Rainer Rehberger

Selbsthilfe für Messies

Ursachen verstehen – Änderungen wagen

Klett-Cotta

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Gesamtgestaltung: Weiß-Freiburg GmbH – Graphik & Buchgestaltung

Datenkonvertierung: le-tex publishing services GmbH, Leipzig

Printausgabe: ISBN 978-3-608-86033-7

E-Book: ISBN 978-3-608-10371-7

PDF-E-Book: ISBN 978-3-608-20007-2

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Schnelleinstieg

Messies und Depression

Messies und Sucht

Das Bindungsmuster spielt eine Rolle

Blind gegenüber Gefühlen

Messies und Zwang

Die Bedeutung der frühen Kindheit

Das unerwünschte und abgelehnte Kind

Zu früh gezwungen

Selbsthilfe – kann das funktionieren?

Selbsteinschätzung

Selbsthilfeübungen zu allen Störungsmustern

Behandlungsbeispiele

Aus dem Steppenwolf

Rat für Helfer

Inhalt

VORWORT

TEIL I
WORUNTER MESSIES LEIDEN

Depression

Sucht als »Selbstbehandlung«

Unsicher-abweisendes Bindungsmuster

Gefühlsblindheit

Zwang

TEIL II
WIE DIE ENTWICKLUNG DES KLEINKINDES GELINGT

TEIL III
URSACHEN FÜR DIE ENTWICKLUNG ZU GEZWUNGENEN, UNERSÄTTLICH HUNGRIGEN UND SOZIAL ISOLIERTEN MENSCHEN – DAS UNERWÜNSCHTE UND BLEIBEND ABGELEHNTE KIND

TEIL IV
SELBSTHILFE – KANN ICH MIR ÜBERHAUPT HELFEN?

Schritte der Selbsthilfe

Ich schätze mich selbst ein

Selbsthilfe, wenn wir depressiv sind

Selbsthilfe, wenn wir unsicher gebunden sind

Selbsthilfe, wenn wir gefühlsblind sind

Selbsthilfe, wenn wir zu früh zu streng erzogen sind

TEIL V
BEHANDLUNGSBEISPIELE

Frau R.

Frau U.

Frau O.

Frau I.

Herr A.

TEIL VI
ANHANG

Aus dem Steppenwolf

Rat für persönliche und professionelle Helfer

Literatur

Adressen

Informationen zum Autor

Vorwort

Liebe Leserin, lieber Leser!

Mein Ziel ist, Ihnen als Betroffenen, als Angehörigen, als Helfer, nicht zuletzt all denen, mit denen ich zusammenarbeite und meine Erfahrungen sammeln konnte, meine wichtigsten Erkenntnisse aus den vergangenen zehn Jahren zur Messieproblematik zu vermitteln. Zu diesen gehört, dass die Not der Betroffenen weit über die durch die chaotischen Sammlungen schrecklichen Wohnverhältnisse hinausgeht. Dazu gehört auch, dass viele Betroffene dringend auf fachliche Hilfe angewiesen sind, ohne sie aufzusuchen. Zugleich finden sie, wenn sie sich zu einer Behandlung durchgerungen haben, viel zu oft keine Psychotherapeuten, die für die schwere Störung Verständnis aufbringen. Lassen wir uns als Betroffene, als Angehörige, als Helfer und als Fachleute auf die vielschichtige Symptomatik und ihre Ursachen ein, ist dies mit Schmerzen und Trauer verbunden. Wir erfahren viel über moralische und physische Gewalt und Misshandlung in der kindlichen Entwicklung allgemein in unserer Gesellschaft. Ähnliche Erfahrungen bei uns selbst zu ahnen und zu sehen ängstigt uns. Ich ermutige Sie zu dieser Selbsterfahrung, da die schmerzlichen Einsichten eine unverzichtbare Voraussetzung sind, in der Gegenwart freier von den gelernten Ängsten aus erlittener Not zu werden. Sie können sich oder Ihre betroffenen Angehörigen, Freunde oder Klienten nur so besser verstehen. Werden wir kundiger, können wir als Betroffene die oft überwältigende Scham und unsere Schuldgefühle über unsere Lebensumstände abbauen.

Aus dem hier beschriebenen Zusammentreffen von Depression, Zwangsstörung mit Zwangscharakter, Bindungsstörung, Sucht und Gefühlsunterdrückung ergibt sich zwanglos, dass die Ratschläge zur Selbsthilfe auch für Menschen nützlich sein können, die keine kombinierte Erkrankung haben, sondern in einzelnen der aufgezählten Bereiche betroffen sind.

Da ich meine Erfahrungen mit vielen Betroffenen in Einzelbehandlungen und Gruppensitzungen in Tausenden Begegnungen gesammelt und viele Vorstellungen und Auffassungen zur Problematik gemeinsam mit ihnen entwickelt habe, da ich als Kind und Kriegskind zu viele Trennungen und erzieherische Gewalt erlitten habe, schreibe ich oft in der ersten Person und aus der Perspektive der betroffenen Depressiven und Gezwungenen im Ich und im Wir.

Wie kam ich zur Auseinandersetzung mit der Messieproblematik? Eine Leserin meines Buchs »Verlassenheitspanik und Trennungsangst« nahm 2001 Verbindung zu mir auf. Als Betroffene mit einer großen Sammlung wusste sie sehr gut, wie schwer sie sich von Gegenständen aus ihrer Sammlung trennen konnte. Sie lud mich zu einem Vortrag auf eine Messietagung ein, und ich sprach über Trennungsängste von Messies. Der Begriff Messie war mir neu. Bei der Vorbereitung des Vortrags konnte ich einige meiner Patienten in die Gruppe der Messies einordnen. So brachte ich im vierten Jahrzehnt meiner psychoanalytischen therapeutischen Arbeit umfassende Behandlungserfahrungen in die klinische Erforschung der Messies ein. Höchst aufschlussreich wurden für mich die Tagebuchnotizen der Mutter einer Klientin, welche ausführlich ihre strengen Erziehungsmaßnahmen von Anfang an dokumentiert hatte. Gewalt und Strenge bereits in der Babyerziehung hatten mir und meiner Analysandin verständlich gemacht, warum sie viele Vorhaben nicht oder nur unter großer innerer Selbstüberwindung ausführen konnte. Die Mutter, selbst in großer persönlicher Not, dokumentierte, wie wenig sie das unerwünschte Mädchen bejahte und wie wenig sie sich ihr zuwenden konnte. So trug die offensichtliche Lieblosigkeit der Mutter zu den vielfältigen depressiven Symptomen der späteren Patientin bei. Ich begriff die Überlieferung dieser Aufzeichnungen als außerordentlichen Glücksfall. Ich konnte Not und Störungen aus den ersten drei Lebensjahren viel besser verstehen. Fehlen uns Psychoanalytikern solche Belege, laufen wir Gefahr, die Folgen von nicht als Erlebnis erinnerbaren Erfahrungen mit Mangel an liebender und verständnisvoller Zuwendung und erlittener erzieherischer Gewalt falsch zu deuten. Mithilfe dieses Wissens über die Früherziehung bei meiner Patientin nahm ich an, dass Mangel und Gewalt in der Erziehung auch für die Problematik anderer Messies ursächlich sein konnten. Diese Annahme fand ich inzwischen durch fünf Babytagebücher, die Mütter späterer Messies geführt hatten, und klinisch bei allen rund 70–90 Betroffenen, mit denen ich arbeite oder arbeitete, bestätigt. Ich begriff inzwischen immer mehr, wie chaotisch, verwirrend und unablässig bedrohlich die verinnerlichten Beziehungserfahrungen in der Familie für Betroffene sind. Wie schön wäre es dagegen, wenn Messies »nur« unter äußerlicher Unordnung litten und äußerliches Aufräumen allein helfen könnte. Ich konnte die dokumentierten und teilweise erinnerten Erfahrungen von Mangel an ausreichender Zuwendung und von erzieherischer Gewalt in der kindlichen Entwicklung gut in Verbindung mit den Nöten und mit den schwerwiegenden Störungen der Erwachsenen sehen, da ich in der Fachliteratur die dafür notwendigen theoretischen Orientierungen finden konnte.

In diesem Buch stelle ich mögliche Hilfen zur Selbsthilfe vor. Ich gebe Anstöße, die manchen, die sich aus der Verbindung zu anderen Menschen zurückgezogen haben, die Wiederannäherung erleichtern. Gleichzeitig bemühe ich mich, denen, die in unglücklichen Partnerschaften als Betroffene oder mit Betroffenen leben, die unbewussten Hintergründe verständlich zu machen und sie zu ermutigen, Änderungen in ihren Beziehungen durch mehr gegenseitige Offenheit zu wagen. Ich erläutere das Leiden von Messies unter Depression und Zwang, das sind für mich überwiegend die Folgen von Mangel- und Gewalterfahrungen. Ich beschreibe die Schwierigkeiten von Betroffenen als Notbehelfe zur inneren Stabilisierung gegen wach werdende bedrohliche Gefühlszustände, skizziere dann die allgemeine kindliche Entwicklung und ihre Störungen durch Mangel und gewaltsame Strenge. Schließlich gebe ich Hinweise darauf, wie Sie sich und wir uns mit diesem Buch erst einmal selbst helfen können und gewonnene Erfahrungen in Behandlungen und Selbsthilfegruppen vertiefen können.

Lesen Sie so, dass Sie Spaß haben können, in den verschiedenen Kapiteln zu schmökern, ohne sich an die vorgegebene Reihenfolge halten zu »müssen«. Klären Sie immer wieder, ob Sie weiterlesen »wollen«. Wenn ja, dann weiter, wenn Sie aber weiter zu lesen als Muss erleben, klären Sie dieses Mussgefühl. Bleibt es, dann schlagen Sie das Buch zu. Warum? Weil wir nichts wirklich in uns aufnehmen, wenn wir uns gezwungen fühlen oder beauftragt werden. Wir entwickeln Abneigung, Ärger und Ekel und erleben uns unter Druck!

Lassen Sie sich genug Zeit mit dem Lesen und mit der Selbsteinschätzung, ob Sie depressiv, unsicher gebunden, gefühlsblind und übermäßig gezwungen sind. Verstehen Sie die Schritte, sich selbst zu helfen, wenn sie Ihnen einleuchten und Sie das wollen, als vielleicht wichtigste Chancen, mit sich und anderen ins Gespräch zu kommen. Sie lassen sich dann auf das Abenteuer ein, ihre früh erlernten und fest eingefahrenen Verhaltensmuster in Beziehungen umzulernen. Dabei verfolgen Sie das Ziel, ab jetzt und heute besser leben zu können.

Treffen Sie »Ihre« Wahl, wo im Buch Sie einsteigen wollen. Es ist an jeder Stelle möglich. Denken Sie daran, dass nur Sie selbst die vorgeschlagenen Hilfen umsetzen können. Das gilt immer, ob Sie die Hilfen hier oder in Selbsthilfegruppen oder in Therapien welcher Richtung auch immer oder durch andere Publikationen bekommen. Nehmen Sie sich viel Zeit umzulernen und üben Sie neue Verhaltensmuster nach den Kurzzusammenfassungen »Selbsthilfe lernen« regelmäßig über Monate, wenn Sie Erfolg haben wollen.

Eine vielschichtige Störung

Wir werden dem Messiesyndrom nur gerecht, wenn wir die Vielschichtigkeit der Not kennen, die heute unter dem Schlagwort und dem Logo »Messies« bekannt ist. Ich beschreibe im Folgenden detailliert, worunter Messies leiden können. Kennen wir diese bis zu sieben grundlegenden Störungsanteile, leuchtet uns ein, wie schwierig eine einfache klinische Einordnung ist! Wir verstehen, dass jeder einzelne Anteil sehr leicht oder auch schwer ausgeprägt sein kann und dass die Kombinationen der verschiedenen Anteile außerordentlich vielfältig sein können. Da wundern wir uns auch nicht mehr, dass in der Internationalen Klassifizierung der medizinischen Diagnosen eine Diagnose »Messie-Syndrom« nicht vorkommt. Mit der Vielschichtigkeit der Störung leuchten auch die Schwierigkeiten von psychotherapeutischen Behandlungen und institutionellen Hilfen ein. Wir sind nicht mehr überrascht, dass persönliche oder fachliche Helfer oft scheitern. Außerdem verstehen wir sofort, dass bei stark unsicher-abweisendem Bindungsmuster Betroffene gar kein Vertrauen haben, eine Therapie aufzusuchen, selbst bei Krebserkrankungen nicht, und die Selbstbehandlung und den sozialen Rückzug vorziehen. Nicht zuletzt weise ich darauf hin, dass meine Erfahrungen regelmäßig auf die Behandlung von Betroffenen zurückgehen, die in der Lage waren, Hilfe aufzusuchen! Die am schlimmsten Belasteten kommen nicht in psychotherapeutische Behandlungen. Sie kommen eher mit Gesundheitsämtern, Ordnungsämtern, Amtsrichtern, die über eine Betreuung entscheiden, und der Psychiatrie in Berührung.

TEIL I
Worunter Messies leiden

Depression

• Beschwerden im depressiven Zustand (unsere depressive Seite, unser depressiver Zustand, wir »in der Depression«)

Wir empfinden uns überwältigend leer, müde, antriebslos, schwach, hilflos, wie ausgeliefert, sinnlos, hoffnungslos, verzweifelt, niedergeschlagen, niedergedrückt, trostlos, schließlich oft voller Schmerz. Wir können uns über nichts freuen. Abends werden wir oft lebendiger, dehnen dann den Tag bis weit in die Nacht aus, nicken vor dem Fernseher ein, im Bett schlafen wir schlecht, unsere Sorgen erdrücken uns, morgens wollen wir liegen bleiben, unausgeschlafen erdrücken uns die Aufgaben des Tages. Wir träumen erfolglos davon, endlos zu schlafen und dann erfrischt aufzuwachen. Wir empfinden uns als wertlos und lebensmüde und niemals als liebenswert. Geht es uns so schlecht, neigen wir dazu, uns noch mehr zurückzuziehen und zu verschließen. Kopf-, Rücken- und andere Schmerzen, auch Durchfälle und Heißhunger quälen uns.

• Aktivitäten jeder Art als Notbehelf und Schutz gegen Hilflosigkeit in der depressiven Verfassung

Als meist unbewusste Notlösung behandeln wir uns selbst gegen unsere bedrohlichen Zustände, da wir die Hilfe anderer scheuen. Als zutiefst bedrohlich erleben wir das Wachwerden der erlittenen, in uns bleibend gespeicherten, depressiven Gefühle von Leere, Sinnlosigkeit, Hilflosigkeit und abgrundtiefer Trostlosigkeit. Mit jeder Art von Aktivität stoppen wir die mit ihnen verbundene Hilflosigkeit.

• Zwanghafte sportliche Aktivitäten

Wir suchen durch Sport wie beispielsweise übertriebenes Joggen, Radfahren oder Nordic Walking Erleichterung.

Sucht als »Selbstbehandlung«

• Süchtiges Kaufen und Sammeln

Gegen die unerträglichen Zustände von Leere kaufen wir, ohne es eigentlich zu wollen und zu brauchen, zwanghaft grenzenlos. Wir sammeln alles und scheuen uns nicht, gleich zwei oder drei oder mehr gleiche Gegenstände für Haus und Küche einzukaufen. Wir gehen ins Internet und ersteigern uns bei Ebay angebotene Waren oder ordern bei Amazon Bücher. Ohne Ende bestellen wir über die Versandhauskataloge. Wir sind erfahrene Schnäppchenjäger und lassen keine günstige Gelegenheit aus, etwas »zu bekommen«. Manche von uns verschulden sich wegen ihrer ständigen Einkäufe. Wegen nicht bezahlter Rechnungen haben wir Gerichtsverfahren laufen. Wir geben zwei Wannen Sammelgut auf dem Recyclinghof ab und kehren mit einer mit »neuen« Stücken zurück, wir bedienen uns vom Sperrmüll, nehmen Prospekte, Werbebroschüren und Zeitungen großzügig an uns. Wir sammeln häufig Bücher, Zeitschriften, Werbung, gebrauchte Briefumschläge, Tüten und Taschen, alte Kleider, Wäsche, Kinderkleider, auch wenn die Kinder bereits aus dem Haus sind, alte Möbel, Schränke, Stühle, Kommoden, alte Telefone, Kinderspielzeug, Werkzeuge, Geschirr, Töpfe, Pfannen, einfach alles, was im Haushalt anfällt, und das ohne Ende. Wir nehmen Audiokassetten oder Videokassetten von Musik und Filmen auf und stapeln sie uferlos, wir sammeln elektronische Bücher und sprengen die Speicherkapazität unserer Computer. Fassungslos stehen wir an den Kassen der Supermärkte, weil wir den Einkaufswagen wieder vollgeladen haben trotz aller gegenteiliger Vorsätze. Wir kochen Früchte ein und stellen Marmeladen her, weit mehr, als wir oder unsere Familie brauchen. Sind uns Kühlschrank, Waschmaschine, Spülmaschine, Fotoapparate, Eimer, Besen, Putzlappen kaputtgegangen, kaufen wir neue und geben die alten nicht ab. Von unserem alten Auto trennen wir uns nicht und verstellen mit ihm den Hof unserer Eltern. Leben wir auf dem Land und haben einen eigenen Bauernhof oder leben auf dem der Familie mit, füllen wir auch Scheunen, Speicher, leer stehende Zimmer mit allem Möglichen. Wir sammeln dann alte Autos, Landmaschinen, Motorräder, Baumaschinen endlos. Im Lauf der Zeit häufen wir auch draußen so viel Sammelgut an, dass die Haustüren nur noch schwer zugänglich sind und die Briefträger den Briefkasten nicht mehr einfach erreichen können. Unsere Gärten verwildern mehr und mehr, weil wir sie mit Bänken, Tischen, Stühlen vollgestellt haben. Wir mieten Container, wenn wir Gemeinschaftsräume im Haus wie Keller oder Dachböden mit unserer Sammlung belegt haben und sie räumen müssen. Wir stapeln Gesammeltes lose oder in Kisten bis unter die Zimmerdecke. Dabei nehmen wir Gefahr für Leib und Leben in Kauf. Manche Wohnungen sind so voll, dass wir uns nur noch in schmalen Gassen durch das Sammelgut bewegen können oder schließlich drübersteigen. Wir bauen die Waschbecken, die Badewannen, die Toilettenschüsseln in den Bädern so zu, dass wir sie nur noch schwer oder nicht mehr benutzen können. Tags nutzen wir unser Bett als Ablage, dass wir abends erst einmal eine halbe Stunde räumen, um zu schlafen.

• Uferlos sammeln, ohne uns von Gesammeltem zu trennen, ohne Angehäuftes wegzuwerfen, wegzubringen wegzugeben, wegzuschenken

Wir trennen uns nicht oder nur sehr schwer vom Gesammelten. Wir verschließen die Augen, wenn die Wohnung, das Haus oder die Gärten unbewohnbar werden. Jedes einzelne Stück unserer Sammlung, so belanglos es anderen erscheinen mag, ist uns wichtig. Nur unter Schmerz geben wir es weg. Wir verbinden alles mit Sinn, wir können alles später einmal gebrauchen, denken wir. Mit unserem Kaufen und Sammeln und gleichzeitig mit unserer großen Trennungsangst lassen wir unsere Sammlung endlos wachsen. Wenn unsere verdorbenen Lebensmittel anfangen zu stinken, verschließen wir unsere Nase, statt die verdorbenen Sachen wegzuwerfen.

• Schuldenmachen

Die Amtsgerichte haben offensichtlich einen Stau an Klagen gegen säumige Schuldner. Die Möglichkeiten, bargeldlos einzukaufen, verleiten viele Messies dazu, sich immer wieder von den verschiedenen Versandfirmen oder über Ebay und andere Internetanbieter Sachen schicken zu lassen, die sie nicht mehr bezahlen können. Die Banken schränken den Dispositionskredit ein, die zusätzlichen Belastungen durch die Zinsen für den Dispo können erheblich sein. Dies wird immer wieder Anlass für Gerichte, eine Betreuung mit der Einschränkung zu verhängen, dass Betroffene nicht mehr frei über die eigenen Einkünfte verfügen können.

• Unendliche Sammlungen – unendlich unaufgeräumt

Wir wollen in unserer Sammlung Ordnung halten. Gerne brächten wir System hinein. Doch tun wir es nicht. Oder wir ändern uns manchmal erst, wenn wir durch eine Abmahnung oder eine Scheidung bedroht werden. Oft auch dann nicht! Uns ist unser Chaos bewusst. Lange täuschen wir uns über das Ausmaß hinweg, indem wir überzeugt sind, alles, was wir in der Sammlung finden wollen, auch finden können. Schließlich wird uns in kritischen Augenblicken bewusst, dass wir vieles unauffindbar gemacht haben. Wir bräuchten beispielsweise dringend Geld oder wichtige Dokumente und Zeugnisse, wenn wir uns um eine Stelle bewerben wollen. Oder wir wissen eben nicht mehr, in welchem Zimmer und wo genau wir ein Sparbuch liegen haben, wenn wir das Geld dringend bräuchten. Oft suchen wir dann vergeblich und erkennen, dass wir längst nicht mehr von allem wissen, wo wir es finden können.

• Folgen für das Selbsterleben

Wir schämen uns zutiefst, fühlen uns schuldig, halten uns für ungehorsam, weil wir süchtig und desorganisiert sind. Wir sehen den Zustand unserer Wohnung nur zu deutlich, auch wenn andere denken, wir sähen ihn nicht. Wir schließen uns in unseren teilweise schier unbewohnbaren Wohnungen ein, lassen häufig nicht einmal die eigenen erwachsenen Kinder hinein, geschweige denn Freunde oder Bekannte. Wir neigen dazu, uns für faul, disziplinlos und schlecht zu halten. Stehen Besuche von Handwerkern, Vermietern, Heizungsablesern oder von Kaminfegern bevor, geraten wir in Krisen und hektische Räumaktionen. Wird bei einer Wohnungsbegehung durch die Vermieter festgestellt, die Wohnung sei in diesem Zustand unbewohnbar, erleben wir das als schweren persönlichen und verletzenden Angriff, spüren dann unter Umständen nicht einmal Ärger, fühlen uns nur wie hilflos und gelähmt.

• Folgen für die Meinung anderer über uns, das Bild in der Öffentlichkeit, das Bild in den Medien

Messies werden in der Öffentlichkeit oft so dargestellt, dass sie nur das Problem haben, uferlos zu sammeln und nicht aufzuräumen. Wir selbst und andere sind überzeugt, einfach nur disziplinlos zu sein und hätten einen unordentlichen Charakter. Auch haben Laien und Psychologen immer wieder den falschen Eindruck, wir könnten generell nicht aufräumen oder unsere Sammlung »sinnvoll« verkleinern und wir wüssten nicht, was wichtig und was unwichtig sei. Aus dieser irrigen Überzeugung heraus bieten dann gewiefte Leute für viel Geld Aufräumhilfen an. Oder die Fernsehreporter berichten wieder und wieder über Messies so, als ob mit Aufräumen und Entsorgen wirklich und bleibend geholfen wäre. Vielfach irren sich auch Sozialarbeiter und Therapeuten in diesem Punkt.

• Entzug des Sorgerechts für unsere Kinder; Kinder werden aus der Wohnung geholt

Einigen von uns Betroffenen wurde das Sorgerecht für unser Kind oder die Kinder entzogen. Andere von uns leben in ständiger Angst vor Kontrollen durch das Jugendamt. Jedes Klingeln versetzt uns dann in Panik. Wir öffnen nicht, bevor wir uns nicht überzeugt haben, wer vor der Tür steht. Wir vermeiden jede Besichtigung der Wohnung von Amts wegen.

• Drohende Betreuung

Eine Gruppenteilnehmerin erlitt eine Betreuung wider Willen. Die Sanitäter, die sie für ihren schwer kranken Mann gerufen hatte, hatten wegen der Ameisen in der Wohnung das Gesundheitsamt alarmiert. Auch Anzeigen von Angehörigen, von geschiedenen Partnern oder von Eltern können dazu führen, dass uns ein Betreuer von Amts wegen zur Seite gestellt wird und wir einen Teil unserer Mündigkeit verlieren. Dabei büßen wir oft unsere Selbstachtung völlig ein. Manche kämpfen verzweifelt darum, die volle Mündigkeit wiederzubekommen. Wenige fühlen sich durch eine Betreuung entlastet.

• Kündigungen, Zwangsräumungen, Vernichtung der Sammlung, Unterschlupf bei anderen, Obdachlosigkeit

Einige können eine Kündigung der Wohnung nicht mehr abwenden, weil die Unzugänglichkeit und Unbewohnbarkeit der Wohnung für die Vermieter und die hygienischen Verhältnisse in der Wohnung für das Gesundheitsamt nicht mehr akzeptabel sind. Anderen wird gekündigt, weil die Statik des Hauses durch die riesige Sammlung bedroht ist. So bleibt einigen nur noch, bei Freunden Unterschlupf zu suchen, sozial abzusteigen und in einer Obdachloseneinrichtung zu wohnen. Das »Asyl« bei befreundeten Betroffenen oder anderen Freunden ist regelmäßig durch unsere Sammelsucht und Desorganisation und genauso durch unsere Schwierigkeit belastet, die Grenzen anderer zu erkennen und zu respektieren. Außerdem passen wir uns sehr schwer an den Lebensstil anderer an, weil wir jede Bitte, z. B. die nach Einhalten der Nachtruhe, wie eine unerträgliche Bevormundung erleben und uns verweigern.

• Übergewicht und soziale Isolierung

Wir stopfen uns heimlich mit Süßigkeiten und mit Essen voll. Selbst wenn wir übergewichtig sind und jeder uns unsere Esserei ansieht, täuschen wir uns mit der Illusion, unseren Essensrausch verbergen zu können. Wir ziehen uns außerdem aus dem Alltag zurück und vermeiden oft, auf die Straße zu gehen. Manchmal verlassen wir nur am späten Abend und nach Möglichkeit in der Dunkelheit unsere Wohnung, um einzukaufen. Wir verbringen oft unsere Tage oder unsere Wochenenden, wenn wir arbeiten, hinter herabgelassenen Rollläden, im Bett und vor dem Fernseher.

• Bulimie

Als Notlösung gegen die sozialen Folgen, wenn wir uns selbst in unserem Heißhunger vollstopfen und wir aus allen Nähten platzen, stecken wir uns nach dem »Fressen« den Finger in den Hals und erbrechen. Damit gelingt uns, vor Dritten unsere Not, uns so bedrohlich leer zu fühlen, dass wir uns vollstopfen, zu verbergen. Wir entgehen so der Scham wegen unserer »Fresserei«. Innerlich fühlen wir uns schuldig und fürchten, entdeckt zu werden.

• Andere Süchte

Wir arbeiten ohne Ende und betreiben viele Projekte gleichzeitig, wir sehen pausenlos fern, spielen endlos am Computer, wir schneiden unablässig Konzerte oder Hörfunksendungen auf Audio- und Videobändern mit und telefonieren in Kette, wir fotografieren elektronisch und sammeln Fotos bis an die Grenzen der Speichermedien. So vermeiden wir, innezuhalten und uns leer, unausgefüllt und sinnlos zu fühlen und unser Elend bewusst zu erkennen. Wir flüchten unaufhörlich vor uns selbst und unseren sonst bewusst erlebten depressiven Zuständen.

• Selbstbehandlung mit Medikamenten, Alkohol und Drogen

Als eine zusätzliche »Selbstbehandlungsmaßnahme« nehmen wir immer wieder Beruhigungs- und Schmerztabletten, Alkohol oder Drogen. Wir betäuben so unsere unerträgliche Scham, unsere Schuldgefühle, unsere unerträgliche Hilflosigkeit und unseren rasenden Schmerz.

Unsicher-abweisendes Bindungsmuster

• Gegenüber anderen allgemein

Viele von uns leben allein, sind menschenscheu, oder, modern gesagt, wir haben eine »soziale Phobie«. Uns ängstigt oft, aus dem Haus zu gehen, an Einladungen teilzunehmen und anderen zu begegnen und uns überhaupt näher einzulassen. Wir vertrauen anderen nur schwer. Wir rücken von der Gemeinschaft mit anderen ab und vermeiden Begegnungen, ja wir fürchten, mit anderen zusammen zu sein. Wir erwarten keinen Trost durch andere, wir rechnen damit, in Angst und im Schmerz nicht getröstet zu werden, wir erwarten keine Hilfe, selbst wenn wir darum bitten. In Gemeinschaften und Gruppen fühlen wir uns weniger im Wir-Gefühl als im Ich. Wir vermeiden, anderen in die Augen zu sehen, wenn wir sie ansprechen. Wir wagen oft nicht mehr als einen kurzen scheuen Blick zum Gegenüber, auch wenn wir hoch konzentriert miteinander sprechen. Wir blicken oft zum Fenster, an die Zimmerdecke oder über die Köpfe der anderen Teilnehmer in der Gruppe hinweg!

Im Miteinander enttäuschen wir nicht selten die Erwartungen anderer, wir bekommen lieber als zu geben, wir geizen mit Anerkennung und bekommen lieber Briefe und Mails, als selbst zu schreiben. Wir bleiben häufig verschlossen; reden wir, dann bleiben wir häufig sehr allgemein, nichtssagend und unverbindlich. Oder wir halten zu vielen Leuten oberflächliche Verbindungen, schreiben viele SMS, telefonieren, treten an vielen Orten auf und tarnen so unsere innerliche Verschlossenheit, auch vor uns selbst. Einige von uns gehen auf in zwanghafter Hilfe für andere und vernachlässigen sich dabei. Im Betrieb beschränken wir uns häufig auf den beruflich notwendigen Austausch und bleiben förmlich. In Freundschaften sperren wir uns, offener zu werden, und gelten als wortkarg. Teilweise versuchen wir privat oder in der Öffentlichkeit, andere zu belehren, sich so oder so richtig zu verhalten, und ernten oft Streit, den wir heftig vertiefen können.

• Als Singles

Manche von uns vermeiden jede Annäherung an Partnerinnen oder Partner überhaupt. Teilweise haben wir keine sexuellen Erfahrungen mit anderen. Enge Verbindungen zu den Eltern bewahren wir, bisweilen verlassen wir das Elternhaus nicht oder kehren dorthin zurück. Nicht selten leben wir nach Scheidungen dauerhaft allein. Einige der Ehepartner ertrugen unser Chaos in der Wohnung oder in unseren sozialen Beziehungen allgemein nicht.

• In Ehen und Partnerschaften und mit Kindern

In unseren Paarbeziehungen sind wir jederzeit bei Trennungen verschiedenster Art von Verlassenheitspanik bedroht und haben riesige Angst, uns von Angehörigen, und sei es auch nur für die Dauer einer Reise, oder von Gesammeltem zu trennen. Dem wirken wir entgegen, indem wir uns beispielsweise fest und möglichst unauflösbar an andere binden. Will der Partner allein weggehen oder allein verreisen, geraten wir in die Krise und kämpfen darum, dies zu verhindern. Oder wir schützen uns gegen Verlassenheitskrisen, indem wir uns nicht mehr herzlich auf den anderen einlassen und auch in der Ehe innerlich verschlossen bleiben. Manches Mal wechseln wir zwischen Zuständen der Anhänglichkeit und Abweisung. Eine andere Möglichkeit, unsere Verlassenheitskrisen zu vermeiden, finden wir, indem wir gleichzeitig unsere soziale Partnerschaft aufrechterhalten und feste oder wechselnde sexuelle Außenbeziehungen unterhalten. Wir vermeiden so, bei Trennungen allein zu sein, und vermeiden gleichzeitig in den bestehenden Beziehungen zu große Nähe. Im Kampf um die Durchsetzung unserer eigenen Prinzipien, mit dem anderen zu leben, widersprechen wir Anregungen, Vorschlägen und Aussagen der Partnerin und handeln den Absichten des Partners zuwider.

Weil wir in Partnerschaften oft zwanghaft zuwiderhandeln, streiten wir häufig darüber, wer wen bevormundet, wer illoyal nicht handelt, die versprochenen Aufgaben unerledigt lässt, die vereinbarte Zeit nicht einhält und warten lässt oder Anrufe nicht mitteilt, die er auszurichten versprochen hatte. Wir widersprechen regelmäßig, wenn der Partner oder andere Vorschläge machen, zögern aber selbst, Entscheidungen zu treffen, beispielsweise bei der Wahl unserer Speise aus einer Speisekarte oder wohin wir spazieren gehen. Da wir uns auch sehr schnell gezwungen fühlen, sexuell zu sein, leben wir häufig in lang dauernden sozialen Bindungen und lieben nicht mehr sexuell. Uns gelingt, eine Beziehung aufrechtzuerhalten und zugleich Distanz zu wahren. Wir schlagen im Streit zu, moralisch oder physisch, und reagieren so Ärger ab. Wenn wir im Gegenzug geschlagen werden, büßen wir und ersparen uns so, uns schuldig zu fühlen. Sind wir attraktiv, gehen wir immer wieder neue Beziehungen ein, wagen außerhalb unserer Wohnung vielleicht auch intime Begegnungen, jedoch halten wir die Freunde oder Freundinnen entschieden von unserer Wohnung fern.

Perfektionistisch, wie wir oft sind, versuchen wir, dem Partner die eigenen Maßstäbe aufzuzwingen, und streiten, wenn dieser unsere Erwartungen nicht erfüllt und nicht ordentlich oder sauber genug ist. Wir bleiben dabei wie unberührt, dass wir gleichzeitig die Wohnung oder unser Zimmer voller Sammelgut haben und wir gar nicht richtig säubern können.

In unserem Heißhunger werden wir schnell argwöhnisch, ob unser Partner nicht zu viel vom Kuchen oder Fleisch bekommen hat. Wir bewahren misstrauisch unser Geld heimlich auf und werfen schnell vor, vom anderen übervorteilt worden zu sein. Wir verletzen oft die Grenzen der Partner und dringen in ihre Bereiche ein, ohne das zu bemerken. Auf der anderen Seite werden wir nicht ärgerlich, wenn unsere eigenen Grenzen verletzt werden. Dann fehlt uns der natürliche Ansporn aus Schmerz und Ärger heraus, uns selbst abzugrenzen und zu schützen. Wir neigen dazu, unsere Kinder zu beherrschen, zu bevormunden und streng zu erziehen. Auch schwächere Erwachsene unterwerfen wir gerne, beispielsweise am Arbeitsplatz.

Oft versuchen wir unbewusst, Organisation und Organisationsarbeiten an andere zu übertragen. Das heißt, unsere Partnerin übernimmt an unserer Stelle z. B. den Schriftwechsel mit Ämtern und Institutionen, das Geldverdienen, das Aufräumen oder das Autofahren.

Gefühlsblindheit

• Verlegenes Lachen statt zu weinen