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Julian Nida-Rümelin

Philosophie einer humanen Bildung

Kapitel I:
Anthropologie

»Um zugleich den Menschen mit Genauigkeit zu kennen, wie er ist, und mit Freiheit zu beurtheilen, wozu er sich entwickeln kann, müssen der praktische Beobachtungssinn und der philosophirende Geist gemeinschaftlich thätig sein.«4

Jede Bildungsanstrengung offenbart ein Menschenbild, unabhängig davon, ob dies den Akteuren bewusst ist. Die individuelle Bildungsanstrengung offenbart eine Vorstellung dessen, wer diese Person sein will. Die politische Bildungsanstrengung offenbart eine Vorstellung dessen, was die politische Gemeinschaft für wünschenswert erachtet, welche Persönlichkeitsmerkmale sie bevorzugt, welche Fähigkeiten sie entwickeln möchte und welche Fertigkeiten sie für unverzichtbar hält. Bildung hat eine anthropologische Dimension. Mit dieser wollen wir uns in diesem ersten Kapitel auseinandersetzen.

1. Kritik der Anthropologie

Als philosophische Disziplin scheint die Anthropologie heute kaum noch eine Rolle zu spielen. Die Ursachen für diesen Niedergang der philosophischen Anthropologie liegen in bestimmten Fehlentwicklungen begründet, auf die ich hier nicht eingehen möchte, weil es uns zu weit in die Philosophiegeschichte führen würde. Dennoch sind zwei Aspekte dieses Niedergangs für unsere Argumentation relevant.

Das ist zum einen die begründende, fundamentale Rolle, die der Anthropologie in der philosophischen Tradition zugedacht wurde. Jede Ethik, jede politische Philosophie und jede Rechts- und Sozialphilosophie bedarf eines anthropologischen Fundaments, von dem ausgehend die Kriterien richtigen Handelns, angemessener sozialer Praxis, des Rechts und der politischen Ordnung zu bestimmen sind. Die Anthropologie trägt nach diesem Verständnis die ganze Begründungslast. Aus anthropologischen Postulaten folgen ethische, rechtliche und politische. Dieses Theorieverständnis kann man als im Wortsinne »fundamentalistisch« bezeichnen: Es wird ein (anthropologisches) Fundament gelegt, auf dem dann der Rest der Theorie errichtet wird. Ja, mehr noch: Mit der Wahl des Fundaments wird der Inhalt der Theorie bestimmt. Alles hängt an diesen anthropologischen Vorannahmen.

Die Problematik dieses anthropologischen Fundamentalismus liegt darin, dass keineswegs klar ist, in welcher Weise über die Richtigkeit oder die Falschheit eines Menschenbildes rational diskutiert werden kann. Die gesamte Tradition des Naturrechts, des von Natur Rechten, die bis heute z.B. eine wichtige Rolle für die katholische Sexualmoral spielt, krankt an diesem ungeklärten Fundament. Wenn die lebenslange Verbindung von Frau und Mann zur Natur des Menschen gehört, dann ist alles andere, Partnerwechsel, Polygamie, Homosexualität widernatürlich, ja möglicherweise sogar sündhaft. Faktisch ist ein Teil der Menschen homosexuell, vermutlich war das zu allen Zeiten und in allen Kulturen so. Faktisch lebt ein Teil der Menschheit in polygamen Verhältnissen. Was rechtfertigt das Urteil, dies sei unnatürlich? Eine Möglichkeit, diese Frage zu beantworten, besteht darin, auf die Biologie und ihre Gesetze zu verweisen. Arten können sich nur erhalten, wenn sie sich fortpflanzen. Die Darwin’sche Formel survival of the fittest ist genau besehen nichts anderes als die Feststellung, dass sich diejenigen genetischen Merkmale im Laufe der Zeit durchsetzen bzw. zu Lasten anderer ausbreiten, deren Träger mehr Nachkommen hervorbringen als die Träger anderer genetischer Merkmale. Man könnte daraus folgern, dass es zur Menschennatur als einer biologischen Spezies gehört, so viele Kinder wie möglich in die Welt zu setzen und dafür zu sorgen, dass diese bis ins fortpflanzungsfähige Alter kommen. Verhütung ist demnach unnatürlich, weil wider die biologische Menschennatur. Das Unbehagen, welches die meisten bei dieser Art von Argumentation verspüren, ist nicht nur inhaltlichen Ergebnissen geschuldet. Es ist vielmehr auch die Form der Argumentation, die irritiert. Es scheint, dass sich der Inhalt der Theorie, nämlich das Plädoyer für Monogamie oder die Ermahnung, keine Verhütungsmittel zu gebrauchen, nicht als besondere Form der Sexualmoral präsentiert, sondern als rationale Konsequenz einer natürlichen Tatsache. Dieses Unbehagen ist gewissermaßen ein methodisches: So kann man eine Norm der Sexualmoral nicht rechtfertigen. Was immer man als moralisches Postulat gewinnen möchte, eine dazu passende anthropologische These lässt sich schon finden. Die ethische (oder allgemeiner: normative) Begründung wird überflüssig, weil sich das jeweilige Postulat aus bestimmten anthropologischen Fakten herleiten lässt.

Der zweite Aspekt des Niedergangs der philosophischen Anthropologie, der für unsere Argumentation relevant ist, betrifft die Willkürlichkeit anthropologischer Annahmen. Der Mensch ist als einzige Spezies in der Lage, eine komplexe Sprache zu sprechen. Also sollte er diese Fähigkeit in besonderer Weise entwickeln. Der Mensch ist als eine der wenigen Spezies in der Lage, Artgenossen zu töten. Sollte er diese Fähigkeit also zur vollen Entfaltung bringen? Der Mensch ist in der Lage, im Gegensatz zu fast allen anderen höheren Säugetieren, Mitleid zu empfinden. Daher sollte dies die Basis einer angemessenen menschlichen Moral sein? Viele Tiere, besonders Raubtiere, fügen anderen Tieren große Schmerzen zu. Aber sadistische Gefühle, das gezielte Quälen anderer Individuen zur eigenen Befriedigung, scheinen eine Besonderheit der menschlichen Spezies zu sein. Kann man daraus ableiten, dass diese besondere Fähigkeit förderungswürdig ist? Dass es widernatürlich wäre, in der Erziehung darauf zu achten, dass sadistische Gefühle unterdrückt werden?

Es ist aber nicht nur die Willkürlichkeit der Auswahl anthropologischer Merkmale des Menschen, sondern auch die Unterbestimmtheit der menschlichen Natur, die unser Unbehagen ausmacht. Der Mensch erscheint als das von Natur am wenigsten determinierte Lebewesen. Seine Lebensform variiert stärker als die anderer biologischer Spezies. Was ist von Natur und was ist vom Menschen selbst bestimmt, sei es individuell oder kollektiv, durch Entscheidungen oder durch kulturelle Prozesse? In der griechischen Klassik wurde dies unter der Entgegensetzung von physei (von Natur) und nomo (durch [menschliche] Setzung) diskutiert. Diese Auseinandersetzung betraf die gerechte Ordnung der Polis, des Stadtstaates. Aristoteles hatte in einer Untersuchung unterschiedlicher Verfassungen von Stadtstaaten viel Material zusammengetragen, das die Variabilität politischen Zusammenlebens illustrierte. Er war der Auffassung, dass das Leben in der Stadt von Natur sei, ebenso wie die Ordnung des Haushalts, des oikos (gr.: οἶκος), die auf Herrschaftsformen von Natur, die des Mannes über die Frau, die der Freien über die Sklaven und die der Eltern über die Kinder, beruhe.5 Zwei dieser drei vermeintlichen Herrschaftsformen von Natur, die Aristoteles postulierte, erscheinen uns heute als eine willkürliche kulturelle und normative Setzung. Die Unterordnung der Frau ist keineswegs naturgegeben, sondern ein Spezifikum vieler historischer Kulturen. Diese antike Auseinandersetzung war auch darauf gerichtet zu prüfen, was überhaupt ein möglicher Gegenstand der Kritik sein könnte. Was von Natur ist, ist vorgegeben. Und es wäre irrational, dieses zu kritisieren. Was menschliche Setzung ist, bedarf dagegen der Rechtfertigung, ist dem Gegenargument ausgesetzt und ist eben ein möglicher Gegenstand der Kritik. Die Tatsache, dass Frauen in den griechischen Stadtstaaten der Klassik nicht gleichberechtigt waren, galt als jeder Kritik entzogen, da vermeintlich von Natur. Dieses Beispiel lehrt unsere Skepsis gegenüber jeder Form der anthropologischen Begründung, sei es der individuellen Moral oder der politischen Ordnung. Es gibt Gesellschaften, in denen die Gleichberechtigung von Mann und Frau weitgehend realisiert ist. Diese sind offenkundig nicht unvereinbar mit der menschlichen Natur. Die Unterordnung der Frauen ist keine anthropologische Konstante. Sie ist nicht von Natur.

Generell galt die Idee gleicher menschlicher Rechte, die machtvolle liberale Menschenrechtstradition, bei konservativen Denkern von jeher als widernatürlich. Gleiche menschliche Rechte widersprächen der Natur des Menschen. Von daher sei auch die Demokratie eine widernatürliche Ordnung, da sie auf gleichen Rechten, auf Menschenrechten beruhe. Lange Zeit haben sich die Kirchen, zumal die katholische, schwergetan, die Demokratie als legitime Staatsform zu akzeptieren, und das zentrale Gegenargument war gerade dies: die Widernatürlichkeit gleicher individueller Rechte. Von Natur gäbe es ein Oben und Unten, von Natur gäbe es Unterschiede zwischen den Menschen, die ihre Gleichberechtigung widernatürlich erscheinen lassen. Von Natur gäbe es keine Gleichberechtigung von Mann und Frau, dies widerspräche zudem dem christlichen Menschenbild. Erst mit dem Zweiten Vatikanischen Konzil wird die Demokratie als legitime Staatsform von der katholischen Kirche offiziell akzeptiert.6 Die Bezugnahme auf die menschliche Natur diente in der Geschichte des menschlichen Denkens häufig dazu, die eigenen (normativen) Überzeugungen der Kritik zu entziehen. Meist, aber nicht immer, hat das anthropologische Argument zudem eine konservative Tendenz. Schließlich gilt es, das immer Gleiche, das allen kulturellen und historischen Veränderungen Entzogene zu betonen und damit eine statische Moral oder politische Theorie zu begründen. Die Bezugnahme auf die menschliche Natur scheint es unnötig zu machen, sich auf die jeweilige kulturelle Situation einzulassen, die aktuellen Überzeugungen, Einstellungen und Empfindungen ernst zu nehmen und Veränderungen zu akzeptieren.

2. Anthropologie und Bildung

Die Kritik der Anthropologie des vorausgegangenen Kapitels beruht auf zwei Einwänden: Der erste war eher methodischer Natur, er kritisierte die Rolle der Anthropologie als Fundament, aus dem sich der Rest der normativen Theorie, sei es in der Ethik, der Politik oder der Jurisprudenz7, ableiten lasse. Der zweite Einwand beruhte auf der Unterbestimmtheit der menschlichen Natur. Offenbar sind ganz unterschiedliche Lebensformen mit der natürlichen Ausstattung des Menschen verträglich. Schon von daher ist es zweifelhaft, ob aus der Natur des Menschen etwas normativ Substanzielles abgeleitet werden kann.

Diese beiden Einwände sollen in diesem zweiten Kapitel nicht zurückgenommen oder auch nur relativiert werden. Dennoch beginnen wir mit der Feststellung, dass es keine Bildungsanstrengung geben kann ohne ein Menschenbild, auf welches sich diese bezieht – sei es explizit (bewusst und möglicherweise auch formuliert), sei es implizit (unbewusst und indirekt). Selbst sprachgeschichtlich scheint es hier einen unauflöslichen Zusammenhang zu geben. Bildung ist ein Terminus, der in anderen europäischen Sprachen keine eindeutige Entsprechung hat. Das italienische Pendant ist »formazione«, das aber eher einer bemühten Übersetzung aus dem Deutschen ins Italienische entspricht. Im Englischen stehen Termini wie education, sophistication, knowledge für Übersetzungen zur Verfügung (span.: formación, educatión, creatión; franz.: éducation, formation). In keiner anderen Sprache gibt es jedoch die sprachliche Verbindung von Bildung und Bild. Bilden, formen, sich ein Bild machen – es ist bis heute nicht geklärt, wie die sprachgeschichtlichen Ursprünge zu interpretieren sind. Manches spricht dafür, dass mystisches Denken, etwa bei Meister Eckhart, diesen gemeinsamen Ursprung plausibel macht.

Unabhängig vom sprachgeschichtlichen sehe ich einen systematischen Zusammenhang zwischen Bildung und Menschenbild. Wir machen uns eine Vorstellung von uns selbst, von dem, was Menschen sein sollten, und nach dieser Vorstellung richtet sich Bildung im doppelten Sinne als »bilden von« und als »selbst bilden«. Sofern Bildung aktiv und bewusst verfolgt wird, gibt es ein Ziel der Bildung, selbst wenn dieses Ziel prinzipiell unerreichbar sein sollte. Da der Inhalt von Bildung die Formung der menschlichen Persönlichkeit ist (der eigenen und derjenigen anderer), ist Bildung ohne Persönlichkeitsideal nicht vorstellbar. Es ist schwierig, an dieser Stelle inhaltlich neutral zu bleiben, da sich die gewählte Terminologie schon auf ein humanistisches Konzept von Bildung festzulegen scheint. Daher sollten wir zunächst diese Begriffe so weit als möglich fassen. Bildung steht hier also nicht in Entgegensetzung zur Ausbildung. Die »Bildung der Persönlichkeit« nicht im Gegensatz zu »Ausbildung von Fertigkeiten«. Am Ende eines Bildungsprozesses steht ein Mensch mit seinen Merkmalen, zu denen Fertigkeiten, Wissen, Charaktereigenschaften etc. gehören. Wenn wir nicht wissen, unter welchen Bedingungen Bildung erfolgreich ist, dann wäre der Prozess als solcher ziellos. Wenn wir aber wissen, unter welchen Bedingungen Bildung erfolgreich oder erfolglos ist, erfolgreicher oder weniger erfolgreich, dann offenbaren wir (normative) Bildungskriterien. Das Ergebnis von Bildung ist immer die Person, ihre Eigenschaften und ihre Praxis. Wir offenbaren also ein Bild einer mehr oder weniger idealen Person, eine normative Anthropologie, dadurch, dass wir Kriterien haben, um den Erfolg von Bildung zu beurteilen.

Nun könnte es sein, dass diese Orientierung von Bildungsprozessen personen-relativ wäre. Jede Person hätte ihr Ideal. Möglicherweise hätten die Personen auch unterschiedliche Vorstellungen von Bildungsidealen anderer Personen. Dann hätten wir so etwas wie einen umfassenden Bildungskonflikt. Realistisch ist das nicht. Das eigene Bildungsideal ist abhängig von der Vorstellung, wie menschliches Leben als solches gestaltet sein sollte, wie Menschen miteinander umzugehen haben, welche spezifischen Fertigkeiten sie entwickeln sollten, welche Fähigkeiten sie benötigen, was eine gute Praxis, ein gutes Leben und einen guten Menschen ausmacht. Das je individuelle Ziel ist nicht isoliert, sondern hängt mit Meinungen zu allgemeinen (Bildungs-)Zielen zusammen. Die individuellen Ziele offenbaren deswegen in der Regel nicht nur ein (Ideal-)Bild der eigenen Person, sondern ein Ideal des menschlichen Lebens als solches, einschließlich seiner kulturellen und individuellen Besonderheiten.

Wenn von einem Menschenbild (im Singular) die Rede ist, dann schließt das nicht aus, dass dieses nach Herkunft, Geschlecht, Stand und Alter differiert. Die Rede von den Eigenschaften des Menschen ist eine Besonderheit des modernen Denkens mit seinen Stärken und Schwächen. Zu seinen Stärken zählt das Streben nach universeller Geltung. Zu seinen Schwächen seine Tendenz zur Simplifizierung, da universelle Geltung nur um den Preis der Abstraktion zu haben ist; eine Abstraktion, die von den Besonderheiten der jeweiligen Bedingungen absieht. Wie wir noch sehen werden, sind diese Stärken und Schwächen allerdings eng miteinander verbunden.

Jean-Jacques Rousseau ist einer der bedeutendsten politischen Philosophen und zugleich einer der bedeutendsten Bildungstheoretiker.8 Beide Teile seiner Theorie beruhen auf einer modernen Anthropologie. Wie alle anderen Theoretiker der Moderne nimmt er an, dass Menschen frei und gleich geboren werden und erst durch die sozialen und politischen Verhältnisse in Knechtschaft geraten. Zur Illustration dieser ursprünglichen Freiheit greift er auf das Bild des frei im Walde herumziehenden Urmenschen zurück. Vermutlich inspiriert durch Reiseberichte der damaligen Zeit, beschreibt er eine ursprüngliche, natürliche Lebensform. Demnach streifte der Naturmensch durch die Wälder und fand nur in der gelegentlichen Vereinigung mit einer Frau, mit der er Kinder zeugte, zu einer vorübergehenden Gemeinschaft. Er war autark in dem Sinne, als es ihm an nichts mangelte. Die Natur bot die notwendigen Ressourcen für diesen natürlichen Lebensstil, der weder Besitztümer noch Herrschaft kannte. Diese ursprüngliche Freiheit wiederherzustellen war das Ziel der politischen Theorie von Jean-Jacques Rousseau. Allerdings nicht in Gestalt einer Rückkehr in den Naturzustand, sondern in Gestalt der Etablierung der Republik. In der Republik folgen die citoyens (die Bürger) nur denjenigen Regeln (Gesetzen), die sie sich selbst gegeben haben. Seinem eigenen Leben Regeln zu geben, beschränkt die Freiheit des Einzelnen jedoch nicht. Der bourgeois allerdings, derjenige, dem es um die Förderung seiner Privatinteressen geht, ist nun Untertan. Untertan gegenüber dem souverain, der aus den citoyens besteht, aus den Mitgliedern der Versammlung, der er selber angehört.

Die ursprüngliche Freiheit entspricht der anthropologischen Theorie von Jean-Jacques Rousseau. Der Mensch ist von Natur, also autark und in diesem Sinne frei. Es gibt keine natürlichen Herrschaftsverhältnisse, keine Besitztümer, keine Ständeordnung. Die politische Ordnung ist nur legitim, wenn sie die Zustimmung derjenigen gewinnt, die ihre ursprüngliche Freiheit (durch das Ende feudaler Herrschaft) wiedererlangt haben. Die Zustimmung der Freien und Gleichen ist Kriterium einer legitimen politischen Ordnung. Man kontrastiere diese Anthropologie Jean-Jacques Rousseaus etwa mit derjenigen der Verteidiger der britischen Krone gegen die Angriffe der Whigs. Demnach ist die Herrschaftsordnung der Familie von Natur aus gegeben und die königliche Herrschaft entspricht dieser natürlichen Familienordnung im größeren Maßstab.9 Beide anthropologischen Theorien beanspruchen für sich universelle Geltung. Beide spielen für die politische Theorie eine fundamentale Rolle, wie wir sie im vorausgegangenen Kapitel beschrieben haben. Beide sind radikal vereinfachend und werden der Vielfalt menschlicher Lebensformen nicht gerecht. Wenig spricht dafür, dass es jemals in der Geschichte der Spezies »Mensch« eine Phase gegeben hat, in der die Menschen waren, wie Jean-Jacques Rousseau sie im Naturzustand sich vorstellte. Aber auch die patriarchalische Familienordnung ist im historischen und im internationalen Vergleich eine Besonderheit. Die heutige empirische Anthropologie vermutet, dass die Menschen von jeher in Gemeinschaften gelebt haben – Gruppen von 30 oder auch 200 Personen. Die Lebensform des Orang-Utans (in der einheimischen Sprache bedeutet diese Bezeichnung »Wald-Mensch«) war wohl zu keinem Zeitpunkt seit der Frühzeit der menschlichen Spezies vor zweieinhalb Millionen Jahren charakteristisch für die menschliche Lebensform. Unterschiede in Muskulatur und Knochenbau, auch in Bezug auf die Spezifika mentaler Fähigkeiten, sprechen allerdings dafür, dass es jedenfalls über eine sehr lange Phase der Menschheitsgeschichte eine Arbeitsteilung zwischen den Geschlechtern gegeben hat, in der Männer mehr für »Jagd und Krieg« und Frauen mehr für das Sammeln von Früchten und die Betreuung der Kinder (oder jeweils des jeweiligen Kleinkindes, wenn bestimmte Theorien zutreffend sein sollten) zuständig waren. Nichts deutet jedenfalls darauf hin, dass die feudale Ordnung des Mittelalters und der frühen Neuzeit in Europa eine anthropologische Konstante darstellt.

Die Grundzüge der Bildungstheorie Jean-Jacques Rousseaus haben wesentliche Impulse von der Idee einer natürlichen menschlichen Lebensform empfangen. Auch wenn seine Anthropologie, als empirische Theorie verstanden, offenkundig irrt, ist damit noch nichts über die Bildungstheorie als Ganze ausgesagt. Sie ist getragen von einer normativen Idee, wonach man den Kindern für ihre eigenständige Entwicklung Spielraum geben sollte, sie nicht abrichten, sondern sich entwickeln lassen sollte, ihre natürlichen Anlagen bewundern und nicht als Merkmale einer zu bändigenden wilden Natur bekämpfen sollte. In der Bildungstheorie Jean-Jacques Rousseaus manifestiert sich das Ideal eines autarken Individuums, und dieses Ideal verliert seine Bedeutung nicht dadurch, dass es das Rousseau’sche Phantasma des (männlichen) allein und frei durch die Wälder streifenden Urmenschen nie gegeben hat.

3. Normative Anthropologie

Jede menschliche Praxis offenbart Wertungen. Wir können auch sagen, jeder menschlichen Praxis sind Werte inhärent. Wir verstehen das Verhalten einer Person nur, wenn man es als Ausdruck von Gründen interpretiert, die sich die Person zu eigen gemacht hat. Wir können für jede Handlung Gründe angeben. Anders formuliert: Wenn ein Verhalten nicht begründet werden kann, dann hat es keinen Handlungscharakter. Man kann dies zuspitzen und sagen, dass wir gerade für diejenigen Bestandteile unseres Verhaltens Verantwortung tragen, die Handlungscharakter haben. Der Handlungs- und der Verantwortungsbegriff sind eng miteinander verknüpft10, während die heute dominierende Auffassung meint, dass Handlungen erklärt werden, indem wir die Wünsche benennen, welche die Person hat, und die Überzeugungen, die sie dazu bringen, gerade diese Handlung zu vollziehen, in der Absicht, ihre Wünsche zu erfüllen. Wir setzen dem entgegen, dass es in letzter Instanz die Gründe sind, die eine Person sich zu eigen gemacht hat, die Handlungen erklären. Moralisch gereifte Personen können sich von eigenen Wünschen distanzieren. Man kann entscheiden, diesen gemäß nicht zu handeln. Eine solche Entscheidung repräsentiert eine Überzeugung (z.B. die Überzeugung, dass man diesen Wünschen nicht folgen sollte) und nicht selbst wiederum einen Wunsch (außer in dem trivialen Sinne, dass die Überzeugung, etwas tun zu sollen, bei vernünftigen Menschen auch in dem Wunsch resultiert, das, was man tun soll, auch tatsächlich zu tun).

Es sind in erster Linie die Gründe, die die Identität einer Person ausmachen und nicht ihre Wünsche (Neigungen). Wir identifizieren uns mit unseren Gründen. Wir kontrollieren unsere Gründe über das eigene Urteil, die Abwägung und die Deliberation. Gründe münden immer in einer Stellungnahme, auch dann, wenn sich diese auf Handlungen beziehen, also wenn es sich um praktische Gründe handelt. Bei den theoretischen Gründen ist dies ohnehin offenkundig. Wenn ich einen Grund für eine Überzeugung habe, wenn ich Gründe für und wider eine Hypothese abwäge, dann nehme ich als Resultat dieser Abwägung Stellung (zu dieser Überzeugung, zu dieser Hypothese), das heißt, ich mache mir diese zu eigen oder auch nicht. Diese Fähigkeit zur Stellungnahme in praktischer wie in theoretischer Hinsicht ist Ausdruck einer entwickelten Persönlichkeit.

Man kann diesen Zusammenhang auch folgendermaßen fassen: Es sind nicht die jeweils gegebenen Wünsche (desires), sondern die Bewertungen, die wertenden Stellungnahmen, die in der Praxis einer Person zum Ausdruck kommen. Keine Praxis ohne Wertung. Keine Handlungserklärung ohne Erkenntnis der wertenden (normativen) und nicht wertenden (deskriptiven) Stellungnahmen einer Person, ohne Kenntnis ihrer praktischen und theoretischen Gründe. Ich vermute, dass die griechische Stoa diese Erkenntnis zum Ausdruck bringen wollte, wenn sie behauptet, dass eine Entscheidung ein Urteil sei (gr.: προαίρεσις κρίσις ἐστἱν).11

Dieser Zusammenhang von Bewertung, Begründung und Interpretation (Erklärung) ist nur möglich, wenn man etwas voraussetzt, das man – noch etwas vage – als »Kohärenz« bezeichnen kann. Menschen, die ihr Verhalten einmal so und dann wieder ganz anders, eben widersprüchlich, begründen, erscheinen uns unverständlich, wir können uns ihr Handeln nicht erklären. Wir machen niemandem zum Vorwurf, wenn sich seine Wünsche im Laufe der Zeit ändern. Unmittelbar vor dem Frühstück habe ich Hunger, daher habe ich den Wunsch, diesen Hunger zu stillen. Nach dem Frühstück ist dieser Hunger verflogen und ich habe keinen Wunsch mehr zu essen. Dies ist kein Zeichen für Inkohärenz. Wenn ich jedoch eine bestimmte Verhandlung damit rechtfertige, dass ich auf jemand anderen Rücksicht nehmen wollte, aber sogleich die Person ausgesprochen rücksichtslos behandle, dann werden wir die entsprechende Person nicht nur tadeln, sondern ihr Verhalten erscheint uns unverständlich oder die gegebene Begründung unglaubhaft.

Begründungen nehmen häufig auf Wünsche, eigene und fremde, in der einen oder anderen Weise Bezug. Dass ich Hunger habe und den sich daraus ergebenden Wunsch entwickle, diesen zu stillen, begründet Handlungen, die mir diesen Wunsch erfüllen. Immer dann, wenn ich Hunger habe und den Wunsch habe, diesen Hunger zu stillen, habe ich Gründe, etwas zu unternehmen, um mir diesen Wunsch zu erfüllen. Die Wünsche kommen und gehen, die Gründe bleiben sich gleich. Wünsche habe ich oder ich habe sie nicht, Wünsche in dem engeren Sinne von »Neigungen« (wie dieser Terminus von Immanuel Kant verwendet wird) sind gegeben, Neigungen sind also kein Ergebnis der Abwägung von Gründen. Neigungen sind gerade deswegen der Kritik entzogen, weil sie – jedenfalls unmittelbar – durch die Abwägung von Gründen nicht beeinflussbar sind. Wohl aber sind wir als rationale Akteure in der Lage, manchen unserer Neigungen zu folgen und anderen nicht. Wir haben Gründe, nicht allen unseren Neigungen zu folgen. Erst mit unserer Handlung, nicht schon mit unserer Neigung, nehmen wir Stellung und müssen uns für diese Stellungnahme rechtfertigen (für die Handlung und die diese Handlung zum Ausdruck bringende [normative] Stellungnahme).

Man kann die gesamte Praxis des alltäglichen Rechtfertigens von Meinungen und Handlungen als das Unternehmen interpretieren, die subjektiven Stellungnahmen abzugleichen, sie einer intersubjektiven Kritik zu unterwerfen. Diese Stellungnahmen sind zum Teil normativer Natur, nämlich dann, wenn es darum geht, was getan werden sollte, und zum Teil deskriptiver Natur, nämlich dann, wenn es darum geht, zu klären, was der Fall ist. Beide Typen von Stellungnahmen bestimmen die Praxis. Erst im Austausch von Gründen, erst in der Kommunikation, in der alltäglichen Verständigung werden die praxisinhärenten Werte geklärt und gegebenenfalls kritisiert. Diesen alltäglichen Austausch von Gründen, das »Geben und Nehmen von Gründen«12, kann man als einen kulturellen und sozialen Prozess verstehen, in welchem die je subjektiven Perspektiven abgeglichen werden, durch welchen geklärt werden soll, was von dem, was Einzelnen wünschenswert erscheint, sozial akzeptabel oder sogar sozial wünschenswert ist.

In liberalen Kulturen werden die Grenzen der individuellen Bestimmung des Wünschenswerten weit gesteckt, begrenzt nur durch die mögliche Verletzung individueller Rechte anderer, aber auch durch Verpflichtungen der Kooperation und Pflichten der Gemeinschaftszugehörigkeit. Liberale Gesellschaften müssen sich nicht generell über das Wünschenswerte verständigen, sondern lediglich sicherstellen, dass Menschen ihr eigenes Leben autonom gestalten können in den Grenzen, die eine vergleichbare Autonomie für alle ermöglicht. Man könnte diese Konzeption als Kantischen Liberalismus bezeichnen.13 Dieser ist deutlich unterschieden von den Markt-Radikalen, die meinen, dass der bestmögliche gesellschaftliche Zustand sich dann einstellt, wenn jeder seinen eigenen Wünschen folgt, allenfalls durch Rechtssicherheit und Vertragstreue beschränkt. Die reine Marktgesellschaft ist eine libertäre Vision, die nicht Autonomie sichert, sondern lediglich ökonomische Effizienz. Die soziale Demokratie etabliert Verpflichtungen der Kooperation, die sie auch institutionell (in Gestalt des Sozialstaates) sichert. Sie steht im Gegensatz zur libertären Marktgesellschaft und geht über den Kantischen Liberalismus hinaus. Aber auch sie kehrt nicht zurück zur Idee des gemeinschaftlich Guten, auch sie erlaubt ein breites Spektrum individueller Wertungen unterschiedlicher Lebensformen.

Die Toleranz gegenüber unterschiedlichen individuellen Wertungen und Meinungen, die der modernen Demokratie eigen ist, darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass es in jeder gesellschaftlichen Ordnung einen Kernbestand gemeinsamer »anthropologischer Wertungen« geben muss. Jede politische und gesellschaftliche Ordnung bezieht ihre Legitimation aus einem Konsens höherer Ordnung. Ein Konsens, der mit den Differenzen individueller Lebensformen und Wertungen vereinbar ist. In den Stadtstaaten der griechischen Klassik manifestierte sich dieser Konsens in den Riten und Festivitäten zu Ehren der Götter, in modernen Rechtsstaaten äußert sich dieser Konsens unter anderem in Gestalt einer allgemein respektierten Verfassung. Diese enthält die Normen, nach denen Recht und Gesetz zu gestalten sind. Diese Normen wiederum repräsentieren die Vorstellung eines humanen Zusammenlebens. Die Vorstellung von Grundrechten, welche die Autonomie des Einzelnen und von Institutionen sichern sowie in der Demokratie sicherstellen, dass alle Macht vom Volke ausgeht. Die demokratischen Verfassungen der Moderne formulieren das normative Ideal einer Gesellschaft der Freien und Gleichen, einer politischen Gemeinschaft von Individuen, die gleichermaßen frei sind. Sie zeugen von einem anthropologischen Selbstverständnis, von einer Anthropologie gleicher Freiheit, gleicher Verantwortung und gleichen Respekts. Es handelt sich um eine normative Anthropologie, nicht um die Feststellung biologischer Eigenschaften der Spezies »Mensch«, nicht um den Versuch, die Moral einer Weltanschauungsgemeinschaft jeder Kritik zu entheben. Es handelt sich um eine Anthropologie, die sich in der institutionellen, in der rechtlichen, in der politischen, in der kulturellen und in der sozialen Praxis bewähren muss, eine Anthropologie, die im günstigsten Falle das normative Selbstverständnis der Bürgerschaft als Ganzes zum Ausdruck bringt.