« Ajana antwortete, ohne zu überlegen, doch kaum hatte sie es gesagt, spürte sie, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Ohne Namen wäre La nur ein Baumhörnchen gewesen, doch die Tatsache, dass es einen Namen trug, zeugte von einer tieferen Bindung.

»La!« Vhara packte das Baumhörnchen am Nackenfell und hielt es so, dass sie es direkt vor Augen hatte. »Welch ein treffender Name.«

»Gebt es mir wieder«, bat Ajana in aufrichtiger Sorge.

»Oh?« Vhara zog in gespieltem Erstaunen eine Augenbraue in die Höhe. »Sollte es möglich sein, dass dir dieses Pelzknäuel hier mehr bedeutet als die jämmerlichen Gestalten dort?« Sie deutete mit dem Finger auf Inahwen, Kruin, Keelin, Maylea und Abbas und vollführte damit gleichzeitig eine kreisende Bewegung in der Luft. Kaum hatte sie diese vollendet, riss rings um die vier herum der Boden auf. Gleißende Flammen schossen in die Höhe und schlossen die Gefährten in einem feurigen Käfig ein.

»Wir machen ein Spiel«, bot Vhara aufgeräumt an. »Ein Freundschaftsspiel. Da du offensichtlich nicht bereit bist, mir das Amulett freiwillig zu übergeben, werde ich deine Freunde einzeln verbrennen, bis du einsichtig wirst.«

»Bleib stark, Ajana«, hörte Ajana Inahwen über das Feuer hinweg rufen. »Sie kann dir das Amulett nicht fortnehmen. Die Runenmagie wirkt nur, wenn es freiwillig hingegeben wird.«

»Freiwillig!«, spottete Vhara, während sie das Lavinci liebevoll kraulte. »Natürlich wirst du es mir freiwillig übergeben, um das Leben deiner Freunde zu retten, nicht wahr?«

»Tu es nicht, Ajana!« Mayleas Stimme gellte durch die Höhle. »Sie wird es nicht wagen …«

»Nicht wagen?« Zorn schwang in Vharas Stimme mit, ein zügelloser, hasserfüllter Zorn. »Ich werde dir beweisen, was ich wage. Ich weiß, was es bedeutet, ein Tier zu verlieren, das einem wie ein Freund ans Herz gewachsen ist. O ja, ich kenne den Schmerz, den der Tod eines Freundes mit sich bringt.« Sie sah Ajana an und fragte lauernd: »Kennst du ihn ebenfalls?« Sie streckte den Arm aus, hob das erschrocken fiepende Lavinci hoch und schleuderte es, ohne auch nur mit der Wimper zu zucken, mit einem triumphierenden Lachen mitten in den Wehlfang hinein.

»La!« Ajana glaubte, ihr bleibe das Herz stehen. Wie in Zeitlupe sah sie das geliebte Lavinci durch die Luft wirbeln und in den glühenden Fluten versinken. »La!« Das Wort kam einem verzweifelten Aufschrei gleich. Doch für das Baumhörnchen gab es keine Rettung mehr.

Ajana hatte Tränen in den Augen. Sie fühlte sich wie betäubt, doch für Trauer blieb ihr nicht die Zeit.

»Und?«, fragte Vhara scharf. »Wer soll der Nächste sein?« Prüfend ließ sie den Blick über die Gefangenen streifen und entschied: »Der junge Falkner scheint mir …«

»Nein!« Ajana machte erschrocken einen Schritt auf Vhara zu. »Nein, bitte nicht«, flehte sie. »Es sind schon zu viele gestorben.«

»Sein Leben liegt in deiner Hand«, sagte Vhara lauernd und streckte ihr fordernd die Rechte entgegen. »Gib es mir.«

Ajana zögerte. Ihr Blick ruhte auf dem Amulett. Ein letztes Mal schaute sie sich zu Inahwen um, dann fasste sie einen Entschluss. »Es sind schon zu viele gestorben«, sagte sie noch einmal und trat auf Vhara zu.

»Nein!« Mayleas Stimme gellte durch die Höhle. »Das lasse ich nicht zu!« Mit einem gewaltigen, aus purer Verzweiflung geborenen Satz durchbrach die junge Wunand die feurigen Lohen und stürmte auf Vhara zu. Ihre Haare und Kleider standen in Flammen, doch sie schien die Schmerzen nicht zu spüren. So schnell, dass der völlig überraschten Vhara keine Möglichkeit zur Gegenwehr blieb, stürmte sie auf die Hohepriesterin zu und warf sich ihr mit voller Wucht entgegen. Der Stab mit dem Mondstein entglitt Vharas Händen und fiel zu Boden, während die beiden Frauen von Mayleas Schwung noch ein paar Schritte weit getragen wurden und mit gellenden Schreien in die Fluten des Wehlfangs stürzten.

Urplötzlich trat Stille ein.

Das Feuer um die vier Gefangenen sank in sich zusammen, doch angesichts des unglaublichen Opfers, das Maylea gebracht hatte, gelang es keinem, echte Freude zu empfinden.

Vhara war fort. Ihre Macht gebrochen. Sie hätten glücklich sein müssen, aber sie waren es nicht. Zu viele waren schon gestorben.

*

»Dann war alles, wofür wir gekämpft haben, vergebens.« Keelin gab sich keine Mühe, seine tiefe Verbitterung zu verbergen. Erschöpft setzte er sich am Höhleneingang auf einen Felsen und blickte zum sternenklaren Himmel hinauf. »Artis, Tarun, Bayard und nun auch Maylea … Sie alle starben für einen Trugschluss.«

»So darfst du nicht denken.« Ajana setzte sich neben Keelin und legte ihm tröstend die Hand auf den Arm. »Sie haben all das auf sich genommen, um Nymath zu retten, und dafür gaben sie ihr Leben. Niemand konnte ahnen, dass die Feuerkrieger ihren Vernichtungsfeldzug auch ohne Vharas Magie fortsetzen können. Außerdem …« Sie blickte zu Inahwen hinüber, die nun den Stab mit der anderen Mondsteinhälfte in den Händen hielt. »… haben die Elben endlich Gaelithils Stab zurückerhalten.«

»Was nützt uns der Stab? Nymath ist verloren!« Keelin fuhr sich mit den Händen über das Gesicht.

»Vielleicht nicht«, sagte Inahwen leise. »Mir scheint, es gibt noch Hoffnung.«

»Hoffnung?« Überraschung spiegelte sich auf den Gesichtern der anderen.

»Wie meint Ihr das?«, fragte Ajana. »Die Feuerwesen können nicht getötet werden. Sie sind bereits tot. Und sie werden so lange alles niederbrennen, bis ganz Nymath ein Raub der Flammen ist.«

»Und doch gibt es etwas, das sie vernichten könnte!« Inahwen sprach gedehnt, ganz so als hätte sie ihren Gedankenfaden selbst noch nicht zu Ende gesponnen. »Die Nebel«, sagte sie. »Denkt nach! Vhara hat uns einen wichtigen Hinweis gegeben, der uns weiterhelfen kann, indem sie sagte, die Feuerkrieger seien keine seelenlosen Geschöpfe. Wenn man ihren Worten Glauben schenkt, so haben sie Besitz ergriffen von den Seelen derer, die ihr Leben im Wehlfang ließen … Die Nebel über dem Arnad könnten demnach den Feuerkriegern gefährlich werden.«

»Die Nebel!« Ajanas Miene hellte sich kurz auf, verdunkelte sich aber sogleich wieder. »Aber wie sollen sie dorthin kommen?«, fragte sie zweifelnd, während sie gedankenverloren eine Haarsträhne um ihren Finger wickelte. »Sie werden die Brandherde nicht verlassen.«

»Richtig!« Inahwen nickte. »Aber wenn es uns gelänge, sämtliche Feuer, in denen sich einer der Feuerkrieger verbirgt, zur gleichen Zeit zu löschen, wären die Geschöpfe gezwungen, sich auf die Suche nach neuen Wärmequellen zu begeben.«

»Und sie würden erneut die Gehöfte ahnungsloser Menschen niederbrennen.« Keelin schüttelte den Kopf. »Gilians heilige Feder. Das würde nur weitere Opfer bedeuten.«

»Warte!« Ajana ahnte, worauf die Elbin hinauswollte. »Wenn wir gleichzeitig an den Ufern des Arnad ein gewaltiges Feuer entfachen, ein wirklich ungeheuer großes Feuer, dessen Wärme die Feuerkrieger auch über die Berge hinweg anlockt, ein Feuer, so heiß, dass es sie mehr als alles andere danach verlangt, es zu erreichen, dann würden sie Nymath verlassen.«

»Ajana!« Keelin schüttelte den Kopf. »Das wird uns niemals gelingen. In der Steppe südlich des Arnad gibt es nicht einmal Holz für ein einfaches Lagerfeuer. Es dorthin zu schaffen würde viele Silbermonde dauern.« Er blickte Ajana an. »Und außerdem, was nützt es uns, die Feuerkrieger in die Nähe des Arnad zu locken? Gut, sie wären aus Nymath fort, doch selbst wenn wir es direkt am Flussufer aufschichteten, wäre es immer noch zu weit entfernt, um sie in die Nebel zu locken.«

»Das Feuer darf nicht am Fluss brennen – es muss über dem Fluss brennen!«, warf Inahwen ein.

»Über dem Fluss?« Ajana, Keelin, Abbas und Kruin wechselten verständnislose Blicke. »Wie stellt Ihr Euch das vor?«

Inahwen maß Ajana mit einem schwer zu deutenden Blick und sagte: »Nichts ist unmöglich, wenn man die Wege kennt, es zu bewirken.«

27

Noch in derselben Nacht brachen sie auf und wählten unter Kruins Führung den kürzesten und sichersten Weg zum Arnad. Die Talpungas waren ausgeruht und liefen so schnell nach Süden, als könnten sie es nicht erwarten, die unwirtliche vulkanische Landschaft endlich hinter sich zu lassen.

Als der Morgen graute, sandte Keelin Horus mit einer Nachricht zur Festung am Pass. Der Falke trug eine lange und sehr eindringliche Botschaft von Inahwen bei sich, in der sie Gathorion vom Tod der drei Heermeister, dem tragischen Ende der Wunandamazone und dem ungeklärten Schicksal der Hohepriesterin berichtete. Sie schrieb ihm von ihrem Plan zur Vernichtung der Feuerkrieger und gab Anweisung, dass am Abend des zweiten Sonnenbogens, nachdem er die Botschaft erhalten habe, alle Feuer unverzüglich zu löschen seien.

»Ich hoffe, er kommt durch«, meinte Abbas, während er dem Falken mit sorgenvoller Miene nachschaute.

»Sei unbesorgt«, erwiderte Kruin zuversichtlich. »So nahe am Wehlfang trifft man nur äußerst selten auf jagende Lagaren. Ihr Revier liegt mehr als einen Sonnenbogen weiter im Osten, dort wo auch die Talpungaherden zu Hause sind.« Obwohl die Worte Abbas galten, atmete auch Ajana erleichtert auf. Schon bei ihrem ersten Ritt durch die Wüste hatte sie den Himmel immer wieder besorgt nach Anzeichen der gefürchteten Flugechsen abgesucht, und es tat gut zu hören, dass sie die Nähe des Wehlfangs mieden.

Tatsächlich kamen sie erstaunlich gut voran. Die Sonne meinte es gut mit ihnen und verbarg sich hinter einem hohen Wolkenschleier, der die Hitze erträglich hielt. Als sie ihren höchsten Stand erreichte, gönnten sie den Talpungas eine kurze Rast und sich selbst einen ebensolchen Schlaf, um dann zeitig wieder aufzubrechen und den Weg fortzusetzen.

Die Dunkelheit zog herauf, und Ajana bemerkte, wie unruhig und besorgt Keelin wirkte. Sie führte ihren Talpunga an die Seite seines Reittiers und fragte: »Was bedrückt dich?«

»Horus sendet mir Bilder vom Pandaras«, antwortete Keelin. »Er ist bereits nahe der Festung, doch das Licht schwindet immer schneller, und es ist gefährlich für ihn, im Dunkeln zu fliegen.«

»Sprich ihm Mut zu!« Ajana sah ihren Freund eindringlich an. »Die Botschaft duldet keinen Aufschub. Wenn er die Festung heute Abend nicht mehr erreicht, verlieren wir noch einen ganzen Tag!«

»Er kreist über den Bergen … So viel Schnee!« Obwohl es noch immer sehr warm war, bemerkte Ajana, dass Keelin fröstelte. Offenbar war er in Gedanken nach wie vor mit dem Falken verbunden und fühlte wie er die eisige Kälte des winterlichen Hochgebirges. »Er kann die Festung nicht sehen«, hörte sie Keelin in diesem Augenblick sagen. »… die Feuer! Gilians heilige Feder, sie haben die Wachfeuer gelöscht.«

»Vermutlich haben sie alle Feuer gelöscht, damit die Feuerkrieger nicht zur Festung gelockt werden.« Inahwen war zu Ajana und Keelin aufgeschlossen. »Eine kluge Entscheidung«, sagte sie und fügte hinzu: »Aber mitten im Winter ist es sicher nicht sehr angenehm für die Krieger dort.«

»Wird Horus die Festung im Dunkeln denn finden?«, fragte Ajana besorgt.

»Die schneebedeckten Berge sind in der Nacht nicht ganz so dunkel wie der nackte Fels«, meinte Inahwen, als Keelin nicht antwortete. »Sicher wird er den Weg auch an den vertrauten Formen der Gipfel erkennen.«

Ajana nickte stumm. Zu gern wollte sie den Worten der Elbin Glauben schenken, doch es dauerte noch endlose Minuten, ehe sie Keelin endlich erleichtert sagen hörte: »Das Falkenhaus! Gilian sei Dank, er hat es geschafft!«

Die Nacht flog unter den Hufen der Talpungas dahin. Ein neuer Morgen graute, und die sengende Hitze, die der Dämmerung folgte, bescherte den müden Reitern eine weitere Rast, während die Sonne den Zenit überschritt. Den folgenden Abend und die Nacht verbrachten sie wieder zwischen den Höckern der Talpungas sitzend, die unermüdlich nach Süden strebten.

Ajana hatte das Gefühl, sich niemals in ihrem Leben auf eine andere Weise fortbewegt zu haben. Obwohl sie den Umhang und die Decke als Polster über den Rücken des Talpungas gelegt hatte, litt sie inzwischen unter den Scheuerstellen, die bei jeder Bewegung schmerzten. Und sie war müde. Todmüde. Immer wieder fielen ihr die Augen zu, und immer öfter glitt sie in einen kurzen, traumlosen Schlummer. Um sich wach zu halten, sah sie sich im Mondschein um, doch die Wüste mit ihren endlosen Sanddünen bot ihr immer wieder nur das gleiche, eintönige Bild, bis plötzlich …

Ajana erschrak. Da war etwas!

Ein Schatten?

Sie blinzelte. Ihre Müdigkeit war wie weggeblasen.

Tatsächlich! Für den Bruchteil eines Augenblicks fiel ihr Blick auf eine schemenhafte Gestalt, die die Gruppe vom Kamm einer Sanddüne aus zu beobachten schien. Doch schon einen Wimpernschlag später war sie verschwunden.

Ajanas Herz raste. Sie hatte die Gestalt nur ganz kurz wahrgenommen, hatte aber das vage Gefühl, ihr schon einmal begegnet zu sein. Der Mann mit dem großen Hut und dem schwarzen Umhang! Der geheimnisvolle Fremde, den sie damals am Bahnübergang und auch in der Festung am Pass gesehen hatte!

War das möglich? Oder spielten ihr die müden und überreizten Sinne einen üblen Streich? Ajana starrte so lange auf die Düne, bis sie hinter ihr zurückblieb, doch die Gestalt zeigte sich nicht mehr.

»Das ist wohl alles ein bisschen zu viel für mich«, murmelte sie leise vor sich ihn, wohl wissend, dass sie der Wahrheit damit sehr nahe kam. Sie war keine Abenteurerin und schon gar keine Heldin. Sie war einfach nur Ajana, nicht mehr und nicht weniger. Und wenngleich in ihren Adern ein winziger Anteil elbischen Blutes floss, so hatte auch ihre Belastbarkeit Grenzen – und diese Grenzen waren so gut wie erreicht. »Wie weit ist es noch?«, rief sie Kruin zu, der vor ihr ritt.

»Seht Ihr das feurige Leuchten?« Der Uzoma deutete nach Westen, wo der Himmel jede Nacht im glühenden Rot des Wehlfangs erstrahlte, und fuhr ohne eine Antwort abzuwarten fort: »Dort hinten am Horizont, wo die Linie unterbrochen ist, stürzt der Arnad in den Wehlfang. Es ist nicht mehr weit. Wenn die Sonne aufgeht, haben wir den Fluss erreicht.«

Kruin behielt wiederum recht. Als es dämmerte, wich die monotone Wüstenlandschaft allmählich jener von Sand und Geröllmassen bedeckten Steppe, die Ajana schon von den südlichen Ufern des Flusses her kannte.

Sie reckte sich, um besser sehen zu können – und wirklich: Im ersten Licht des Morgens entdeckte sie am Horizont die milchig weiße Linie des Nebels – jener tödlichen Magie, die sie geschaffen hatte und die unerschütterlich über den Fluten des Arnad stehen würde, bis … Sie wagte es nicht, den Gedanken zu Ende zu führen.

Später, ermahnte sie sich im Stillen, dafür ist später noch Zeit genug. Zunächst gilt es, die Feuerwesen zu vernichten.

*

Die Krieger waren erschöpft.

Die Kleidung und die Gesichter der Männer und Frauen, die auf den niedergebrannten Gehöften seit geraumer Zeit unermüdlich ihren Dienst verrichteten, waren rußgeschwärzt, die Mienen von der harten Arbeit und dem fortwährenden Mangel an Schlaf gezeichnet. Viele von ihnen hatten Verletzungen erlitten und waren von Brandwunden entstellt, doch aufgegeben hatten sie nicht.

Beharrlich hatten sie in den nahen Wäldern Holz geschlagen und Astwerk und Stämme herbeigeschafft, um das Feuer am Brennen zu halten. Als die Wege zu weit wurden, hatten sie damit begonnen, auch die unversehrten Schuppen und Scheunen der Gehöfte Stück um Stück abzutragen und zu verbrennen, bis nichts mehr an sie erinnerte.

Der Boden rings um die Brandherde war inzwischen kniehoch mit flockiger Asche bedeckt, der Wald in einem erschreckend weiten Umkreis gerodet.

Wo sich vor Kurzem noch ein von Leben erfülltes Gehöft mit Ställen, Scheunen und einem Wohnhaus erhoben hatte, war nichts geblieben außer verbrannter Erde.

Der Anblick stimmte Kelda traurig. Die Zerstörung war vollkommen. Wer immer diesen Ort einmal sein Heim genannt hatte, stand vor dem Nichts – vermutlich war es sogar noch weniger. Aber die Herdmeisterin verspürte nicht nur Trauer, sie verspürte auch einen großen Stolz auf die Krieger, die so wacker durchgehalten hatten. Ihnen allein war es zu verdanken, dass die Gefahr, die von den geheimnisvollen Feuerkriegern ausging, im Zaum gehalten werden konnte und den Bewohnern Nymaths eine verheerende Katastrophe erspart blieb.

Umso unverständlicher war es der Herdmeisterin, dass das Feuer am Abend gelöscht werden sollte. Wie, in Asnars Namen, kam Gathorion auf einen solch absurden Gedanken? Wenn die Krieger das Feuer löschten, würde sich das Wesen, das darin schlummerte, erneut aus der Asche erheben und sich auf die Suche nach einem neuen Herdfeuer machen, dessen Haus es zerstören konnte. Dann wäre alles vergebens, was die Krieger hier geleistet hatten.

Kelda seufzte. Was war das nur für ein unsinniger Befehl, den ein Falke am vergangenen Abend gebracht hatte? Was glaubten die Heermeister dadurch zu gewinnen?

Diese und andere Fragen gingen ihr durch den Kopf, während sie die Krieger beobachtete. Die Männer und Frauen hatten das Holzschlagen im Morgengrauen eingestellt und damit begonnen, unzählige Kübel mit Wasser zu füllen. Als auch diese Arbeit getan war, hatten sie sich bei einsetzendem Schneefall einen trockenen Platz in der Nähe der warmen Feuerstelle gesucht. Sie aßen, tranken oder unterhielten sich leise miteinander, während sie auf den Abend warteten, um Gathorions Befehl auszuführen.

*

»Bist du bereit?« Inahwen blickte Ajana aufmerksam an.

Ajana nickte ernst. Ihr Herz klopfte so laut, dass sie glaubte, ein jeder um sie herum könne es hören. Mit dem Amulett in den Händen stand sie im verlöschenden Licht des Tages am Ufer des Arnad und betete darum, dass ihr gelingen möge, was sie mit Inahwen den ganzen Nachmittag über in ausführlichen Gesprächen ersonnen hatte.

Mithilfe der Runen im Amulett wollte sie versuchen, in den Nebeln die Illusion eines so gewaltigen Feuers zu erschaffen, dass es die Feuerkrieger von weither anlocken würde. Es war ein verzweifelter Versuch. Nachdem die Magie der Runen im Herzen des Wnutu versagt hatte, plagten Ajana heftige Zweifel, ob ihr das Vorhaben hier gelingen würde. Alle wussten, dass es die einzige Möglichkeit war, den unsterblichen Geschöpfen die Seelen zu rauben, aber die Zeit drängte, und sie hatte nur einen einzigen Versuch.

Am Nachmittag war Horus mit der Botschaft zurückgekehrt, dass alles vorbereitet sei. Mit Anbruch der Nacht würden die mehr als zwei Dutzend Feuer in Nymath gelöscht sein. Dann – und das stand außer Frage – würden sich die Feuerkrieger aus der erkaltenden Asche erheben und sich auf die Suche nach neuen, wärmenden Feuerstätten begeben. Wenn es ihr bis dahin nicht gelang, die Illusion zu erschaffen, würden sich die Brände unweigerlich in Nymath ausbreiten und verheerende Schäden anrichten.

Ein letztes Mal betrachtete Ajana die Runen des Amuletts. Diesmal hatte sie kein Lied, das die Magie begleiten würde, und sie konnte auch nicht auf Gaelithils Hilfe bauen. Den Zauber, den sie weben wollte, hatte es zuvor nie gegeben. Das Amulett und die Macht der Runen mussten von ihr selbst zum Leben erweckt werden. Nur wenn sie dies vollbrachte, würde auch die Illusion gelingen.

Ein rascher Seitenblick zeigte Ajana, dass die Sonne den Horizont schon fast berührte. Ihr blieb nicht mehr viel Zeit …

Ein letztes Mal atmete sie tief ein, schloss die Augen und berührte die erste Rune.

Dagaz …

Eine Zeit lang spürte sie nichts. Dann aber sah sie ein kleines Licht. »Das Licht leitet die Magie ein und öffnet den magischen Zyklus«, hörte sie Inahwens Worte. »Du kannst es nur mit tiefer innerer Überzeugung erwecken.«

Und wie von selbst formten sich in ihren Gedanken jene Worte, die sie auch schon während des Nebelzaubers gehört hatte:

Verliere das Ziel nicht aus den Augen!

Das Ziel!

Feuer!

Das Licht veränderte seine Farbe zu einem tiefen Rot.

Es wurde größer und schwoll an, öffnete sich wie eine Blume, aus der ein gewaltiges feuriges Abendrot erwuchs.

Ajana glitt durch das Licht dahin und ließ sich von der Magie führen. Eine Schlucht öffnete sich, ein schwarzer, bodenloser Abgrund, auf dessen Boden ein Fluss aus Feuer die Dunkelheit erhellte.

Ein Fluss aus Feuer!

Dieses Bild war das Ziel, und sie hielt es fest, während ihre suchenden Finger die zweite Rune ertasteten.

Algiz …

Ajana keuchte auf, aber sie kannte die Empfindungen, die diese Rune bei ihr auslöste, und ihre Angst schwand.

Sie tauchte hinab in die Schlucht und strebte auf den brennenden Fluss zu. Bald spürte sie den heißen Wind, der von den Fluten aufstieg, sie umtoste und alle störenden Gefühle hinwegfegte, als wären sie unnötiger Ballast, der ihr den Weg zur Vollendung der Magie erschwerte.

Erkenne dich selbst!

Sie nahm den heißen Wind in sich auf und rief sich das Bild eines brennenden Waldes in Erinnerung.

Eine wohlige Wärme hüllte sie ein, beschützend und stärkend. Sie fühlte, wie ihr uraltes Erbe sich entfaltete, und wehrte sich nicht. Als sie wusste, dass sie das Ziel erreichen konnte, machte sie sich bereit.

Mannaz …

Wie von selbst wanderten ihre Finger zur nächsten Rune. Ich bin die Erbin Gaelithils, Trägerin des Runenamuletts, Bewahrerin der Nebel und die Retterin Nymaths.

Tiefe Dunkelheit umschloss sie, als ihr Geist das Reich der Ahnen betrat. Würden jene, die vor ihr waren, ihr Bestreben gutheißen? Würden sie, die das Wissen um die klare, ungetrübte Magie hüteten, ihr den Weg bereiten?

Oder würde ihre Reise hier ein jähes Ende finden?

In der Dunkelheit formte sich ein Gesicht, und sie erkannte das Antlitz Gaelithils, der Schöpferin des Runenamuletts – ihre elbische Ahnin. Gaelithils Lippen bewegten sich. »Tol enni jell – Komm zu mir, Tochter.« Die vertrauten Worte streiften Ajana wie eine Liebkosung, und wie von selbst formte sie in Gedanken die Antwort: »Naneth – Mutter.«

Gaelithil lächelte, und das Antlitz verblasste, doch Ajana wusste, dass sie die Zustimmung der Ahnen erhalten hatte. Sie war nicht mehr allein.

Isaz …

Kaum, dass ihr Finger die Eisrune berührte, wurde Ajana von einer eisigen Kälte ergriffen. Die Wärme, die sie eben noch erfüllt hatte, wich schlagartig und zog sich weit in ihr Inneres zurück.

Ajana schrie vor Schmerz und krümmte sich zusammen. Der eisige Hauch der Rune drohte das verzehrende Feuer in ihr zu löschen, doch Ajana gab nicht auf und kämpfte dagegen an.

Das Bild des brennenden Waldes fest vor Augen, verwendete sie ihre ganze Kraft darauf, den Zauber weiter zu vollenden. Sie musste eine Brücke schaffen, um das Bild aus ihrer Welt zu lösen und nach Nymath zu tragen.

Es war eine Gratwanderung zwischen Feuer und Eis. Das gefährlichste Stück der Reise … Nur zögerlich formte sich vor ihr eine glänzende Bücke aus purem Eis, die die beiden Welten schließlich miteinander verband.

Das Feuer wie einen Schatz hütend, glitt Ajana hinüber und nahm die Stärke des Eises in sich auf, ehe sie ihren Finger zitternd auf die fünfte Rune führte.

Wunjo …

Das Bild des Feuers hatte Isaz unbeschadet überstanden.

Alles war gut, alles war richtig.

Das gewaltige Feuer, dessen sie sich erinnerte, war nun Bestandteil ihrer selbst und fest in Nymath verankert. Es brannte heller als zuvor und schenkte ihr neben der Wärme auch Zuversicht. Sie fühlte sich stark, war eins mit sich und voller Zuversicht und Selbstvertrauen.

In einer Welt aus Feuer und Schatten, in der Wahrheiten und Gefühle keinen Bestand mehr hatten, in der die Vergangenheit so nah und die Gegenwart unendlich fern erschien, formte sie das Feuer zu einem täuschend echten Bild, verband es mit der Hitze des feurigen Stroms und fügte hinzu, was ein Feuer ausmachte.

Fast widerwillig löste sie sich von der Rune, obwohl sie wünschte, sie könne ewig verweilen in nie gekannter Geborgenheit und innerer Harmonie.

Gebo …

Das Bild, das Ajana in sich trug, schwoll weiter an und wurde zu einer gewaltigen Feuersbrunst, die alles in den Schatten stellte, was sie bisher gesehen hatte. Das Feuer war wild, zerstörerisch und alles verschlingend. Ajana spürte die verzehrende Hitze der Flammen und nahm sie in sich auf, während sie spürte, wie die Macht in ihr weiter anschwoll.

Das Tosen der Flammen hatte sie gepackt und in ihr das heiße Verlangen entzündet, es in die Nebel hinaus und hin zu dem Ziel zu tragen, das sie in der folgenden Rune fand.

Laguz …

Die siebente Rune öffnete das Tor zu ihrem Unterbewusstsein, wies ihr den Weg zu verborgenen Kräften und vollendete, was sie angerufen hatte. Sie öffnete ihre Seele, entließ das allgewaltige Feuer in die Freiheit und verband es fest mit den Nebeln.

Brenne!

Während Ajana die in ihr aufgestauten Bilder und Empfindungen in die Nebel entließ, ging das stete Rauschen des Arnad allmählich in das Knistern und Knacken von Hölzern, das Fauchen von Lohen und Zischen eines unbändigen Feuers über, in dem die Feuchtigkeit verdampfte.

Dann war es vollbracht. Das Feuer, das in ihr gebrannt hatte, war fort. Was blieb, waren, neben dem Gefühl schwindender Macht, eine tiefe Erschöpfung und der Wunsch, sich endlich auszuruhen.

*

Wasser!

Kälte!

Das Wesen aus Glut und Asche, das in der Hitze des brennenden Hauses ein feuriges Heim gefunden hatte, erschauerte und kauerte sich zusammen. Doch der nächste eisige Wasserschwall ließ nicht lange auf sich warten, und wie die vorangegangenen nahm auch er wieder etwas mehr von der wohligen Hitze fort und löschte die kostbare Glut.

Die Glut! Das Wesen heulte innerlich auf, als füge ihm jemand Schmerzen zu. Doch es gab niemanden, der den gequälten Aufschrei hätte hören können, denn das Wesen war stumm.

Und so fuhren jene, die das Feuer so lange geschürt hatten, weiter fort, die Flammen mit eisigem Wasser zu löschen. Kübel um Kübel entleerte sich, und die Hitze, nach der sich das Wesen so sehr verzehrte, schwand immer schneller dahin.

Wie ein verängstigtes Burakijunges drängte es sich immer tiefer in die Mitte der Feuerstelle hinein.

Doch nirgends war die Wärme von Dauer. In immer kürzeren Abständen ergoss sich das Wasser auf die Asche, und der Rauch des erlöschenden Feuers hing wie ein stinkender Nebel über der gerodeten Fläche rund um das niedergebrannte Gehöft.

Brennen!

Als die letzte Glut erlosch, kehrte der Hunger zurück.

Ein jäh aufkommender Wind trieb die Rauchschwaden fort.

Das Feuerwesen zögerte nicht. Zu einer grau-schwarzen Kugel zusammengerollt, löste es sich aus der Asche und rollte, vom Wind getrieben und von der Dunkelheit verborgen, unbemerkt davon.

Wärme! Glut!

Kaum hatte es das Feuer verlassen, nahm es wie ein Tier erneut die Witterung eines Feuers auf. Eines gewaltigen Feuers, das jenseits der Berge so mächtig loderte, dass das Wesen die Aura selbst über die weite Entfernung hinweg spüren konnte.

Die Aura des Infernos weckte ein unbändiges Verlangen in dem Wesen. Es musste das Feuer erreichen. Dabei spielte es keine Rolle, wie weit es entfernt war. Es war wie ein Zwang, wie eine Sucht. Das Wesen hatte nur noch einen Gedanken: Es musste dorthin.