cover image

Ludwig Ganghofer

Der Mann im Salz

Roman aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts

Ludwig Ganghofer

Der Mann im Salz

Roman aus dem Anfang des 17. Jahrhunderts

Veröffentlicht im Null Papier Verlag, 2019
2. Auflage, ISBN 978-3-954188-20-8

null-papier.de/394

null-papier.de/katalog

Inhaltsverzeichnis

An­mer­kung des Her­aus­ge­bers

Wid­mung

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

Dan­ke

Dan­ke, dass Sie sich für ein E-Book aus mei­nem Ver­lag ent­schie­den ha­ben.

Soll­ten Sie Hil­fe be­nö­ti­gen oder eine Fra­ge ha­ben, schrei­ben Sie mir.

 

Ihr
Jür­gen Schul­ze

Newslet­ter abon­nie­ren

Der Newslet­ter in­for­miert Sie über:

htt­ps://null-pa­pier.de/newslet­ter

Anmerkung des Herausgebers

Ich habe mir er­laubt, die wich­tigs­ten la­tei­ni­schen Pas­sa­gen in Fuß­no­ten zu über­set­zen.

Jür­gen Schul­ze, 29.09.2016

Widmung

Mei­nem Freun­de Vin­cenz Chia­vac­ci

1

Die Leu­te, die zu Grö­dig vor den Häu­sern stan­den, sa­hen ihm ver­wun­dert nach. Ein jun­ger, schmu­cker Bursch, hoch ge­wach­sen und schlank, von Ge­sund­heit strot­zend, mit fes­ten Schul­tern. Dazu ein Ge­sicht, er­schöpft und bleich, mit ver­stör­ten Au­gen. Und Schrit­te mach­te er wie ein Flücht­ling, hin­ter dem der Blut­bann her ist.

»Mensch«, sag­te ein al­ter Bau­er über die Gar­ten­plan­ke zu sei­nem Nach­bar, »der hat ent­we­der ein bö­ses Stück ge­tan oder will eins tun!«

»Kann auch der Bes­te sein!«, mein­te der an­de­re, ein Schmied in ru­ßi­gem Schurz­fell, mit tief­lie­gen­den Au­gen in ei­nem ver­bit­ter­ten Ge­sicht. »Heu­ti­gen­tags muß oft ei­ner ren­nen, auf den un­ser Herr­gott mit gu­ten Au­gen her­un­ter­schaut. Was ist mein Mä­del für ein bra­ves Ding ge­we­sen!« An den Wim­pern des Schmie­des glit­zer­te et­was.

Der alte Bau­er mach­te scheue Au­gen und setz­te das Ge­spräch nicht fort. Er guck­te dem jun­gen Men­schen wie­der nach. »Der muß ein Jä­ger sein!«

Das war am Weid­ge­henk und an der grü­nen Tracht zu er­ra­ten. Auf der Hu­ber­tus­kap­pe saß die Wei­hen­fe­der, die nur der weid­ge­rech­te Jä­ger tra­gen durf­te. Und schmuck sah das aus: die­ser schlan­ke Kör­per in den we­hen­den Plu­der­ho­sen und in dem kur­z­en schmieg­sa­men Spen­zer, über den sich der wei­ße Lei­nen­kra­gen breit her­aus­leg­te. Ein kräf­tig ge­bil­de­tes Jüng­lings­ge­sicht, die Wan­gen um­kräu­selt von ei­nem jun­gen, dunklen Bart, mit brau­nen Au­gen, so nuß­braun wie die Haar­sträh­nen, die, von Schweiß durch­feuch­tet und mit Staub be­han­gen, dick un­ter der grü­nen Kap­pe her­aus­quol­len. Bei ei­ner Bie­gung der Stra­ße blieb der Jä­ger wie ein müd Zer­bro­che­ner ste­hen, preß­te die Fäus­te auf sei­ne Brust, wand­te das ver­stör­te Ge­sicht und blick­te über die Stra­ße zu­rück, ge­gen Salz­burg.

Es war ein schö­ner Früh­lings­tag mit rei­ner Son­ne, die aus der Mit­tags­hö­he über den Un­ters­berg her­un­ter­lach­te auf das jun­ge Grün der Wie­sen und Fel­der. Am blau­en Him­mel kei­ne Wol­ke. Den­noch lag es da drau­ßen über den stol­zen Zin­nen der Bi­schofs­fes­te wie ein trüber, schwe­rer Dunst. Das war an­zu­se­hen, als wäre in der wind­stil­len Luft der Rauch ei­ner großen Brand­statt über den Dä­chern von Salz­burg hän­gen­ge­blie­ben.

Dem Jä­ger lief ein Schau­er über den Na­cken. In sei­nen Au­gen war ein ent­setz­ter Blick, und ja­gen­den Schrit­tes eil­te er auf der Stra­ße da­von, den Ber­gen zu. Als er den Wald er­reich­te, der sich vom Un­ters­berg auf stei­len Ge­hän­gen nie­der­schwang zu den ebe­nen Fel­dern, blieb er ste­hen. Er woll­te sich nicht um­schau­en. Doch er muß­te! Und als er über der Stadt da drau­ßen die­ses Dunkle wie­der sah, das in den Lüf­ten hing wie ein Rie­sen­vo­gel mit grau­em Ge­fie­der, schlug er die Hän­de vor die Au­gen, sprang von der Stra­ße wie ein Irr­sin­ni­ger in den Schat­ten des Wal­des, warf sich zu Bo­den und drück­te das Ge­sicht ins Moos. Die Bil­der, die ihn ver­folg­ten, lie­ßen sich nicht er­sti­cken, nicht ver­ja­gen. Er dach­te an al­les, was ihm schön war an sei­nem jun­gen Le­ben. Aber kein Schö­nes, an das er sich zu den­ken zwang, ver­scheuch­te ihm das Grau­en­vol­le die­ses Mor­gens. Im­mer sah er die quir­len­den Wol­ken des schwar­zen Rau­ches, die schü­ren­den Frei­manns­knech­te in ih­ren ro­ten Wämsern, die lo­dern­den Schei­ter­hau­fen und an den Feu­er­pfäh­len die vier bren­nen­den Men­schen. Im­mer sah er die­ses jun­ge Mäd­chen in den Stri­cken hän­gen, sah, wie das He­xen­hemd und das rote Haar zu ei­ner schnel­len Flam­me wur­den und wie für einen Au­gen­blick der nack­te, schö­ne Leib er­schi­en, be­vor ihn das Feu­er um­schlei­er­te. Und im­mer sah er das: wie der Kopf der al­ten Frau in die Luft flog, als die Pul­ver­ta­sche ex­plo­dier­te, die man ihr aus Gna­de zur Er­leich­te­rung des Feu­er­to­des um den Hals ge­bun­den. Und im­mer sah er die­ses Kind – ein sie­ben­jäh­ri­ges Mäd­chen, das in sei­ner Mar­ter nur einen ein­zi­gen Schrei noch hat­te: »Mut­ter, hilf mir!« – und dann in Ohn­macht fiel und stumm ver­brann­te.

Das Grau­sen ver­stör­te ihm alle Sin­ne. Mit ver­hüll­tem Ge­sich­te blieb er lie­gen, wohl eine Stun­de lang. Die war­men Son­nen­lich­ter, die durch das jun­ge Laub der Bu­chen fie­len, zit­ter­ten um sei­nen schlan­ken Kör­per. Ein fei­ner Duft um ihn her, von Veil­chen und Glo­cken­blu­men, von ro­ten Stein­nel­ken und gel­ben Au­ri­keln. Gol­de­nes Leuch­ten war in al­len Din­gen, und mit sanf­ter Mur­mel­stim­me floß ein Bach in der Nähe vor­über. Wie al­les blüh­te, al­les zu­sam­men­klang und in­ein­an­der leuch­te­te, war es ein wun­der­sa­mes Lied, das der Früh­ling summ­te an die­sem Tag.

Der Jä­ger hat­te sich auf­ge­rich­tet und ging auf den klei­nen Wild­bach zu. Er trank aus der hoh­len Hand. Und wusch das Ge­sicht und das ver­staub­te Haar. Und schüt­tel­te sich, daß von den feuch­ten Sträh­nen die blit­zen­den Trop­fen flo­gen. Mit der Kap­pe in der Hand, da­mit sein nas­ses Haar in der Son­ne trock­nen könn­te, ging er schräg durch den Wald hin­aus. Als er die Stra­ße er­reich­te, blick­te er sich um und at­me­te auf wie ein Er­lös­ter, weil die grü­ne Mau­er des Wal­des ihm die Rück­schau in das ebe­ne Land ver­sperr­te. Er wand­te sich und späh­te über den Weg vor­aus, der sich am Ufer der rau­schen­den Ache hin­ein­zog in die Ber­ge. War­me Röte stieg ihm in die blei­chen Wan­gen. Der Weg, der da vor ihm lag, war der Weg in das neue Le­ben, das er su­chen woll­te. Der Weg war schön. Wie wird das Le­ben sein, zu dem er führt?

Zur Lin­ken die Ache und wal­di­ge Hü­gel, zur Rech­ten die stei­len Ge­hän­ge des Un­ters­ber­ges, des­sen stei­ner­ne Tür­me manch­mal her­un­ter­grüß­ten über die Wäl­der. Lär­mend kam ein Zug von Salz­kärr­nern, die un­ter Ge­schrei ihre Maul­tie­re trie­ben und mit den plum­pen, von wei­ßen Bla­chen über­spann­ten Kar­ren auf der schrun­di­gen Stra­ße ein schwe­res Fah­ren hat­ten.

Nach ei­ner Stun­de er­reich­te der Jä­ger die Gren­ze des Berch­tes­ga­de­ner Lan­des. Da war ein brei­ter Strei­fen durch die Wäl­der ge­hau­en, und an der Stra­ße war das Wap­pen des Fürst­props­tes zu Berch­tes­ga­den auf einen über­hän­gen­den Stein ge­malt. Mit fri­schen Far­ben hat­te man das alte, halb er­lo­sche­ne Bild er­neu­ert, und un­ter dem Schil­de stan­den zwei Jah­res­zah­len – eine, die schon ganz ver­wit­tert war: 1595 – und die zwei­te in neu­er Far­be: 1618. Ne­ben den ge­kreuz­ten Schlüs­seln, den Wahr­zei­chen des ge­fürs­te­ten Stif­tes, zeig­te das Wap­pen den bay­ri­schen Lö­wen und das Rau­ten­feld. Ein Wit­tels­ba­cher, Her­zog Fer­di­nand, war Fürst­propst des Berch­tes­ga­de­ner Lan­des. Auf­merk­sam be­trach­te­te der Jä­ger den bun­ten Schild: das Wap­pen des Herrn, dem er die­nen woll­te.

Der Frie­de war in die­ses Her­ren Land nicht im­mer hei­misch ge­we­sen. Denn der Jä­ger kam zu den Trüm­mern ei­nes To­res, das einst sei­ne fes­ten Bo­gen über die Stra­ße ge­spannt hat­te. Da­ne­ben sah man die Res­te ei­ner ge­bro­che­nen Mau­er und die mit lee­ren Fens­tern gäh­nen­de Rui­ne ei­nes nie­der­ge­brann­ten Hau­ses. Nur der mäch­ti­ge Turm war un­ver­sehrt noch üb­rig von der ›Bur­ghut am han­gen­den Stein‹, die Wolf Diet­rich, der Erz­bi­schof von Salz­burg, vor acht Jah­ren in Scher­ben ge­wor­fen hat­te.

Vor der Tür der Wacht­stu­be, die in das ebener­di­ge Ge­schoß des al­ten Tur­mes ein­ge­baut war, sa­ßen zwei stut­zer­haft ge­klei­de­te Mus­ke­tie­re beim Kar­ten­spiel. »Hex!«, schrie der eine und schlug die Schel­lensau auf die Bank. »Und Teu­fel!«, lach­te der an­de­re, der mit dem Schel­leno­ber stach. Als er den ein­ge­stri­che­nen Ge­winn in dem flat­tern­den Wust von bun­tem Tuch ver­schwin­den ließ, aus dem sei­ne Hose be­stand, ge­wahr­te er den Frem­den. »Der ist von aus­wärts!«, sag­te der Mus­ke­tier, nahm das Feu­er­rohr mit der glim­men­den Lun­te von der Mau­er und sprang auf die Stra­ße hin­un­ter. »Ar­reet Mon­scheer!« Dem Frem­den schie­nen die bei­den Wor­te nicht zu ge­fal­len. Er woll­te wei­ter­ge­hen, als hät­te er nichts ge­hört. »Halt!«, schrie der Mus­ke­tier.

Der Jä­ger nick­te. »Jetzt hab ich ver­stan­den. Ich bin halt ein Deut­scher, weißt!«

Die Ruhe die­ser Ant­wort dämpf­te das mar­tia­li­sche Ge­ba­ren des Mus­ke­tiers. Et­was sänft­li­cher frag­te er: »Wo­her des Lands? Und wo­hin?«

»Von Schloß Buch­berg komm ich und will nach Berch­tes­ga­den ins Stift.«

»Was suchst du im Stift?«

»Das sag ich schon, wenn ich dort bin.«

Es blin­ker­te dem Mus­ke­tier in den Au­gen. Die­ses Wort hat­te ihn an der Gal­le ge­kit­zelt. Aber die Vor­sicht war stär­ker in ihm als der Zorn. Erst mus­ter­te er den Frem­den. Dann leg­te er, wie zu fried­li­cher Ge­sin­nung be­re­det, die Mus­ke­te quer über den Arm. »Ihr müßt einen Paß wei­sen!«

Der Jä­ger griff in den Spen­zer und reich­te dem Mus­ke­tier ein Blatt, das er aus ei­nem le­der­nen Täschl ge­nom­men.

Der an­de­re las. Das war Ar­beit für ihn, die lang­sam vor­wärts ging. Er nick­te. »Der Paß wei­set, daß Ihr rö­misch seid. Aber ich muß Euch pro­ben. Das ist Für­schrift. Ein Evan­ge­li­scher geht bei uns nit ein ins Land. Schla­get das Kreuz!«

Eine Fur­che grub sich zwi­schen die Brau­en des Frem­den, wäh­rend er das Ge­sicht und die Brust be­kreuz­te.

»Pas­siert!«, sag­te der Mus­ke­tier und gab das Blatt zu­rück. »Frei­lich, man­cher reißt ein Kreuz um das an­der her. Und doch lügt er.«

Dem Jä­ger fuhr das Blut ins Ge­sicht. Sei­ne Au­gen blitz­ten. »Willst du sa­gen, daß ich lüg?«

Der Mus­ke­tier schmun­zel­te. »Ich hab nicht von Euch ge­re­det. Man­cher, hab ich ge­sagt, ganz deut­lich und deutsch. Eu­rem Kreuz muß ich glau­ben.«

Der Jä­ger schritt die Stra­ße hin­aus, der Ort­schaft ent­ge­gen, de­ren Kirch­turm her­lug­te über einen grü­nen Hü­gel. Als er schon hun­dert Schrit­te ge­gan­gen war, schrie ihm der Mus­ke­tier mit Ge­läch­ter nach: »Bon­schur, Mon­scheer!« Der Jä­ger sah sich um und schob die Dau­men hin­ter den Gurt sei­nes Weid­ge­henks. »Ver­gelts Gott! Das hat kom­men müs­sen: hin­ter dem Grau­sen die Nar­re­tei!« Er lach­te. Aber lus­tig klang das nicht. In sei­nen Zü­gen blieb ein brü­ten­der Ernst. Als er die Brücke er­reich­te, auf der sich die Stra­ße über das Bett der rau­schen­den Ache schwang, ver­nahm er das Rol­len von Baum­blö­cken und hal­len­de Beil­schlä­ge. Da ar­bei­te­ten an die zwan­zig Leu­te, um einen Berg­rutsch ein­zu­däm­men, der den Lauf des Ba­ches zu ver­schüt­ten droh­te. Ne­ben der Brücke stand ein al­ter Mann, der die Ar­beit über­wach­te. Er war in schwar­zes Tuch ge­klei­det, mit ho­hen Stie­feln. Auf der schwar­zen, schirm­lo­sen Kap­pe trug er eine wei­ße Fe­der. Ein strup­pi­ger Bart um­hing das wel­ke Ge­sicht, und sein Rücken war ge­krümmt wie un­ter schwe­rer Last. Als er den Gruß des Frem­den hör­te, sah er sich um, und da fiel es ihm wie Schreck ins Ge­sicht. Sei­ne Au­gen starr­ten, als käme ein Ge­s­penst auf ihn zu­ge­gan­gen. »Bub! Wer bist du?«

»Ein Jä­ger. Ich will zu Berch­tes­ga­den einen Dienst su­chen. Der Ort da drü­ben, ist das schon Berch­tes­ga­den?«

Lang schwieg der alte Mann. Noch im­mer woll­te sich die Er­re­gung nicht be­ru­hi­gen, die ihm aus den Au­gen sprach. Dann sag­te er: »Dich wird der Wild­meis­ter nim­mer aus­las­sen. Das wird für mich ein har­tes Stück wer­den, dich all­weil se­hen müs­sen.« Er nahm die Kap­pe her­un­ter und strich mit der zit­tern­den Hand über das graue Haar. »Jetzt soll mir un­ser Herr­gott sa­gen, wie das sein kann! Ein Ge­sicht, das zwei­mal auf die Welt kommt! Hätt ich mei­nen Bu­ben nit sel­ber hin­un­ter­ge­legt und tat ich nit wis­sen, daß er acht Jahr schon un­ter dem Wa­sen fault – ich tat drauf schwö­ren, du wärst mein Bub!«

Der Jä­ger fand kei­ne Ant­wort. Er streck­te dem Al­ten die Hand hin. Der nahm sie, scheu und zö­gernd. Nach ei­ner Wei­le sag­te er: »Das da drü­ben ist Schel­len­berg. Bis auf Berch­tes­ga­den streckt sich der Weg noch zwei gute Stund. Und des Wild­meis­ters Haus, das steht im al­ten Hirsch­gra­ben, gleich un­ter dem Stift. Aber sag mir, Bub, wie heißt du?«

»Adel­wart.«

»Der mei­nig hat Da­vid ge­hei­ßen. Der ist schon Häu­er ge­we­sen mit zwan­zig Jahr. Und du bist Jä­ger? Da hast du ein Le­ben in Licht und Sonn. Mein Le­ben ist halb in der Nacht. Wir zwei, mein’ ich, lau­fen nit oft an­ein­an­der hin. Aber wenn sich's gibt, Bub, daß ich dir ein­mal was hel­fen kann, da komm zu mir! Ich bin der Jo­na­than Köp­pel, der Häl­ling­meis­ter zu Berch­tes­ga­den.« Weil ihn die Ar­beits­leu­te rie­fen, ging der Alte zur Ache hin­un­ter. Alle paar Schrit­te sah er sich nach dem Bu­ben um.

Noch lan­ge blieb Adel­wart auf der Brücke ste­hen, in ei­nem Wi­der­spiel von Ge­dan­ken. Die Wor­te des al­ten Man­nes hat­ten ihn er­schüt­tert, und da­bei emp­fand er es wie war­me Freu­de, daß er, ein Ein­sa­mer in der Frem­de, an der Schwel­le sei­nes neu­en Le­bens einen Men­schen ge­fun­den hat­te, der ihm Freund ge­wor­den. In Sin­nen ver­sun­ken, ging er der Stra­ße nach. Und er­schrak, als er auf­blick­te und den schwar­zen Rauch sah, der bei der Kir­che her­auf­stieg über die Dä­cher. Al­les Grau­sen die­ses Mor­gens stand ihm wie­der vor Au­gen. Mit be­klom­me­ner Stim­me rief er einen Kna­ben an, der ne­ben der Stra­ße saß und aus den Stie­len der Schlüs­sel­blu­men eine Ket­te flocht: »Was raucht denn da?«

Das Bübl sah nach dem Dorf hin­über. »Die Pfann­hau­ser Öfen.«

»Gott sei Lob und Dank!«

Adel­wart wan­der­te dem Dorf ent­ge­gen. Im­mer sah er die Blu­men der Wie­se an, um die­sen Rauch nicht se­hen zu müs­sen. Der wur­de dün­ner; als er ganz ver­schwun­den war, blieb über dem stei­len Schin­del­dach des Sa­li­nen­hau­ses nur das wei­ße Qual­men des Was­ser­damp­fes, der aus den Salz­pfan­nen stieg und durch das Dach hin­aus­quoll in die Son­ne.

Wo die Schel­len­ber­ger Gas­se be­gann, stand ne­ben der Stra­ße ein zer­stör­tes Haus. Über der lee­ren Tür­höh­le trug die Mau­er das aus Stein ge­mei­ßel­te Salz­bur­ger Wap­pen, von Beil­hie­ben zer­hackt. Spie­len­de Kin­der toll­ten in den kah­len Räu­men um­her, und auf den ro­ten Mar­mor­stu­fen der Haus­schwel­le wa­ren zwei Bu­ben sich in die Haa­re ge­ra­ten. Die rauf­ten wie jun­ge Bä­ren.

»He! Wollt ihr Ruh ge­ben!«

Die hei­ßen Kämp­fer über­hör­ten die­sen Mahn­ruf. Da spür­ten sie plötz­lich einen fes­ten Griff an ih­ren Ohren. Wäh­rend sie mit ver­dutz­ten Au­gen drein­schau­ten, hielt ih­nen Adel­wart eine klei­ne Standre­de über die Seg­nun­gen des Frie­dens. Weil es der Jä­ger ha­ben woll­te, reich­ten sie ein­an­der die Hän­de. Kaum war er da­von­ge­gan­gen, da schwoll ih­nen wie­der der Kamm ih­res Zor­nes. Die klei­nen Fäus­te nach hin­ten ge­streckt, rück­te ei­ner dem an­de­ren dicht vor die Nase.

»Wie, trau dich her, du!«

»Meinst viel­leicht, ich fürcht mich vor so ei­nem lu­the­ri­schen Siech?«

»Du rö­mi­scher Pfaf­fen­we­del!«

Und zur Be­kräf­ti­gung ih­res Glau­bens­be­kennt­nis­ses spuck­ten sie ein­an­der ins Ge­sicht.

Die Früh­lings­son­ne lach­te auf die Bu­ben her­un­ter, ver­gol­de­te die Trüm­mer des zer­stör­ten Hau­ses und spie­gel­te sich in den Pfüt­zen der lan­gen Gas­se. Hier und dort im Schat­ten der vor­sprin­gen­den Schin­del­dä­cher sah man Wei­ber vor dem Spinn­rad sit­zen, mit wei­ßen Krau­sen um die Häl­se. So dürf­tig ihr Le­ben war, die Mode, die sie an den Salz­bur­ger Frau­en sa­hen, mach­ten die Schel­len­ber­ge­rin­nen im­mer mit. Kein Mann in der lan­gen Gas­se. Die Män­ner wa­ren im Pfann­haus, im Berg­werk, auf den Fel­dern.

Vor dem Leut­haus stand ein Dut­zend ras­ten­der Salz­kar­ren, de­ren Gäu­len und Maul­tie­ren die Fut­ter­sä­cke um­ge­bun­den wa­ren. Zwei wohl­ge­nähr­te Schim­mel, die aus ei­nem Bar­ren ge­fut­tert hat­ten und jetzt von ei­nem Knecht ge­tränkt wur­den, stan­den an der Deich­sel ei­ner klei­nen Kut­sche.

»Hans? Kön­nen wir fah­ren?«, klang von der Tür des Leut­hau­ses eine Mäd­chen­stim­me.

»Ein paar Va­terun­ser lang wird's all­weil noch dau­ern, Jung­fer«, gab der Knecht zur Ant­wort, »ich muß zum Schmied, der Hand­gaul hat ein Ei­sen lo­cker.«

»Aber eil dich, gelt! Wir müs­sen in Salz­burg sein, so­lang die Lä­den of­fen sind.«

Adel­wart, der auf der Stra­ße vor­über woll­te, hat­te beim Klang die­ser Stim­me auf­ge­blickt. Eine von je­nen Stim­men war's, de­nen man ger­ne lauscht, weil sie zu sin­gen schei­nen, wenn sie re­den. Er mach­te einen ra­schen Schritt, um zwi­schen den Salz­kar­ren eine Lücke nach der Tür zu fin­den, und sah ein jun­ges, schlan­kes Mäd­chen in das Leut­haus tre­ten, schmuck in dunkles Blau ge­klei­det, ein kur­z­es Män­tel­chen um die Schul­tern und über dem rei­chen Schwarz­haar ein hell­grau­es Hütl mit fla­cher Krem­pe und weißem Fe­der­busch. Zwei schwe­re Zöp­fe, mit ro­ten Schnü­ren durch­floch­ten, hin­gen über der wei­ßen Krau­se auf die Brust her­un­ter und lie­ßen, als die Jung­fer in die Türe trat, von ih­rem Ge­sicht nur einen schma­len Streif der ro­si­gen Wan­ge se­hen.

›Was muß das ein lie­bes Ding sein!‹ dach­te Adel­wart. Er woll­te sei­ner Wege ge­hen. Da rief ihn aus ei­nem of­fe­nen Fens­ter der Leut­geb an: »He! Jä­ger! Willst du nit zu­keh­ren? Grad zap­fen wir an.« Adel­wart zö­ger­te. Dann trat er lä­chelnd in die Leut­stu­be. Noch auf der Schwel­le warf er einen ra­schen Blick über die Ti­sche hin. Hier sa­ßen nur die ze­chen­den Salz­kärr­ner mit Ge­schrei hin­ter ih­ren Brannt­wein­stut­zen und Bier­kan­nen, ein paar Salz­knap­pen und Bau­ern da­zwi­schen. Beim Ofen schwatz­te ein in­va­li­der Spieß­knecht mit der Har­fe­nis­tin, die un­ter we­nig me­lo­di­schem Ge­tön die Sai­ten schnur­ren ließ. Als der Jä­ger in die Stu­be trat, dämpf­te sich der Lärm ein we­nig, und alle Ge­sich­ter guck­ten nach ihm. Dann hub das Ge­schrei wie­der an, die Fäus­te trom­mel­ten, und die Wür­fel roll­ten. Wäh­rend der Leut­geb für den neu­en Gast schon den Brot­laib und die Bier­kan­ne brach­te, setz­te sich Adel­wart an einen Tisch, an dem ein Bau­er und ein Salz­knap­pe in eine auf­ge­reg­te De­bat­te ver­floch­ten wa­ren. Sie strit­ten mit so hei­ßen Köp­fen, als gin­ge es um den teu­ers­ten Be­sitz ih­res Le­bens. Was die bei­den so in Feu­er brach­te, war eine Mei­nungs­ver­schie­den­heit über Got­tes Güte. »Daß un­ser Herr­gott gut ist«, schrie der Knap­pe, »ist das wahr oder nit?«

»Wird wohl wahr sein!« Der Bau­er wet­ter­te die Faust auf den Tisch. »Aber wenn er zor­nig ist, re­bellt er auf!«

Der Leut­geb, als er vor dem Jä­ger einen Holz­tel­ler mit ei­nem damp­fen­den Stück Lamm­bra­ten hin­stell­te, mahn­te die heiß­blü­ti­gen Got­tess­trei­ter zur Ruhe. Das half nicht viel. »Meinst du, un­ser Herr­gott ist, wie du bist?«, kreisch­te der Knap­pe. »Un­ser Herr­gott far­belt nit und bleibt bei der Stang. Ist er gut, so muß er's all­weil sein und ge­gen alle. Ge­rech­te und Un­ge­rech­te müs­sen teil­ha­ben an sei­ner Gü­tig­keit.«

»Ket­ze­rei! Ket­ze­rei!«, brüll­te der Bau­er. »Wenn Got­tes Güt über­all wär in der Welt, was tät denn üb­rig­blei­ben für des Teu­fels Re­gi­ment? Wo kämen die Flöh und Wan­zen her, die Ma­den und Blind­schlei­chen, die He­xen und Zau­ber­leut?«

Da warf der Jä­ger die Ga­bel aus der Hand und schob, von Ekel be­fal­len, den Holz­tel­ler mit dem Bra­ten fort. Bei dem Wort des Bau­ern und dem Ge­ruch des ge­bra­te­nen Flei­sches wur­den die Bil­der die­ses Mor­gens mit so quä­len­dem Grau­en in ihm wach, daß er auf­sprang und aus der Stu­be rann­te. In der Tie­fe des däm­me­ri­gen Haus­flurs sah er das leuch­ten­de Vier­eck ei­ner of­fe­nen Gar­ten­tür und drau­ßen die Son­ne, das Grün. Die Arme stre­ckend, sprang er die­ser Hel­le zu. Das wa­ren nur we­ni­ge Schrit­te. Für das Ent­set­zen, das ihn er­füll­te, war's eine end­lo­se Zeit. Im­mer die tau­send­köp­fi­ge Men­ge vor sei­nen Au­gen, die Rich­ter in schlep­pen­den Tala­ren, die Wol­ken des Rau­ches, die lo­hen­den Feu­er­stö­ße, die bren­nen­den Men­schen in ih­rer Mar­ter! Er hat­te ein Ge­fühl, als stün­de er dem Feu­er so nahe, daß ihm die Hit­ze das Haar ver­seng­te. Und deut­li­cher als al­les an­de­re sah er hin­ter dem wo­gen­den Flam­menschlei­er das schö­ne, lei­chen­blas­se Grei­sen­ge­sicht des Chor­herrn, den sie als Teu­fels­bünd­ler ver­brann­ten, weil er drei ge­fan­ge­nen Luthe­r­a­nern zur Flucht aus dem He­xen­turm ver­hol­fen hat­te – und er hör­te sei­ne Stim­me aus dem Rau­schen der Flam­men das Wort des Hei­lands hin­ru­fen über die Men­ge: »Herr, ver­gib ih­nen, sie wis­sen nicht, was sie tun!«

Das wir­bel­te dem Jä­ger durch Herz und Sin­ne, als er hin­aus­tau­mel­te ins Freie, ins Grün, in die Son­ne.

Ein klei­ner Gar­ten. Schma­le Bee­te mit ro­ten Au­ri­keln, die man ›Lieb­her­zens­schlüs­sel‹ nann­te. Und im Schat­ten ei­nes blü­hen­den Birn­bau­mes saß je­nes jun­ge Mäd­chen auf ei­ner Bank, die aus­ge­brei­te­ten Arme über die Leh­ne ge­schmiegt. Das Hütl hat­te sie auf die Bank ge­legt; die schwar­zen rot­durch­flocht­nen Zöp­fe hin­gen über die ru­hig at­men­de Brust. Ihre Au­gen wa­ren ge­schlos­sen. Sie schlief nicht, hat­te nur die Li­der zu­ge­tan, um in Be­ha­gen das lin­de Spiel von Schat­ten und Son­ne auf ih­rem Ge­sicht zu füh­len. Gleich schwar­zen Mon­den la­gen die Wim­pern auf den leicht ge­bräun­ten Wan­gen, und halb ge­öff­net, wie in lä­cheln­dem Dürs­ten, at­me­ten die ro­ten Lip­pen.

Der Jä­ger stand vor ihr, von ei­nem Zit­tern be­fal­len, das für ihn Er­wa­chen und Er­lö­sung, Schreck und Freu­de war. Was ihn trieb, das wuß­te er nicht. War es die Sehn­sucht, nach al­lem Grau­en die­ser ver­wi­che­nen Mi­nu­te das schö­ne, blü­hen­de Le­ben zu um­klam­mern? War es der ban­ge Ge­dan­ke: Du bist ein Weib, auch dir kann dro­hen, was den an­de­ren ge­sch­ah? War es ein jäh er­wach­ter Wil­le sei­nes Her­zens? Er wuß­te das nicht. Er tat nur, was er muß­te, um­schlang sie mit bei­den Ar­men, hob sie an sei­ne Brust und küß­te in Glut ih­ren Mund.

Das Mäd­chen wehr­te sich in stam­meln­dem Schreck. Mit kräf­ti­gen Fäus­ten stieß sie ihn zu­rück, und der Zorn blitz­te in ih­ren dunklen Au­gen. Schwei­gend warf sie die Zöp­fe über die Schul­tern, nahm den Hut von der Bank und ver­ließ den Gar­ten.

Adel­wart stand mit blas­sem Ge­sicht und griff an sei­ne Stirn, als müß­te er sich be­sin­nen, was da ge­sche­hen war. »Jung­fer, ich bitt Euch, Jung­fer –« Rat­los sah er im lee­ren Gar­ten um­her.

Aus dem Haus, von der Leut­stu­be, hör­te man einen wüs­ten Lärm. Al­len Spek­ta­kel über­tön­te eine schril­len­de Stim­me: »Ein Ket­zer! Ein ver­kapp­ter Luthe­ri­scher ist er! Von Got­tes Gü­tig­keit sagt er –«

Der Jä­ger hör­te das nicht. Er sprang in den Flur. Sei­ne Au­gen such­ten.

Da gab es in der Leut­stu­be ein wil­des Ru­mo­ren, ein wir­res Krei­schen. »Je­sus Ma­ria!« Mit lan­gen Sprün­gen jag­te ei­ner im Bau­ern­kit­tel auf den Platz hin­aus, ein paar Salz­kärr­ner und Knap­pen wa­ren hin­ter ihm her, und der gan­ze Flur füll­te sich mit drän­gen­den, schrei­en­den Leu­ten. Als sich Adel­wart einen Weg schaf­fen woll­te, fiel sein Blick in die Stu­be. Da lag der Knap­pe auf dem Lehm­bo­den, die Stirn von Blut über­strömt, und ne­ben ihm lag eine zin­ner­ne Bier­kan­ne, die aus der Form ge­ra­ten war. »Pa­rie­ren hät­te er müs­sen«, er­klär­te der in­va­li­de Spieß­knecht mit ei­ner Arm­be­we­gung, »so hätt er pa­rie­ren müs­sen!« Und ein al­ter Bau­er schimpf­te: »All­weil sag ich's, das gan­ze Deut­sche Reich wird noch in Scher­ben fal­len, weil je­der von Got­tes Gü­tig­keit ein an­de­res Prä­mißl hat!«

Von dem Ge­drän­ge, das den Flur er­füll­te, wur­de Adel­wart zur Haus­tür hin­aus­ge­scho­ben und sah in der lan­gen Gas­se die Kut­sche mit den zwei Schim­meln um eine Ecke bie­gen. Da fühl­te er an sei­nem Spen­zer einen der­ben Griff. Der Leut­geb sag­te zu ihm: »Jä­ger, das Zah­len hast du ver­ges­sen!« Bleich, mit zit­tern­den Hän­den, hol­te Adel­wart ein Sil­ber­stück aus dem Geld­beu­tel und warf es dem Leut­geb hin. Als er durch die Son­ne hin­un­ter­ging zur Berch­tes­ga­de­ner Stra­ße, klang aus al­lem Lärm, der in der Leut­stu­be war, ein wir­res Sai­ten­ge­klirr her­aus. Da hat­te ei­ner das In­stru­ment der Har­fe­nis­tin um­ge­wor­fen.

2

In dem Jä­ger brann­te eine fie­bern­de Un­ge­duld nach sei­nem Ziel. Bei je­der Stra­ßen­bie­gung späh­te er, ob ihm der zu­rück­wei­chen­de Wald nicht die Mau­ern und Tür­me des Stif­tes zei­gen möch­te.

Wie­viel hun­dert­mal seit sei­nen Kin­der­jah­ren hat­te er vom Mau­er­kranz des Buch­ber­ger Schlos­ses mit heißem Blick die fer­nen Ber­ge ge­sucht, im­mer die Sehn­sucht im Her­zen: Dort, wo die Welt so blau ist, möcht ich le­ben! Vor zwei Jah­ren, als sein Herr den ›Söll­mann‹ ge­kauft hat­te, einen ro­ten Schweiß­hund, der aus dem Zwin­ger des Berch­tes­ga­de­ner Stif­tes kam, hat­te Adel­wart mit dem Klos­ter­knecht, der den Hund ge­bracht, die gan­ze Nacht bei­sam­men ge­ses­sen und hat­te sich von ihm er­zäh­len las­sen: wie hoch man zu Berch­tes­ga­den das Weid­werk hiel­te und wie schön das Land wäre. Und vor drei Ta­gen, als der Frei­herr zu Buch­berg hin­ter der Kut­sche, in der sei­ne Frau und sei­ne Kin­der sa­ßen, mit blas­sem Ge­sicht zum Schloß­hof hin­aus­ge­rit­ten war, um für sich und die Sei­nen ir­gend­wo in evan­ge­li­schem Land eine neue Hei­mat zu su­chen, da hat­te Adel­wart auf die Fra­ge des Salz­bur­ger Vogts den Kopf ge­schüt­telt: »Un­ter den neu­en Far­ben mag ich nit die­nen. Mein Herr ist fort, jetzt bin ich ein Frei­er. Ich geh nach Berch­tes­ga­den.« Noch in der glei­chen Stun­de hat­te er sein biß­chen Hab und Gut ge­packt, hat­te den klei­nen Kof­fer über den Schloß­berg hin­un­ter­ge­zo­gen, hat­te ein letz­tes­mal das na­men­lo­se Grab sei­ner El­tern be­sucht und war auf einen Salz­kar­ren ge­stie­gen, der von der Do­nau heim­kehr­te in die Ber­ge.

Eine Nacht und einen end­lo­sen Tag hat­te die trä­ge Fahrt ge­dau­ert.

Als er Salz­burg am Abend er­reich­te, war er, wir­be­lig von Lärm und Schau­en, in den Stra­ßen um­her­ge­lau­fen, bis das Ge­bim­mel der Bür­ger­glo­cke und das Trom­mel­ge­ras­sel der Ron­de die Leu­te in ihre Stu­ben trieb. Die Nacht in der Her­ber­ge zum ›Gol­de­nen Stern‹ wur­de für ihn zwi­schen Wa­chen und Schlum­mer zu ei­nem dürs­ten­den Traum von dem blau­en Land sei­nes Glückes.

Schwül at­mend blieb er ste­hen, die Wan­gen bren­nend vom hei­ßen Marsch. »Die gan­ze Freud ist mir ver­dor­ben!« Er preß­te den Arm über die Au­gen. »Wär ich nur da nit hin­aus­ge­gan­gen! Hätt ich nur das nit se­hen müs­sen!«

Der lär­men­de Men­schen­hau­fe, der am frü­hen Mor­gen vor dem ›Gol­de­nen Stern‹ mit Ge­schrei durch die Gas­se ge­zo­gen war, hat­te ihn mit hin­aus­ge­ris­sen zur Nonn­ta­ler Wie­se. Das Wort ›He­xen­feu­er‹, das er im­mer wie­der hör­te, hat­te ihn neu­gie­rig ge­macht. Da­von hat­ten seit sei­ner Kind­heit im Buch­ber­ger Schloß alle Mäg­de ge­tu­schelt. Im­mer hat­te er un­gläu­big den Kopf ge­schüt­telt. Nun soll­te er's mit ei­ge­nen Au­gen se­hen, wie die He­xen um das Feu­er tan­zen. Es war an­ders ge­kom­men. Er hat­te se­hen müs­sen, wie das Feu­er um die He­xen tanzt.

Lan­ge stand er auf der Stra­ße, den Arm über die Au­gen ge­preßt. Zwi­schen wo­gen­dem Rauch und rau­schen­den Flam­men sah er im­mer zwei große, dunkle, schö­ne Mäd­chen­au­gen, die in Zorn und Em­pö­rung blitz­ten. »Hätt ich nur das nit ge­tan! Das wird ein Elend für mich.« Wie war es denn nur ge­sche­hen? Er sann und grü­bel­te. Wie ein Blitz her­un­ter­fährt, so war's über ihn ge­kom­men, daß er's tun hat­te müs­sen – wie eine dunkle Ge­walt, die ihn zwang, wie ein mäch­ti­ger Zau­ber. Eine aber­gläu­bi­sche Re­gung zuck­te in ihm auf. Aus Zorn über die­sen Ge­dan­ken schlug er mit der Faust in die Luft. Und at­me­te auf. Und lä­chel­te. Was so hold und schön ist, muß das nicht ein Hei­li­ges sein? Wo­her soll­te das kom­men, wenn nicht aus des Herr­gotts schen­ken­der Hand? Und wenn des Herr­gotts schö­nes Werk mit lie­ben Ge­wal­ten nach ei­nem jun­gen Her­zen greift? Ist das nicht wie im Früh­ling, wenn der Son­nen­schein aus kal­tem Bo­den die Blu­men weckt? Ein Zau­ber! Ei­ner, der hei­lig ist und den der Herr­gott will!

Und die Kut­sche? Die in der Schel­len­ber­ger Gas­se ver­schwun­den war? Die muß­te von Berch­tes­ga­den ge­kom­men sein. Das blaue Land, das da drau­ßen in Schön­heit leuch­te­te, muß­te ihre Hei­mat sein. Wie hell ihm plötz­lich die Au­gen glänz­ten! Has­ti­gen Schrit­tes folg­te er der Stra­ße. Die mach­te eine Bie­gung, und da hör­te Adel­wart ein grim­mi­ges Schel­ten und Flu­chen.

Von ei­ner Fels­wand si­cker­te eine Quel­le in hun­dert blit­zen­den Fä­den her­un­ter. Das Was­ser, das in der Son­ne so sil­be­rig glit­zer­te, hat­te die Stra­ße in tie­fen Mo­rast ver­wan­delt. Und da stak ein Salz­kar­ren fest­ge­fah­ren bis an die Na­ben sei­ner Rä­der. Der Kärr­ner peitsch­te schimp­fend auf die Maul­tie­re los, die zit­ternd im Schlamm stan­den und nim­mer zie­hen woll­ten. »He! Fuhr­mann!«, rief der Jä­ger. »Schlag doch nit so un­sin­nig auf die ar­men Vie­cher los! Laß gut sein, ich will dir hel­fen!« Der Zorn des Kärr­ners war flink be­schwich­tigt. »Ja, Bub! Da tät ich dir ein fes­tes Ver­gelts­gott sa­gen!«

»Die Blach mußt du auf­tun! Ich mach mich fer­tig der­weil. Wir müs­sen den Kar­ren ein bißl leich­tern.« Wäh­rend sich Adel­wart auf einen Stein setz­te und die Schu­he und St­rümp­fe her­un­ter­zog, stieg der Fuhr­mann auf den Kar­ren und schlug die wei­ße Bla­che über die Rei­fen zu­rück – ein ma­ge­rer Kerl, schon über die Fünf­zig, mit bors­ti­gem Grau­haar und ei­nem ro­ten Bart, der wie ein aus­ge­zack­tes Schurz­fell um das ver­wit­ter­te Ge­sicht her­um­hing. Dann wa­te­te Adel­wart mit den nack­ten Bei­nen in den Schlamm. Sel­ban­der ho­ben sie ein halb Dut­zend Salz­sä­cke vom Kar­ren und tru­gen sie auf tro­ckenen Bo­den. »So, jetzt nimm den Leit­strang!«, sag­te der Jä­ger und warf auch den Spen­zer ab. »Ich tauch am Wa­gen an. Wenn ich hopp schrei, laß die Häu­ter zie­hen.« Er stieg in den Sumpf und leg­te sich mit der Schul­ter ge­gen das Ge­stäng des Kar­rens. »Hopp!« Der Fuhr­mann schrie mit ho­her Fis­tel­stim­me sein »Hjub­ba!«, und ließ die Peit­sche nie­der­sau­sen. Schnau­bend zo­gen die Tie­re an, und der Jä­ger schob am Kar­ren, daß ihm die Stir­ne blau wur­de. Erst mach­ten die Rä­der in dem zä­hen Schlamm nur einen trä­gen Ruck. Dann fin­gen sie im Sumpf zu rol­len an und roll­ten hin­aus auf die tro­ckene Stra­ße.

»Ver­gelts Gott, Bub!« Der Kärr­ner lehn­te die Peit­sche an einen Baum. »Du mußt Ei­sen in den Kno­chen ha­ben!«

Adel­wart lach­te. »Wenn's sein muß, bring ich schon ein Bröckl für­wärts.« Er guck­te an sich hin­un­ter. »Gut schau ich aus! Aber komm! Laß auf­la­den!« Als sie den ers­ten Sack auf den Kar­ren ho­ben, frag­te er: »Bist du in Berch­tes­ga­den da­heim?«

»Nein, Bub, ich bin ein Pas­sau­er!« Der Kärr­ner be­gann zu er­zäh­len, daß er einen Kram­la­den hät­te, ein bra­ves, flei­ßi­ges Weib und sie­ben Kin­der. Zwei­mal des Jah­res, im Mai und im Herbst, da kommt er mit sei­nem Kar­ren den wei­ten Weg ge­fah­ren, um die vier­zig Met­zen Salz für sei­nen La­den zu ho­len. Und von dem Spiel­zeug, das sie zu Berch­tes­ga­den schnit­zen, bringt er je­des Jahr ein Kistl voll mit heim für ›sei­ne lie­ben klei­nen Föh­len‹.

»Da wirst du dich in Berch­tes­ga­den nit aus­ken­nen?«

»Weg und Steg, die kenn ich wie mei­nen Jan­ker­sack. Jeds­mal bleib ich drei Tag. Da guckt man sich all­weil ein bißl um.«

Sie ho­ben den letz­ten Sack auf den Kar­ren. Das war kei­ne har­te Müh. Den­noch brann­te dem Jä­ger das Ge­sicht. »Hast du in Berch­tes­ga­den nie eine Jung­fer ge­se­hen, schön und lieb wie ein Got­tes­tag? Au­gen hat sie wie Räd­len. Und ihre schwar­zen Zöpf, die sind rot ge­bän­dert.«

Der Pas­sau­er guck­te ihn an und schmun­zel­te. »Nein, Bub! Auf Jung­fern schau ich mich nim­mer um.« Er stieg auf den Kar­ren und zog die Bla­che über die Rei­fen. Plötz­lich hob er den Kopf. »Halt, du! Vo­rigs Jahr, da hab ich so eine ge­se­hen. Eine, so um die zwan­zig Jahr. Am fei­nen Hälsl hat sie ein klei­nes, ro­tes Mal, als war ein Han­nis­kä­fer­lein hin­ge­flo­gen. Ist das die?«

»Das weiß ich nit.«

Die Schnü­re der Bla­che wa­ren fest­ge­bun­den, und der Pas­sau­er sprang vom Wa­gen. »Also, Bub, ver­gelts Gott!«

Da sah der Kärr­ner, daß an Adel­warts Schul­ter ein paar rote Trop­fen durch das Hemd her­aus­quol­len. »Herr­jöi, Bub! Da hast dir weh ge­tan! Um mei­net­we­gen!«

Das hat­te der Jä­ger gar nicht ge­merkt. Er sah es erst jetzt und schob das Hemd zu­rück. Hand­breit lief ein blau­er Strie­men über die Schul­ter, und ein Stückl Haut war ab­ge­schürft. »Das tut nichts«, sag­te er und haf­tel­te den Kra­gen wie­der zu. »Fahr nur! Und gu­ten Heim­weg!« Er setz­te sich ans Ufer der Ache, wusch den Schlamm von den Bei­nen und schlüpf­te in die St­rümp­fe. Der Kärr­ner strich ihm sacht mit der Hand über die wun­de Schul­ter. »Ein Sal­wes­blatt mußt du auf­le­gen. Da ist's gleich wie­der gut. Und ver­gelts Gott halt! Führt uns wie­der ein­mal ein Weg über­zwerch, und ich kann dir was hel­fen, Bub, so sag's!« Er lach­te. »Ich tu's, und müßt ich für dich dem Teu­fel ein Dut­zend Bors­ten aus dem Schwanz­quästl rei­ßen.«

Adel­wart band die Rie­men sei­ner Schu­he. »Hjub­ba!«, klang es hin­ter ihm. Ein Peit­schen­knall. Dann zo­gen die Maul­tie­re den ras­seln­den Kar­ren da­von. »Jetzt hab ich schon zwei, die mir hel­fen wol­len!« Ei­nen hei­te­ren Blick in den Au­gen, er­hob sich der Jä­ger und sah dem Pas­sau­er mit ei­nem Lä­cheln nach, als wär in ihm der Ge­dan­ke: ›Was wirst du mir hel­fen kön­nen?‹

Ganz ohne Hil­fe war der Pas­sau­er nicht da­von­ge­fah­ren. Bei der Ar­beit, die der Jä­ger für den Kar­ren ge­tan hat­te, war ihm al­les Quä­len­de aus den Ge­dan­ken ge­fal­len. Als er einen Fuß­pfad am Ufer der Ache ein­schlug, sah er nur das schö­ne blaue Land, das ihn er­war­te­te, und sah zwei große, dunkle Mäd­chen­au­gen, in de­nen sich der Zorn zu freund­li­chem Blick ver­wan­delt hat­te. »Die ist in Berch­tes­ga­den da­heim! Die seh ich wie­der!« Die­ser Glau­be mach­te ihm das Land sei­ner Sehn­sucht noch schö­ner um ein hel­les Licht. Bei al­lem Schau­en merk­te er nicht, daß sich der Fuß­pfad, den er ein­ge­schla­gen hat­te, im­mer wei­ter von der Stra­ße ent­fern­te, auf schma­lem Steg die Ache über­setz­te und im Tal durch die Wie­sen ging, wäh­rend die Stra­ße drü­ben am Wald­saum ein we­nig zu stei­gen be­gann.

Wie schmuck die Jung­fer ge­klei­det war! Nur schmuck, nicht reich. Sie muß­te ei­nes Bür­gers Kind sein. Wär' sie aus ei­nes Her­ren Haus, so hät­te sie die Strau­ßen­fe­der oder die Rei­her­gra­nen auf dem Hut ge­tra­gen oder ein selt­sam Fe­der­werk, wie es aus der in­dia­ni­schen Welt her­über­kommt. Ob sie nicht gar ei­nes Jä­gers Kind ist? Das schoß ihm durch den Kopf. Denn der Fe­der­stoß auf ih­rem Hut, das wa­ren die wei­ßen Schäu­fel­chen ei­nes Birk­hahns. Käme nur ein Mensch, den er fra­gen könn­te! Der Pfad, so weit er sich über­schau­en ließ, war leer. Doch nein, in den Er­len­bü­schen am Ufer des Ba­ches be­weg­te sich was. Dort saß ei­ner mit der An­gel­ger­te, in Hem­d­är­meln, mit ei­ner bunt­ge­streif­ten Hose, wie die Lands­knech­te sie ge­tra­gen hat­ten, als der Jä­ger noch ein Kind war.

Wo der Fi­scher saß, bil­de­te der Bach einen großen Kolk. Über dem Was­ser schwamm die Schnur mit dem Fe­der­spliß, nach dem der Fi­scher guck­te. Ein Mann, schon an die Sech­zig, klein und wohl­ge­nährt, mit ei­nem gut ge­pols­ter­ten Wanst, über dem der Ho­sen­bund nicht mehr zu­sam­men­ging. Die run­den, was­ser­blau­en Au­gen sa­ßen in ei­nem fet­ten Ge­sicht mit Schlot­ter­ba­cken. Ein grau­er Schnau­zer hing ihm über die Mund­win­kel, und wie ein di­cker Dorn stach aus dem brei­ten Dop­pel­kinn der Kne­bel­bart her­aus. Ein Fi­scher von Be­ruf? Den macht sein Hand­werk ma­ger. Adel­wart riet: ein Bä­cker oder Mül­ler. Die pfle­gen sich bei gu­tem Ver­dienst zu run­den. Aber eine Müh­le war Bach auf und ab nicht zu se­hen. Auf einen Stein­wurf von der Ache ent­fernt, zwi­schen Er­len und blü­hen­den Obst­bäu­men, stand ein klei­nes, aus Stei­nen ge­bau­tes Haus mit ge­weiß­ten Mau­ern, bis über die Fenster­hö­he von ei­ner dich­ten Bret­ter­plan­ke um­zo­gen, an der auch die Fu­gen der Bret­ter wie­der mit Lat­ten ver­na­gelt wa­ren.

Beim Rau­schen der Ache hat­te der Fi­scher die Schrit­te des Jä­gers über­hört. Jetzt zuck­te er die Schnur aus dem Was­ser, so ge­schickt, daß ihm die Fo­rel­le, die ge­bis­sen hat­te, gleich in den Schoß fiel. Wie er den Fisch pack­te! Mit die­ser klei­nen, wei­bisch ge­run­de­ten Hand. Das war ein Griff, so merk­wür­dig si­cher! Und ver­gnügt, mit schmal­zi­gem Ge­me­cker, rief er zum Haus hin­über: »Huld­la! Ich hab schon wie­der einen!« Dann riß er dem Fisch die An­gel aus dem Sch­lund, daß die gan­ze Zun­ge der Fo­rel­le am Ha­ken hän­gen­blieb. »Aber, Mensch!«, sag­te Adel­wart ge­är­gert. »Man kann dem Fisch das Ei­sen doch sänft­lich aus­lö­sen.« Mit flin­ker Be­we­gung hob der Fi­scher das Fett­ge­sicht, sah den Jä­ger ver­wun­dert an, maß ihn vom Kopf bis zu den Fü­ßen und schmun­zel­te, wie ein er­fah­re­ner Greis zur Weis­heit ei­nes Kin­des lä­chelt.

Vom Haus her­über kam mit höl­zer­nem Kü­bel ein jun­ges Mä­del ge­lau­fen, ein paar Jahr über die Zwan­zig; sie war bar­fü­ßig und trug nur ein kur­z­es schwar­zes Röckl über dem Hemd; in wir­ren Zot­ten hin­gen ihr die schwe­ren, rost­brau­nen Haa­re um das bleich­süch­ti­ge, ha­ge­re Ge­sicht, das nicht häß­lich war trotz der gal­li­gen Ver­grämt­heit und der hun­gern­den Sehn­sucht in den scheu­en Au­gen. Er­schro­cken stand das Mä­del, starr­te den Jä­ger an wie ein Wun­der und stam­mel­te: »Va­ter –«

»Siehst du den Ferch nit? Da, im Gras!«

Das Mä­del bück­te sich nach dem Fisch, der kei­nen Zuck mehr tat, und leg­te ihn in den Kü­bel. Zö­gernd ging sie da­von und dreh­te im­mer wie­der das Ge­sicht.

Der Fi­scher hat­te die Zun­ge der Fo­rel­le als Kö­der be­nützt und einen Wurm da­zu­ge­spießt. Den be­kö­der­ten Ha­ken tauch­te er in einen klei­nen Napf, der ein weiß­li­ches Fett ent­hielt.

»Gelt, das ist Rei­her­schmalz?«, frag­te Adel­wart, der von den Küns­ten der Fi­sche­rei was ver­stand.

»Rei­her­schmalz?« Der Fi­scher guck­te auf, mit sei­nem ver­gnüg­ten Ge­me­cker. »Rei­her­schmalz? Frei­lich, da bei­ßen sie gern. Aber das da? Das ist was Bes­se­res. Da schnap­pen sie wie när­risch.« Er warf die Schnur ins Was­ser. »Rei­her­schmalz? Da hast du dich um ein paar Buch­stäb­len ver­redt!« Lus­tig blin­zel­te er an dem Jä­ger hin­auf. »Das ist Räu­ber­schmalz.«

»Schau, jetzt hab ich was ge­lernt!«, sag­te Adel­wart. »Daß die Tal­g­zäh­ren, die an ei­nem Ker­zen­licht vom glos­ten­den Räu­ber trop­fen, ein gu­ter Kö­der auf Fer­chen sind, das ist mir neu.«

Der Fi­scher schnell­te schon wie­der eine Fo­rel­le aus dem Was­ser und rief über die Schul­ter: »Huld­la!« So flink war das Mä­del zur Stel­le, als hät­te sie auf die­sen Ruf ge­war­tet. Jetzt trug sie ein ge­blüm­tes Mie­der­chen aus gel­ber Sei­de, hat­te blau ge­zwi­ckel­te St­rümp­fe und nied­li­che Pan­töf­fel­chen an den Fü­ßen. Die Haa­re wa­ren zu­rück­ge­stri­chen und in ei­nem Kno­ten ge­bän­digt. Im­mer sah sie den Jä­ger an, und hei­ße Fle­cke brann­ten ihr auf den blei­chen Wan­gen. »Va­ter«, frag­te sie, »soll ich gleich auf den nächs­ten war­ten?«

Aus dem Fett­ge­sicht des Fi­schers schwand die lus­ti­ge Ge­müt­lich­keit. »Geh ins Haus!«, sag­te er grob. Kaum war das Mä­del ver­schwun­den, da lach­te der Alte wie­der. Und wäh­rend er die An­gel frisch be­kö­der­te und in das Tie­gel­chen tauch­te, schwatz­te er vor sich hin: »Da bei­ßen sie wie när­risch. Und das da ist be­son­ders gut, weil's von ei­nem Sa­kri­le­ger ist. Den hab ich vor drei Wo­chen schin­den müs­sen, weil er in der Ram­sau­er Kirch die Mon­stranz ge­stoh­len hat.«

Er­blei­chend stam­mel­te der Jä­ger: »Mensch, wer bist denn du?«

»Du bist ein Frem­der, gelt? Sonst tätst du den Jo­chel Zwan­zi­gei­ßen ken­nen.«

Der Di­cke warf die Schnur ins Was­ser.

Dann hob er la­chend das run­de, glän­zen­de Ge­sicht. »Ich bin der Frei­mann von Berch­tes­ga­den.« Er­hei­tert über den Schreck, mit dem der Bub vor ihm zu­rück­wich, frag­te er:

»Hast du viel­leicht ein schlech­tes Ge­wis­sen?«

Durch al­les Grau­en, das den Jä­ger be­fal­len hat­te, zuck­te ihm der Ge­dan­ke: Wie kann man so fett wer­den und so lus­tig sein bei dem Hand­werk! Das Ge­wir­bel der Bil­der, die quä­lend wie­der in ihm er­wach­ten, zwang ihn zu der Fra­ge: »Hast du auch schon He­xen ver­bron­nen?«

»Frei­lich. Weit über die hun­dert schon. Mus­pe­re Weiblen sind da­bei ge­we­sen. Der Teu­fel hat einen fei­nen Gu­sto.« Schmun­zelnd be­ob­ach­te­te der Di­cke den auf dem Was­ser tan­zen­den Fe­der­spliß. »Wie ich noch Ge­sell zu Bam­berg und in Salz­burg ge­we­sen bin, ha­ben wir flei­ßig bren­nen müs­sen. Seit ich zu Berch­tes­ga­den bin, hab ich Fei­er­abend.« Das lus­ti­ge Ge­me­cker des Di­cken hat­te plötz­lich einen an­de­ren Klang. »Mei­ne Her­ren im Stift und un­se­re Pa­tres Fran­zis­ka­ner den­ken so viel gut von der bäu­ri­schen Mensch­heit. Die glau­ben all­weil, es gäb im Berch­tes­ga­de­ner Land kei­ne He­xen. Tät ei­ner fest hin­schau­en –« Den Hals stre­ckend, schwieg er und guck­te schär­fer nach dem Fe­der­kiel, der auf dem Was­ser zu zit­tern be­gann.

Mit ja­gen­dem Schritt ging Adel­wart da­von. Als ihm dich­tes Er­len­ge­büsch das Haus des Frei­manns schon ver­deck­te, hör­te er noch die lus­ti­ge Stim­me: »Huld­la! Ich hab schon wie­der einen!« Kal­tes Grau­en rüt­tel­te sei­nen Leib. Er rann­te über die Wie­sen und hielt erst inne, als er zu ei­nem Sträßl kam, auf dem er Fuhr­werk und Men­schen ge­wahr­te. Au­fat­mend drück­te er die Fäus­te auf die Brust. »Mei­nem Herr­gott dank ich, daß ich den nit ge­fragt hab um die Jung­fer!« Zö­gernd wand­te er das Ge­sicht und sah bei den Er­len­bü­schen die Frei­mann­s­toch­ter ste­hen, in der Fer­ne so klein, daß ihr gel­bes Mie­der im Grün wie ein Blüml aus­sah. Da muß­te er an die Fi­sche den­ken – und sah, wie die bei­den, Va­ter und Toch­ter, bei der Schüs­sel hock­ten. Der Ekel fuhr ihm in alle Kno­chen.

Er sprang auf die Stra­ße, stand wie an­ge­wur­zelt, und al­les Zit­tern sei­ner Sin­ne war ihm ver­wan­delt zu hei­ßer Freu­de. Weit of­fen in der Son­ne lag das herr­li­che Tal mit al­len Ber­gen vor ihm, mit dem Rie­sen­zahn des Watz­mann, ein grü­nes Wun­der­land, über­wölbt vom rei­nen Blau. Von den sma­rag­de­nen Wie­sen­hö­hen, die sich zur Rech­ten ge­gen die Wäl­der des Un­ters­ber­ges ho­ben, grüß­te der mäch­ti­ge Bau des Stif­tes mit blin­ken­den Fens­tern. Wie die Schä­fer bei der Her­de ste­hen, ho­ben sich die Tür­me des Müns­ters und zwei­er Kir­chen über das sonn­be­glänz­te Dach­ge­wirr des Mark­tes. Klei­ne Gär­ten mit blü­hen­den Obst­bäu­men hin­gen zwi­schen Mau­ern auf dem stei­len Ge­länd, und auf der Höh schob sich über­all der Berg­wald mit lich­ten Bu­chen und leuch­ten­dem Fels­ge­schr­öff bis dicht an die Häu­ser her. Den grü­nen Hü­geln zu Fü­ßen, am Ufer der blit­zen­den Ache, lag ein großes Ge­bäu­de, das Pfann­haus der Sa­li­ne Frau­en­reut, und ein Ge­wir­bel fei­nen Was­ser­damp­fes quoll über das hoch­ge­gie­bel­te Dach hin­aus und ver­weh­te mit zar­ten Schlei­ern in der Son­ne. Über­all im Tal, so weit man se­hen konn­te, la­gen um­zäun­te Ge­höf­te ein­sam zwi­schen Wie­sen und Wäld­chen; hoch im Berg­wald dro­ben, auf klei­nen Geräum­ten, leuch­te­ten die grau­en Dä­cher, und über dem Kranz der Al­men, die zu grü­nen be­gan­nen, stie­gen die Wän­de ins Blau, noch halb über­gos­sen von Schnee und glei­ßend wie Sil­ber. »Herr du mein! O du schö­nes Land, du!«, stam­mel­te der Jä­ger. Und wäh­rend er dem Sträßl folg­te, hin­gen sei­ne stau­nen­den Au­gen im­mer an den weiß­ge­män­tel­ten Rie­sen da dro­ben, am Watz­mann und sei­nen stei­ner­nen Kin­dern.

Nur weil er un­ter Bäu­me kam, de­ren Kro­nen ihm das Bild der Fer­ne ver­hüll­ten, fand er auch einen Blick für die Nähe. Da stand auf der einen Sei­te der Stra­ße ein statt­li­ches Ge­bäu­de, das neue Häl­lin­ger­amt, auf der an­de­ren Sei­te die Salz­müh­le, in der es rausch­te, ras­sel­te und poch­te. Dun­kel gähn­te am Berg­hang das Tor ei­nes Stol­lens. Auf höl­zer­ner Roll­bahn ka­men mit flin­kem Schuß die mit röt­li­chen Salz­stei­nen be­la­de­nen ›Hun­de‹ her­aus­ge­fah­ren; erst hör­te man nur das dump­fe Rol­len, ohne daß in dem fins­te­ren Schacht et­was zu se­hen war; dann plötz­lich schoß der Wa­gen her­aus in den Tag, und der Hunds­mann, der ihn führ­te, mit dem ru­ßen­den Gru­ben­licht am Gür­tel, zwin­ker­te die Au­gen zu, weil ihn die Son­ne blen­de­te. »Das muß ein trau­ri­ges Schaf­fen sein, da drin­nen in der schwar­zen Tief!« Bei die­sem Ge­dan­ken such­ten die Au­gen des Jä­gers den Wald und die frei­en Ber­ge.

Als er die Stra­ße hin­aus­wan­der­te, schoß ihm jäh das Blut in die Wan­gen. Er sah einen grei­sen Pries­ter kom­men, im wei­ßen Ha­bit der Au­gus­ti­ner, mit ei­ner pelz­ver­bräm­ten Kap­pe über den grau­en Haar­sträh­nen, die dünn her­un­ter­hin­gen auf die Schul­tern. Ein fei­nes, blei­ches Ge­sicht mit dem Aus­druck tie­fen Kum­mers und mit brü­ten­der Sor­ge in den Au­gen. Adel­wart las nicht die Spra­che die­ses Ge­sich­tes, sah nur das Kleid, und bren­nend war der Ge­dan­ke in ihm: Von mei­nen Her­ren ei­ner! Aber nicht der Propst! Das merk­te er gleich. So al­lein geht doch ein Fürst nicht über den Weg. Er zog un­ter stam­meln­dem Gruß die Kap­pe.

»Herr? Mö­get Ihr aus Gü­tig­keit er­lau­ben, daß ich eine Frag an Euch tu?«

Mit zer­streu­tem Blick hob der Pries­ter das Ge­sicht.

»Gelt, Ihr seid von den Her­ren ei­ner, aus dem Klos­ter dro­ben?«

Der Stifts­herr nick­te.

»So sagt mir, Herr, wel­chen Weg ich ma­chen muß, daß ich mit dem gnä­di­gen Fürs­ten zu re­den komm?«

Ein we­hes Lä­cheln zuck­te dem Stifts­herrn um die schma­len Lip­pen. »Das kann ich dir nicht sa­gen. Wüßt ich da einen Weg, so würd ich ihn sel­ber ma­chen. Noch heut!« Er woll­te ge­hen. Da sah er die Rat­lo­sig­keit im Ge­sicht des Jä­gers. »Bist du fremd? Weißt du nicht, daß Sei­ne Lieb­den Her­zog Fer­di­nand, un­ser Fürst, der Erz­bi­schof zu Köl­len am Rhein ist? Seit wir ihn zum Fürs­ten wähl­ten, hat er sein Land nicht ge­se­hen.« Die Stim­me des grei­sen Pries­ters zit­ter­te, »Seit zwei­und­zwan­zig Jah­ren.«

»Je­sus!« Der Schreck war dem Jä­ger in alle Glie­der ge­fah­ren. »Was soll ich denn da jetzt tun?«

Schwei­gend be­trach­te­te ihn der Stifts­herr. In sei­nen sor­gen­vol­len Au­gen er­wach­te ein freund­li­cher Blick.

»Was woll­test du beim Fürs­ten?«

»Ach, Herr!« Dem Jä­ger spru­del­te die gan­ze Ge­schich­te sei­ner blau­en Träu­me aus dem Her­zen. »Da komm ich jetzt von so weit! Und möcht Eu­rem Fürs­ten die­nen als Jä­ger. Das darf ich sa­gen ohne Hoch­mut: Ich bin kein schlech­ter. Was tu ich jetzt? Wenn Euer Fürst zu Köl­len hockt! Ich kann doch nit durchs gan­ze Deut­sche Reich hin­un­ter­lau­fen bis an den Rhein. Und möcht doch blei­ben. Ums Le­ben gern!«

Mit ei­nem Blick des Wohl­ge­fal­lens leg­te der Stifts­herr dem Jä­ger die Hand auf die Schul­ter. »Dazu brau­chen wir den Fürs­ten nicht. Geh hin­über zum Wild­meis­ter! Da drü­ben am Stifts­berg, das Haus bei den Birn­bäu­men, da wohnt er. Wenn er dich tüch­tig fin­det in al­lem Weid­werk, wird sein An­trag, dich als Jä­ger zu din­gen, bei mir ein wil­li­ges Ohr fin­den.« Er nick­te lä­chelnd und ging sei­ner Weg, wie­der mit die­ser grü­beln­den Sor­ge in den Au­gen.

Dem Jä­ger glüh­te die Freu­de im Ge­sicht. Ei­nen Knap­pen, der von der Sa­li­ne kam, faß­te er am Arm. »Du, ich bitt dich, sag mir, wer das ist: der gute Herr dort!«

»Der edel Herr von Sölln, un­ser Kanz­ler und De­kan.«

»Je­sus! Da ist mein Glück ge­macht!«

Wie heiß auch in Adel­wart das Froh­ge­fühl die­ser Stun­de ru­mor­te, wie un­ge­dul­dig er auch das Haus des Wild­meis­ters zu er­rei­chen such­te – er muß­te, als er die Achen­brücke über­schrit­ten hat­te, doch ste­hen­blei­ben und ein Men­schen­paar be­trach­ten. Un­ter dem Schat­ten großer Ul­men stand ein klei­nes Haus in­mit­ten ei­nes gut­ge­pfleg­ten Gar­tens. Auf grau­er Stein­bank, zwi­schen blü­hen­dem Ho­lun­der, saß eine jun­ge, zar­te Frau in grau­em Kleid, ein wei­ßes Häub­chen um das Haar ge­bun­den, von dem sich zwei blon­de Lo­cken noch her­aus­stahlen un­ter der Lein­wand; ein schma­les, blei­ches Ge­sicht, des­sen Au­gen re­gungs­los und trau­rig ins Lee­re schau­ten. Wie eine Kran­ke sah sie aus, die ein schwe­res Lei­den über­stan­den hat und nicht an Ge­ne­sung glau­ben will. Wäh­rend sie so saß wie ein stei­ner­nes Bild, mit den Hän­den im Scho­ße, kam aus dem Haus ein Mann, noch jung, kaum über die Drei­ßig hin­aus, schwarz­bär­tig, mit di­cken Haar­bü­scheln um das erns­te Ge­sicht. Vor der Brust trug er eine Le­der­schür­ze, und klei­ne Holz­spä­ne hin­gen an sei­nem Ge­wand. Er nahm die Hand der Frau. »Geh, Trud­le, komm her­ein ins Haus! Die Sonn geht bald hin­un­ter, da wird der Abend kühl.« Sie hob das Ge­sicht zu ihm: »Mir ist auch kalt in der Sonn.«

Adel­wart stand bei der He­cke und sah die bei­den lang­sam zwi­schen dem blü­hen­den Ho­lun­der da­von­ge­hen und im Haus ver­schwin­den. Er fühl­te: Da geht ein tie­fes Elend un­ter Dach! Um den Schau­er sei­nes Er­bar­mens zu über­win­den, muß­te er an die fro­he Hoff­nung den­ken, die ihm die ver­gan­ge­ne Mi­nu­te ge­schenkt hat­te. Die Kap­pe zu­rück­schie­bend, sprang er über die Stra­ße und zum Haus des Wild­meis­ters. Das lag am Fuße des Stifts­ber­ges in ei­ner Wie­sen­mul­de, die sich an­sah wie ein auf­ge­füll­ter Wall­gra­ben. Über­all in der Nähe ge­wahr­te man halb ab­ge­tra­ge­ne Fes­tungs­mau­ern, noch mit Schieß­schar­ten in den üb­rig­ge­blie­be­nen Res­ten. Um den Hof des Hau­ses zog sich eine be­schnit­te­ne Weiß­dorn­he­cke, so hoch, daß man mit der Hand kaum hin­auf­reich­te an den Saum. Über der He­cke sah man die Kro­nen blü­hen­der Birn­bäu­me und ein stein­be­schwer­tes Schin­del­dach mit ei­nem Hirsch­ge­weih am First.

Im le­ben­den Zaun eine hohe Bret­ter­tür. Die war ver­schlos­sen. Als Adel­wart an der Klin­ke rüt­tel­te, er­hob sich hin­ter der He­cke ein Kläf­fen und Bel­len vie­ler Hun­de. Die Tür wur­de von in­nen auf­ge­rie­gelt, ein gel­len­der Pfiff mach­te die Hun­de schwei­gen. Vor Adel­wart stand der Wild­meis­ter Pe­ter Ster­zin­ger in grü­nen Bund­ho­sen und im hirsch­le­der­nen Wams, um den Hals einen brei­ten Lei­nen­kra­gen, der ein wei­tes Maß hat­te. Böse Zun­gen konn­ten be­haup­ten, daß der Atem des Wild­meis­ters durch einen links­sei­ti­gen Kropf be­engt wäre. Für ein nach­sich­ti­ges Ur­teil war's nur jene Aus­buch­tung der Hals­li­nie, die der Volks­mund als ›Wim­mer­l‹ be­zeich­net. Über die­sem dop­pel­faust­großen Kröpfl saß ein fes­ter Ei­sen­kopf mit kurz­ge­scho­re­nem Haar. Klei­ne, klu­ge Au­gen blitz­ten, in dem brau­nen Ge­sicht, des­sen Kinn und Wan­gen ra­siert wa­ren, wäh­rend über dem Mund ein di­cker Schnauz­bart sein dunkles Dächl strupp­te. Ein hur­ti­ger Blick mus­ter­te den Jä­ger. Und eine stren­ge, kurz­at­mi­ge Stim­me frag­te: »Wer bist du? Was willst?«

Adel­wart zog die Kap­pe. »Gotts­grü­nen Weid­manns­gruß, Herr Wild­meis­ter! Ein Jä­ger bin ich und tät gern die­nen un­ter Euch. Mit dem ed­len Herrn von Sölln, den mir eine gute Stund über den Weg ge­scho­ben, hab ich schon ge­re­det. Der tät mir ein wil­lig Ohr ge­ben, hat er ge­sagt, wenn Ihr mich ge­recht fin­det in al­ler Jä­ge­rei!«

Wie­der flog der Blick des Wild­meis­ters über die Ge­stalt des Jä­gers auf und nie­der. Dann mach­te er eine merk­wür­dig flin­ke Zuck­be­we­gung mit dem Kopf, wie ein Specht, der den Schna­bel in eine Baum­rin­de schlägt. Das kann­ten die Leu­te an ihm und sag­ten: ›Er schnackelt!‹ – oder sie sag­ten auch: ›Er macht den Specht!‹

»Komm!«, schnackel­te Pe­ter Ster­zin­ger. »Da muß ich dir mit fes­ter Zang an die grü­ne Le­ber grei­fen.«

Adel­wart trat hin­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­­