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Über den Autor

Christian Mörken arbeitete nach seinem Studium zunächst für Künstler in der Musikbranche wie Herbert Grönemeyer, Sarah Brightman, Chris Rea und Jan Delay. Dann zog es ihn in die Verlagswelt. Seit vielen Jahren arbeitet er als Redakteur, Autor und Texter, aber auch als Dozent für Marketing. Mit seiner Familie lebt er in Süddeutschland.

Kapitel EINS

Leonie schob ihr Fahrrad ums Haus und stellte es in den Fahrradständer im Hinterhof. Dann wickelte sie das Schloss um das Rad und ließ es zuschnappen. Leonie war müde. Nach der Schule war sie zuerst nach Hause geradelt. Dort hatte sie schnell ihre Hausaufgaben erledigt und war dann in den Stall gefahren. Drei Stunden hatte sie damit verbracht, Boxen auszumisten und Pferde zu striegeln. Danach war sie eine Stunde in der Halle auf Abademo geritten, ihrem Pflegepferd. Nun war es 18 Uhr und Leonie war spät dran. Das Abendessen würde bestimmt schon auf dem Tisch stehen und ihre Eltern würden auf sie warten. Deshalb beeilte sich Leonie und lief zum Hintereingang des Mietshauses, in dem sie wohnte. Sie öffnete die schwere Holztür und stürmte ins Treppenhaus. Es roch nach Holz und Staub und so einem Zeug, das Bohnenwachs oder Bohnerwachs hieß. Auf jeden Fall gab es an der Treppe ein Schild, das einen warnte, dass man darauf ausrutschen könnte. Aber Leonie war noch nie ausgerutscht. Nur ihr Bruder Lasse schien ständig auf Bohnerwachs zu laufen. Zumindest rutschte er immerzu aus. Für einen sechsjährigen Jungen war das wohl normal. Lasse tobte einfach den ganzen Tag herum oder spielte mit seinen Freunden auf dem Fußballplatz. Am Abend kam er dann mit Schürfwunden und blauen Flecken nach Hause und wurde von seiner Mutter direkt ins Badezimmer geschickt, um sich zu waschen.

Leonie fand Lasse zwar oftmals nervig, aber wenn ihr Bruder mit seinen roten Locken, den Sommersprossen und den froschgrünen Augen hinter der Kinderzimmertür hervorschaute und Grimassen zog, musste sie doch lachen. Die Sommersprossen und grünen Augen teilte Leonie sich mit Lasse, nur waren ihre Haare kastanienbraun und schulterlang. Und sie war fünf Jahre älter als ihr Bruder – zumindest seit zwei Wochen.

Leonie hatte sich riesig auf ihren elften Geburtstag gefreut, denn sie hatte sich ein eigenes Pferd gewünscht – wie auch schon zu ihrem sechsten, siebten, achten, neunten und zehnten Geburtstag. Dieses Mal musste es klappen – hatte sie gedacht. Schließlich kümmerte sie sich bereits seit einem halben Jahr um Abademo im Stall und hatte noch keinen Reittermin verpasst. Regina, ihre Reitlehrerin, hatte ihr außerdem ein großes Talent beim Reiten bescheinigt. Was sprach also noch gegen ein eigenes Pferd? Gut, Leonie wusste nun, dass ihre ursprüngliche Idee, das Pferd einfach auf den Balkon zu stellen, nicht funktionieren würde, aber auch das war kein Grund, ihr kein Pferd zu schenken. Schließlich hatte sie Regina gefragt, ob auf dem Ponyhof noch Platz für ein weiteres Pferd wäre, und Regina hatte das bejaht.

Doch auch dieses Mal hatte kein Pferd im Wohnzimmer gestanden. Stattdessen fand sie dort neue Reitstiefel, eine Gerte und einen neuen Rucksack, in den ihre Eltern einen Striegel und einen Hufkratzer sowie eine Kopfbürste gelegt hatten. Im ersten Moment war Leonie enttäuscht gewesen, doch dann hatte sie sich vorgestellt, wie es wohl Abademo gehen würde, wenn sie das neue Putzzeug mit in den Stall brachte. So musste sie sich also doch noch gedulden, bis sie endlich ihr eigenes Pferd bekommen würde. Aber am zwölften Geburtstag, da würde es bestimmt klappen. Und bis dahin waren es schließlich nur noch 351 Tage.

Leonie öffnete die Wohnungstür und warf ihren Rucksack in die Ecke links neben der Tür. Dort lagen schon einige Schuhe und Jacken. Dann nutzte sie den linken Stiefel, um aus dem rechten zu schlüpfen, balancierte dann auf dem rechten Bein, wobei sie mit aller Kraft versuchte, den linken Stiefel auszuziehen, bis dieser mit einem lauten Knall zu Boden fiel. Leonie eilte ins Bad und wusch sich die Hände. Direkt gegenüber des Badezimmers befand sich die Küchentür. Leonie öffnete sie und fand ihre Familie, wie erwartet, am Küchentisch vor. Ihr Vater saß über seinen Teller gebeugt und Lasse stocherte grinsend in seinem Essen herum. Keiner sah auf, als sie den Raum betrat.

„Ja, tut mir leid, dass ich so spät bin“, sagte sie schließlich und ging zum Tisch. Sie ließ sich auf ihren Stuhl fallen und sah abwechselnd zu ihrem Bruder und ihren Eltern. Keiner sagte etwas. Irgendetwas stimmte hier nicht.

„Habe ich etwas Schlimmes gemacht?“, fragte sie unsicher. Wieder kam keine Reaktion. Und dann bemerkte Leonie noch etwas Seltsames: Es gab Spaghetti. Das war Leonies Lieblingsessen. Es gab zwar immer wieder mal Spaghetti, aber nie zwei Mal in einer Woche. Heute war Mittwoch und ihre Mutter hatte bereits am Montag Spaghetti gekocht. Entweder waren alle anderen Lebensmittel ausverkauft, oder aber etwas stimmte hier ganz und gar nicht. Und dann fiel Leonie etwas ins Auge, das ihren Verdacht bestätigte. Auf der Kommode stand eine Glasschüssel gefüllt mit Schokoladenpudding. Spaghetti und Schokoladenpudding! Hier war etwas faul. Nein – oberfaul!

„Möchtest du Spaghetti?“, fragte ihre Mutter und hob den Deckel der Schüssel an, die in der Mitte auf dem Tisch stand. „Es ist auch noch mehr Parmesan im Kühlschrank“, ergänzte Leonies Vater, und wie um noch eins draufzusetzen, sagte Lasse mit vollem Mund: „Schmäg fuper!“

Erneut sah Leonie in die Runde. Nichts – kein Lächeln, kein Grinsen. Für eine Sekunde fürchtete Leonie, es wäre der erste April. Vielleicht waren das dann gar keine Spaghetti, sondern eine besonders seltene Art von Mehlwürmern. Sehr lang und sehr dünn. Kaum hätte ihre Mutter dann die vermeintlichen Spaghetti aufgefüllt, würden diese sich plötzlich bewegen und während sie angewidert aufspringen würde, brächen ihre Eltern in wildes Gelächter aus und Lasse würde gemeine Grimassen ziehen. Dann würde ihre Mutter den Tisch abräumen, ihr Vater würde die Mehlwürmer retten und am Ende gäbe es irgendeinen Zucchini-Dinkel-Pastinaken-Auflauf und ein Glas Brotsaft. Aber nein, es konnte unmöglich der erste April sein. Leonie hatte schließlich im Juli Geburtstag gehabt und das war gerade mal zwei Wochen her.

„Okay, kann mir nun mal jemand sagen, was das hier soll?“, fragte Leonie und sah in die Runde.

„Was das hier soll?“, wiederholte Leonies Vater und zuckte mit den Schultern. Dann sah er scheinbar ahnungslos zu ihrer Mutter.

„Was meinst du?“, fragte Leonies Mutter.

„Muss ich das wirklich erklären?“

„Erklären solltest du lieber, warum du schon wieder zu spät bist“, sagte Leonies Vater und steckte sich eine volle Gabel in den Mund.

„Lenkt nicht ab!“, sagte Leonie und blickte ihre Eltern streng an. „Wir essen zum zweiten Mal in einer Woche Spaghetti und es gibt sogar noch Schokoladenpudding. Da stimmt doch was nicht!“

„Warum musst du immer alles miesmachen?“, protestierte Lasse und griff nach seinem Glas mit Apfelschorle.

„Ich mache gar nichts mies“, sagte Leonie. „Ich habe nur das Gefühl, dass gleich etwas passiert und zwar etwas, was mir ganz und gar nicht gefallen wird.“

Leonies Vater legte sein Besteck zur Seite und seufzte. Auch Leonies Mutter hörte auf zu essen. Sie schob ihren Teller zur Seite und stützte die Ellenbogen auf. Dann sah sie zwischen Leonie und Lasse hin und her.

„Es stimmt, dass wir euch etwas sagen müssen“, sagte Leonies Mutter und holte tief Luft. „Es fällt mir nicht leicht, das zu sagen, denn es bedeutet eine größere Veränderung für uns alle.“

„Ihr lasst euch scheiden?“, fragte Leonie entsetzt. Bei diesem Gedanken wurde ihr ganz flau im Magen.

„Nein!“, unterbrach Leonies Vater ihr Gedankenkarussell. „Wie kommst du denn darauf?“

Leonie zuckte mit den Schultern. Sie wusste es nicht. Aber sie wusste auch nicht, worauf sie kommen sollte.

„Es geht um Papa. Also um seine Arbeit“, sagte Leonies Mutter.

„Bist du arbeitslos?“, fragte Lasse und starrte seinen Vater mit offenem Mund an.

„Auch nicht“, erwiderte dieser. „Aber ich weiß nicht, wie lange ich noch als Tierarzt hier arbeiten kann. Die Situation in Deutschland ist gerade nicht leicht für mich. Ich habe mich, wie ihr wisst, auf Pferde spezialisiert. Aber es gibt zurzeit nicht viel zu tun. Der eine Pferdezüchter, für den ich arbeite, hat mir vor ein paar Wochen erzählt, dass er am Jahresende aufgibt. Dann werde ich nur noch für einen Hof arbeiten. Das reicht aber nicht. Ich verdiene dort nicht genug Geld.“

„Und nun hat Papa ein Angebot bekommen, für eine andere Pferdezucht zu arbeiten“, sagte Leonies Mutter.

„Das ist doch toll!“, freute Leonie sich. „Darf ich dann mal mit?“

Leonies Vater zögerte.

„Bitte!“, setzte Leonie nach.

Leonies Mutter legte Leonie ihre Hand auf den Unterarm und sah sie eindringlich an. „Leonie, Papas Arbeit ist nicht hier in der Nähe. Sie ist weit weg …“

„Kommst du dann nur am Wochenende nach Hause?“, fiel Leonie ihrer Mutter ins Wort und sah ihren Vater an.

„Nein, Leonie“, sagte ihr Vater. „Wir werden alle gehen.“

„Gehen? Wohin?“, fragte Leonie und sah fragend in die Runde.

„Nach Amerika“, antwortete Leonies Mutter.

Leonie schluckte. Hatte sie das gerade richtig verstanden? Nach Amerika?

„Warum Amerika?“, war das erste, was Leonie herausbrachte.

„Weil Papa dort auf einer Ranch eine sehr gute Anstellung als Tierarzt bekommen hat“, sagte Leonies Mutter.

„Es ist eine Appaloosazucht“, ergänzte ihr Vater. „Du kennst doch diese Indianerpferde, oder nicht?“

Natürlich wusste Leonie, was Appaloosas waren, aber deshalb wollte sie noch lange nicht nach Amerika ziehen. Was wäre mit ihren Freundinnen Johanna und Lisa und was mit Abademo? Was würde Regina sagen, wenn sie plötzlich nicht mehr in den Stall käme und, und, und … Tausende Gedanken schossen Leonie durch den Kopf.

„Also wandern wir aus?“, fragte sie mit müder Stimme. Ihre Eltern nickten.

Leonie hatte plötzlich überhaupt keinen Appetit mehr. Sie merkte, wie die Wut in ihr aufstieg. Warum hatte niemand sie nach ihrer Meinung gefragt? Wieso wurde sie plötzlich vor vollendete Tatsachen gestellt? Hatte sie denn überhaupt nichts zu bestimmen?

„Wir gehen nach Kalifornien. Du kennst doch Los Angeles und San Francisco und …“, Leonies Mutter machte eine kurze Pause, „Hollywood!“

„Was soll ich da?!“, gab Leonie kurz zurück.

„Na gut, aber denk an die Strände, Malibu und dann die alten Goldgräberstädte“, sagte ihr Vater.

„Ich will nicht nach Hollywood! Ich will nicht nach Malibu und ich will keine alten Städte ansehen. Ich will einfach bei Johanna, Lisa und Abademo bleiben!“, sagte Leonie, während sie spürte, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. Sie schob den Teller von sich weg und sprang auf.

„Wo willst du hin?“, fragte ihre Mutter besorgt.

„In mein Zimmer!“, rief Leonie mit tränenerstickter Stimme und rannte aus der Küche.