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Monika Felten

Das Erbe der Runen

Band 3:
Die Schattenweberin

Roman

hockebooks

24

»Es sind zu viele, das schaffen wir nicht!« Verzweiflung schwang in Kalocs Stimme mit. Zusammen mit Jarmil und einigen anderen Streitern hatte er sich einer schier erdrückenden Übermacht von Tempelkriegern zu erwehren, die von allen Seiten auf sie eindrangen und den Kreis immer enger um sie zogen.

»Wir dürfen nicht aufgeben!« Jarmil keuchte, Schweiß rann ihm über die Stirn. Er hatte ein Schwert erbeutet und parierte geschickt einen Speerstoß. »Haltet durch. Die Nuur können nicht mehr weit sein.«

»Wenn sie nicht bald kommen, ist es zu spät.« Kaloc tänzelte einen Schritt zur Seite, als der Krieger neben ihm von einem Pfeil tödlich getroffen zusammenbrach. »Callugar stehe uns bei«, entfuhr es ihm. »Wenn das so weitergeht, werden wir nicht mehr lange standhalten.«

»Kämpft!« Jarmil verstärkte seine Anstrengungen noch einmal. Obwohl er am Ende seiner Kräfte war, hieb er unermüdlich auf die Tempelkrieger ein und gab den anderen ein Beispiel. Kaloc sprang ihm zu Hilfe – und wirklich: Wie durch ein Wunder gelang es ihnen, eine Bresche in den erdrückenden Ring aus Tempelkriegern zu schlagen und der tödlichen Falle zu entkommen.

Mehr als ein kurzer Augenblick des Aufatmens war ihnen jedoch nicht vergönnt. Auch außerhalb des Kessels wüteten erbitterte Kämpfe. Tote und Verwundete lagen zu Hunderten auf der Erde und ihr Blut machte den Boden schlüpfrig.

Jarmil erhaschte einen Blick auf die Felis, die vor dem Gerüst am Boden lag. Die Fesseln hatte man ihr gelöst, aber sie trug noch immer den Sack über dem Kopf. Offenbar hatte es niemand gewagt, ihn zu entfernen. Sie musste sehr schwach sein, denn sie bewegte sich kaum. Die Streiter hatten einen dichten Ring um sie gebildet und verteidigten sie mit ihrem Leben, aber sie wurden immer heftiger bedrängt.

»Komm!« Jarmil packte Kaloc am Arm. »Zur Felis!«, rief er ihm zu und zerrte ihn die ersten Schritte mit sich in Richtung des Holzgerüsts. Er wusste nicht, ob die Felis ihnen helfen konnte, aber er betete im Stillen darum und war entschlossen, es zu versuchen.

Am Ende des Platzes marschierten weitere Einheiten der Tempelgarde auf.

So viele! Jarmil fühlte, wie die Verzweiflung ihn zu überwältigen drohte. Hatten sie sich wirklich so sehr getäuscht? Oder hatte man ihnen absichtlich falsche Zahlen über die Truppenstärke der Tempelgarde zukommen lassen? Ajabani waren noch keine zu sehen, doch die ungeheure Menge an Tempelkriegern, die hier in kürzester Zeit zusammengezogen wurden, ließ darauf schließen, dass die Priesterinnen auf einen Aufstand vorbereitet waren.

»Unsere Getreuen sterben immer schneller!« Auch Kaloc hatte die Lage erfasst. »Wenn die Nuur und die Felis nicht bald …«

»Sie werden kommen!« Jarmil blieb unerschütterlich. Es stand schlecht um seine Leute, aber noch war die Schlacht nicht verloren. Mit wenigen Schritten erreichte er die Felis, kniete neben ihr nieder und machte sich daran, das Band zu öffnen, das den Sack über ihrem Kopf am Hals verschloss.

»Kannst du mich verstehen?«, fragte er.

Der Schwanz der Felis zuckte.

Jarmil nahm es als Antwort. »Du musst uns helfen«, flehte er sie an. »Du musst deine Magie gegen die Tempelkrieger einsetzen, sonst sind wir verloren.«

Der Schwanz zuckte erneut.

»Gut. Ich nehme jetzt den Sack fort.« Jarmil zog an dem Stoff und blickte beiseite.

Hilf … mir! Die Worte erreichten sein Bewusstsein, ohne dass jemand gesprochen hatte. Hilf … mir auf.

Jarmil verstand. Ohne zu zögern hob er die Felis auf, legte ihren Arm so um seine Schultern, dass sie stehen konnte, und winkte Kaloc herbei, damit auch er sie stützte.

»Die Felis!« Ein Aufschrei lief durch die Menge, als die Ersten die Katzenfrau erblickten.

»Die Tempelkrieger sind in der Überzahl«, raunte Jarmil der Felis zu. »Hilf uns.«

Die Felis antworte nicht. Aber sie schien ihn verstanden zu haben. Jarmil spürte ein leichtes Vibrieren, das den Körper der Katzenfrau erfasste. Sie versteifte sich und aus ihrer Kehle drang ein leises Knurren. Was genau sie tat, blieb Jarmil verborgen. Das Ergebnis jedoch war überwältigend.

Dutzende Tempelkrieger vor ihnen schrien nahezu gleichzeitig auf, ließen die Waffen fallen und schlugen die Hände vors Gesicht. Einige sanken zu Boden, andere irrten mit ausgestreckten Armen wie blind umher. Die Rebellen zögerten nicht. Die wenigen Augenblicke der Blindheit genügten ihnen, um den verhassten Tempelkriegern endgültig den Garaus zu machen.

Jubel brandete auf, doch er war nur von kurzer Dauer. Als der letzte wehrlose Krieger getötet war, verließen auch die Felis die Kräfte. Wie eine Fadenpuppe, deren Schnüre durchtrennt wurden, erschlaffte sie.

»Wir müssen sie an einen sicheren Ort bringen!«, rief Kaloc Jarmil zu. »Schnell!«

Einen sicheren Ort! Jarmil lachte innerlich auf. Wo sollten sie einen solchen finden? Im Umkreis von mehreren Hundert Schritten wurde erbittert gekämpft. Selbst auf der Empore lieferten sich die Kämpfer schon heftige Zweikämpfe. Offenbar hatten sich die Priesterinnen von dort zurückgezogen. Von den Ajabani fehlte immer noch jede Spur.

Jarmil seufzte. Einen sicheren Ort gab es nicht.

»Die Nuur! Die Nuur kommen!« Eine Frau stieß einen Jubelschrei aus und deutete auf den fernen Waldrand, wo sich eine Reihe dunkler Gestalten aus den Schatten lösten.

Djakûn!

Jarmil spürte, wie sich der Ring der Verzweiflung löste, der sich um seine Brust gelegt hatte. Wenn jetzt noch …

Nahe der Empore erklangen Schreie, die selbst das Schlachtgetümmel übertönten.

»Sie sind da!« Kaloc strahlte über das ganze Gesicht. »Sie sind wirklich gekommen!«

Jarmil reckte sich und erkannte eine Gruppe von fünf Felis, die die Empore erklommen hatten. Mit starrem Blick aus ihren gelben Katzenaugen fixierten sie die Kämpfenden und woben ihre machtvollen magischen Schatten unter den Kriegern der Tempelgarde. Den meisten erging es nicht besser als zuvor ihren Kameraden. Dunkelheit legte sich über ihre Augen und machte sie blind.

Die Rebellen zögerten nicht, diesen Vorteil für sich zu nutzen.

Binnen weniger Herzschläge wurde aus der verloren geglaubten Schlacht ein blutiges Gemetzel. Wut, Hass und Rachegelüste, aufgestaut in Jahrhunderten der Knechtschaft, Verzweiflung und Tyrannei, entluden sich in einem barbarischen Blutrausch, der selbst vor den Priesterinnen nicht Halt machte, die in Richtung des Haupttempels zu fliehen versuchten.

Die entfesselte Menge kannte keine Gnade. Wie von Sinnen hackten und hieben sie selbst auf jene ein, die schon verwundet am Boden lagen. Schreie gellten über den Platz und Ströme von Blut färbten das Erdreich rot.

»Wir siegen!« Kalocs Augen leuchteten vor Begeisterung. »Sieh nur, wir siegen, Jarmil.«

»Ja, wir siegen«, erwiderte Jarmil tonlos. »Aber bei den Göttern, um welchen Preis?«

*

»Ein Giftpfeil.« Mit spitzen Fingern löste Inahwen eine kleine gefiederte Kaktusspitze von Keelins Hals, deren Widerhaken sich in der Haut verfangen hatten.

Mit der Kraft der Runenmagie war es ihnen gelungen, Keelin unbehelligt aus dem Schlachtengetümmel herauszutragen und an einem sicheren Platz auf der anderen Seite des Götterbaums ins weiche Gras zu betten. Sein Gesicht war kreidebleich, der Körper schwach.

»Gift?«, rief Ajana erschrocken aus. »Aber wer …?«

»Vermutlich dieselben, die auch diesen Aufstand geplant haben«, beantwortete Inahwen ihr die Frage, noch bevor sie diese aussprechen konnte.

»Aber er hat doch niemandem etwas getan!« Ajana war außer sich. »Er hat den Henker getötet. Das bedeutet, dass er der Katzenfrau helfen wollte.«

»Das haben sie wohl nicht verstanden.« Inahwen seufzte. »Es bringt uns nicht weiter, darüber nachzusinnen, wie es dazu kam«, sagte sie mit ernster Miene. »Wir müssen ihm helfen.«

»Aber wie?« Ajana blickte die Elbin mit großen Augen an. »Wie viel Zeit bleibt uns noch?« Inahwen antwortete nicht sofort. Sie kniete nieder, legte die Hand auf Keelins schweißnasse Stirn und schloss die Augen.

»Er kämpft!«, sagte sie mit so angespannter Stimme, als sei sie selbst Teil dieses Kampfes. »Er will leben.«

»Was können wir tun?« Ajanas Stimme bebte. Sie rang mit den Tränen.

»Ich kann ihm geben, was ich an Kräften besitze«, erwiderte Inahwen. »Es wird ihm helfen, gegen das Gift anzukämpfen, wenn seine Kraft schwindet. Ob es genügt, das Gift aufzuhalten, vermag ich nicht zu sagen.«

»Bitte!« Ajana faltete in stummer Verzweiflung die Hände. »Bitte versucht es. Er darf nicht sterben.«

»Ja, versucht es, Inahwen«, meldete sich nun auch Aileys zu Wort. »Ajana wird den Schutz der Runen aufrecht halten, so lange es nötig ist. Ihr könnt ungestört wirken.«

»Ja, das werde ich.« Ajana nickte ernst. Das Runenamulett lag warm und vertraut in ihrer Hand. Solange sie Algiz anrief, konnte nichts die schützende Hülle durchbrechen, die sie um sich und ihre Gefährten gewoben hatte.

»Ich werde für ihn tun, was in meiner Macht steht.« Inahwen nickte und reichte Ajana den Elbenstab. Die freie Hand legte sie auf Keelins Stirn, die andere auf sein Herz. Noch einmal atmete sie durch. Dann schloss sie die Augen und versank in tiefer Trance.

Hin- und hergerissen zwischen Hoffen und Bangen, beobachtete Ajana Inahwens stummes Wirken und betete im Stillen darum, dass ihr Erfolg beschieden sein möge.

Über ihr in den Zweigen des Götterbaums raschelte es.

Horus war gekommen und beäugte mit kummervollem Blick, was Inahwen tat. Immer wieder versuchte er, zu Keelin zu gelangen, aber die Runenmagie machte keinen Unterschied zwischen Freund und Feind, und so gelang es ihm nicht, die magische Hülle zu durchbrechen.

»Ach, Horus!« Auch Aileys hatte den Falken bemerkt. »Du kannst jetzt nicht zu ihm.«

»Vielleicht ist es ein Fehler, ihm den Weg zu Keelin zu versperren«, überlegte Ajana laut. Sie fühlte sich sterbenselend und war bereit, jede Hilfe anzunehmen, und sei sie noch so gering. Horus war Keelin näher als jeder andere von ihnen – vielleicht konnte er ihm helfen.

»Was tut Ihr da?« Entsetzt beobachtete Aileys, wie Ajana die Finger vom Amulett löste, um den Fluss der Magie zu unterbrechen. »Das dürft Ihr nicht. Wir haben Inahwen versprochen …«

»Keine Sorge, es ist nur ganz kurz«, beeilte sich Ajana zu erklären. »Gerade so lange, dass Horus hindurchfliegen kann. Danach errichte ich die schützende Hülle wieder.«

Der Blick, mit dem Aileys sie musterte, war voller Unbehagen. »Ihr glaubt, dass Horus ihm helfen kann?«, fragte sie.

»Ich weiß es nicht, aber ich hoffe es.« Unsicherheit schwang in Ajanas Stimme mit. »Wenn er stirbt, würde ich mir nie verzeihen, es nicht wenigstens versucht zu haben.«

»Ich verstehe.« Aileys nickte.

Unter den Kämpfenden brach Jubel aus, aber Ajana achtete nicht darauf. Stück für Stück öffnete sie den schützenden Ring der Magie und hoffte gleichzeitig, dass Horus es spüren würde.

Komm! – lockte sie ihn in Gedanken. Komm, der Weg ist frei!

Der Falke zögerte. Zu oft schon war er an der magischen Hülle gescheitert und traute sich offenbar nicht, es noch einmal zu versuchen.

Komm!

Endlich stieß Horus sich von dem Ast ab und landete neben Keelin auf der Erde. Aller Augen waren nun auf ihn gerichtet. Er hatte den Falkner fast erreicht, als Inahwen plötzlich aufkeuchte und besinnungslos zusammenbrach.

»Inahwen!« Ajana wollte ihr zu Hilfe eilen, aber eine schneidende Stimme hielt sie zurück.

»Wie zuvorkommend von dir, dass du diese lästige Magie aufgehoben hast.«

Ajana zuckte zusammen, fuhr herum – und blickte auf eine Reihe blitzender Speerspitzen, die die Krieger der Tempelgarde auf sie richteten. Dahinter stand …

»Vhara!«

»Ich hätte nicht gedacht, dass du mich noch erkennst, nach so langer Zeit.« Die Hohepriesterin lächelte spöttisch. »Ich gebe zu, ich war nicht ganz so aufmerksam.« Sie deutete auf Keelin. »Ich wusste, dass ich ihn irgendwo schon einmal gesehen hatte, aber hier in Andaurien hätte ich ihn – und dich – nie vermutet.«

»Nicht?« Ajana spürte, wie die Wut als heiße Woge in ihr aufstieg. Sie stand kurz davor, alles zu verlieren, und gab sich kämpferisch. »Spiel nicht die Unschuldige«, herrschte sie Vhara an. »Du hast mich doch selbst hierhergelockt! Du hast den Ulvars vernichtet, damit ich zum Götterbaum komme, weil du wusstest, dass er der einzige Ort ist, an dem ich noch in meine Welt zurückkehren kann.«

»So? Ist er das? Wie aufschlussreich.« Die Hohepriesterin zog erstaunt eine Augenbraue in die Höhe. »Es ehrt mich, dass du mir den Tod des heiligen Baums der Elben zuschreibst, aber ich muss dich leider enttäuschen. Damit habe ich nichts zu tun.«

»Nicht?« Etwas im Tonfall der Hohepriesterin machte Ajana stutzig. Kann es sein, dass sie die Wahrheit gesagt hat? – überlegte sie, und eine leise Stimme flüsterte ihr zu, dass sie gerade eine große Dummheit begangen hatte, wenn dem so war.

»Nein. Aber ich danke demjenigen, der es vollbracht hat, denn er hat mir damit nicht nur das Amulett, sondern auch Gaelithils Elbenstab zugespielt.« Sie streckte fordernd die Hand aus und sagte befehlend: »Gib sie mir. Beide!«

»Niemals!« Ajana schüttelte den Kopf. Sie war verwirrt, versuchte aber, es sich nicht anmerken zu lassen. Wenn Vhara den Ulvars nicht getötet hatte, wer dann? Und warum? Sie presste das Amulett und den Stab schützend an sich, wich einen Schritt zurück und sagte: »Ohne das Amulett kann ich nicht heimkehren.«

»Die Nuur kommen!« Ein Aufschrei aus weiter Ferne gellte über den Platz und löste erneut Jubelstürme unter den Rebellen aus, aber selbst das hatte für Ajana in diesem Augenblick keine Bedeutung.

»Das Amulett gehört der Nebelsängerin.« Das Kurzschwert drohend erhoben, schob Aileys sich schützend zwischen Ajana und Vhara. »Du bekommst es nicht.«

»Mach dich nicht lächerlich, Wunandmetze«, spottete Vhara. »Ich habe stets bekommen, was ich wollte.« Sie verstummte und warf einen abschätzenden Blick in die mächtige Baumkrone. »Aber ich bin kein Unmensch. Ich werde ihr den Verlust etwas leichter machen.« Lächelnd hob sie die Hände und murmelte leise ein paar Worte. Es dauerte nicht lange, da züngelten aus ihren Fingerspitzen leuchtende Silberfäden, die in das Blattwerk hinaufschossen und knisternd die Blätter umschlangen. Eines der Blätter löste sich und fiel vor Ajana zu Boden, während sich der Verfall in der Baumkrone wie von Geisterhand fortsetzte.

Aileys bückte sich und hob das Blatt auf. Er war braun und verdorrt.

»Kein Götterbaum, keine Heimkehr«, sinnierte Vhara boshaft. »Der Baum stirbt. Das Amulett ist nutzlos. Du kannst es mir also getrost übergeben!«

Ein Krieger der Tempelgarde stieß einen pfeifenden Laut aus und stürzte, einen Pfeil zwischen den Rippen, zu Boden.

»Jetzt zier dich nicht so!« Plötzlich hatte Vhara es sehr eilig. »Oder soll ich es mir mit Gewalt holen?«

»Aber …« Ajanas Blick irrte Hilfe suchend umher. Furcht schnürte ihr die Kehle zu. Unfähig, das Ungeheuerliche zu begreifen, starrte sie in die Baumkrone hinauf, von der nun mehr und mehr verdorrte Blätter herabfielen.

»Also gut. Du hast es nicht anders gewollt!« Vharas Stimme hatte an Schärfe gewonnen. Auf ein Zeichen von ihr wurde Aileys von hinten angegriffen und brutal niedergeschlagen.

Starr vor Entsetzen sah Ajana sie zu Boden gehen.

Über dem Kampfplatz erhoben sich grauenhafte Schreie.

»Närrisches Kind. Ich habe nicht ewig Zeit!« Vhara wirkte gehetzt. »Machen wir es kurz: Ergreift sie.« Wieder gab sie den Kriegern ein Zeichen, die sich sogleich auf Ajana stürzten und sie festhielten. Einer entriss ihr den Elbenstab und reichte ihn an Vhara weiter, ein anderer wollte das Amulett packen, zog die Hand aber sogleich mit einem Aufschrei zurück, als hätte er sich verbrannt.

»Blut und Feuer!«, rief er aus und presste die Hand an sich. »Was ist das für eine Bosheit?«

»Damm kümmere ich mich später. Zum Tempel! Schnell!«, befahl Vhara über den weiter anschwellenden Kampflärm hinweg. »Und achtet mir darauf, dass sie am Leben bleibt. Ich brauche sie noch!«

*

Jedem Schritt, den Ajana von den Kriegern mitgeschleift wurde, begegnete sie mit heftiger Gegenwehr. Sie trat, biss und kratzte, erntete dafür von den Männern aber nicht mehr als ein höhnisches Grinsen. So gab sie die sinnlosen Angriffe schließlich auf und verwendete ihr Kräfte darauf, sich aus dem Griff der Peiniger zu winden und ihre Verzweiflung in die Dämmerung hinauszuschreien.

Doch was sie auch tat, es blieb vergebens. Niemand kümmerte sich um sie, niemand kam, um ihr zu helfen. Ihre Schreie verhallten ungehört, denn Vhara wählte einen Weg abseits des Kampfgetümmels.

Auf den Treppenstufen, die zum Eingang des großen Tempels hinaufführten, geriet Ajana ins Stolpern. Aber die Krieger kannten keine Gnade und zerrten sie weiter, durch dunkle Gänge und Flure hin zu einem Ort im Herzen des Tempels – dorthin, wo das heilige Feuer brannte, dessen Flammen von Blut genährt wurden. Vor der Tür hielten sie inne und versetzten ihr einen kräftigen Stoß, der sie mehrere Schritte in die heilige Halle hineinstolpern ließ, ehe sie zu Boden stürzte.

Keuchend blieb sie auf den kalten Steinplatten liegen. Ihre Knie schmerzten, die trockene Kehle brannte und vor ihren Augen tanzten Sterne.

»Und nun, mein hübsches Kind, wirst du mir das Amulett freiwillig übergeben und mir zeigen, wie die Magie der Runen erweckt wird.« Unheilvoll erhob sich Vharas Stimme über das Knistern der Flammen hinweg, die aus einer Mulde des geschwärzten Steinbodens in der Mitte des Gewölbes emporzüngelten.

»Niemals.« Es kostet Ajana viel Kraft, die nötige Entschlossenheit in dieses eine Wort zu legen. Sie hatte alles verloren, Keelin, ihre Heimat, ihre Freunde … alles. Das Einzige, was ihr geblieben war, war das Amulett – ihr Erbe, das Geschenk ihrer Ahnen – und sie war entschlossen, darum zu kämpfen.

»Niemals«, presste sie noch einmal nachdrücklich hervor.

Vhara kam näher und baute sich drohend vor ihr auf. Für endlose Augenblicke blieb das Knistern der Flammen das einzige Geräusch im Raum.

»Das ist nicht besonders klug von dir«, sagte sie einschüchternd, wandte sich um und richtete das Wort an die Krieger vor der Tür: »Schafft mir Imhot herbei!«, befahl sie scharf. »Sofort!«

Es dauerte nicht lange, bis draußen eilig trippelnde Schritte zu hören waren. Gleich darauf betrat ein gedrungener Mann in dunkler Kutte das Heiligtum. Er war fast einen Kopf kleiner als Vhara, mit schwarzen, strähnigen Haaren, die am Hinterkopf schütter waren. Über der buckligen Schulter trug er einen schäbigen Sack.

»Ihr verlangt nach mir, Herrin?«, sagte er, stellte den Sack ab und verneigte sich demütig.

»Sie besitzt etwas, das ich haben muss.« Vhara deutete auf Ajana, die immer noch am Boden kauerte. »Aber sie weigert sich, es mir zu überlassen. Bring sie dazu, es mir zu geben – freiwillig.«

Imhot grinste.

»Wie Ihr befehlt.« Er öffnete den Sack, holte zwei Schnüre heraus und winkte zwei Krieger herbei, die Ajana damit fesselten. Imhot huschte derweil zu einem der Kohlebecken, die zu beiden Seiten der Tür standen, und legte klirrend etwas in die Glut. Dann kehrte er zu Ajana zurück.

»Ich würde dir raten, nachzugeben«, sagte er auf eine Weise, als bereite ihm das, was er gleich würde tun müssen, großen Kummer. »Es würde dir schmerzvolle Folter ersparen.«

»Nein!«

Imhots Miene verhärtete sich. »Nun, dann hast du es nicht anders gewollt.«

Ajana sog die Luft scharf ein, als sie sah, wie er eine glühende Speerspitze aus dem Kohlebecken zog und damit auf sie zukam.

»Willst du dich nicht doch noch umstimmen lassen?«, fragte er.

»Lieber sterbe ich.« Der Geruch des Metalls streifte Ajanas Nase. »Das Amulett gehört mir.« Sie sah die glühende Speerspitze näher kommen, spürte die Hitze und biss die Zähne zusammen.

Imhot zögerte kurz, als wolle er ihr noch eine letzte Gelegenheit geben, ihren Entschluss zu überdenken. Dann presste er das glühende Eisen auf ihren Arm.

Ajana schrie. Ihr Körper schien zu explodieren. Der ungeheure Schmerz zerrte an ihren Sinnen, ihr Herz raste und der Geruch nach verbranntem Fleisch raubte ihr den Atem. Dann wurde es dunkel.

»Ajana?«

Etwas regte sich in der Dunkelheit, die sie umfangen hielt.

»Ajana!«

Sie konnte nicht antworten, doch wer immer da zu ihr sprach, schien zu spüren, dass sie ihn hörte.

»Gib es ihr!«, flüsterte die Stimme ihr zu. »Gib ihr das Amulett.«

Nein! Ajana zuckte erschrocken zusammen. Sie hatte schon so viel verloren. Das Amulett würde sie niemals hergeben.

»Wenn du es nicht tust, wirst du sterben.« Aus der Dunkelheit formte sich die anmutige Gestalt einer Elbin.

Inahwen?

Gaelithil?

Ajana versuchte, mehr zu erkennen, aber das Bild war zu verschwommen.

»Vertraue mir!«, wisperte es von allen Seiten. »Gib ihr das Amulett und unterweise sie, den Schutzzauber für sich zu nutzen.

Was immer sie von dir verlangt, unterweise sie in Algiz. Dann wird …«

»Du elender Dummkopf!«

Mit einem Ruck war die Dunkelheit fort und die Schmerzen kehrten zurück. Ajana wimmerte.

»Willst du sie umbringen?« Vhara riss Imhot den glühenden Speer aus der Hand. »Ich brauche sie lebend! Geht das nicht in deinen Schädel? Lebend!«

»Ja, Herrin.« Imhot duckte sich, als sei er geschlagen worden.

»Dann los!« Vhara gab ihm den Speer zurück. »Versuch es noch einmal.«

»Bitte nicht!«, flehte Ajana. Sie hatte furchtbare Angst. Der Schmerz in ihrem Arm wütete wie ein wildes Tier und der Gedanke, solche Qualen noch einmal erleiden zu müssen, war ihr unerträglich. »Ich gebe Euch das Amulett.«

»Seht Ihr!« Imhot strahlte. »Es hat gewirkt.«

Vhara bedachte ihn mit einem abfälligen Blick: »Nimm ihr die Fesseln ab und verschwinde!«, sagte sie kühl.

Ungeduldig schritt sie vor Ajana auf und ab, während Imhot die Fesseln löste, den Sack aufhob und geduckt aus der Halle huschte.

Ajana streifte die Kette mit dem Amulett über den Kopf. Einen kurzen Augenblick zögerte sie noch, unsicher, ob sie wirklich das Richtige tat, dann übergab sie es Vhara, die kaum erwarten konnte, es in Händen zu halten.

»Endlich!« Die Hohepriesterin hielt das Kleinod so zum Licht der Flammen, dass es blitzte und funkelte. »Endlich ist es mein!« Doch der Augenblick der Begeisterung währte nicht lange. Sogleich hatte sie sich wieder im Griff, trat mit einer herrischen Geste auf Ajana zu und fragte: »Was muss ich tun?«

»Wonach verlangt es Euch?« Ajana rang um Fassung. Die Wunde am Arm brannte wie Feuer, doch mehr noch als die körperliche Qual schmerzte es sie, das Amulett in den Händen der Hohepriesterin zu sehen.

Tief in sich glaubte sie, wieder die Stimme der Elbin zu hören: Vertrau mir.

»Zeige mir, wie ich die Macht des Feuers ohne Opferblut erwecken kann«, forderte Vhara. »Das Amulett ist meine letzte Hoffnung, die Rebellen zu vernichten. Sobald der wahre Herrscher nach Andaurien zurückgekehrt ist, werden die Verräter vernichtet werden.«

Ajana zögerte. Sie war sich nicht sicher, ob sie der inneren Stimme trauen konnte. Und wenn es nur eine List war? Wenn Vhara selbst ihr die Vision gesandt hatte?

»Nun mach schon.« Mit wenigen Schritten war die Hohepriesterin bei ihr, bückte sich und packte Ajana so hart am Kinn, dass die grün lackierten Fingernägel ihr in die Wange schnitten. »Sag – es – mir!«

Ajana keuchte auf.

»Berührt Dagaz mit dem Finger«, gab sie Vhara zögernd das Geheimnis preis. »Schließt die Augen und lauscht meinem Gesang. Wenn ich es sage, geht weiter zu Algiz, dann zu Wunjo und zu Gebo.«

»Wenn das eine List ist, werde ich dich töten!« Vhara blickte Ajana scharf an und legte den Finger auf die erste Rune, während Ajana mit dünner Stimme die Magie der Runen anrief.

Algiz, Wunjo, Gebo …

Die Reihenfolge war ihr wohlbekannt. Sie vertraute auf die Stimme der Elbin und sang das Lied so unbeirrt wie zuvor schon im Sandsturm und am Götterbaum. Das Lied verklang und mit ihm verblasste auch die letzte Vision, die die Melodie begleitete.

»War das alles?« Vhara blickte sie misstrauisch an.

»Ich habe getan, was Ihr verlangtet!« Die Antwort kam Ajana nur schleppend über die Lippen. Sie war erschöpft. Die Magie der Runen anzurufen, hatte ihr die letzten Kräfte geraubt, und sie kämpfte gegen das Gefühl der Ohnmacht an, das sie zu überwältigen drohte.

»Nun gut.« Ein drohender Unterton schwang in Vharas Stimme mit. Das Amulett in der Hand, trat sie an den Rand der Feuergrube. Das Licht der Flammen, die nun wie von Wind gepeitscht mannshoch aus dem Boden schlugen, warf tanzende Schatten auf ihr Gesicht. Nach einem kurzen Augenblick des Zögerns kreuzte sie die Hände vor der Brust und trat mitten in die Flammen hinein, bereit, die rituellen Worte der Anrufung zu sprechen.

Doch dazu kam es nicht.

Ein gellender Schrei zerriss die Stille in der Halle.

Ajana blickte auf und sah, wie Vharas Haare Feuer fingen. Die Hohepriesterin kreischte und schlug wie wild um sich, um die Flammen zu ersticken, die nun auch an ihren Gewändern züngelten, doch vergeblich. Gierig verzehrten sie das Gewebe, leckten an ihrer nackten Haut und hüllten sie schließlich in ein grelles Flammenkleid.

Vhara schrie so hoch und schrill, wie kein menschliches Wesen es vermocht hätte. Ihr Gesicht war von Grauen gezeichnet, die Augen waren weit aufgerissen, als könne sie nicht glauben, wie ihr geschah. Sie fuchtelte mit den Armen und versuchte, sich aus der tödlichen Falle zu befreien, doch was sie auch tat, es blieb vergebens. Das Feuer war wie ein Käfig, aus dem es kein Entrinnen gab.

Ihre Schreie riefen die Krieger der Tempelgarde in die Halle. Im ersten Augenblick sah es so aus, als wollten sie der Hohepriesterin zu Hilfe eilen. Doch das änderte sich schlagartig, als sie die aussichtslose Lage erkannten. So standen sie nur da und beobachteten Vharas Todeskampf mit gleichmütiger Miene. Keiner von ihnen rührte auch nur einen Finger, um ihr zu helfen.

Eingehüllt in ein glutheißes Flammenkleid, war die Hohepriesterin längst zu einer lodernden Fackel geworden, die nichts Menschliches mehr an sich hatte. Nur ihre Schreie gellten noch durch die Halle, während sie, einem bizarren Feuerwesen gleich, weiter gegen die Flammen ankämpfte. Die unmenschlichen Laute brachen sich an den Wänden des Heiligtums, hallten durch die leeren Gänge des Tempels und blieben doch ungehört.

Von Entsetzen gepackt, kauerte Ajana am Boden, presste die Hände auf die Ohren und kniff die Augen fest zusammen, während sie versuchte, nicht auf den Gestank nach verbranntem Fleisch zu achten, der ihr bei jedem Atemzug in die Nase stieg und ihr den Magen umdrehte.

Niemals zuvor hatte sie etwas Schrecklicheres gesehen, niemals so furchtbare Schreie gehört und niemals einen solch bestialischen Geruch ertragen müssen. Das Bild der menschlichen Fackel schien einem Albtraum entsprungen. Lärm, Hitze und Gestank waren mehr, als sie ertragen konnte. Sie gestattete es sich nicht, noch einmal hinzusehen, und wusste doch, dass sie das grauenhafte Bild der brennenden Frau auch so niemals würde vergessen können.

Ein schrilles, lang gezogenes Kreischen gellte durch den Raum.

Dann war es still.

Ajana sah auf. Die Flammen waren zur Größe eines Lagerfeuers zusammengesunken, das über einem kleinen unförmigen Haufen in der Mitte der Feuergrube züngelte.

Mehr blieb von Vhara nicht übrig.

Es war vorbei. Ajana atmete auf, ließ die Krieger der Tempelgarde aber nicht aus den Augen, die immer noch auf das Feuer starrten, als könnten sie nicht glauben, was geschehen war.

Für wenige Herzschläge noch erfüllte Stille den Raum, dann drang von draußen der Lärm einer aufgebrachten Menschenmenge in das Heiligtum.

»Sie kommen!«, rief einer der Krieger aus. »Sie stürmen den Tempel. Raus hier!«

Ohne Ajana auch nur eines Blickes zu würdigen, hasteten die Männer aus dem Heiligtum und suchten ihr Heil in der Flucht.

Ajana wartete noch, bis ihre Schritte verklangen, dann richtete sie sich vorsichtig auf. Dabei berührte ihr Fuß etwas, das klirrend über den Boden schleifte.

Das Amulett!

Ihr Herz machte vor Freude einen Satz. Vorsichtig streckte sie den Finger aus und berührte es kurz, da sie fürchtete, sich daran zu verbrennen. Doch das Metall war nicht heiß. Ajana hob es auf und betrachtete es von allen Seiten. Kühl und vertraut lag das Amulett in ihrer Hand. Das Feuer hatte ihm keinen Schaden zufügen können.

Ich bin stolz auf dich. Die Stimme strich körperlos durch den Raum.

Ajana sah sich um, konnte aber niemanden entdecken.

»Gaelithil?«, fragte sie zaghaft. »Seid Ihr es?«

Was ist schon ein Name in Zeiten, da allein die Taten zählen.

»Habt Ihr zu mir gesprochen?«, fragte Ajana weiter. »Habt Ihr mir gesagt, wie ich Vhara besiegen kann?«

Das musste ich nicht. Das Wissen war in dir, du hast es selbst entdeckt.

»Aber ich weiß doch nicht einmal, was geschehen ist.«

In das Lärmen vor der Tür mischten sich Kampfgeräusche. Offenbar waren nicht alle Krieger der Tempelgarde auf der Flucht.

Nicht? Ein melodisches Lachen erklang. Nun denn, wenn dein elbisches Erbe schweigt, werde ich es dir sagen. Die Runenmagie kann nur von der Mutter auf die Tochter weitergegeben werden. Versucht ein anderer sie einzusetzen, verkehrt sie sich ins Gegenteil. Vhara war gegen das Feuer gefeit. Als du für sie einen Schutzzauber gewoben hast, wurde ihr dieser Schutz genommen. Einmal in den Flammen, gab es für sie kein Entkommen.

»Dann ist sie jetzt wirklich tot?«, fragte Ajana verunsichert, die das Bild der sterbenden Vhara im Wehlfang noch deutlich vor Augen hatte.

Nicht tot. Frei. Ihre Seele hat endlich Frieden gefunden. Sie mag dem dunklen Gott gedient haben, aber tief in ihrem Innern war auch sie nur ein Mensch, dem eine verletzliche Seele innewohnte. Eine Seele, die viele Jahrhunderte lang in einem unsterblichen Körper gefangen war und die sich nach Erlösung und Frieden sehnte, während die dunklen Mächte den Körper am Leben hielten.

Das Feuer hat sie befreit und geläutert. Was vergangen ist, ist vergessen, und so kann auch sie einkehren in das Reich der Ahnen.

Der Kampflärm vor der Tür kam immer näher, während die Stimme langsam immer schwächer wurde.

Nun geh, du musst dich beeilen, flüsterte sie Ajana zu. Jene, die du am Götterbaum zurückgelassen hast, sind in großer Sorge um dich.

Keelin! Der Gedanke durchzuckte Ajana wie ein Blitz und ließ sie alles andere vergessen. Sie musste zu Keelin! Im Nu war sie auf den Beinen und stürmte, ohne auf Schmerzen oder Erschöpfung zu achten, aus dem Heiligtum.

*

Die Nebel über dem unsichtbaren Pfad, der vom Fluss des Lebens zur Halle der schlafenden Götter hinaufführte, wichen furchtsam zurück, als sich ein Schatten aus der Dunkelheit am Fuße des Berges löste und mit forschem Schritt den Hügel erklomm.

Jene, die in den Nebeln hausten, drängten sich wispernd aneinander, waren jedoch klug genug, sich nicht zu erkennen zu geben. Sie spürten den Zorn, der den Schatten wie eine knisternde Aura umgab, und wussten sich zurückzunehmen. Jener eine, der geblieben war, war bekannt für seine Unbeherrschtheit. Selbst die Nebel fürchteten sich vor ihm. So blieb er unbehelligt, aber nicht unbeobachtet, während er den Weg hinaufschritt und durch das große Tor trat.

»Zeigt euch! Ich weiß, dass ihr hier seid.« Machtvoll hallte seine Stimme durch die Stille und ließ die Halle erzittern. Aber niemand antwortete.

Er atmete schwer, verharrte unter dem steinernen Torbogen und spähte wachsam in das fahle Zwielicht. Lange geschah nichts, dann bemerkte er eine winzige Bewegung weit hinten, dort, wo einst der Brunnen Callugars gestanden hatte. Ohne die schlafenden Götter auch nur eines Blickes zu würdigen, hastete er durch die Halle und fand schließlich, wonach er suchte.

»Ihr!« Abgrundtiefer Hass und eine Verachtung, die ihresgleichen suchte, schwangen in diesem einen Wort mit, als er sich hinter den beiden Gestalten aufbaute, die vor dem Brunnen standen und ihm den Rücken zuwandten. »Ich wusste, dass ihr da die Finger im Spiel habt.«

»Ein Spiel ohne ebenbürtigen Gegner hat seinen Reiz verloren, findest du nicht?« Gelassen wandte Asza sich um und sah dem jungen Mann, der hinter sie getreten war, direkt in die Augen.

Der Anblick war erschütternd. Von dem einstmals starken und strahlend schönen Jüngling, dem sie viele Mondwechsel zuvor in dieser Halle begegnet war, war kaum etwas geblieben. Das schwarze Haar war ergraut, das Gesicht von tiefen Falten gefurcht. Die prunkvolle Kleidung wirkte abgetragen und zerschlissen, der athletische Körper hager und kraftlos.

»Nur wer Gefahr läuft, zu unterliegen, bleibt wachsam«, sagte sie mit einem bedeutungsvollen Lächeln auf den Lippen und fügte hinzu: »Mir scheint, du warst es nicht.«

»Schweig!« Der ausmergelten Erscheinung zum Trotz war die Stimme des Jünglings noch immer kraftvoll und befehlsgewohnt.

»Ich verlange, dass ihr sofort Schluss macht mit eurem hinterhältigen Treiben.«

»Wir.« Der Wanderer wandte sich um und trat auf den Jüngling zu. »Wie kommst du darauf, dass wir mit den Ereignissen in Andaurien etwas zu tun haben könnten?« Er deutete eine Verbeugung an und fügte in gespielter Demut hinzu: »Ein alter Narr wie ich und eine machtlose junge Göttin?«

»Ich mag geschwächt sein, aber ich bin nicht blind«, herrschte der Jüngling ihn an. »Glaubt ihr, ich bemerke nicht, was ihr hier treibt? Dieser Elbenspross wäre ohne euer Zutun niemals nach Andaurien gekommen. Sie hätte niemals …«

»Oh, du bist doch nicht etwa böse?« Asza betonte die Worte so respektlos, als spreche sie mit einem trotzigen Kind. »Nur weil du in diesem Spiel ein paar wichtige Figuren verloren hast?« Sie trat auf den Jüngling zu und umkreiste ihn mit langsamen Schritten. »Warum hast du sie nicht beschützt, wenn dir so viel an ihnen liegt?«, fragte sie. »Warum hast du nicht in den Kampf eingegriffen? Warum hast du die Hohepriesterin verbrennen lassen, die dich um Hilfe anflehte. Warum?« Sie hielt inne, wartete jedoch nicht auf eine Antwort und sprach gleich weiter. »Ich werde dir sagen, warum: Weil du zu schwach bist. Das Blut, auf das du deine Macht gründest, wurde dir verwehrt. Die schwarzen Altäre in Andaurien sind verwaist, denn immer mehr Menschen kehren zurück zum alten Glauben. Nicht wir sind schuld an dem, was geschehen ist, du selbst hast deinen Untergang heraufbeschworen. Es sind deine eigenen blutigen Rituale, die dir die Macht entreißen.« Sie blieb vor ihm stehen und sagte leise. »Hast du die Worte des Wanderers etwa schon vergessen? Die Knoten der Macht werden neu geknüpft, sagte er zu dir. Du hattest es in der Hand, deine Knoten zu knüpfen, aber du hast jämmerlich versagt. In deiner grenzenlosen Eitelkeit hast du nicht darauf geachtet, ob dein Netz auch trägt. Du fühltest dich sicher, und das war dein Fehler. Am Ende genügte es, einen Knoten zu lösen, um es reißen zu lassen.« Sie ging zum Brunnen und deutete auf die glänzende Wasseroberfläche, wo noch immer das Bild einer jubelnden Menge zu sehen war, die an den Stufen des brennenden Haupttempels ihren Sieg über die Priesterinnen feierte. »Die Menschen haben endlich den Mut gefunden, sich gegen deine Blutherrschaft zu erheben«, sagte sie voller Bewunderung. »Du hast verloren.«

Der Jüngling ballte die Fäuste. »Diese elenden Kriecher haben ein paar Priesterinnen getötet und einen Tempel zerstört«, entgegnete er zornig. »Na und? Dafür werden sie büßen. Schlimmer und grausamer, als sie es sich in ihren schlimmsten Albträumen auszumalen vermögen. Meine Schwäche wird vergehen. Noch habe ich genügend Anhänger in Andaurien, die mir das Blut mit Freuden opfern. Sobald ich wieder erstarkt bin, werde ich …«

»Du wirst kein Unheil mehr anrichten!« Eine dunkle Stimme ließ den Jüngling herumfahren. Hinter ihm stand ein hünenhafter Krieger in prachtvoller Rüstung. Ein goldener Reif hielt die lockige Haarpracht aus der Stirn zurück, goldene Armschienen schmückten die muskulösen Unterarme, während seine behandschuhten Finger das Heft eines wuchtigen Beidhänders umschlossen, den er mit der Spitze nach unten vor sich auf den Boden gestellt hatte.

»Callugar?« Alle Farbe wich aus dem Gesicht des Jünglings, als er erkannte, wer da hinter ihm stand. »Aber das … das ist unmöglich. Wie konnte …?«

»Nichts ist unmöglich, solange die Menschen glauben.« Callugar, der mächtige Schicksalslenker, bebte vor Zorn. Ein Zorn, so mächtig und zerstörerisch, dass sich über der Nunou wie aus dem Nichts ein gewaltiges Unwetter auftürmte. Es blitzte, donnerte und stürmte, und dort, wo es niemals geregnet hatte, ergossen sich ungeheure Wassermassen über den roten Sand.

»Ich werde dich lehren, was es heißt, ungehorsam zu sein!« Die dröhnende Stimme des obersten Gottes ließ die Wände der Halle erzittern. »Ich werde dich lehren, was es heißt, das Vertrauen seines Vaters zu missbrauchen, was es bedeutet, ehrlos zu handeln und Schutzbefohlene zu knechten. Sobald auch die letzten Schlafenden zurückgekehrt sind, werden wir hier gemeinsam Gericht über dich halten, und ich verspreche dir, du wirst dir wünschen, niemals auch nur einen Fuß auf andaurischen Boden gesetzt zu haben.«

»Bitte, Onkel, Ihr müsst mich anhören.« Der Jüngling duckte sich, als sei er geschlagen worden. Winselnd sank er auf die Knie und schaute demütig zu Boden. »Ich habe doch nur ihr Bestes gewollt«, beteuerte er. »Nachdem Ihr gegangen wart, waren sie völlig schutzlos. Das konnte ich nicht mit ansehen. Ich gab ihnen doch nur, wonach es sie verlangte. Ich nährte und beschützte sie, so wie es …«

»Schweig!« Callugar hob das Schwert und rammte die Spitze mit einem Donnerschlag in den Boden. Staub wirbelte auf und ein Riss bahnte sich zuckend einen Weg durch das massive Gestein. »Ich will nichts mehr hören. Emo hat mir von deinem schändlichen Treiben berichtet und davon, dass du auch sie zu betrügen suchtest. Es ist genug. Genug!« Wieder rammte er die Schwertspitze auf den Boden. »Hiermit entziehe ich dir alle göttlichen Gaben und verbanne dich aus dieser Halle, bis dein Prozess beginnt. Fortan wirst du am Fuße dieses Berges in den Nebeln ausharren, bis die Zeit gekommen ist, über dich zu richten.«

»Nein!« Panik flammte in den Augen des Jünglings auf. »Schickt mich nicht in die Nebel. Bitte nicht! Ich flehe Euch an.«

Aber Callugar kannte keine Gnade. Das Gesicht zu einer strengen Maske erstarrt, hob er den Arm, deutete auf das Tor und sagte nur ein Wort: »Geh!«

Kaum hatte er es ausgesprochen, fegte ein Sturmwind heran, packte den Jüngling und trug ihn mit sich fort, aus dem Tor hinaus und den Berg hinunter. Er schrie und wehrte sich, aber der Macht des Sturmwinds hatte er nichts entgegenzusetzen.

Die Schreie verhallten, der Wind erstarb. Dann war es ruhig.

Callugar verharrte einen Augenblick lang schweigend, dann richtete er das Wort an Asza und den Wanderer: »Ich danke euch«, sagte er aus ganzem Herzen. »Dir«, er nickte dem Wanderer zu, »für deine unermüdliche Treue über die vielen Jahrhunderte hinweg und für alles, was du in dieser Zeit bewirkt hast. Umsichtig und klug hast du gehandelt und damit bewiesen, dass du weit mehr bist als nur ein Bote. Du bist wahrlich ein Held. Von nun an bis in alle Zeit wird dir ein Platz an der Tafel der Götter gewiss sein, denn ohne dich und dein mutiges Handeln wäre vieles anders gekommen.«

Sodann blickte er Asza an und auf seinem Gesicht zeigte sich ein mildes Lächeln. »Und ich danke dir, Asza, Tochter der Emo. Vor langer Zeit vor den Augen deiner Mutter in Ungnade gefallen, hast du bewiesen, dass selbst göttlicher Trotz nicht ewig währt. Wie deine Mutter bist auch du eine Kämpferin und stehst ihr an Scharfsinn und Schönheit in nichts nach. Emo kann wahrlich stolz auf dich sein. Sobald alle zurückgekehrt sind, wirst du in den Kreis der Götter erhoben werden und als …« Er verstummte, weil er bemerkte, wie unruhig Asza plötzlich war. »Was ist, mein Kind?«, fragte er verwundert.

»Verzeiht, aber meine Aufgabe ist noch nicht beendet.« Asza senkte ehrfürchtig das Haupt. »Es gibt da noch jemanden, der meine Hilfe braucht. Jemanden, dem nicht nur ich, sondern auch Nymath und Andaurien sehr viel verdanken.«

»Nun denn«, Callugar lächelte milde, »dann solltest du nicht säumen. Doch bedenke, die Dankbarkeit einer Göttin ist ein Geschenk, das nicht zu oft überreicht werden sollte.«

»Das weiß ich.« Asza nickte. »In diesem Fall jedoch ist es mehr als gerechtfertigt.« Sie wandte sich um, schaute den Wanderer an und fragte: »Begleitet Ihr mich ein letztes Mal?«

»Es ist mir eine Ehre.« Der Wanderer deutete eine Verbeugung an. Dann folgte er Asza auf ihrem Weg in die Welt der Sterblichen.

*

Als der Mond aufging, erreichte Yenu endlich die Tempelstadt.

Sie war erschöpft und hungrig, nicht mehr als ein Schatten ihrer selbst. Dennoch gönnte sie sich nur eine kurze Rast im Schutz eines hellen Lehmziegelgebäudes, ehe sie ihren Weg fortsetzte.

Nach dem Überfall auf die Streiter Callugars an der Straßensperre war sie tief in den Wald hinein geflohen. Für eine Weile hatte sie noch die Schritte des Ajabani hinter sich gehört, aber die Furcht hatte ihr ungeahnte Kräfte verliehen und es war ihr tatsächlich gelungen, ihn abzuhängen. Lange war sie gelaufen, ohne zu wissen, wohin sie der Weg führte. Zum Nachdenken war ihr keine Zeit geblieben. Sie vermochte nicht einmal zu sagen, wann die Schritte hinter ihr verklungen waren, denn sie war einfach weitergelaufen. Ihre Füße hatten den Weg bestimmt, waren durch Pfützen gewatet und über Baumwurzeln gestolpert. Weiter und weiter, bis die Erschöpfung sie eingeholt hatte und ihr mitten im Laufen die Beine eingeknickt waren. Wie lange die Ohnmacht, die dem Sturz gefolgt war, angedauert hatte, auch das konnte Yenu nicht mehr sagen. Sie wusste nur, dass es hell gewesen war, als sie die Augen geöffnet hatte.

Mit dem Bewusstsein waren auch die Erinnerungen zurückgekehrt. Erinnerungen voll bitterer Vorwürfe, voll Kummer und Seelenqualen über das, was sie angerichtet hatte.

Miya war tot. Wilnu und die Auserwählten waren tot. Die Felis würde sterben. All das war allein ihre Schuld. Sie war geächtet, verstoßen und allein. Es gab niemanden mehr, zu dem sie hätte gehen können, und sie wünschte nur, auch sie wäre tot.

Lange hatte sie nur so dagelegen, sich unter Tränen der Verzweiflung hingegeben und sich gewünscht, all ihre Fehler wieder gutmachen zu können. Dann war ein Gedanke gekommen …

»Ich werde es wieder gutmachen!« Yenu ballte die Fäuste und löste sich aus dem Schatten des Hauses. »Ich werde die Felis retten«, sagte sie zu sich. »Und wenn ich mein eigenes Leben dafür geben muss.«

Dieser Gedanke war es gewesen, der sie aus der Lethargie gerettet hatte. Im festen Glauben, durch eine Heldentat wie die Rettung der Felis ihr Seelenheil wiederzufinden, hatte sie sich auf den Weg zur Tempelstadt gemacht. Dabei hatte es sie nicht gekümmert, dass sie sich hoffnungslos verlaufen hatte. Sie war einfach in eine Richtung losmarschiert.

… und jetzt war sie angekommen.

Yenu spürte, wie die Entschlossenheit erneut in ihr aufloderte. Sie hatte die Tempelstadt gefunden. Nur würde alles gut werden.

Die Stadt empfing sie mit einer Stille, die mehr war als nur die Abwesenheit von Leben. Es war die Stille, die etwas Schrecklichem folgte. Die Stille des Todes.

Irgendwo rief ein Nachtara. Es klang wie ein Lachen.

Der Ruf weckte Erinnerungen in ihr und wie damals, als alles begonnen hatte, nahm sie ihn auch diesmal wieder als Zeichen dafür, dass sie nicht allein war, während sie auf der Suche nach Leben durch die verlassenen Gassen taumelte.

Nach einer Zeit, die sie nicht ermessen konnte, entdeckte sie einen Feuerschein, eine rote Kuppel in der Ferne, wie von Hunderten Fackeln. Ein Zeichen von Leben! Yenu sammelte noch einmal ihre Kräfte und hielt darauf zu.

Was sie erblickte, als sie zwischen den letzten Häusern hindurchspähte, verschlug ihr den Atem. Überall brannte es. Häuser und Hütten, ja sogar Tempel standen in Flammen. Auf einer weitläufigen, von Fackeln erhellten Freifläche lagen Tote. Nicht ein Dutzend und nicht zwei Dutzend – Hunderte, wenn nicht gar Tausende.

Yenu erstarrte. Was war hier geschehen?

Unfähig, das volle Ausmaß dessen zu begreifen, was ihre Augen erblickten, stolperte Yenu über das Schachtfeld. Sie wusste nicht, wohin sie ging und was sie suchte. Sie ging einfach weiter, ohne nachzudenken.

Ganz unvermittelt spürte sie eine Berührung an ihrem Bein. Finger, die sich um ihren Knöchel schlossen. Ein eisiger Schrecken durchzuckte sie. Abrupt blieb sie stehen, wagte es aber nicht, zu Boden zu sehen.

»Hilf mir!« Die Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. »Bitte, hilf mir.« Yenu zögerte noch einen Herzschlag lang, dann nahm sie all ihren Mut zusammen und sah nach unten.

Es war eine Frau, kaum älter als sie selbst. Die dunklen Haare waren von geronnenem Blut verklebt und im Oberschenkel klaffte eine lange Schnittwunde.

»Hilf mir!«, krächzte die Frau noch einmal mit brüchiger Stimme.

Yenu kniete nieder. Sanft löste sie die verkrampfte Hand der Verletzten von ihrem Fußknöchel und hielt sie fest.

»Keine Sorge«, sagte sie mit fester Stimme. »Ich helfe dir.« Sie blickte der Verletzten in die Augen und stutzte. Sie hatte diese Frau schon einmal gesehen. In einer Zeit, die, wie es schien, schon eine Ewigkeit zurücklag. In einem anderen Leben … Damals, als sie sich aufgemacht hatte, nach Wilnu zu suchen, war sie mit ihrem Djakûn gekommen und hatte sie zur Melva-Nnab, zur Höhle der Katzenfrauen geführt. Yenu spürte, dass dieses Treffen kein Zufall war. Nachdem sie so viele Fehler gemacht hatte, gaben die Götter ihr die Gelegenheit, einen Teil ihrer Schuld wieder gutzumachen – und diesmal würde sie sie nicht enttäuschen.

»Du bist eine Nuur!« Es war eine Feststellung und keine Frage.

Die Verletzte nickte. »Suara.«

»Kannst du aufstehen, Suara?«

Die Nuur nickte schwach. »Ich werde es versuchen.«

»Gut, ich helfe dir.« Yenu riss einen Stoffstreifen aus ihrem Gewand und band das verletzte Bein damit ab, um den Blutstrom zu stillen. Dann reichte sie der Nuur die Hand.

»Das wird nicht leicht werden«, sagte sie, während sie Suara aufhalf. »Hier liegen überall Tote. Aber keine Sorge, gemeinsam werden wir es schaffen. Du wirst wieder gesund werden, darauf hast du mein Wort.«

25

Über den schwelenden Ruinen der Tempelstadt zog der Morgen herauf. Hinter den Bäumen im Osten sandte die Sonne die ersten Strahlen über den Himmel, während der Silbermond im Westen langsam verblasste. Zwischen den Bäumen bildete sich Dunst und die Vögel hoch oben in den Wipfeln begrüßten die Rückkehr von Licht und Wärme mit schmetterndem Gesang.

Ajana erschien es wie reinster Hohn.

Wie konnte die Sonne scheinen? Wie die Vögel singen und die Welt ringsumher voller Lebensfreude sein, wenn in ihr alles dunkel und trostlos war?

Keelin lag im Sterben. Inahwens Kräfte hatten nicht ausgereicht, ihn zu retten. Es gab nichts, das sie noch für ihn tun konnten.

Sie hatte kaum geschlafen. Wie durch ein Wunder war sie unbehelligt aus dem großen Tempel entkommen und hatte sich im Dunkeln einen Weg durch die brennende Stadt zum Götterbaum gebahnt. Sie hatte Inahwen und Aileys bei Keelin wachend vorgefunden. Beide waren verletzt. Doch die schlimmen Nachrichten, die sie für Ajana hatten, wogen schwerer als selbst die Verbrennung, die sie unter der Folter erlitten hatte.

So hatte sie die ganze Nacht an Keelins Seite ausgeharrt, seine Hand gehalten und gehofft, dass er die Augen noch einmal aufschlug. Vergeblich.

Sein Atem war kaum noch zu spüren, sein Geist schien schon weit weg an einem Ort, den sie nicht erreichen konnte.

»Bitte, geh nicht.« Ajana schluckte gegen die Tränen an, aber ihr fehlte die Kraft, die aufkommende Verzweiflung niederzuringen. Da spürte sie, wie seine Kraft noch einmal zu ihm zurückkehrte, und wie er fast unmerklich die Finger bewegte.

»Ajana?« Seine Stimme war nicht mehr als ein Flüstern. Er versuchte sich aufzurichten und stöhnte unter der Anstrengung.

»Keelin.« Hastig wischte Ajana die Tränen fort und umfasste seine Finger mit beiden Händen. »Ich bin hier.«

»Ajana, ich … ich muss dir etwas sagen.« Keelin sprach so schnell, als fürchte er, nicht mehr genügend Zeit zu haben. Er wollte etwas sagen, doch die Laute wurden von einem qualvollen Husten erstickt, der aus den Tiefen seiner Brust drang.

»Nicht jetzt, Keelin!«, flüsterte Ajana erschrocken.

»Doch!« Keelin legte alle Kraft, die er noch besaß, in dieses eine Wort.

Er weiß es! Der Gedanke schnürte Ajana die Kehle zu und trieb ihr die Tränen in die Augen. Er spürt, dass er sterben wird.

»Ajana, hör mir zu.« Seine Finger umschlossen ihre Hand so fest, als fürchte er um ihre Aufmerksamkeit. »Damals im Falkenhaus … als ich … als ich dich … ich wollte dich nicht … nicht verletzen.« Er hustete erneut.

»Ich weiß!« Ajana strich ihm mit der Hand sanft über die Stirn.

Keelin blinzelte und schaute sie aus seinen dunklen Augen an. Sein Atem ging rasselnd.

»Dann ist es gut!«, sagte er und es war, als sei ihm eine große Last von den Schultern genommen.

»Ja, das ist es.« Ajana umklammerte seine Hand so fest, als könne sie sein schwindendes Leben damit festhalten. »Es … es ist alles gut!« Eine Träne löste sich aus ihren Augenwinkeln und benässte sein Gesicht.

»Nicht weinen!« Keelin versuchte zu lächeln. »Du … du musst jetzt tapfer sein.«