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Rainer M. Schröder

Auf der Spur des Falken

Roman

hockebooks

Barrikadenkämpfe

Das Zimmer war in Halbdunkel getaucht. Doch hinter den Gardinen zeichnete sich das helle Rechteck des Fensters ab, auf dem die Morgensonne stand. Verschlafen richtete sich Tobias im Bett auf. Irgendetwas hatte ihn geweckt. Doch im Haus war es still. Es musste daher noch früh am Tag sein.

Da war es wieder, das Geräusch, das ihn aus dem Schlaf geholt hatte! Ein Klirren der Fensterscheibe! Als ob jemand mit kleinen Steinen warf!

Tobias schwang sich aus dem Bett, trat zum Fenster und schob die Vorhänge zurück. Er kniff die Augen vor dem hellen Sonnenlicht zusammen und spähte in den Garten hinunter.

»Was ist?«, fragte Sadik, der nun ebenfalls aufgewacht war, verschlafen.

»Gaspard! Ich soll zu ihm kommen! Er hat wohl eine wichtige Nachricht für uns!« Tobias gab ihm ein Zeichen, dass er verstanden hätte und sich schnell anziehen würde.

»Dann lauf runter und hör dir an, was er so dringend loswerden will. Aber vergiss deinen Geldbeutel nicht. Der Bursche kennt seinen Wert sehr genau.« Sadik gähnte und streckte sich im Sitzen, während Tobias hastig in Kleider und Schuhe fuhr, sich zwei Hände voll Wasser aus der Waschschüssel ins Gesicht schlug und dann aus dem Zimmer huschte.

Er hatte angenommen, dass ihn Gaspard vor der Tür erwarten würde, doch da war er nicht. Er ging ums Haus. Gaspard stand nahe der Mauer bei zwei dichten Sträuchern und winkte ihn zu sich.

Als Tobias nur noch zwei Schritte entfernt war, griff er hinter sich ins Gebüsch, zog eine Muskete hervor und warf sie ihm zu.

Tobias fing sie auf und machte große Augen. »Heiliges Kanonenrohr! Wo hast du die denn her?«

Gaspard brachte noch eine zweite Muskete zum Vorschein. »Toll, was? Ich habe auch genug Pulver und Blei, um es mit der halben Schweizer Garde aufnehmen zu können!«, verkündete er stolz.

»Mein Gott, wo hast du die Waffen her?«, wiederholte Tobias seine Frage fast erschrocken.

»Während ihr in euren weichen Betten gelegen habt, habe ich mir die Nacht um die Ohren geschlagen, wie übrigens viele andere auch. Da war ganz schön was los auf den Straßen heute Nacht, das kann ich dir sagen. Vor allem im Zentrum und drüben im Osten sind jede Menge neuer Barrikaden errichtet worden. Da hat so mancher Baum und manche Kutsche dran glauben müssen«, berichtete er voller Begeisterung. »Und dann haben wir im Faubourg Saint Antoine die Waffengeschäfte aufgebrochen und geplündert. Die Soldaten, die sich heute in die Stadt wagen, werden einen heißen Empfang bekommen, darauf kannst du dich verlassen. Schon jetzt wird überall in den Werkstätten gearbeitet, damit nachher genug Kartuschen zur Hand sind. Aus den Druckereien schleppen sie die bleiernen Typen an und die Kinder liefern ihre Murmeln ab. Damit werden die Kartuschen gefüllt, auch mit Nägeln und Schrauben! Wir haben in Paris wieder eine echte Revolution, und dieser feiste Marschall Marmont, der den Oberbefehl über die Truppen hat, kann sich auf einen Straßenkampf einrichten, von dem man bestimmt noch spricht, wenn er schon längst im Grab liegt. Es sollen schon Truppenteile zu uns übergelaufen sein.«

Tobias war zuerst völlig sprachlos. Dann fragte er: »Und du wirst an den Barrikadenkämpfen teilnehmen?«

»Hätte nicht übel Lust, den Burschen eins auf den Pelz zu brennen, die König Charles an der Macht halten wollen«, antwortete er und zielte mit der Muskete auf einen imaginären Angreifer. »Doch zuerst muss ich mit euch in die Rue Calbrot.«

»Rue Calbrot? Was sollen wir denn da?«

Gaspard grinste. »Ich denke, ihr seid auf das merkwürdige Buch so scharf, das ihr in dem Geschäft mit der Porzellanguillotine vermutet?«

Tobias riss die Augen auf. »Sag bloß, du hast das Geschäft gefunden?«, stieß er erregt hervor.

»Du hast es erraten. Ich habe mich diese Nacht noch mal in der Gegend umgeschaut, und in der Rue Calbrot stand ich dann plötzlich vor einem kleinen Laden, der so eine Guillotine im Schaufenster stehen hat. Die sollte man König Charles auf den Frühstückstisch stellen, damit er weiß, was die Stunde geschlagen hat!«

Tobias hätte ihn am liebsten umarmt. »Gaspard! Du bist ein Teufelskerl! Das vergesse ich dir nie.«

Gaspard lachte. »Das hoffe ich auch! Wir sollten so schnell wie möglich aufbrechen. Wir gehen über die Dächer. Aber wer weiß, wie weit wir gelangen, wenn nachher überall gekämpft wird. Da können wir dann leicht irgendwo festsitzen.«

Tobias gab ihm die Muskete zurück. »Warte hier! Ich sage Sadik Bescheid. Wir können sofort los!«

Er eilte ins Haus zurück. Sadik war schon angezogen, doch als er hörte, wie sehr sich die Lage in Paris zugespitzt hatte, war er von der Idee, sich jetzt ins Zentrum zu begeben, wenig begeistert.

Doch Tobias wollte von Abwarten nichts wissen. »Wir nehmen den Weg über die Dächer. Und sollte es brenzlig werden, bleiben wir einfach, wo wir sind. Sadik, wir müssen es wagen! Wer weiß, wie lange es hier noch drunter und drüber geht. Vielleicht dauern die Kämpfe wochenlang! Willst du etwa so lange hier herumsitzen und Däumchen drehen?«, redete er beschwörend auf ihn ein. »Zeppenfeld kann so gut wie jede Stunde auf den Plan treten, und dann ist guter Rat teuer. Noch haben wir eine Chance, den Koran an uns zu bringen und Paris zu verlassen, bevor es zu spät ist.«

Sadik gab nach, wenn auch widerstrebend. »Aber Jana bleibt hier.«

»Klar, sie könnte mit ihrer Schulterprellung und dem verstauchten Fuß ja auch gar nicht mit uns Schritt halten. Ich schreib ihr schnell eine Nachricht, damit sie sich keine Sorgen um uns macht.«

Tobias eilte in den Salon hinunter, kritzelte schnell ein paar Zeilen auf ein Blatt Papier und betrat wenig später Janas Zimmer. Sie schlief noch tief und fest. Er legte die Nachricht auf den Waschtisch und schlich dann wieder lautlos aus dem Zimmer.

Gaspard hatte nicht übertrieben. In Paris herrschte die Revolution. Fast jedes Viertel hatte sich hinter hohen Barrikaden verschanzt, auf denen nicht selten die Trikolore wehte, die schon einmal das Freiheitssymbol einer französischen Revolution gewesen war.

Auf der anderen Seite des Flusses gelangten sie fast nur noch über das Dächermeer voran, und manchmal pochte Tobias das Herz wild im Hals und der Mund wurde ihm trocken, wenn sie in schwindelerregender Höhe über die Grate turnten, über Schornsteinbarrieren kletterten und über sechs Stockwerke tiefe Abgründe springen mussten. Doch eine andere Möglichkeit, um ihr Ziel zu erreichen, gab es nicht. Denn Marschall Marmont hatte seinen Truppen Befehl erteilt, den Aufruhr mit Waffengewalt zu beenden. Unter ihnen tobten die Kämpfe. Und auf beiden Seiten floss Blut. Viel Blut.

Die Soldaten waren zwar besser bewaffnet. Doch in den engen Gassen kamen sie kaum von der Stelle und behinderten sich gegenseitig, was besonders auf die Kavallerie zutraf, die ihre Schlagkraft nicht entfalten konnte. Zudem kämpfte die Bevölkerung der Stadt mit allen Mitteln gegen die zersplitterten Truppeneinheiten an, wenn sie nicht mit der Waffe in der Hand eine der unzähligen Straßensperren verteidigte. Wo immer die königstreuen Soldaten auftauchten, gerieten sie nicht nur in das Kreuzfeuer von Barrikadenkämpfern und in den Häusern versteckten Heckenschützen, sondern aus den Fenstern ging auch ein dichter und nicht weniger wirksamer Hagel aus Blumentöpfen, Steinen, Dachziegeln, Möbelstücken und vollen Nachtgeschirren auf sie nieder. Und dieser unablässige Beschuss ließ die Soldaten nicht nur zum Gespött der Leute werden, sondern hinderte sie auch daran, den Revolutionären ein reguläres Gefecht zu liefern.

Für die Aufständischen war zudem noch von Vorteil, dass viele Truppenteile außerhalb der Stadt stationiert waren, sich in Paris nicht auskannten und ziellos durch das Gewirr der Gassen irrten, bald demoralisiert und zermürbt von den Scharmützeln und dem Bombardement aus den Häusern. Sie waren darauf gedrillt, ihren Mann in einer offenen Feldschlacht zu stehen, nicht jedoch einen Straßenkampf zu führen, bei dem man nicht wusste, wo die gegnerischen Linien verliefen. Genau genommen war der Gegner überall und nirgendwo und damit nicht zu stellen. Denn wurde hier mal eine Barrikade eingenommen, was selten genug der Fall war, entstand ein paar Straßen weiter eine neue – oder aber die Aufständischen räumten eine der breiteren Straßen vor einer anrückenden Abteilung mit Kanonen, um den Soldaten wenig später in einer engen Gasse in den Rücken zu fallen, wo sie keine Möglichkeit mehr fanden, ihre Geschütze schnell genug zu wenden. Und welchem erfahrenen Soldaten, der doch selbst aus einfachen Verhältnissen stammte und nur einen bescheidenen Sold bezog, bereitete es noch dazu Vergnügen, auf Frauen und Kinder zu feuern, die an der Seite ihrer Männer und Väter heftigen Widerstand leisteten? So war es kein Wunder, dass immer mehr Mannschaften der Linientruppen, dem Rückgrat der königlichen Armee, im Laufe des Tages in den Ruf Vive la Charte! einstimmten, die Fronten wechselten und unter der Trikolore kämpften.

Als Tobias, Sadik und Gaspard endlich ihr Ziel erreichten, hatten die Aufständischen schon den Sitz des Stadtpräfekten besetzt, den seine Verteidiger, ohne einen Schuss abzugeben, fluchtartig geräumt hatten, und auf dem Dach des Hôtel de Ville die Trikolore gehisst. Doch an zahlreichen Punkten der Stadt gingen die Kämpfe mit unerbittlicher Härte und Verbissenheit auf beiden Seiten weiter. Dazu gehörte auch die Barrikade am oberen Ende der Rue Calbrot.

Ein letzter Sprung von einem Vorsprung auf das Dach eines Hauses, das ein Stockwerk weniger aufwies, und ihr abenteuerlicher Weg hoch über den Straßen der Stadt hatte sein Ende gefunden. Sie zwängten sich durch eine Luke, liefen das dunkle Treppenhaus hinunter und standen dann in der heißen Julisonne auf der Rue Calbrot.

»Da drüben ist das Geschäft! Gleich links neben der Toreinfahrt!«, rief Gaspard und wies über die Straße.

Es war ein kleiner Laden, der ein buntes Durcheinander von billigem Trödel und preiswerten Antiquitäten führte. Im Fenster stand neben zwei Kerzenleuchtern und einem Heiligenbild tatsächlich eine kleine Guillotine aus Porzellan. Das Geschäft war natürlich geschlossen, die Tür durch ein Eisengitter versperrt.

Sie fragten eine alte Frau, die aus der benachbarten Toreinfahrt kam und einen Korb mit Kartuschen schleppte, nach dem Besitzer.

»Sie suchen Monsieur Taynard? Den finden Sie da oben auf der Barrikade! Wie alle anderen aus unserer Straße, die wissen, wo zu dieser Stunde ihr Platz ist!«, teilte sie ihnen mit und ihr runzeliges Gesicht zeigte Stolz und Entschlossenheit.

»Lassen Sie mich das tragen! Wir kommen mit«, sagte Sadik und nahm der Frau den schweren Korb ab. Im Schutz der Hausfassaden liefen sie zur Barrikade. Sie bestand aus mehreren umgestürzten Fuhrwerken, gefällten Bäumen, Dutzenden von Schränken, Tischen und Stühlen, Pflastersteinen, Tonnen und Kisten sowie einem Gewirr von Brettern und Balken, Kesseln, Blechen und sandgefüllten Säcken. Sie ragte gut zwei Meter in die Höhe, von einer Hauswand zur anderen. Oben auf der Spitze wehte die blau-weiß-rote Trikolore, die Fahne der Revolution.

Mehr als drei Dutzend Männer und Frauen hatten sich dahinter verschanzt und feuerten auf die Soldaten, die gegen die Sperre anstürmten. Am Fuß der Barrikade waren Kinder und Alte damit beschäftigt, Pistolen und Flinten nachzuladen, die ihnen von den Verteidigern nach unten gereicht wurden. Zwei Frauen mit blutbefleckten Kleidern kümmerten sich um die Verletzten. Drei Tote lagen etwas abseits unter einer verschlissenen Plane. Pulverrauch trieb über die Straße und immer wieder mischten sich Schreie in das Krachen der Feuerwaffen.

»Das da oben ist Monsieur Gustave Taynard!« Die alte Frau wies auf einen korpulenten, grauhaarigen Mann, der gerade seine Flinte lud.

Sadik rief ihn an, doch Gustave Taynard verstand ihn im Lärm der unablässig aufpeitschenden Schüsse nicht. Er winkte, dass sie zu ihm hochsteigen sollten.

»Du bleibst hier!«, sagte Sadik zu Tobias.

Doch dieser dachte nicht daran, der Aufforderung Folge zu leisten. Auch er kletterte die Barrikade hoch. »Du bist mein Freund, nicht mein Vater oder Kindermädchen!«

»Republikaner oder verkappte Royalisten?«, lautete die erste Frage des kämpferischen Ladenbesitzers. Sein graues, verschwitztes Haar hing ihm in feuchten Strähnen ins Gesicht, auf dem sich der Schweiß mit Pulver, Dreck und Blut aus einer Platzwunde verschmiert hatte.

»Republikaner!«, rief Tobias voller Überzeugung. Und auch wenn Onkel Heinrich ihn nicht in dieser Geisteshaltung erzogen hätte, spätestens nach dem gestrigen Vorfall mit dem brutalen Kavalleristen wäre er einer geworden!

»Dann macht euch nützlich! Die Burschen da drüben haben soeben Verstärkung erhalten. Wird verdammt hart werden, die Stellung zu verteidigen!«

»Monsieur Taynard, wir sind keine Franzosen …«, begann Sadik, der immer noch hoffte, sich und Tobias aus diesen Kämpfen heraushalten zu können.

»Das hört man, auch wenn ihr unsere Sprache hervorragend sprecht. Aber ob man für die Republik und die Rechte des Volkes ist, hängt nicht davon ab, aus welchem Land man stammt. Die Freiheit ist unteilbar, sie durchdringt alle Gebiete der menschlichen Existenz und sie kennt auch keine Landesgrenzen! Hier gibt es nur eins: Freund oder Feind!« , fiel Taynard ihm ins Wort, schob seine Flinte durch einen Spalt und drückte ab.

»Das ist schon richtig«, unternahm Sadik einen neuen Anlauf. »Wir haben gehört, dass Sie vor zwei Wochen einer jungen Frau einen Koran mit einem Deckel aus gehämmertem Kupferblech abgekauft haben.«

»Jaja, und ich habe ihr mehr gezahlt, als das Buch wert ist, weil sie mir leid tat. Tat so stolz und war doch den Tränen nahe.«

»Haben Sie den Koran noch?«, fragte Tobias hastig und voll banger Erwartung, wie wohl die Antwort ausfallen würde.

»Keine Sorge, ich habe ihn noch.«

»Gott sei Dank!«, stieß Tobias überglücklich hervor.

»Dieser Koran muss ja mächtig wichtig für euch sein«, stellte Gustave Taynard fest.

»Er hat für uns eine große persönliche Bedeutung, die nichts mit seinem Wert als Buch zu tun hat«, bestätigte Sadik. »Und wir wären Ihnen überaus dankbar, wenn wir Ihnen den Koran abkaufen dürften.«

»Mit Vergnügen, aber da werdet ihr euch wohl noch etwas gedulden müssen. Ich werde jetzt bestimmt nicht von der Barrikade steigen, um mich mit so einer Lappalie abzugeben. Hier steht die Freiheit unseres Volkes auf dem Spiel. Und wenn ihr Manns genug seid, werdet ihr euren Teil dazu beitragen, dass wir siegen und König Charles vom Thron stürzen! Ich sehe, ihr seid bewaffnet und euer Begleiter trägt sogar zwei Musketen. Wir können sie verdammt gut brauchen. Also schließt euch uns an!«, forderte er sie fast grob auf. »Jawohl, das ist der Preis, den ich für den Koran verlange! Helft uns, die Barrikade zu halten. Dann bekommt ihr den Koran.«

Sadik und Tobias erhielten keine Gelegenheit mehr, ihm darauf eine Antwort zu geben. Der Strudel der Ereignisse riss sie mit sich, als zwei schnell aufeinanderfolgende Gewehrsalven mit ohrenbetäubendem Krachen auf die Barrikade abgegeben wurden. Ein Mann von vielleicht neunzehn, zwanzig Jahren, der links von Tobias hinter einem Fass gekauert hatte, wurde von einer Kugel getroffen und stürzte aufschreiend hinunter. Auch an anderen Stellen forderte der gegnerische Kugelhagel seinen blutigen Tribut unter den Verteidigern.

»Alles zu den Waffen! Sie wollen die Barrikaden stürmen!«, gellte der Schrei eines jungen Mannes auf, dessen schwarze Uniform ihn als Studenten des Polytechnikums auswies. Die jungen Männer dieser Lehranstalt waren es, die seit dem Montag überall in der Stadt den Widerstand straff organisierten.

Die Schweizer Söldnertruppen auf der anderen Seite der Barriere setzten tatsächlich zum Sturmangriff an. Eine Woge blauer Uniformen, in der Bajonette und Säbel in der gleißenden Mittagssonne blitzten, brandete mit markerschütterndem Geschrei gegen die Barrikade an – und stieg an ihr hoch.

Sadik und Tobias hatten gar keine andere Wahl, als sich an diesem Kampf zu beteiligen. Überrannten die Truppen die Barrikade, war auch ihr Leben keinen Centime mehr wert. Sie mussten mithelfen, den Angriff abzuwehren, schon um ihre eigene Haut zu retten.

Florett und Säbel flogen aus den Scheiden und ein erbitterter Kampf Mann gegen Mann begann. Tobias hatte Mühe, sich mit seinem Florett gegen die Soldaten mit ihren schweren Säbeln und bajonettbewehrten Gewehren zur Wehr zu setzen. Seine Schnelligkeit und meisterliche Fechtkunst wogen zum Glück die Leichtigkeit der Klinge auf.

Das Krachen von Musketen, das Klirren von blankem Stahl auf Stahl und die Schreie der Getroffenen vermischten sich zu einem einzigen Inferno. Er sah verzerrte Gesichter, zum Schrei aufgerissene Münder und überall Blut. Er kämpfte mit Sadik Seite an Seite und keinem Soldaten gelang es, an ihrer Stelle die Barrikade zu übersteigen. Gerade hatte er einen Angreifer abgewehrt und ihn mit einem gezielten Stich in den rechten Arm kampfunfähig gemacht, als er seinen Namen hörte.

Es war Gaspard. »Tobias! Achtung! Links von dir!«, schrie er warnend, ließ seine Muskete fallen, die er hatte nachladen wollen, und griff in die Tasche.

Tobias fuhr herum und erblickte einen Soldaten, der sein Gewehr auf ihn anlegte. Er war zu weit von ihm weg, als dass er ihn mit seinem Florett hätte erreichen können. In dem Moment sah er etwas in Gaspards Hand aufblitzen und ein greller Lichtfleck legte sich gleichzeitig auf die Augen des Söldners. Geblendet verriss dieser den Schuss. Die Kugel sirrte über seinen Kopf hinweg und klatschte in die Hauswand. Sadiks Messer bohrte sich fast sekundengleich in die Schulter des Schützen und schleuderte ihn von der Barrikade.

Gaspard! Er steckte mit dem Taschendieb unter einer Decke!, schoss es Tobias durch den Kopf. Es war Gaspard, der mich vor dem Gemüseladen mit einem Spiegel geblendet hat! Doch wie konnte er ihm jetzt noch böse sein?

Es fehlte ihm auch die Zeit, sich Gedanken darüber zu machen. Der Kampf wogte noch immer wild hin und her. Doch die Männer und Frauen unter der Trikolore wichen nicht zurück. Sie wussten, wofür sie kämpften und mit ihrem Blut bezahlten. Und das brachte die Entscheidung. Denn die Schweizer Söldnertruppe rannte nur gegen die Barrikade an, weil sie dafür bezahlt wurde. Doch die Verluste, die sie erlitten, und der unerschütterliche Widerstand der Aufständischen ließen ihren käuflichen Kampfeswillen ins Wanken geraten.

Die Entschlossenheit, mit der sie gegen die Sperre anstürmten, nahm immer mehr ab. Schließlich brach der Sturmangriff in sich zusammen und die Söldner zogen sich gedemütigt hinter ihre Deckungen zurück.

»Wir haben sie zurückgeschlagen! Vive la Charte!«

Jubel brandete hinter der Barrikade auf und ein Junge zerrte die Trikolore, die ein tödlich getroffener Söldner bei seinem Sturz niedergerissen hatte, unter dem Leichnam hervor und schwenkte sie triumphierend. Blut tränkte das Hemd an seinem linken Arm, wo ihn eine Kugel verletzt hatte. Er wankte, und schnell packte ihn der Student des Polytechnikums um die Hüften und trug ihn auf die Straße hinunter, damit sich die Frauen seiner Verletzung annahmen.

Tobias war noch wie benommen. Das Florett zitterte in seiner Hand. Er war unglaublich erregt und fühlte sich gleichzeitig jeglicher Kraft beraubt. Wie lange hatte der Kampf gedauert? Eine Stunde oder nur wenige Minuten? Er wusste es nicht zu sagen. Sein Blick fiel auf die Klinge. Sie war blutbefleckt. Hatte er mit dieser Klinge Menschen getötet? Menschen, die er nie zuvor gesehen hatte und deren Namen er noch nicht einmal kannte? Was hatte er hier überhaupt verloren?

Ein Gefühl der Schwäche bemächtigte sich seiner und der saure Geschmack von Übelkeit stieg ihm aus seinem leeren Magen in den Mund. Schweiß lief über sein bleiches Gesicht und er musste sich setzen. Er fürchtete, die Beine würden ihm im nächsten Moment den Dienst versagen.

Sadik schüttelte ihn sanft. »Alles in Ordnung, Tobias?«, fragte er besorgt.

»Ja, es geht wieder«, murmelte er. »Mein Gott, es war so schrecklich – die Schreie und all das Blut.«

»Ich weiß, wie du dich jetzt fühlst, mein Junge«, sagte Sadik leise zu ihm. »So ein erstes Gefecht ist für jeden ein schwerer Schock. Ich kenne das nur zu gut. Man braucht lange, um darüber hinwegzukommen, wenn man nicht zu denjenigen gehört, die den Kampf für etwas Ehrenvolles halten und sich am Blut der anderen berauschen. Doch sei beruhigt, Tobias. Du hast dich nicht nur tapfer gehalten, sondern auch Großmut gezeigt. Du hättest sie alle töten können, die dich angegriffen haben, doch du hast es verstanden, ihnen nur Verletzungen zuzufügen, die sie ihrer Kampfkraft beraubten, nicht jedoch ihres Lebens.«

Tobias sah ihn zweifelnd an. Er hätte ihm nur zu gern geglaubt, doch es fiel ihm schwer, da sein Florett so voller Blut war.

»Stimmt das auch? Ich – ich kann mich an nichts mehr erinnern, ich meine an nichts Zusammenhängendes. Der ganze Kampf ist wie – wie ein verschwommenes Bild mit tausend nicht zueinander passenden Szenen«, sagte er stockend.

»Du hast mein Ehrenwort als Beduine«, versicherte Sadik.

Tobias schloss kurz die Augen und atmete tief durch. Im nächsten Augenblick schreckte er hoch, als ihn ein kräftiger Handschlag auf die Schulter traf. »Alle Achtung, mein Sohn!«, rief Gustave Taynard begeistert. »Du hast wie ein Löwe gekämpft! Was sag ich da: wie drei Löwen! Mir ist noch keiner begegnet, der die Klinge so trefflich zu führen verstand wie du. Hätte ich es nicht mit eigenen Augen gesehen, ich würde es nicht glauben. Und das gilt für Sie ebenso, mein Freund«, sagte er zu Sadik gewandt. »Wir haben Ihnen viel zu verdanken. Warten Sie, ich bin gleich mit dem Koran zurück.«

Tobias schob sein Florett in die Scheide und kletterte mit Sadik die Barrikade hinunter. Gaspard trat zu ihm, einen Wasserkrug in der Hand.

»Auch einen Schluck?«, fragte er. Sein Umhang war an mehreren Stellen eingerissen und eine Kugel hatte aus seiner Prothese einen fingerlangen Holzsplitter herausgerissen.

Tobias nickte und trank gierig. »Danke.«

»Für das Wasser?«, fragte Gaspard spöttisch.

»Dass du mir das Leben gerettet hast – mit deinem Spiegel.«

Gaspard grinste verlegen. »Dafür habe ich auch versucht dir deine Geldbörse zu stehlen.«

»Ich weiß, aber das ist jetzt ohne Bedeutung.«

Gustave Taynard kehrte im Eilschritt zu ihnen zurück. Er überreichte Sadik den Koran. »Ihr habt ihn euch mehr als redlich verdient, Freunde der Revolution! Ich wünschte, ich könnte noch mehr für euch tun. Möge Gott euch auf all euren Wegen begleiten.«

»Und möge Allahs Friede mit Ihnen sein, Monsieur Taynard«, erwiderte Sadik.

Der Ladenbesitzer hatte es eilig, wieder auf die Barrikade zu steigen. Denn wenn sie den Sturmangriff auch erfolgreich abgewehrt hatten, so war der Kampf noch längst nicht vorbei.

»Wir haben mehr als unseren Teil dazu beigetragen, dass die Revolution der Pariser nicht im Kugelhagel von Söldnern zusammenbricht«, stellte Sadik mit einem grimmigen Unterton fest, der seinen Unwillen darüber verriet, dass sie überhaupt in diese Revolutionswirren verwickelt worden waren. »Jetzt ist es Zeit, dass wir an unsere Sicherheit und unsere Interessen denken. Und die liegen klar und deutlich jenseits dieser Stadt. Drei Dinge verlängern das Leben: eine gehorsame Frau, ein ausdauerndes Kamel und ein kundiger Führer! Also lass uns gehen, Gaspard!«

Als sie sich auf den Dächern wieder in relativer Sicherheit befanden, verlangte Tobias eine kurze Rast. Er wollte unbedingt den Koran anschauen und das Gedicht lesen, das Wattendorf auf das Deckblatt geschrieben hatte.

Ein wahrer Dschungel von Ranken, Ornamenten und arabischen Schriftzügen, aus dem Kupferblech gehämmert, bedeckte den metallenen Korandeckel. Er wirkte, ganz wie Jean Roland gesagt hatte, viel zu überladen, um den Ansprüchen an ein Kunstwerk gerecht zu werden. Auch wies die Ausführung an vielen Stellen handwerkliche Mängel auf. Manche Ornamente und Ranken ragten viel weiter empor als andere.

Tobias schüttelte den Kopf. »Was für ein wirres Muster! Da tun einem ja die Augen weh, wenn man zu lange hinschaut. Das hat bestimmt kein Meister seines Fachs aus dem Kupfer gehämmert.«

»So wirr wie Wattendorf eben«, meinte Sadik.

Tobias klappte den Deckel um, dessen Rücken mit schwarzem Tuch bespannt war. Gleich rechts davon hatte Wattendorf sein Gedicht gekritzelt. Zumindest nahm er an, dass es sich bei diesen zittrigen Zeilen um ein solches handelte.

»Der Kerl hat wirklich eine unmögliche Handschrift. Da war der Brief, den er meinem Vater geschickt hat, ja geradezu eine kalligrafische Spitzenleistung. Sadik, das kann ich nicht entziffern. Das sieht mir mehr danach aus, als wäre ein Huhn mit Tinte an seinen Füßen über das Blatt gelaufen.«

»Lass mich mal sehen«, bat Sadik und nahm ihm den Koran ab. »Ich bin mit Wattendorfs Handschrift besser vertraut als du. Oh, du hast recht! Sie ist tatsächlich noch miserabler geworden. Aber wir werden sein Gekrakel schon entziffern. Einen Augenblick … Ah, ich glaube, ich habe es. Also hör zu!« Er räusperte sich.

Gespannt hörte Tobias zu, als Sadik ihm Wattendorfs Gedicht vortrug.

Gaspard zeigte dafür jedoch kein Interesse. Ihn faszinierte vielmehr das Geschehen unten in der Straße. Er hatte auch nie gefragt, warum ihnen so viel daran lag, den Koran in ihren Besitz zu bringen. Ihm hatte es genügt, dass er ihnen von Wert war. Die Menschen hatten seiner Erfahrung nach die merkwürdigsten Schrullen und Leidenschaften.

Die Buße für die Nacht
Die Schande und Verrat gebar
Der Koran darüber wacht
Was des Verräters Auge wurd' gewahr

Den Führer durch die Schattenwelt
Hinter Ranken, Ornament versteckt
Das Tuch der Nacht verborgen hält
Wo ein erhabener Weg sich klar erstreckt

Muss glänzen in des Druckers Blut
Die tiefen Höhn in Allahs Labyrinth
Dann aus dem Land der Sonnenglut
Der Plan ins Tal Gestalt annimmt

»Das Gedicht ist genauso wirr wie der kupferne Einband und nicht weniger schwierig wie das zum Falkenstock«, stellte Tobias kopfschüttelnd fest, nachdem ihm Sadik Wattendorfs Rätsel noch zweimal vorgelesen hatte. »Was meint er bloß mit Schattenwelt und tiefen Höhen? Das ist doch paradox. Entweder ist etwas tief, eine Schlucht etwa, oder hoch wie ein Berg. Aber tiefe Höhen? Und wo soll Allahs Labyrinth sein?«

»Wenn Wattendorf in irgendetwas unübertrefflich ist, dann wohl in verqueren Gedanken und Formulierungen«, erwiderte Sadik. »Erinnere dich doch nur an das andere Gedicht. Es erschien uns anfangs nicht weniger unlogisch und unverständlich. Aber dann ergab es doch einen Sinn.«

»Na, hoffentlich beißen wir uns an diesem Koran und seinem Rätsel nicht genauso lange die Zähne aus wie an dem Falkenstock. Jaja, ich weiß schon, was du jetzt sagen willst: Eile treibt die Kamele nicht und der Sieg folgt dem Geduldigen. Aber mir wäre schon lieb, wenn wir diesmal nicht wieder Monate brauchten, um zu kapieren, was Wattendorf mit dem Koran bezweckt und was er wo an wichtigen Informationen für uns erhält.«

Sadik schlug den Koran zu und klemmte ihn sich hinter den Gürtel. »Sei beruhigt. Diesmal sind wir schlauer. Die Erfahrung mit seinem ersten Gedicht wird uns helfen, sein zweites in entschieden kürzerer Zeit zu enträtseln. Und nun wollen wir uns beeilen, dass wir das Viertel der Barrikadenkämpfe wieder heil hinter uns lassen.«

Tobias nickte. »Jana wird sich schon um uns sorgen!« Er lachte stolz und voller Freude. »Ich kann es gar nicht erwarten, ihr den Koran zu zeigen! Augen machen wird sie! Mein Gott, ich kann es ja selbst kaum glauben, dass wir ihn haben!«

»Sehen wir zu, dass wir ihn auch behalten«, meinte Sadik und gab Gaspard ein Zeichen, dass es weitergehen konnte.

Das Ultimatum

Dass ihnen nicht Isabelle oder Eugene öffnete, sondern Jean Roland höchstpersönlich in der Tür stand, hätte Tobias zu denken geben müssen, wie auch die kranke Blässe seines Gesichtes und die Wortlosigkeit, mit der er sie ins Haus ließ. Nicht einmal ein Gruß kam ihm über die Lippen. Doch in seiner überschwänglichen Freude, endlich im Besitz des Korans zu sein und sich Wattendorfs zweitem Rätsel widmen zu können, hatte er für diese Merkwürdigkeiten weder Blick noch Gespür.

»Wir haben ihn, Monsieur Roland!«, rief er freudestrahlend. »Wir haben den Koran! Sie werden es nicht glauben, wenn Sie hören, was wir erlebt haben! Wir mussten uns das Buch regelrecht erkämpfen! Mit der Waffe in der Hand und gegen eine Abteilung Schweizer Söldner!«

»Nun mal langsam«, dämpfte Sadik seine übersprudelnde Freude. Im Gegensatz zu Tobias fiel ihm das veränderte Wesen ihres Gastgebers sehr wohl auf und brachte es mit der unsicheren politischen Lage in Verbindung. »Sihdi Roland hat in diesen Tagen den Kopf gewiss mit anderen Dingen voll.«

»Ja, natürlich. Es tut mir leid, Monsieur Roland«, entschuldigte sich Tobias für sein unerzogenes Benehmen. »Ich schau mal, wo Jana ist.«

Jean Roland hielt ihn am Arm zurück. »Ich – ich muss euch etwas Entsetzliches mitteilen«, flüsterte er stockend und ein nervöses Zucken schien seine Augenlider befallen zu haben. »Ich weiß gar nicht, wie ich es euch beibringen soll. Und es ist in meinem Haus geschehen!«

»Ist etwas mit Jana?«, stieß Tobias erschrocken hervor.

Jean Roland nickte. »Es war Isabelle! Hätte es nie für möglich gehalten, dass sie zu so einem schändlichen Verhalten fähig wäre. Doch sie hat mit Zeppenfeld gemeinsame Sache gemacht und die Männer hereingelassen, die – die Jana entführt haben. Sie ist gleich mit ihr verschwunden.«

Ein eisiger Schreck fuhr Tobias in die Glieder. »O mein Gott, nein! Nicht Jana!« Fassungsloses Entsetzen ließ seine Stimme zittern.

Bestürzung zeigte sich auch auf Sadiks Gesicht. »Zeppenfeld! Sind Sie sich auch ganz sicher, dass Jana entführt wurde? Gibt es keine andere Erklärung für ihr Verschwinden und das Ihres Hausmädchens?«

Jean Roland schüttelte müde den Kopf. »Sie befindet sich in seiner Gewalt. Das hat er mir selber gesagt«

»Zeppenfeld?«, fragte Sadik verwirrt.

»Ja, Armin von Zeppenfeld«, bestätigte der Zeitungsverleger bitter. »Hätte nicht geglaubt, dass ich diesen Charakterlumpen noch mal in mein Haus lassen würde. Und nun muss ich es erdulden, dass er schon seit einer geschlagenen Stunde im Salon sitzt und meinen besten Kognak trinkt.«

Dass Zeppenfeld nebenan im Salon saß und sie erwartete, raubte ihnen im ersten Moment die Sprache. Dann riss Tobias in einem Anfall blinden Zorns sein Florett aus der Scheide, stürmte durch die Eingangshalle und stieß die Flügeltüren zum Salon auf.

Zeppenfeld saß entspannt in einem der chintzbezogenen Sessel. Er trug einen eleganten Sommeranzug aus leichtem, rehbraunem Tuch, hatte lässig die Beine übereinandergeschlagen und drehte auf der Armlehne ein cognacgefülltes Kristallglas in der Hand. Er fuhr noch nicht einmal zusammen, als Tobias mit gezücktem Florett in den Salon stürzte.

»Ich bringe Sie um!«, schrie Tobias außer sich vor Wut und Angst um Jana. Dabei setzte er ihm die Klinge auf die Brust. »Wenn Sie Jana auch nur ein Haar gekrümmt haben, sind Sie ein toter Mann!«

Zeppenfeld lächelte unbeeindruckt, doch es war ein kaltes Lächeln, wie auch seine Stimme kalt war, als er ihm befahl: »Weg mit der lächerlichen Klinge! Ein Kratzer auf meiner Haut und das Mädchen verliert seinen ersten Finger!«

Tobias schluckte heftig, zögerte jedoch.

Sadik war ihm schnell gefolgt. »Tu, was er verlangt!«, forderte er ihn grimmig auf. »Er säße nicht hier, wenn er sich seiner Sache nicht sicher wäre!«

»Hast es begriffen, Beduine. Blatt hat sich gewendet. Keine Chance, mich noch einmal kalt zu überraschen. Habe diesmal für alle Fälle vorgesorgt.«

»Wer mit dem Schädel gegen einen Fels anrennt, erreicht damit nichts weiter als einen blutigen Kopf«, raunte Sadik Tobias zu. »Also lass das Florett sinken und hören wir ihm zu.«

Mit verbissener Miene nahm Tobias die Klinge von Zeppenfelds Brust. »Er soll aber nicht glauben, dass er uns in der Hand hätte, weil er Jana entführt hat! Wir können den Spieß auch umdrehen!«, drohte er und rammte die Klinge wieder in die Scheide.

Zeppenfeld bedachte ihn mit einem höhnischen Blick. »Irrtum! Halte das Heft fest in der Hand. Kein Handel möglich, der mich zum Inhalt hat. Haben klare Befehle, meine Männer. Habt vielleicht die Kutsche gesehen, die ein Stück oberhalb von Jeans Haus stand und anfuhr, als ihr zurückkamt?«, fragte er und nahm genüsslich einen Schluck Kognak.

Sadik nickte widerstrebend.

»Saß Tillmann drin«, fuhr Zeppenfeld lächelnd fort. »Ist längst auf dem Weg zu unserem Quartier. Kehre ich nicht in spätestens einer Stunde zurück, hat das Mädchen nur noch neun Finger, nach einer weiteren halben Stunde nur noch acht. Keine leere Drohung, habt mein Wort drauf!«

»Sie dreckiger Schweinehund!« Tobias musste an sich halten, ihm nicht doch an die Kehle zu gehen.

»Nur ruhig«, mahnte Sadik besorgt, dass sich Tobias in seinem verständlichen Zorn und Abscheu zu einer unbedachten Reaktion hinreißen lassen würde. »Hören wir uns an, was er uns anzubieten hat.«

»Mache kein Angebot, sondern stelle Ultimatum! Verlange die Karte und den Koran für das Leben des Mädchens! Werdet annehmen müssen! Habt keine andere Wahl. Weiß von Isabelle, dass Jana euch viel bedeutet. Kenne also Wert meines Pfandes.«

Tobias ballte in ohnmächtigem Zorn die Hände zur Faust. Sie vermochten dieser Forderung nichts entgegenzustellen, das wusste er. Janas Leben war wichtiger als tausend verschollene Königstäler. Es war sinnlos, Zeppenfeld bluffen zu wollen und so zu tun, als wäre ihnen Jana diesen Preis nicht wert. Dafür war er zu gut informiert.

Auch Sadik hielt es für zwecklos, mit Zeppenfeld handeln zu wollen. Sie standen mit dem Rücken zur Wand. Jetzt musste ihre einzige Sorge Jana gelten.

»Also gut, Sie erhalten die Karte und den Koran, Zeppenfeld«, sagte er beherrscht. »Doch wir verlangen Garantien! Glauben Sie ja nicht, uns täuschen und hereinlegen zu können. Wir wissen nur zu gut, dass Stenz und Tillmann es kaum erwarten können, sich besonders an Tobias zu rächen. Ohne Sicherheiten für Tobias und Jana gibt es keinen Handel! Und darauf haben Sie mein Wort!«

Zeppenfeld verzog spöttisch das Gesicht. »Können beruhigt sein. Habe mehr Interesse an Karte und Koran als an der Rache meiner Männer, wiewohl berechtigt. Werden das Geschäft morgen an einem Ort vornehmen, der beiden Parteien klaren Überblick beim Austausch gewährt.«

»Und wo soll das sein?«, fragte Sadik knapp.

»Im Süden der Stadt, am Fluss Bièvre«, erklärte Zeppenfeld und zog einen Zettel hervor, der eine Skizze mit Ortsangaben enthielt. »Gibt da eine Brücke in der Nähe einer abgebrannten Mühle. Auf beiden Ufern weithin freie Fläche. Keine Möglichkeit für einen Hinterhalt, für keinen von uns. Übergabe erfolgt auf der Mitte der Brücke!«

»Und wann soll sie stattfinden?«

»Morgen bei Sonnenaufgang«, bestimmte Zeppenfeld, trank sein Glas aus und erhob sich. »Nehme den Koran jetzt schon mit. Als Zeichen des guten Willens.« Er lächelte gemein und streckte die Hand aus.

»Kommt überhaupt nicht infrage!«, rief Tobias in wütender Erregung. »Wir werden keine Vorleistungen erbringen! Jana gegen den Koran und die Karte!«

»Schweig! Den Koran!«, verlangte Zeppenfeld schroff. »Habe nicht die Absicht, dies Haus mit leeren Händen zu verlassen. Habt immer noch die Karte, das wichtigste Stück! Gehe nicht ohne das Buch. Denkt an die Stunde! Stenz wird sich freuen, wenn ich nicht früh genug zurückkomme. Taugt noch nicht viel, seine rechte Hand. Führt das Handbeil aber auch mit links für den Zweck gut genug!«

»Gib ihm schon den Koran!«, sagte Sadik gepresst. Sie würden Wattendorfs Rätsel sowieso nicht in den wenigen Stunden lösen können, die ihnen noch bis zum Austausch blieben. »Er liegt in der Halle auf der Kommode!«

Die ohnmächtige Wut trieb Tobias fast die Tränen in die Augen, als er den Koran in stummer Verzweiflung holte und ihn Zeppenfeld vor die Füße warf.

»Lässt sehr zu wünschen übrig, dein Benehmen. Wirst lernen müssen, einem Ehrenmann Respekt zu erweisen«, zischte Zeppenfeld. »Bück dich! Auf die Knie und heb den Koran auf, du Rotznase! Oder willst du dieses Zigeunermädchen für deinen Stolz büßen lassen?«

Tobias kostete es ungeheure Überwindung, vor Zeppenfeld in die Knie zu gehen. Er hob den Koran auf und mit verkniffenem Gesicht stieß er ihm das Buch in die ausgestreckte Hand. Dabei formten seine Lippen einen stummen Fluch.

Zeppenfeld stieß ihn grob zur Seite. »Morgen bei Sonnenaufgang! Erwarte euch auf der Westseite des Flusses. Wir kommen auf dem Ostufer zur Brücke. Eine letzte Warnung noch: Valdek wird bei der Übergabe die ganze Zeit seine Muskete auf das Mädchen gerichtet halten. Kenne keinen besseren Schützen als ihn. Der Professor weiß ein Lied davon zu singen!«

»Auch wir werden bewaffnet sein, Zeppenfeld!«, warnte ihn Sadik. »Und wir werden uns unserer Haut zu wehren wissen, falls Sie nicht zu Ihrem Wort stehen sollten!«

»Bringt die Karte und ihr bekommt das Mädchen«, erwiderte er geringschätzig und wandte sich zum Gehen.

»Seit wann sind Sie in Paris?«, wollte Sadik noch wissen.

Zeppenfeld wandte sich ihm mit einem überheblichen Lächeln zu. »Habt mir übel mitgespielt. Saßen fünf elende Tage in der Zelle. Geschickt ausgedacht. Aber sagte euch schon einmal, dass man mit einer gewonnenen Schlacht noch längst keinen Krieg gewinnt. Habt mich unterschätzt«, prahlte er und genoss seinen Triumph. »Gewiss, hat mich eine Menge Geld gekostet, die Angelegenheit zu bereinigen. Mussten auch ein gutes Dutzend Pferde zu Schanden reiten, um euren Vorsprung aufzuholen. Doch hat sich gelohnt. Waren schon am Freitag in der Stadt. Hatten Zeit genug, Kontakt mit Personal aufzunehmen. Reizloses Geschöpf, diese Isabelle, doch nicht auf den Kopf gefallen. Hat sich fürstlich für ihre Dienste bezahlen lassen, davon die Hälfte gleich im Voraus.«

»Kein Wunder, dass sie nicht überrascht war, als wir am Montag vor der Tür standen«, murmelte Tobias. »Dieses bestechliche Miststück!«

»Ein Judas! Ein Judas in meinem Haus!«, stöhnte Jean Roland gequält auf, der bisher kein Wort von sich gegeben hatte. Der Verrat seines Dienstmädchens und Janas Entführung hatten ihn zutiefst erschüttert.

»Ein sehr nützliches Miststück, das überall sein Ohr und Auge hatte und mich ständig über eure Fortschritte unterrichtete. Hielt es für ausgesprochen fair, euch die Wiederbeschaffung des Korans in diesen unruhigen Pariser Tagen zu überlassen«, höhnte Zeppenfeld. »Haben uns die Arbeit ganz nach meinem Geschmack geteilt. Einen angenehmen Tag noch. Sehen uns morgen bei Sonnenaufgang! Keine Umstände, mein bester Jean! Finde schon allein aus deinem gastfreundlichen Haus.«

Erschöpft sank Jean Roland auf die Couch, als die Haustür hinter Zeppenfeld zufiel. Er schien um Jahre gealtert. »Mir fehlen die Worte, um euch meine Beschämung und meine Betroffenheit auszudrücken«, murmelte er und hockte da wie ein Häufchen Elend. »In meinem Haus …«

Sadik fiel ihm ins Wort: »Sie trifft keine Schuld. Für den schlechten Charakter dieses Hausmädchens können Sie nichts. Niemand kann in die Seele eines anderen blicken. Wir selbst tragen die Schuld, dass Zeppenfeld Jana entführen konnte! Wir glaubten, noch einen Vorsprung zu haben, und ließen es an der nötigen Vorsicht fehlen.«

»Ja, das stimmt«, pflichtete ihm Tobias dumpf bei. »Wir haben uns hier zu sicher gefühlt. Mein Gott, ich darf gar nicht daran denken, dass sich Jana in der Gewalt dieser Dreckskerle befindet! Wenn sie ihr etwas angetan haben, bringe ich sie um! Alle!«

»Jetzt steigere dich nicht in solche Hassgefühle hinein. Und verlier bloß nicht die Nerven, mein Junge«, ermahnte ihn Sadik zur Besonnenheit. »Wenn du deinen Verstand gebrauchst, wird der dir sagen, dass Zeppenfeld so etwas niemals zulassen würde. Dafür kennt er mich und mittlerweile auch dich zu gut. Er weiß, dass wir alles tun werden, um Janas Leben nicht zu gefährden. Er weiß aber auch, dass wir ihn bis ans Ende der Welt jagen, wenn ihr etwas zustößt. Und das ist bestimmt das Letzte, was er sich wünscht.«

»Entschuldige«, sagte Tobias beschämt. »Du hast recht, er wird es nicht wagen.«

Sadik nickte zufrieden. »Gut, dass du das einsiehst. Und nun hol Gaspard ins Haus. Wir müssen überlegen, wie wir uns morgen vor bösen Überraschungen schützen können. Vielleicht kennt er den Ort, den Zeppenfeld uns hier aufgezeichnet hat.«

Gaspard hatte sich zur hinteren Küchentür begeben, um sich von der Köchin versorgen zu lassen. Jean Roland hatte ihn nicht in seinem Haus haben wollen, doch nichts dagegen einzuwenden gehabt, dass er so lange draußen im Garten nächtigte und ordentlich zu essen und zu trinken erhielt, wie sie auf seine Dienste als Führer angewiesen waren.

Jetzt waren sie froh, ihn noch nicht weggeschickt zu haben, denn die Gegend, wo am morgigen Tag der Austausch stattfinden sollte, war ihm wohl vertraut.

Er warf nur einen kurzen Blick auf die Skizze. »Ja, den Ort kenne ich. Die Mühle ist vor zwei Jahren abgebrannt und nicht wieder aufgebaut worden. Der Besitzer kam damals im Feuer um.«

»Wie sieht es da aus?«, bat Sadik um eine Beschreibung.

»Reichlich öde. Der Fluss ist nicht sehr breit, höchstens ein Dutzend Schritte. Die Brücke ist eine einfache Holzkonstruktion. Außer ein paar Bäumen und Büschen und der Ruine auf der Ostseite steht da nichts. Die nächsten Häuser sowie einige Seifenkocher und Färbereien liegen ein gutes Stück entfernt. Kein Ort für einen Hinterhalt, so viel ist sicher«, erklärte Gaspard.

»So«, murmelte Sadik nachdenklich.

»Warum fahren wir nicht einfach hin und sehen uns dort um?«, wollte Tobias wissen. »Vielleicht haben wir irgendeine Idee.«

Sadik sah ihn prüfend an. »Was für eine Idee denn?«

»Na ja …« Tobias wusste nicht so recht, wie er das, was ihm durch den Kopf ging, in Worte kleiden sollte.

»Wenn Gaspard sagt, dass sich der Ort für einen Hinterhalt nicht eignet, so glaube ich ihm das auch«, erklärte Sadik. »Wir werden uns morgen gut bewaffnet an den Ort begeben. Das ist alles, was wir tun können.«

»Ich stehe euch mit meinen Musketen gern zur Seite«, bot Gaspard ihnen an. Er roch ein letztes einträgliches Geschäft. Zudem hatte Jana in den wenigen Tagen seine uneingeschränkte Sympathie gewonnen. Was ihn jedoch nicht davon abhalten würde, für seine Unterstützung morgen ein gutes Handgeld einzustreichen. Es gab nichts Befriedigenderes, als das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden zu können.

»Das Angebot nehmen wir gern an, Gaspard. Wir wissen, dass auf dich Verlass ist«, erwiderte Sadik mit einem kaum merklichen Lächeln um die Augen.

»Auf mich könnt ihr natürlich auch zählen«, sagte Jean Roland.

Sadik nahm das mit einem Nicken zur Kenntnis.

»Und?«, fragte Tobias.

Sadik hob die Augenbrauen. »Und was?«

»Ist das alles, was wir tun?«

»Was sollten wir deiner Meinung nach denn sonst noch tun?«

Tobias zuckte ratlos mit den Schultern. »Ich weiß auch nicht«, sagte er unglücklich. »Zeppenfeld hat den Koran. Das ist schon schlimm genug. Aber wenn er morgen auch noch die Karte erhält, hat er sein Ziel erreicht – auch wenn wir sie abzeichnen und es schaffen sollten, noch vor ihm in England bei Rupert Burlington zu sein. Mit der Karte weiß er, wo das Tal liegt. Zudem hat er dann auch noch die Information, die im Koran verborgen ist. Damit hat er gewonnen!«

»Und das kannst du nicht akzeptieren, nicht wahr?«

Tobias zögerte. »Nein«, gab er dann wütend zu. »Ich kann und ich will nicht!«

Sadik legte ihm mit einem schweren Seufzer die Hand auf die Schulter. »Ich weiß, wie dir zumute ist, mein Freund. Es zerreißt einen innerlich, wenn man einem Mann wie Zeppenfeld unterliegt – nach allem, was man gewagt und durchgestanden hat. Aber du wirst dich damit abfinden müssen, dass nicht immer das Gute im Leben den Sieg davonträgt. Es sei denn, du willst Janas Leben aufs Spiel setzen. Und das kann ich mir nicht vorstellen.«

Tobias schüttelt unwillig den Kopf und sprang auf, weil es ihn nicht länger im Sessel hielt. »Natürlich werde ich nichts tun, um ihr Leben zu gefährden. Aber es will mir nicht in den Kopf, dass es keinen Weg geben soll, Jana aus ihrer Gewalt zu befreien – und Zeppenfeld gleichzeitig doch auch die Karte vorzuenthalten.«

»Jana gegen die Karte – so wird der Tausch morgen auf der Brücke aussehen«, erinnerte ihn Sadik an die Abmachung, die sie mit Zeppenfeld getroffen hatten. »Du kannst sie ihm nicht vorenthalten. Es ist unmöglich.«

Tobias zermarterte sich das Gehirn nach einer Lösung. »Ich will sie ihm morgen ja schon geben, aber wir müssten sie irgendwie präparieren, dass sie …«

»Dass sie sich in Luft auflöst oder in seinen Händen zu Staub zerfällt?«, sprach Sadik aus, was Tobias sich so sehnlichst wünschte.

»Ja, richtig!«

Sadik lächelte traurig. »So etwas gibt es nur in Märchen. Ich jedenfalls wüsste nichts, womit man die Karte präparieren könnte, damit sie sich selbst zerstört, nachdem wir sie Zeppenfeld übergeben haben.«

»Gibt es denn nicht irgendeine Art von Säure, in die man sie tauchen kann, die aber erst nach fünf, zehn Minuten ihre richtige Wirkung entfaltet?«, ließ Tobias nicht locker.

»La, nicht dass ich wüsste.«

»Oder irgendetwas anderes! Vielleicht können wir sie mit einem Mittel tränken, das so leicht entzündlich ist wie die Schwefelsäure, mit denen ich meine Zündhölzer entflamme«, spann Tobias seine Wunschidee beharrlich weiter. »Wir reiben die Karte kurz vorher ein und …« Er stockte, weil er nicht weiterwusste.

»Und dann? Willst du eine verborgene Lunte über die Brücke legen?«, spottete Sadik. »Das System der Tunkzündhölzer basiert doch darauf, dass du den Zündholzkopf aus Schwefel, chlorsaurem Kali und Zucker in konzentrierte Schwefelsäure tauchst. Dann schlägt sofort eine Stichflamme hoch. Aber du kannst das doch nicht schon vorher zusammenmischen und die Reaktion fünf Minuten hinauszögern wollen. Die Chemie tut dir noch nicht mal den Gefallen, eine einzige Sekunde mit ihrer Reaktion zu warten. Chemie ist nun mal keine Zauberei, sondern folgt …« Sadik brach mitten im Satz ab. Verblüffung zeigte sich auf seinem Gesicht. »Bei Allah und seinem Propheten, da bringst du mich auf eine Idee!«

»Wirklich? Was ist dir eingefallen, Sadik? Gibt es doch eine Möglichkeit, die Karte noch im letzten Moment zu vernichten?«, sprudelte Tobias hoffnungsvoll hervor.

»Möglich«, antwortete Sadik knapp. »Hol deine Tunkhölzer!«

Augenblicke später standen Zündholzdose und Schwefelsäurefläschchen auf dem Tisch. Gaspard und Jean Roland beobachteten gespannt, wie Sadik einen Tropfen Säure in eine Schale goss und dann mit dem Messer die Verdickung vom Zündholzkopf schabte. Als die Brösel in die winzige Lache Schwefel fielen, schoss eine kleine Stichflamme hoch, gerade stark genug, um das dünne Hölzchen in Brand zu setzen.

Sadik fuhr sich nachdenklich über das Kinn. »Wie stark wäre wohl die Reaktion, wenn man alle Zündholzköpfe gleichzeitig in die gesamte Menge Schwefelsäure dieses Fläschchens tauchen würde?«

Gaspard grinste. »Gäbe garantiert eine ganz ordentliche Stichflamme, als hätten Sie eine fette Kartusche gezündet!«

Sadik fuhr zu ihm herum. »Gaspard! Wie viel Schießpulver hast du noch?«

»Fast ein ganzes Fässchen!«

»Eine solche Reaktion inmitten von zwei, drei Pfund Schießpulver …«, murmelte Sadik grübelnd vor sich hin, während er im Zimmer gedankenversunken auf und ab ging. »Das gäbe in der Tat ein hübsches Feuerwerk. Es gibt nur zwei schwerwiegende Probleme: Pulver sowie Säure und Zündholzköpfe müssen Zeppenfelds Augen verborgen bleiben, gleichzeitig aber doch in unmittelbarer Nähe des Übergabeortes versteckt sein. Und das zweite Problem lautet: Wie bleibt man Herr über den exakten Zeitpunkt der chemischen Reaktion? Sie muss schlagartig erfolgen, völlig überraschend, wenn Jana schon in Sicherheit ist … Wir brauchen also ein Behältnis, ein völlig unverfänglich aussehendes Behältnis, das man bei der Übergabe benutzen kann, ohne dass es Zeppenfelds Misstrauen erweckt. Aber damit ist noch nicht die Frage der Zündung und der Distanz geklärt. Und daran hängt alles.« Plötzlich blieb er stehen. »Eine Weidenkiste! Eine Weidenkiste mit doppeltem Boden! Bei Allah, das ist es!«

Tobias, Jean Roland und Gaspard bestürmten ihn jetzt mit Fragen, und Sadik erklärte ihnen seinen Plan in groben Zügen. Tobias war begeistert. Was Sadik da vorschlug, war zwar nicht ohne Risiko, konnte aber den gewünschten Erfolg haben, wenn sie nicht gerade sehr viel Pech hatten.

Sadik erstellte eine Liste von den Dingen, die sie brauchten. »Pulver und zwei Weidenkisten, wovon mindestens eine schon sehr ramponiert und reif für den Müll aussehen muss.«

»Das besorge ich!«, rief Gaspard sofort.

Sadik nickte. »Gut, dann brauchen wir noch ein zweites dünnes Glasfläschchen …«

»Kein Problem«, sagte Jean Roland. »Davon stehen noch genug von meiner Frau auf der Frisierkommode herum.«

»Das wäre also auch geklärt«, sagte Sadik. »Egal wie es ausgeht, wir werden Paris auf der Stelle verlassen müssen und wir müssen damit rechnen, dass sie uns verfolgen. Das bedeutet, dass wir Janas Wohnwagen hier zurücklassen müssen und eine Kutsche mit schnellen Pferden brauchen.«