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Brigitte Riebe

Macho! Macho?

Frauenroman

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Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

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www.gmeiner-digital.de

Gmeiner Digital

Ein Imprint der Gmeiner-Verlag GmbH

© 2013 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

info@gmeiner-verlag.de

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlagbild: © GooDAura - Fotolia.com

Umschlaggestaltung: Matthias Schatz

ISBN 978-3-7349-9210-0

Widmung

Für Ulrike und die anderen starken Frauen

Zitate

Als Gott den Mann schuf, übte Sie nur

Beliebter Spruch auf Damen-Klos

Ein Mann kann so fett, so uncharmant, so anrüchig wie möglich sein – er wird immer noch jemanden finden, der seine Hosen in die Reinigung trägt und ihn Mausbärchen nennt.

Yvonne Kronenberg

Frühling

Kapitel 1

Aus. Schluss. Ende. Vorbei und gegessen. Nichts wie weg!

Wie eine Schlafwandlerin löste sie ihre Beine aus dem Schneidersitz, streckte sie und stand dann langsam auf. Ziemlich verblüfft blickte sie an sich hinunter. Ein formloses Hemd, verwaschene Leggings und die vorgeschriebenen Wollsocken, um den Teppichboden im Seminarraum zu schonen, alles Sachen, die sie bei klarem Verstand nie im Leben angezogen hätte.

Der Mann in der Mitte des Kreises unterbrach seinen Strip. Schweißnass ringelte sich schon das T-Shirt auf dem Boden vor ihm, und die Trainingshose dümpelte um seine Kniekehlen. Die Hand am Bund der Boxershorts flatterte irritiert.

Schlussakkord, dann schwiegen die Buschtrommeln.

Jetzt war nur noch sein stoßweises Atmen zu hören, gepresst und nervös, während er vor hundert teils neugierigen, teils fassungslosen Augen Stück für Stück seine fahle Haut entblößte. Seine Augen, klein und blau und ein bisschen trüb, blieben an ihrem Gesicht hängen.

Sie machte einen großen Schritt rückwärts, dann noch einen. Sein Ausdruck bekam etwas unerträglich Flehendes.

Ich muss verrückt geworden sein, dachte sie und spürte, wie wildes, unbändiges Lachen in ihr hochstieg. Vollkommen plemplem. Total von der Rolle. Nur einer wie mir kann so etwas überhaupt einfallen.

Der reinste Wahnsinn!

Jetzt war auch die Tantra-Meisterin aufmerksam geworden und beendete abrupt die formvollendete Beckenschaukel. Ihr langer Oberkörper mit den winzigen Brüsten schnellte nach oben. Ein faltiger Hals und das vorgereckte Kinn drückten Missbilligung pur aus.

Wie eine frustrierte Schildkröte, dachte Eva und schielte über die Schulter nach hinten. Wassertiere, die an Land nur noch plump und hässlich aussehen. Noch zwei rettende Schritte, und ich bin aus der Türe.

Ihr Herz begann hart zu schlagen. Aus der Tiefe des Raumes löste sich die schlanke Gestalt des Assistenten, Super-Lover vom Dienst, und kam langsam auf sie zu. Sie hörte nicht mehr, was er ihr entgegenrief.

Mit langen Schritten setzte sie über den Hof und rannte die Treppe zum Schlafsaal hinauf. Sie stopfte ihre Sachen in die Reisetasche, warf die Socken angeekelt auf die Matratze und riss ihren Mantel vom Haken.

Klack, klack machten ihre Cowboystiefel auf dem Plattenweg zum Parkplatz. Klack, klack.

Sie hatte jeden Grund, sich zu beeilen. Ihr Entkommen hatte gerade angefangen. In Sicherheit war sie noch nicht.

Ihre Hand zitterte so stark, dass sie erst nach dem vierten Versuch die Zigarette überhaupt anbekam. Sie inhalierte in gierigen Zügen und wartete, dass das lang vermisste Schwindelgefühl endlich einsetzte. Dann, kaum weniger schnell, rauchte sie die zweite gleich hinterher.

Draußen verlor eine blasse Wintersonne ihren Kampf gegen aufziehende Nebelschwaden. Krähen hockten auf den braunen Feldern ringsumher, und in der Ferne knatterte ein einsamer Traktor. Die anderen würden jetzt im Speisesaal ihren Getreidekaffee schlürfen.

Ihre Flucht kam ihr plötzlich wie ein mieser Filmgag vor. Sie legte ihren Kopf auf das Lenkrad und begann zu weinen.

Ein kalter, trostloser Februarnachmittag neigte sich seinem Ende zu, sie war Eva, vierunddreißigdreiviertel Jahre alt, und Tom hatte sie exakt vor drei Wochen für immer verlassen.

Kapitel 2

Die Stadt empfing sie mit süßlichem Bierdunst, trübe, nasse Winterluft, ohne die geringste Verheißung auf Vorfrühling. Das Pflaster war feucht, die Menschen auf den Straßen machten, dass sie nach Hause kamen. Oder sonstwohin.

Eva stellte den Wagen in der Tiefgarage ab, packte ihre Sachen und stieg die vielen Stufen zum dritten Stock hinauf. Bei jedem Schritt konnte sie spüren, wie ihre Füße sich mehr und mehr in flüssiges Blei verwandelten. Vor dem letzten Absatz widerstand sie dem Impuls, sich wie ein Kind ins dunkle Treppenhaus zu kauern und zu warten, bis irgendjemand sie hereinholen würde.

Als sie ihre Türe aufschloss und nichts als Leere sie empfing, wusste sie auf einmal wieder sehr genau, warum sie so überstürzt ins Tantra-Seminar aufgebrochen war: Tom war ausgezogen, und die Wohnung sah aus wie eine Wunde. An den Wänden waren blinde Bildstellen in bräunlich verschmierte Ränder ausgeblutet, sein Mantel hing nicht mehr schief am Kleiderständer, und der vertraute Geruch nach Pfeifentabak in allen Räumen, ein ewiger Streitpunkt zwischen ihnen, war einer merkwürdig indifferenten Mischung gewichen, die ihr abgestanden entgegenschlug.

Der Mann, mit dem sie mehr als fünf Jahre Herz und Bett geteilt hatte, war überaus sorgfältig bei seinem Auszug vorgegangen. Geradezu generalstabsmäßig. Was umso verwunderlicher war, als er sich vom ersten Tag ihrer Liebe an immer wieder lauthals auf seine durch und durch unpraktische Veranlagung berufen hatte.

Jetzt aber erinnerte nichts mehr an den Tom mit den zwei linken Händen, der ständig seine Schlüssel verlegte, rührenderweise niemals die Handschuhe finden konnte und grundsätzlich beim Einkaufen zwei von drei Dingen vergaß.

Als erstes war der gemeinsam erstandene Computer verschwunden. Dann die riesige Fächerpalme aus dem Wohnzimmer, der Glastisch und die Kommode, die Eva eigenhändig zum letzten Geburtstag für ihn abgebeizt und anschließend muschelgrau lackiert hatte. Wenig später hatte Tom damit begonnen, alle Bücher und Platten penibel in ihren Ursprungszustand auseinanderzudividieren und die Zeitschriftenstöße in der Kammer zu sichten, eine heroische Tat, die zuvor nicht einmal Evas monatelanges Nörgeln zustande gebracht hatte.

In der Woche darauf zerlegte er pfeifend seine Uralt-Regale aus früher Studienzeit und stapelte die Bretter geschickt auf dem Flur. Bis spätabends verpackte er Küchenzeug in Kisten und Körben, mit einer fröhlichen Hingabe, die sie würgen machte. Alles um sie herum geriet unter die Räder seiner widerlichen, selbstgerechten Akribie, mit der er nach und nach ihr gemeinsames Leben in Stücke zerhackte. Selbst den fleckigen weißen Teppich im Gästezimmer, ein Geschenk seiner Mutter, über das sie sich damals beide lustig gemacht hatten, vergaß er nicht.

Ihre letzte und einzige Rettung in jenen grauen Tagen war Lillis und Philipps Dachwohnung gewesen. Dorthin hatte sich Eva verkrochen und eine bange Ewigkeit gewartet, bis es endlich vorüber war und nichts mehr von seinen zahllosen Hemden, Hosen, Socken und dem übrigen Krimskrams zurückgeblieben sein konnte.

Nicht einmal das Bett hatte Tom ihr gelassen. Als sie zwei Tage nach seinem Abgang zitternd die Türe zum Schlafzimmer geöffnet hatte, fand sie zwischen Staubflocken eine flachgelegene Kindermatratze vor. Die langstielige Rose im Einmachglas daneben war sofort ein Opfer ihrer wütenden Tritte geworden, ebenso wie sein Abschiedsbrief, den er glaubte, ihr zu alledem zumuten zu müssen.

Eva, mein Liebes, bitte verzeih mir, wenn Du kannst! Kannst mir glauben, Dir wehzutun, war das Allerletzte, was ich im Sinn hatte! Aber gibt es eben den kosmischen Gong, und genau der hat mich erwischt. Können wir Freunde bleiben? Nicht gleich, aber vielleicht später? Bitte nicht böse werden, wenn Du das liest! Erst einmal setzen und wirken lassen – und dann noch einmal darüber nachdenken, ja?

Vor allem: Das Allerbeste für Dein neues Leben! Ich bin sicher, du findest sehr bald schon den Mann, der Dich wirklich verdient hat.

Tom

P.S. Hab Dir einen Wodka in den Kühlschrank gestellt. Alte Trappererfahrung: Wirkt wahre Wunder an dunkelgrauen Tagen!

Die Flasche, selbstredend Lieblingsmarke seiner Mutter und daher mit Sicherheit aus ihren unerschöpflichen Beständen, fiel Eva wieder ein, als sie jetzt den Eisschrank öffnete. Leer gähnte er ihr entgegen, bis auf ein paar Zitronen und etwas Undefinierbares, was einmal Gemüse gewesen sein musste. Sonst gab es nur noch alte Sardinenbüchsen, drei traurige Eier, sowie eine angegammelte Packung Schwarzbrot. Ihre jämmerlichen Vorratsreste, bevor sie Hals über Kopf zu dem Seminar aufgebrochen war.

Eiswürfel zumindest waren in ausreichender Menge vorhanden. Sie nahm eine Handvoll, goss reichlich Wodka in ein Wasserglas und trank noch im Stehen in kleinen, regelmäßigen Schlucken. Eva schüttelte sich. Es schmeckte nach nichts, allenfalls leicht seifig. Wenigstens machte der ungewohnt starke Alkohol ihren Bauch warm und brachte den schwarzen Alp zum Verstummen, der dort seit Wochen an ihr fraß.

Sie trug Glas und Flasche ins Wohnzimmer, zu dem kleinen Podest, das schon immer ihr Lieblingsplatz gewesen war. Im Erker, unter den beiden hohen Fenstern, die auf die Straße gingen, wickelte sie sich in zwei Decken, schloss ihre Augen und trank entschlossen weiter. Sie ging nicht ans Telefon, obwohl es zweimal klingelte. Eva ließ die Maschine antworten. Zumindest das war unverändert geblieben. Toms Stimme leierte noch immer nasal und arrogant ihren gemeinsamen Text herunter.

Sie konnte auf alle Nachrichten für Eva Baum und Thomas Wolfgang Leidolf nach dem Piepston verzichten. Sie würde niemanden zurückrufen, weder heute noch an den folgenden Tagen. Die Kollegin aus dem Verlag, die ein bestimmtes Dia nicht finden konnte, hatte Pech gehabt. Ebenso wie ihr alter Freund Georg, der auf einmal scharf darauf zu sein schien, Trennungs-News durchzuhecheln.

Sie war nicht da. Es gab sie praktisch gar nicht mehr. Sie blinzelte der Flasche zu, die sich schon merklich geleert hatte.

Keine Kerzen, nicht einmal Musik. Im letzten Augenblick hatte Tom auch den CD-Player eingepackt.

Wenn sie erst einmal den ganzen Wodka intus hatte – vielleicht würde sie sich ganz von selbst auflösen?

Irgendwann musste sie eingeschlafen sein. Das Erwachen war schlimm. Ihr Körper fühlte sich hart und steif an, sie hatte Durst, einen pelzigen Gaumen, und hinter ihren Schläfen pochte wütender Kopfschmerz. Es war noch dunkel draußen, eine jener nebeligen Spätwinternächte, die scheinbar niemals zu Ende gehen. Den Rücken an die Heizung gepresst, starrte Eva blindlings auf die Straße hinaus.

Ob er jetzt schläfrig in ihrem Messingbett lag, seinen Schwanz gegen den Hintern der anderen Frau gepresst, die Dreh- und Angelpunkt seines neuen Lebens war?

Für einen Augenblick sah Eva wie in einem Blitzlichtgewitter Tom und die andere in leidenschaftlicher Umarmung vor sich und glaubte sogar, ihr lautes Stöhnen zu hören. Ihre Hände zitterten; sie fühlte sich einsam wie nie zuvor. Verletzt musste sie an die letzten Male denken, wo Tom und sie es miteinander getrieben hatten.

Es war noch nicht einmal lange her und, zu ihrer eigenen Überraschung, jedes Mal von ihr ausgegangen. Zuerst auf dem Wohnzimmerteppich, das andere Mal in der Badewanne, und wie zum endgültigen Abschied, im ungemachten Bett. Die nahende Trennung hatte eine plötzliche Härte in ihr Zusammensein gebracht, die neu für beide war. Sie hatten nicht »miteinander geschlafen«. Sie hatten beileibe auch keine »Liebe gemacht«. Es waren heftige, schnelle Zusammenstöße gewesen, voller versteckter Gewalt, rauschhaft, geil, fast, als wären zwei Fremde aneinandergeraten, die als einzige Sprache nur ihre Körper besaßen.

Zwei Tage und drei Nächte dauerte der lähmende Zustand, der nur entfernte Ähnlichkeit mit einem Kater besaß. Die meiste Zeit rührte sich Eva nicht aus dem provisorischen Bett, das sie sich aus Kissen und Polstern im Erker bereitet hatte. Wenn sie aus ihrem Dösen erwachte, weinte sie leise vor sich hin oder stierte zur Zimmerdecke, wo noch heute blasse Spuren der Muscheldose zu sehen waren, die vor Jahren bei ihrem Einweihungsfest unversehens explodiert war.

Sie wusch sich nicht, putzte sich nur auf ihren gelegentlichen Abstechern ins Bad ab und zu die Zähne. Dort konstatierte sie im Spiegel beinahe wollüstig ihren eigenen Verfall. Das Haar matt und filzig, die Augen verhangen, die Haut fleckig. Falls Tom sie noch einmal wiedersehen sollte, würde er sie vermutlich nicht einmal mehr erkennen.

Eva streckte ihrem Spiegelbild angewidert die Zunge heraus. Spielte auch schon keine Rolle mehr. Alles kam ihr unendlich belanglos vor, so als ob es sie gar nicht beträfe. Es gab nicht den geringsten Grund, das muffige Sweatshirt zu wechseln oder sich auch nur die Mühe zu machen, eine Suppe zu kochen. Sie kroch zurück in ihr Bett und zog sich das Plumeau über den Kopf.

Am Abend des dritten Tages überkam sie eine seltsame Unruhe. Längst schon war das Liegen auf dem harten Untergrund nur noch lästig.

Als das Telefon wieder einmal zu läuten begann, schrak sie hoch, hin- und hergerissen zwischen Hoffnung und ärgerlicher Abwehr, schaltete die Stehlampe ein und den Anrufbeantworter aus. Es klingelte endlos lange. Dann, nach einer längeren Pause, wieder und immer weiter. Geradezu penetrant.

Schließlich verlor sie die Geduld.

»Ja?«, raunzte sie in den Hörer.

»Ich bin’s!«, erklang Lillis stets ein wenig atemlose Stimme. »Was ist passiert? Keine Lust mehr auf Italienisch im Schnellverfahren?«

»War gar kein Sprachkurs«, gab Eva zu. Sofort war ihr ein bisschen weniger elend zumute.

»So? Wo hast du dann gesteckt, wenn ich fragen darf?«

»Auf einem Tantra-Seminar«, gestand sie leise.

»So richtig mit Anfassen und allem?« Lilli hörte sich an, als hätte sie gerade das Geheimnis des Jahrhunderts gelüftet. »Und das, nachdem dein Westentaschen-Macho kaum aus dem Haus ist!«

»Ein astreiner Albtraum, dem ich gerade noch einmal entkommen bin!«, sagte Eva matt. »Fünfzig Figuren im großen Kreis, und einer nach dem anderen begann loszustrippen …«

»Warte, warte!«, rief Lilli aufgeregt. »Das muss ich in epischer Breite hören! Stell schon mal Sekt kalt – ich bin in zwanzig Minuten bei dir!«

Lilli hatte glatte rotblonde Haare, schlampige Nixenaugen und immer irgendwelche Probleme mit ihrem Outfit. Heute zum Beispiel fehlten einige Knöpfe an strategisch bedeutsamen Stellen ihres schwarzen Hemdes, was den Mann am Nebentisch schier aus der Fassung brachte. Er bekam seine Stielaugen nicht mehr aus ihrem Ausschnitt, klammerte sich an sein Glas und schüttete den Rotwein in sich hinein, als wäre es Johannisbeersaft.

Natürlich hatte Lilli Eva doch noch aus dem Haus geschleift. Sie waren beim Griechen um die Ecke gelandet, wo Lilli für die andere unbarmherzig Mineralwasser, Salat und eine Riesen-Portion Moussaka bestellte.

»Du siehst wirklich grauenhaft aus«, sagte sie und zwang Eva zum Essen. Sie selbst trank Rosé und strafte den Spanner nebenan mit Nichtachtung. »Tom kommt nicht zurück – selbst wenn du versuchst, dich zu Tode zu hungern!«

Sie hat recht, dachte Eva und schob lustlos Berge von Bechamelsauce von einer Seite des Tellers zur anderen. Lillis üppigem, aber gutproportioniertem Körper gegenüber fand sie sich blass, mager, ja, geradezu jämmerlich. Kindfrau hatte Tom sie anfangs immer genannt, Mondhexe, Zauberfee. Später waren seine Komplimente so lustlos geworden wie seine Umarmungen. Ende einer Faszination. So nannte man das wohl.

Sie starrte auf ihre Hände mit den vielen Ringen. Wie Hühnerbeine sahen sie heute aus, dünn und rotgescheuert, kein Gramm Fleisch zuviel. Vielleicht war das einer der Gründe gewesen, warum er sich zu guter Letzt ein Vollweib mit Busen, Hüften und Hintern gesucht hatte.

Lilli brach in ihr ansteckendes Gelächter aus, als Eva mit dieser Vermutung herausrückte.

»Der?«, prustete sie. »Der hat doch nichts als Schiss vor richtigen Frauen! Den haben nicht etwa deine fragilen Formen in die Flucht geschlagen! Du bist ihm auf Dauer einfach zu selbstbewusst und unbequem geworden, kein anschmiegsames Mäuschen mehr, kein Rehlein mit feuchten Kulleraugen, das kuscht und den großen Herrn Redakteur von früh bis spät anhimmelt. Sondern eine selbstständige Frau, die langsam erwachsen wird.«

»Ich weiß nicht«, murmelte Eva unglücklich. »Besonders selbständig komme ich mir eigentlich nicht vor. Und erwachsen schon gar nicht.«

Den Gedanken an die miefigen Verlagsräume, in die sie ab Montag wieder zurückkehren musste, hatte sie bislang in ihrem allumfassenden Weltschmerz beiseite geschoben. Jetzt aber drängte es sich machtvoll wieder in ihr Bewusstsein, das Gruselkabinett, wie sie es insgeheim nannte, das ihr Berufsleben nicht gerade berückend machte: die einfältige Tochter des Chefs, mit der sie seit kurzem das Büro teilen musste, der depressive Kollege, der spätestens ab Mittag seinen Orangensaft mit Hochprozentigem versetzte, und als Dritter im Bunde der Alt-Lektor, vergesslich und mimosenhaft, zu allem Übel offenbar fest entschlossen, einen persönlichen Rekord im Überschreiten des Rentenalters zu erzielen.

Am schlimmsten zu ertragen aber war Pit Winter, der Verleger selbst, ein cholerischer Ostpreuße, der an den Folgen der deutschen Einheit litt und insgeheim den Zeiten nachtrauerte, als ihn jeden Freitag sein Vertriebenen-Kampfblatt erst richtig in Schwung gebracht hatte. Sie hatte den Job als Lektorin in seinem Familienbetrieb vor zwei Jahren angenommen, ohne lange zu überlegen.

Damals, als die Beziehung mit Tom noch ungetrübt war, war es ihr nicht besonders wichtig vorgekommen. Reine Übergangslösung, nichts weiter. Irgendwann, vermutlich ziemlich bald sogar, würde sie ohnehin schwanger werden. Oder ein Buch schreiben. Oder von einem der renommiertesten Verlagshäuser entdeckt werden. Oder, ihr Lieblingswunschtraum, bei einem fantastischen internationalen Ausstellungsprojekt mitarbeiten. Am besten alles zusammen.

Tatsächlich aber war in der Zwischenzeit nichts von alledem geschehen. Stattdessen hatte sie den Kopf in den Sand gesteckt, so tief und ausdauernd, bis Tom sie schließlich verlassen hatte und sie die psychische Lähmung, die sie allmorgendlich bereits im U-Bahnschacht überfiel, nicht mehr leugnen konnte. Mit zusammengebissenen Zähnen stapfte Eva die Straße zu dem Altbau entlang, wo der Verlag seit ein paar Jahren untergebracht war, um dort bis in die Abendstunden Routinearbeiten zu erledigen, die ihr jeden Tag nur noch unsäglicher erschienen.

Sie war für Bildbände zuständig und redigierte Ratgeber zu so aufregenden Themen wie »Bienenzucht leicht gemacht« oder »Vermeidung von Gelenkrheumatismus durch kochsalzarme Ernährung«. Dazu kam ab und an Lyrik dritter Klasse von halbprominenten Lokalgrößen sowie ein paar versprengte Prosaversuche unentdeckter Talente, die es besser auch geblieben wären. Ein bunt gemischtes Programmpotpourri ohne Struktur und Konturen, dem nur noch das im gleichen Haus herausgegebene »Fachorgan des Deutschen Wander- und Nudistenvereins« als bevorzugtes Ziehkind des Verlegers die Krone aufsetzte.

Der einzige Lichtblick unter den Kollegen, sah man einmal von Jochen, dem Vertriebsleiter ab, Anfang vierzig und gute zwanzig Kilo zu schwer, der in seiner Freizeit in schwarzer Ledermontur die Kawasaki röhren ließ und seit dem vierzehnten Geburtstag vergeblich nach der Frau fürs Leben suchte, war Elvira. Die aufregende Platinblonde, für alles Graphische zuständig, hatte zwar einen widerlichen Freund, ein schmächtiges Männchen, das unerträglich klugschwätzte, sich wie Zerberus persönlich aufführte und Eva bei seinen häufigen Besuchen im Verlag jedes Mal an eine überdimensionale Made erinnerte. Dieses kleine Manko aber machten Elviras blaue Sternchenaugen spielend wett und ihr Busen, der Männer augenblicklich schwach werden ließ. Hochhackig, im Tigerlook, sorgte sie als erfrischende Augenweide dafür, dass wenigstens ab und zu ein freundliches Wort fiel.

Eine der älteren Sekretärinnen missionierte für die Zeugen Jehovas, die andere war ehemalige Kleptomanin in Dauertherapie, eine dritte krümelte von früh bis spät mit allem nur denkbar Essbaren den Schreibtisch voll.

Himmel noch einmal! Wo war Eva da bloß hineingeraten?

Die Zeiten waren schlecht, selbst durchschnittliche Jobs rar. Nur deshalb war sie geblieben und sah zu, wie einer ihrer Träume nach dem anderen zerrann. Manchmal allerdings verzog sich Eva halbstundenweise auf die zugige Toilette, die zum Hof hinausging, um zu heulen. Schon seit Monaten brachte sie es nicht mehr fertig, in Galerien zu gehen oder ein Museum zu besuchen. Sie las kaum noch in ihrer Freizeit und drückte sich vor Theater- oder Konzertabenden. Die geringste Konfrontation mit etwas Kreativem genügte, um ihr das Ausmaß der eigenen Mittelmäßigkeit drastisch vor Augen zu führen.

Nicht einmal Lilli ahnte, wie sehr sie darunter litt. In ihrem hellen, freundlichen Büro, wo sie es als Innenarchitektin in der Regel mit ausgefallenen Entwürfen und edlen Materialien zu tun hatte, hätte sie sich diese Niederungen menschlicher Existenz wahrscheinlich nur schwer vorstellen können.

»Hörst du mir überhaupt zu?«, fragte Lilli scharf.

Eva schreckte hoch. »Im Augenblick eher nicht«, sagte sie. »Entschuldige bitte.«

»Das muss alles ganz anders werden«, sagte Lilli eindringlich. »Ich kann verstehen, dass Toms unrühmlicher Auszug wie ein Magengeschwür an dir nagt. Aber weißt du, was ich dazu sage? Gut, sehr gut sogar!«

»Was soll das nun wieder heißen?«, fragte Eva irritiert.

»Hast du nicht gemerkt, wie du ständig farbloser und unscheinbarer geworden bist? Tom hier, Tom da – das war ja beim besten Willen nicht mehr auszuhalten! Glücklich jedenfalls warst du schon lange nicht mehr mit ihm. Nur zu ängstlich, als erste zu gehen. Wach auf, Eva: Der Typ ist endlich weg – jetzt hast du die Chance, dein ganzes Leben neu zu gestalten!«

»Soll ich ihm vielleicht noch dankbar sein, dass er mich wie einen alten Besen abgestellt hat?«

»Genau! Schluss mit der Einigelei, mit leergetrunkenen Schnapsflaschen und ähnlichem Blödsinn!« Lilli lief zu Höchstform auf. »Schluss mit Selbstmitleid, Tarnkleidung und vor allem der Wahnvorstellung, dass immer nur die anderen an allem schuld sind! Soll ich dir sagen, was dir fehlt? Ein neuer Lover. Und das möglichst schnell!«

»Das Leben ist einfach beschissen«, murmelte Eva zusammenhanglos. »Und die meisten Männer ebenfalls.«

»Ach, auch noch feige?«, versetzte ihr Lilli. »Mach doch gefälligst mal die Augen auf und schau dich um: Die Welt ist voll von Lehrern, Volkswirten, Anwälten, Künstlern, Schreinern und allen möglichen anderen Verrückten – was immer du willst! Du musst nur den Mut haben zuzugreifen.«

»Du hast gut reden – du mit deinem Philipp!«

Lilli ließ sich nicht aus dem Konzept bringen.

»Auf den berühmten Jungen auf dem weißen Pferd, der dich aus all dem Schlamassel herausholen soll, hast du ja wirklich lange genug gewartet!«

»Bist du jetzt endlich fertig?«

»Im Augenblick ja«, sagte Lilli.

Eva griff nach dem Weinglas der Freundin und leerte es in einem Zug.

»Ich schlage mich schon allein durch«, sagte sie kratzbürstig. »Und versuch bloß nicht, mir einen Kerl aufzuschwatzen! Ich brauche niemanden, und mich braucht auch keiner. Alles klar?«

»Amen!« Lilli brach in Kichern aus. »Richtig toll! Und für wann genau hast du sie bestellt, um deinen Sarg abzuholen?«

Kapitel 3

Am meisten zu schaffen machte Eva die ungewohnte Stille in der Wohnung. Kein noch so leises Atmen, wenn sie erwachte, gewohnheitsmäßig neben sich fasste und nur kühles Leinen berührte. Nichts zu hören, wenn sie vom Verlag nach Hause kam und in den Flur lauschte.

Da half es wenig, dass sie schon morgens im Bad irgendwelche Radiosender dudeln ließ und sich angewöhnte, mit dem Heimkommen den Fernsehapparat einzuschalten. Im Gegenteil: Nach diesen Abenden, die sie stumm vor dem Bildschirm vergeudete, fiel ihr anderen Tags der Gedanke nur noch schwerer, wieder anderen Menschen gegenüberzutreten. Dennoch war sie irgendwie froh gewesen, als sie Anfang der Woche wieder ins Büro musste, war sie dankbar für den Zwang, der sie jeden Tag erneut zum Aufstehen, Waschen, Anziehen, Schminken und Essen trieb, bevor sie schließlich zum Verlag loszog.

Sie brauchte Menschen, Kontakte, Leben, so schwer es ihr auch fallen mochte. Deshalb ging sie wieder zur Arbeit, so sehr sie sich auch überwinden musste, sich den neugierigen Blicken ihrer Kollegen und ihren scheinheiligen Fragen nach ihrem Befinden auszusetzen. Und deshalb entschloss sich Eva auch, ihre wochenlange Einsiedelei aufzugeben und doch auszugehen, anstatt in letzter Minute telefonisch zu kneifen, wie sie es ursprünglich geplant hatte. Einer ihrer Übersetzer, und der netteste noch dazu, hatte sie zu einem Fest eingeladen.

Sie war erst spät nach Hause gekommen, und die Zeit war knapp. Ein passendes Buchgeschenk lag schon parat. Weitaus schwieriger war die Frage, was sie anziehen sollte. Ganz zu schweigen davon, wie sie sich verhalten sollte.

Ihr erstes öffentliches Auftreten als Frau ohne Mann stellte sie vor Probleme, an die sie sich erst Stück für Stück wieder gewöhnen musste. Mit dem Lebensabschnittsgefährten an der Seite, wie Tom sich im letzten Jahr auffallend gern bezeichnet hatte, hatte es keine Rolle gespielt, ob der Rock zu kurz war oder sie zweimal zu laut gelacht hatte. Nun aber war es höchste Zeit, ihre alte Rolle als hoffnungslose Anhängerin der Monogamie abzulegen. Stattdessen war wieder die Amazone gefragt, die Kerle frech anmachte, den Kopf hoch trug und nichts dagegen hatte, einen von ihnen schließlich abzuschleppen.

Eigentlich war ihr überhaupt nicht danach zumute. Sehnsüchtig schielte sie hinüber zu dem Erkerlager, den Kerzen, dem Bücherturm. Dann schüttelte sie energisch den Kopf und nahm das kirschrote Kleid vom Bügel, das sie sich in einem Anfall von Leichtsinn vor wenigen Tagen erst gekauft hatte. Es war kurz, durchgeknöpft und so figurbetont, dass sie eigentlich schon beim Probieren fest davon überzeugt war, es niemals wieder anzuziehen. Und das ganze hatte die Kleinigkeit von fünfhundert Euro gekostet. Sie zog den Bauch ein. In diesem Aufzug war Stehen eindeutig empfehlenswerter als Sitzen. Verkriechen galt also nicht. Hinaus in die Welt war die Devise!

Eva runzelte die Stirn. War das nicht exakt die Botschaft, die Lilli ihr ständig predigte?

Die Party entpuppte sich als gut gemeinte Ansammlung uninteressanter Körper mit noch uninteressanteren Köpfen. Dazu kam, dass es von Paaren geradezu wimmelte, die offenbar fest gewillt waren, sich den ganzen Abend über bestenfalls auf Armlänge voneinander zu entfernen. Eva schien der einzige weibliche Single unter fünfzig weit und breit zu sein. Sie hielt sich zunächst brav an Ananas- und Apfelsaft, biss in ein paar der vegetarischen Häppchen und ließ von einem Glatzkopf eine nervtötende Abhandlung über die potenzielle Entwicklung des Buchmarktes im vereinigten Europa über sich ergehen. Übersehen hatte sie niemand, dafür hatte ihr kirschrotes Rascheln gesorgt, aber was nützte das schon – bei diesem schwachen Aufgebot?

Hilfesuchend schaute sie sich um. Der einzig passabel aussehende Mann war der Besitzer eines großen Grafikstudios, den sie vom Sehen kannte. Er hatte beunruhigend sinnliche Lippen, trank zügig seinen Rotwein, lachte laut und machte nicht den Eindruck, als sei er irgendwelchen Freuden des Lebens abgeneigt. Er schien ihre Blicke zu spüren und äugte schon bald so beharrlich zurück, dass ihr Puls sich tatsächlich ein bisschen beschleunigte.

Nicht ungefährlich, dachte Eva, rückte ein winziges Stück näher und ließ sich ebenfalls Rotwein einschenken. Er schien mehr als erfreut. Sie begannen eine lockere Unterhaltung mit reichlich ungesagtem Zwischentext. Schließlich, schon ziemlich verwirrt, fragte sie ihn über seine Arbeit aus.

»Ich hab es ziemlich weit gebracht«, grinste er. Helle, klare Augen, dunkles Haar mit silbernen Fäden. »Mittelmaß auf hohem Niveau. Gründlich überbezahlt, wie ich es mir immer ausbitte. Und wo dilettieren Sie, wenn ich fragen darf? Oder sind Sie etwa gar nicht aus der Branche?«

»Eben doch«, lächelte Eva zurück. »Pit Winter Verlag, wenn Ihnen das etwas sagt.«

Seine Grimasse brachte sie zum Prusten. »Was Grässlicheres haben Sie wohl nicht finden können?« Anerkennend ließ er seine Augen an ihren Beinen entlang wandern.

Humor hatte er also auch noch. Und sie gefiel ihm. Die Vorstellung, in fremden Gärten zu wildern, schickte kleine, sehr anregende Adrenalinstöße durch Evas Körper. Der Mann neben ihr roch nach dunklen exotischen Hölzern und hatte gute Hände. Eva konzentrierte sich auf seine scharf geschnittene Nase.

Könnte tatsächlich eine Sünde wert sein, dachte sie. Auf einmal erschien ihr der Abend durchaus vielversprechend.

Seiner Gattin, die unweit von ihnen postiert gewesen war, war das vermutlich nicht entgangen. Dauergewellt wie ein frisch getrimmter Pudel begnügte sie sich zunächst damit, die beiden zu umkreisen. Schließlich quetschte sie sich mit an ihren Tisch.

Eva warf ihrem Flirtpartner einen halb schmelzenden, halb bedauernden Blick zu. Eigentlich hatte sie das Kapitel »verheirateter Mann« ja bereits vor Jahren endgültig abgehakt. Grund genug, das Feld jetzt zu räumen.

Anstandshalber blieb sie noch ein Weilchen, machte Smalltalk und war gottfroh, als sie endlich draußen und wieder allein war. Sie nahm ein Taxi und rannte, urplötzlich gut gelaunt, im Sturmschritt die Treppen zu ihrer Wohnung hinauf.

Ihre Freundin Lilli hatte recht: Es war allerhöchste Zeit, dass sie wieder aus ihrer Totenstarre erwachte. Sie war kein verwelktes Mauerblümchen, sie konnte sich durchaus noch sehen lassen; das hatten ihr die Blicke der Männer an diesem Abend gezeigt. Und der kleine anregende Flirt gerade eben hatte ihr wieder Lust auf das Leben und die Liebe gemacht.

Auf einmal schien ihr der Vorschlag, den ihr Lilli damals beim Griechen gemacht hatte, gar nicht mehr so absurd. Sie hatte gesagt, sie wisse schon, wie Eva schnellstmöglich wieder zu einem Lover kommen könne, und hatte ganz aufgeregt zu tuscheln begonnen. »Du bist ja verrückt«, hatte Eva damals impulsiv gerufen. »Kommt nicht in Frage! Dafür bin ich einfach nicht der Typ.«

»Wieso eigentlich nicht?« Lilli war nicht von ihrer Idee abzubringen gewesen. »Einen Versuch ist es allemal wert. Was kannst du dabei schon verlieren?«

»Mein letztes bisschen Nerven«, hatte Eva erwidert. »Und etwas unsäglich Altmodisches, was du Selbstachtung nennen kannst. Oder meinetwegen auch Stolz. Tut mir leid, ich fühle mich nun mal so überholt.«

Ja, was habe ich eigentlich zu verlieren, dachte Eva jetzt und griff zum Telefon. Schluss mit dem Selbstmitleid! Schluss mit dem selbstquälerischen Jammerleben! Sie wählte die vertraute Nummer und musste es ordentlich klingeln lassen.

»Lö-wen-stein!!! Wissen Sie eigentlich, wie spät es ist?«

»Gerade mal zwölf«, erwiderte Eva unschuldig. »Da sieht man mal wieder, was notorische Ausgeher machen, wenn sie sich unbeaufsichtigt fühlen.«

»Eva, du? Ist etwas passiert?« Lillis Stimme klang mit einem Schlag hellwach. »Wo steckst du? Geht es dir gut?«

»Könnte man so sagen«, sagte Eva. »Weißt du was? Ich glaube, ich bin jetzt reif für deine verrückte Idee.« Im Hintergrund hörte sie Philipp unwirsch vor sich hingrummeln. Und wenn schon! Selbst ein gestörtes eheliches Tête-à-tête ließ sich leichter wieder ankurbeln als ein abgewürgter Mutanfall. Jetzt war sie an der Reihe. Und wenn es ihr auch noch so schwer fiel! »Überreif sogar«, bekräftigte sie. »Bitte nagle mich fest, falls ich morgen wieder kneifen möchte. Versprochen?«

»Versprochen!«, sagte Lilli. »Sonst noch was?«

»Im Augenblick nicht. Wann kommst du?«

»Gegen zwei, zum Frühstücken. Und halt schon mal die Zeitungen bereit – damit wir gleich loslegen können!«

»Ja«, sagte Eva. »Zu Befehl. Alles, was du willst.«

Sie ging in die Küche, um sich Tee zu kochen. An Schlaf war jetzt ohnehin nicht mehr zu denken.

Als der Abend viel zu früh in die Fenster kroch, waren sie drauf und dran, schlapp zu machen.

»Ich kann keine Anzeigen mehr sehen!«, stöhnte Lilli und schob einen weiteren Packen beiseite. Sie hatte nichts dem Zufall überlassen. Um die beiden Frauen herum lag ein Wust verschiedenster Zeitungen, Journale und Szeneblätter.

»Und ich erst! Meinst du, es ist wirklich eine gute Idee?« In Eva stiegen neue Zweifel hoch. Ihr nächtlicher Elan war längst wieder von zähem Pessimismus bedroht. Sie deutete auf einen ganzen Stoß ausgeschnittener Annoncen vor ihr. »Bekanntschaften, männlich«. »Von denen da jedenfalls möchte ich keinen, nicht einmal geschenkt!«

»Deshalb gibst du ja schließlich selbst eine Anzeige auf«, wiederholte Lilli leicht gereizt zum mindestens dutzendsten Mal. »Du bist es, die das Maß vorgibt, vergiss das nicht! Das hier sollte nur der ersten Orientierung dienen. Damit du endlich merkst, wohin der Hase läuft.«

»Jetzt jedenfalls weiß ich gar nichts mehr«, maulte Eva. »Mein Kopf fühlt sich an wie ein großes Plastiksieb. Kannst du mir nicht sagen, was ich schreiben soll?«

»Damit ich später schuld daran bin, wenn der Falsche kommt? Nein, meine Liebe, ich unterstütze dich gern, aber du formulierst gefälligst selber!«

»Lass es uns verschieben, ja?« Eva sah Lilli flehend an. »Bitte! Heute wird doch ohnehin nichts mehr daraus!«

»Dafür hab’ ich mir von dir nicht mein nächtliches Techtelmechtel verpatzen lassen. Streng dich gefälligst mal an!«

»Ich kann nicht!«

»Doch, du kannst, ich weiß es!«

Eine Weile blieb es ruhig im Raum. Dann verzog sich Eva an den großen Tisch, während Lilli in die Küche ging, um frischen Kaffee zu bereiten. Als sie mit der Kanne zurückkam, fand sie die Freundin schreibend vor. Sie nahm das oberste Buch von einem der Stapel, die noch immer Toms Verschwinden dokumentierten, setzte sich in den Sessel und begann zu lesen.

»Ich mach’s ganz kurz«, kam es schließlich rotzig aus der anderen Zimmerecke. »Ohne Schnörkel und Brimborium. Nur das Allernotwendigste.«

Lilli nickte. »Um so besser. Lass hören!«

»Also: Frau, 34, sucht Mann zum Glücklichsein.«

»Das ist alles?«

»Was denn noch?«, wollte Eva unwillig wissen.

»Na ja, ein bisschen mehr Differenzierung vielleicht. Ein paar Andeutungen, was du dir erwartest oder vorstellst, Alter, Beruf, Einstellung und so weiter. Damit kann sich ja praktisch jeder angesprochen fühlen.«

»Immer noch besser als ›Steppenwölfin sucht Steppenwolf‹, ›Starke Frau mit wunden Punkten‹, ›Komet im All‹ oder dergleichen«, beharrte Eva. »Mehr ist bei mir nicht drin. Die ganze Sache ist mir schon bizarr genug. Die meisten werden später ohnehin ausscheiden – falls überhaupt jemand auf meine Annonce antwortet.«

»Prima Einstellung!«, meinte Lilli lakonisch. »Kannst dir schon mal ’ne Schubkarre bestellen. Ich zum Beispiel rechne mit circa zweihundert.«

»Du bist ja verrückt!«

»Bin ich nicht«, widersprach Lilli. »Also mindestens hundertfünfzig Zuschriften. Wetten, dass?«