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Psychoanalyse im 21. Jahrhundert

Klinische Erfahrung, Theorie, Forschung, Anwendungen

 

Herausgegeben von Cord Benecke, Lilli Gast, Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

 

Berater der Herausgeber

Ulrich Moser

Henri Parens

Christa Rohde-Dachser

Annne-Marie Sandler

Daniel Widlöcher

Alfred Schöpf

Philosophische Grundlagen der Psychoanalyse

Eine wissenschaftshistorische und wissenschaftstheoretische Analyse

Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

1. Auflage 2014

Alle Rechte vorbehalten

© 2014 W. Kohlhammer GmbH Stuttgart

Gesamtherstellung:

W. Kohlhammer Druckerei GmbH + Co. KG, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-022272-4

E-Book-Formate:

pdf:     ISBN 978-3-17-023970-8

epub:  ISBN 978-3-17-024419-1

mobi:  ISBN 978-3-17-024420-7

Inhalt

  1. Geleitwort zur Reihe
  2. Vorwort
  3. Einleitung
  4. Teil I –   Wissenschaftshistorische Einordnung
  5. 1   Ist die Psychoanalyse ein Kind der Aufklärung (Kant) oder des romantischen Gegenpols (Schelling)?
  6. 2   Ist die Psychoanalyse als Erlebnispsychologie (Brentano) oder als Reiz-Reaktions-Psychologie (Fechner) zu verstehen?
  7. 3   Folgt die Psychoanalyse den Spuren der Willenslehre Schopenhauers oder Nietzsches?
  8. Teil II –   Wissenschaftstheoretische Probleme der Psychoanalyse
  9. 4   Fragen der Psychoanalytischen Metapsychologie heute
  10. 5   Die wissenschaftstheoretischen Modelle der Wissenschaft vom Unbewussten
  11. 6   Anwendung des Modells kausalen Erklärens auf unbewusste Prozesse
  12. 7   Anwendung des Modells hermeneutischen Verstehens auf unbewusste Prozesse
  13. 8   Das Verhältnis von klinischer und extraklinischer Forschung am Beispiel Kleinianischer Klinik und empirischer Säuglingsforschung
  14. Teil III –   Die wissenschaftlichen Grundannahmen der Psychoanalyse in philosophischer Analyse
  15. 9   Triebmodell oder Intersubjektivitätsmodell – Anthropologische (Hobbes) oder entwicklungsgeschichtliche (Rousseau) Grundorientierung
  16. 10   Abwehr und Unbewusstes in der Sicht der »Theory of mind« (Wittgenstein, Searle, Davidson, Dennett)
  17. 11   Das Verhältnis der verbalen Kommunikation zur nonverbalen (Lacan contra Piaget und Fonagy)
  18. 12   Die ethischen Grundlagen der Psychoanalyse (Lacan, Hampe, Habermas)
  19. 13   Leben und Tod in der Psychoanalyse (Heidegger, Lacan)
  20. Literatur
  21. Sachregister

Geleitwort zur Reihe

Die Psychoanalyse hat auch im 21. Jahrhundert nichts von ihrer Bedeutung und Faszination verloren. Sie hat sich im Laufe ihres nun mehr als einhundertjährigen Bestehens zu einer vielfältigen und durchaus auch heterogenen Wissenschaft entwickelt, mit einem reichhaltigen theoretischen Fundus sowie einer breiten Ausrichtung ihrer Anwendungen.

In dieser Buchreihe werden die grundlegenden Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse allgemeinverständlich dargestellt. Worin besteht die genuin psychoanalytische Sichtweise auf Forschungsgegenstände wie z. B. unbewusste Prozesse, Wahrnehmen, Denken, Affekt, Trieb/Motiv/Instinkt, Kindheit, Entwicklung, Persönlichkeit, Konflikt, Trauma, Behandlung, Interaktion, Gruppe, Kultur, Gesellschaft u. a. m.? Anders als bei psychologischen Theorien und deren Überprüfung mittels empirischer Methoden ist der Ausgangspunkt der psychoanalytischen Theoriebildung und Konzeptforschung in der Regel zunächst die analytische Situation, in der dichte Erkenntnisse gewonnen werden. In weiteren Schritten können diese methodisch trianguliert werden: durch Konzeptforschung, Grundlagenforschung, experimentelle Überprüfung, Heranziehung von Befunden aus den Nachbarwissenschaften sowie Psychotherapieforschung.

Seit ihren Anfängen hat sich die Psychoanalyse nicht nur als eine psychologische Betrachtungsweise verstanden, sondern auch kulturwissenschaftliche, sozialwissenschaftliche sowie geisteswissenschaftliche Perspektiven hinzugezogen. Bereits Freud machte ja nicht nur Anleihen bei den Metaphern der Naturwissenschaft des 19. Jahrhunderts, sondern entwickelte die Psychoanalyse im engen Austausch mit geistes- und kulturwissenschaftlichen Erkenntnissen. In den letzten Jahren sind vor allem neurowissenschaftliche und kognitionspsychologische Konzepte und Befunde hinzugekommen. Dennoch war und ist die klinische Situation mit ihren spezifischen Methoden der Ursprung psychoanalytischer Erkenntnisse. Der Blick auf die Nachbarwissenschaften kann je nach Fragestellung und Untersuchungsgegenstand bereichernd sein, ohne dabei allerdings das psychoanalytische Anliegen, mit spezifischer Methodik Aufschlüsse über unbewusste Prozesse zu gewinnen, aus den Augen zu verlieren.

Auch wenn psychoanalytische Erkenntnisse zunächst einmal in der genuin psychoanalytischen Diskursebene verbleiben, bilden implizite Konstrukte aus einschlägigen Nachbarwissenschaften einen stillschweigenden Hintergrund wie z. B. die derzeitige Unterscheidung von zwei grundlegenden Gedächtnissystemen. Eine Betrachtung über die unterschiedlichen Perspektiven kann den spezifisch psychoanalytischen Zugang jedoch noch einmal verdeutlichen.

Der interdisziplinäre Austausch wird auf verschiedene Weise erfolgen: Zum einen bei der Fragestellung, inwieweit z. B. Klinische Psychologie, Entwicklungspsychologie, Entwicklungspsychopathologie, Neurobiologie, Medizinische Anthropologie zur teilweisen Klärung von psychoanalytischen Kontroversen beitragen können, zum anderen inwieweit die psychoanalytische Perspektive bei der Beschäftigung mit den obigen Fächern, aber auch z. B. bei politischen, sozial-, kultur-, sprach-, literatur- und kunstwissenschaftlichen Themen eine wesentliche Bereicherung bringen kann.

In der Psychoanalyse fehlen derzeit gut verständliche Einführungen in die verschiedenen Themenbereiche, die den gegenwärtigen Kenntnisstand nicht nur klassisch freudianisch oder auf eine bestimmte Richtung bezogen, sondern nach Möglichkeit auch richtungsübergreifend und Gemeinsamkeiten aufzeigend darstellen. Deshalb wird in dieser Reihe auch auf einen allgemein verständlichen Stil besonderer Wert gelegt.

Wir haben die Hoffnung, dass die einzelnen Bände für den psychotherapeutischen Praktiker in gleichem Maße gewinnbringend sein können wie auch für sozial- und kulturwissenschaftlich interessierte Leser, die sich einen Überblick über Konzepte, Methoden und Anwendungen der modernen Psychoanalyse verschaffen wollen.

Die Herausgeberinnen und Herausgeber:

Cord Benecke, Lilli Gast, Marianne Leuzinger-Bohleber und Wolfgang Mertens

Vorwort

Dieses Werk hat nicht den Anspruch, abgeschlossene Grundlagen der Psychoanalyse darzustellen, sondern es ist aus dem geschichtlichen Zustand des Fragens und Analysierens hervorgegangen, wie er zurzeit zwischen Philosophie und Psychoanalyse besteht. Es ist der Versuch, philosophische Analyse und psychoanalytisches Analysieren in einen fruchtbaren Kontakt zu bringen, wobei ich der Meinung bin, dass sich beide Betrachtungsweisen nicht in ein homogenes Ganzes auflösen lassen. Aber gleichzeitig haben sich beide Seiten inhaltlich etwas zu sagen. Ich bin zufrieden, wenn durch meine Darstellung mehr an begrifflicher Klarheit und Genauigkeit in der Problemstellung entsteht.

Mein Dank gilt in erster Linie meiner Frau, Dr. Andrea Bosch-Schöpf, wegen der zwei wissenschaftlichen Projekte, die sie initiiert und energisch vorangetrieben hat. Das eine ist die Auseinandersetzung mit der klinischen Theorie der Psychoanalyse in Kleinianischer Sicht, welche in ihrem Qualitätszirkel 1 über lange Jahre betrieben wurde. Die praktische Arbeit wurde dabei von Dr. Helga und Dr. Wilhelm Skogstadt (London) regelmäßig supervidiert. Ich konnte an dieser Arbeit partizipieren. Dazu bekamen wir viele Anregungen aus den Seminaren von Prof. Heinz Weiß (Robert-Bosch-Krankenhaus Stuttgart) und besonders aus der Teilnahme an den John-Steiner-Seminaren, die Heinz Weiß organisierte. Das zweite Projekt meiner Frau, von dem ich praktischen und wissenschaftlichen Gewinn mitnahm, war ihr Qualitätszirkel 2 zur neueren Säuglingsforschung. Auch hier war sie Initiatorin, diese Richtung praktisch und theoretisch zu rezipieren und in das Würzburger Ausbildungsprogramm zu integrieren. Den Teilnehmern an den beiden Qualitätszirkeln Isolde Mäder-Kruse, Petra Jacobi-Konen, Martin Ehl, Ulla Schäfer-Dannenberg, Dora Wirth-Limmer und Annegret Kirchner danke ich für die wichtigen Diskussionen.

Aus meinem wissenschaftlichen Werdegang sind zahlreiche Stationen zu vermerken und Dank an die auszusprechen, welche mich in besonderer Weise begleitet haben. Für meinen Münchner Arbeitskreis zur Freud’schen Psychoanalyse möchte ich Wolfgang Degen und Andreas Herrmann nennen. Für meine Lehrjahre auf der Couch sei Dr. Ingeborg Zimmermann gedankt. Für die Ausbildungszeit in Stuttgart danke ich besonders Margot Voss, Christa Kohlsmann und Lothar Schramm, in Würzburg Marianne Schreiber.

Meine philosophische Arbeit begann als Assistent bei Helmut Kuhn und Hermann Krings in München. An meinem Lehrstuhl in Würzburg haben mich als Mitarbeiter Alfred Kessler (Darmstadt), Peter Prechtl † (München) und Jan Beaufort (Bielefeld) begleitet. Das Würzburger Ausbildungsinstitut ist meine Wirkungsstätte. Dies bedeutet Dank an die vielen kooperativen Kollegen und Kolleginnen. Nicht zuletzt danke ich meinen Patienten und Patientinnen und den Ausbildungskandidaten und -kandidatinnen, welche mit mir die verschlungenen Wege der Erfahrung von Beziehung gegangen sind. Für die kundige und sorgfältige Erstellung des Manuskripts danke ich Frau Karin Vieweg.

Im Übrigen hat die Zusammenarbeit mit den Herausgebern der Reihe »Psychoanalyse im 21. Jahrhundert« (an erster Stelle sei hier Prof. Wolfgang Mertens erwähnt) meine Gedankenentwicklung entschieden gefördert. Herr Dr. Ruprecht Poensgen vom Kohlhammer-Verlag war ein sachkundiger und freundlicher Geburtshelfer des vorliegenden Werkes.

Einleitung

Die Frage nach den philosophischen Grundlagen der Psychoanalyse zielt direkt auf die Klärung der Frage, um welche Wissenschaft es sich bei der Psychoanalyse handelt, welche Stellung sie im Geflecht der Wissenschaften hat und von welcher Art ihre Erkenntnisse sind, ob sie nachvollziehbaren Kriterien des Wissenserwerbs und der wissenschaftlichen Validität genügt. Es ist somit für die Psychoanalyse von vitaler Bedeutung, sich diese Frage zu stellen und sich zu vergewissern, wie sie als Wissenschaft einzuschätzen ist. Die Philosophie erhebt hier einen Anspruch an sie, den wir uns genauer anschauen wollen. Traditionell war dieser Anspruch bei Kant einer der Erkenntniskritik. Kant hat dazu eine für die Aufklärung maßgebliche Kritik des Erkenntnisvermögens entwickelt, in der er aufgeklärtes Wissen von nicht aufgeklärtem Wissen unterschied. Nicht aufgeklärt ist nach ihm Dogmatismus, Aberglaube, Scharlatanerie, etc., also Einstellungen, welche Meinungen ungeprüft gelten lassen und die Menschen täuschen. Aufgeklärt ist Erkenntnis, die mit geklärten Begriffen arbeitet und mit gesicherter Erfahrung verknüpft ist, also empirisch begründet ist. Wenn wir heute die Frage nach den Grundlagen der Psychoanalyse stellen, ist so viel an Aufklärung darin enthalten, dass wir nach wie vor geprüfte Erkenntnis von ungeprüften Meinungen unterscheiden. Auch wenn die »Kritik der reinen Vernunft« in ihrem ganzen Umfang für uns heute nicht mehr ungebrochen verbindlich ist, bleibt dieser aufgeklärte Standpunkt für uns doch relevant. Zum Verhältnis von Aufklärung und Psychoanalyse später mehr. Kant hat aber nicht nur eine Erkenntniskritik, sondern auch eine Moralkritik durchgeführt, d. h. er hat moralische Überzeugungen daraufhin überprüft, ob sie subjektiv, d. h. nur persönlicher Natur sind, oder ob sie allgemein gültig, d. h. verbindlichen Grundsätzen folgen. Aus dieser »Kritik der praktischen Vernunft« bleibt so viel für unsere Fragestellung erhalten, dass wir die Frage der impliziten Ethik der Psychoanalyse anschneiden müssen, ob sie nachvollziehbaren Grundsätzen in der Ausführung ihrer Heilkunst folgt.

Dem Anspruch der Philosophie muss sich aber die Psychoanalyse nicht blind unterwerfen. Der war in der Geschichte der Philosophie häufig überzogen. Die interne Selbstkritik der Philosophie hat dies deutlich gemacht. Ich möchte zwei Beispiele dafür anführen. Erstens die idealistische Übertreibung. Im »Deutschen Idealismus« hat man das Projekt einer umfassenden systematischen Ausarbeitung einer Architektonik der Vernunft verfolgt, dass sie in Selbstreflexion alle ihre Möglichkeiten ausschöpfen, bestimmen und systematisch gliedern kann. Die Philosophie hat sich auf den Thron der Wissenschaften gesetzt und normativ zu entscheiden beansprucht, welche Wissenschaften vor ihrem Gerichtshof bestehen können und damit zugelassen werden und welchen Rang sie im Gebäude der Wissenschaften beanspruchen können. Die Philosophie selbst, aber vor allem die Wissenschaftsentwicklung hat diesen Anspruch als Tyrannei empfunden und zurückgewiesen. Aber es bleibt ein normativer Rest im philosophischen Anspruch, der nicht so leicht aufgegeben werden kann, dass sich Erkenntnis von Meinung durch ein gesichertes Verfahren, eine überprüfbare Methode unterscheiden müsse.

Die zweite Übertreibung entstammt der frühen Wissenschaftskritik und Wissenschaftstheorie des »Wiener Kreises«. Mit dem Hempel-Oppenheim-Modell wissenschaftlichen Erklärens war ein Schema von wissenschaftlichem Erklären entwickelt worden, welches in seiner strengen Interpretation nur durch naturwissenschaftliche Erkenntnis nach dem Modell der Physik eingelöst werden kann. Darauf hat sich die Forderung der Einheit der Wissenschaften (unity of science) aufgebaut, dass alle Wissenschaften sich nach dem Modell der Physik organisieren müssen. Dieses Modell ist natürlich in einer ganzen Reihe von Wissenschaften wie Geschichte, Politik, Literaturwissenschaft, etc. nicht einlösbar. Dennoch wurde von den Puristen dieser Richtung Druck auf alle Wissenschaften gemacht. So hat noch K. Popper (1994/7, S. 47 f. und 52 f.) die Psychoanalyse damit angegriffen und in Bedrängnis gebracht, dass sie aus dem Kanon der Wissenschaften herausfällt, wenn sie nicht wie die Physik exaktes Wissen liefert. In der Zwischenzeit haben die interne Kritik in der Wissenschaftstheorie und die Wissenschaftsentwicklung gezeigt, dass man sich dieser Tyrannei nicht unterwerfen muss, sondern dass man eine Vielfalt von Wissenschaften mit unterschiedlichen Wissensansprüchen unterscheiden kann. Doch davon mehr im späteren Verlauf unserer Darlegungen und Untersuchungen.

Umgekehrt gibt es auch Ansprüche, die die Psychoanalyse an die Philosophie stellt. Versuchen wir ihr Wissenschaftsverständnis vorläufig einzukreisen und zu bestimmen, dann wird deutlich, dass die Psychoanalyse in den Kreis der Wissenschaften gehört, in denen der Mensch ein Wissen vom Menschen entwickelt und zwar in der doppelten Hinsicht, dass er durch dieses Wissen sich verständigt, über sich selbst und über den anderen, den Mitmenschen. Diesen Impetus teilt die Psychoanalyse mit einer Gruppe anderer Wissenschaften wie der Soziologie, der Geschichtswissenschaft, Zweigen der Psychologie, der Politik, etc. Es muss also eine besondere Dimension dieses Wissens des Menschen vom Menschen sein, das sie auszeichnet. Die Psychoanalyse lässt sich schon präziser bezeichnen, wenn wir in die Erlebnisdimension hineingehen, aber nicht verstanden als in sich geschlossenes subjektives Erleben, sondern im kommunikativen Austausch durch Körper und Sprache. In dieser Eingrenzung finden sich aber immer noch andere Wissenschaften, die dieses Anliegen mit der Psychoanalyse teilen: Zweige der Kommunikationswissenschaft, der allgemeinen Psychologie, der Kulturwissenschaft, etc. Was die Psychologie betrifft, gibt es insbesondere Überschneidungen im Anspruch der Psychoanalyse mit der Emotionspsychologie. Ein Wissen auf der Grundlage des emotionalen Ausdrucks von Menschen, einschließlich kognitiv-sprachlicher Aspekte, kommt dem Selbstverständnis der Psychoanalyse schon sehr nahe. Den nächsten Schritt in der Annäherung an den wissenschaftskonstituierenden Anspruch der Psychoanalyse tun wir, wenn wir das Feld der Überschneidungen von klinischer Psychologie und Emotionspsychologie analysieren, nämlich dass die emotionale Kommunikation zwischen Menschen nicht störungsfrei verläuft, sondern von Lücken, Amnesien, Phänomenen von Verrücktheit, Fehlleistungen, Krankheitssymptomen, Träumen und Phantasien systematisch durchsetzt ist und der wissenschaftlichen Erforschung bedarf. Aber noch haben wir den Anspruch der Psychoanalyse nicht eindeutig abgegrenzt. Denn mit dieser Bestimmung gibt es noch Überschneidungen mit der klinischen Theorie in der Psychologie, der Psychopathologie und der phänomenologischen Psychotherapie. Erst wenn wir einen weiteren Schritt tun zu der Annahme, dass die Phänomene der Lücken, der Fehlleistungen, Amnesien und Verrücktheiten auf einer erlebbaren Kommunikation beruhen, in der Emotionen andere Emotionen unterdrücken (genauer abwehren) und dieser Vorgang einer wissenschaftlichen Aufklärung in Form einer Psychodynamik der unterdrückten und abgewehrten Motive bedarf, sind wir beim Wissenschaftsanspruch der Psychoanalyse angekommen. Wir können ihn vorläufig so formulieren, dass er das erlebte und kommunizierte emotionale Wissen von Menschen betrifft, welches eine unterdrückte und abgewehrte Dimension beinhaltet, welche gleichwohl psychodynamisch (in Form von Motiven) wirksam bleibt und die Kommunikation bestimmt. Ja, die Psychoanalyse erhebt da einen starken Anspruch auf das Wissen des Menschen vom Menschen, dass es diese unerlässliche Dimension einschließen muss, wenn der heutige Mensch in dieser Gesellschaft sich selbst und die anderen gut verstehen und nicht in unverstandenen Konflikten hängen bleiben will.

Wenn wir von dieser Einstellung des Blicks auf die Psychoanalyse die Verbindung zur Philosophie herstellen wollen, aber jetzt zu einer Philosophie, die sich nicht als abstrakter Korpus innerer Wahrheiten definiert, sondern als lebendige geschichtliche Tätigkeit des Philosophierens, dann gibt es hier eine Dimension der Philosophie, die psychoanalytisch relevant ist, nämlich die Seite, in der das Philosophieren Teil der kulturellen Tätigkeiten und Schöpfungen ist. Diese Seite ist einer psychoanalytischen Infragestellung und Überprüfung zugänglich. Hier kann gefragt und untersucht werden, ob der Philosoph in seiner Tätigkeit emotional mit sich im Reinen ist und ob er sich kommunikativ den Mitmenschen und den Problemen der Zeit und der Gesellschaft zuwendet. Kurzum, die Nietzsche’sche (JGB 1968, S. 26) Frage der Echtheit des Philosophierens rückt in den Blickpunkt. Aber auch die Fragen sind berührt, die J. Habermas (1982, S. 45 f.) in seiner Kommunikationstheorie als konstitutive Bedingungen der Kommunikation entwickelt hat, so die Wahrhaftigkeit und die Verständlichkeit. Die psychoanalytische Lehre von der Abwehr hat dagegen Kriterien herausgearbeitet, mittels derer die Erkenntnishaltung auch des Philosophierens überprüft werden kann, ob sie in der Persönlichkeit integriert ist oder eine abgespaltene Dimension verkörpert, ob sie intellektualisiert oder möglicherweise rationalisiert, d. h. mit einer Pseudoerklärung eigene Konflikte zudeckt.

Wir sehen, dass wir uns mit der Frage dieser Untersuchung in ein spannungsreiches, interessantes Gebiet begeben, in dem die Ansprüche aufeinander prallen und Klärungsarbeit notwendig ist. Diese wissenschaftsphilosophische Problemstellung sieht sich in der Gegenwart (dem beginnenden 21. Jahrhundert) mit einer veränderten Psychoanalyse konfrontiert.

Die Auffassung der klinischen Erfahrung heute hat sich in charakteristischer Weise verändert. Freud hatte sie so bestimmt, dass im therapeutischen Raum der Patient eine Übertragung entwickelt (Funktion des Ersten), welche im Therapeuten eine Gegenübertragung konstelliert (Funktion des Zweiten), welche unter die Kontrolle einer neutralen Beobachtung zu bringen ist (Funktion des Dritten im Analytiker). In der Folgezeit wurde der Begriff der Gegenübertragung weiterentwickelt. Bei P. Heimann (1996, S. 179 f.) wurde das Gefühl als Resonanzboden für die Probleme des Patienten (duale Funktion) zum zentralen Thema. In der Folge wurde Empathie zum Schlüsselbegriff der klinischen Erfahrung. Diese Erweiterung war mit dem Problem belastet, wie die fühlende Funktion im Analytiker mit der beobachtenden und kritisch reflektierenden in Einklang gebracht werden kann. Die ich-psychologische Lösung, einen autonomen Kern im Subjekt des Analytikers (Strachey, 1934, S. 486 f.) zur Sicherung der Funktion des Dritten anzunehmen, scheiterte, weil das Ich des Analytikers allein diese Funktion nicht tragen kann. Zum Problem der Identität des Analytikers und seiner Kompetenz siehe die Werke von A. Herrmann (2011) und H. Will (2011). Entscheidend war der Schritt, die Sicherung der Funktion des Dritten nicht im Subjekt selbst zu suchen, sondern im Nach-Außen-Gehen in die Kommunikation. Dies war der Schritt in das hermeneutische Verstehen. Die Funktion des Dritten im Subjekt findet einen Außenhalt, in den Dritten in Gesprächspartnern: Lehranalyse, Supervision, Intervision und Publikation von Fallberichten, also in der wissenschaftlichen Öffentlichkeit. In der Folge wurde der klinische Erfahrungsraum umgewandelt zum hermeneutischen Modell bei H. Thomae und H. Kächele (1996, S. 88 f.). Danach spannt sich eine Struktur aus vier Bestandteilen auf.

1.  Die Übertragung des Patienten induziert

2.  beim Analytiker eine reaktive Form der Gegenübertragung,

3.  welcher eine aktive Form der Übertragung des Analytikers entspricht,

4.  die ihrerseits eine Gegenübertragung im Patienten auslöst.

Diese Erfahrung wurde von H. Argelander mit dem Begriff des »szenischen Verstehens« (1970) beschrieben.

Eine zusätzliche Absicherung der Funktion des Dritten mit Hilfe linguistischer Methoden wurde durch J. Lacan (1986, S. 15 f.) und seinem Begriff der symbolischen Ordnung entwickelt, der zufolge die Sprechenden (parole) unter Bezug auf die Strukturen der Sprache (langue) zu hören hätten, um eine kritische Instanz im Sinne der Funktion des Dritten zu haben. Doch auch dieses Hören und Sprechen war rückgebunden an die hermeneutisch zu verstehende Kommunikation. Ein weiterer Schritt der Veränderung wurde eingeleitet, als man feststellte, dass die Funktion des Dritten auch durch den empirisch forschenden Menschen eingenommen werden kann und dass solche außerklinisch-empirische Erforschung des Therapieprozesses durchaus möglich und erfolgreich ist. Auf drei solcher empirischer Ansätze sei hingewiesen.

Erstens die Erforschung unbewusster Abwehrvorgänge im Patienten durch den Defense-Mechanism-Research (DMR) in den 1960er-Jahren durch W. Hentschel, initiiert durch G. Smith (1993), durch W. Ehlers (2000) und J. Küchenhoff (1991) fortgeführt. Der Grundgedanke ist der, dass sich am Wahrnehmungsaufbau (Perzeptgenese) zeigen lassen muss, wie er durch Abwehrvorgänge unbewusster Art (durch Einschlüsse und Ausschlüsse) vorweg schon bestimmt ist. Die Standards für eine empirische Forschung quantitativer und qualitativer Art für einen neutralen Beobachter werden wir später erörtern.

Eine zweite empirische Richtung der Erforschung des klinischen Raums hat sich in Psychoanalytic Process Research entwickelt (Dahl, Kächele & Thomae, 1988, VII., f.). Eine solche Forschung setzt voraus, dass Erfahrungen, welche bisher nur in der innerklinischen Beziehung von Patient und Analytiker gemacht werden konnten, auch für neutrale Beobachter des analytischen Prozesses zugänglich sind. Der außerklinisch Dritte unterscheidet sich vom innerklinischen dadurch, dass er sich die Daten durch Tonbandaufzeichnungen oder audiovisuelle Reproduktionen beschaffen muss, um damit die Effektivität therapeutischer Intervention zu überprüfen. Wir werden erörtern, ob diese Stärkung der Position des Dritten Einbußen im individuellen Verstehen des Beziehungsgeschehens zwischen Patient und Analytiker zur Folge hat.

Eine dritte extraklinische Forschungsrichtung hat sich in der von D. Stern entwickelten Säuglingsbeobachtung (2007) etabliert. Hier geht es darum, die bisherigen klinisch-rekonstruktiv gewonnenen Vorstellungen und Konzepte der frühen Kindheit einem direkten aus der Säuglingsbeobachtung gewonnenen Bild gegenüber zu stellen und zu überprüfen. Wie verhält sich das, was wir aus den Erzählungen des Patienten über seine frühere Kindheit wissen zu dem, was wir in der direkten Erforschung der Mutter-Baby-Situation erfahren? (Vgl. Beebe & Lachmann, 2004; Lichtenberg, 1989; Dornes, 2002, 2006, 2007). Das Problem der klinischen Erfahrung heute stellt sich also in vielfacher Weise neu. Es hat sich vertieft in den Weiterentwicklungen unserer Vorstellungen von Gegenübertragung und es hat sich neu dimensioniert dadurch, dass sich die klinische Erfahrung einer außerklinischenempirischen Forschung gegenüber sieht, die ein neues Licht von außen auf sie wirft, neue Fragen auftut und neue Chancen der Erkenntnis einschließt.

Damit hat sich auch das Bild der klinischen Theorie heute enorm gewandelt und zwar entlang der Erschließung neuer Krankheitsfelder mit neuen Formen der Abwehr seelischer Probleme und Störungen. S. Freud hatte mit der Theorie der Übertragungsneurosen den Grund gelegt und die Theorie der narzisstischen Neurosen vorbereitet. Einen entscheidenden Schritt vorwärts in diesen Bereich hat M. Klein unternommen, indem sie die Welt der sog. präödipalen Persönlichkeitsstörungen erschloss (Klein, 1983, S. 187 f.). Ihre Konzepte waren die paranoid-schizoide Position mit ihren Verfolgungsängsten und die depressive Position mit ihrer Schuldproblematik. Damit erweiterte sie auch die Sicht der frühen Abwehrmodalitäten, welche sie eindrucksvoll herausarbeitete: Spaltung, Verleugnung, Projektion. Besonders folgenreich war die Entdeckung des Abwehrmechanismus der projektiven Identifikation, welche eine wichtige Entwicklung in der klinischen Theorie auslöste (Frank & Weiß, 2007). Sie beschrieb darin eine Diffusion von Innen und Außen, eine Verlagerung abgespaltener Persönlichkeitsanteile in andere Personen, eine Diffundierung von Innenerleben und Außenerleben, eine Verwirrung nahezu psychotischer Art. Damit hat sie die Reichweite der klinischen Theorie bis an die Schwelle psychosomatischer und psychotischer Krankheiten vorgeschoben und ihre Konzepte sind nicht mehr aus der Behandlung der sog. strukturellen Persönlichkeitsstörungen hinweg zu denken.

Ihre Theorie war folgenreich in der Kleinianischen Richtung (vgl. Steiner, 2006 und 2011). Aber sie beeinflusste auch Entwicklungen darüber hinaus in so unterschiedlichen Richtungen wie der Objektbeziehungstheorie von D. W. Winnicott (1971 und 1974) und den Erweiterungen der klinischen Theorie bei O. F. Kernberg (1988). In Kernbergs Auffassung spiegeln sich Kleinianische Elemente in der Auffassung der Borderline-Störung als einer gespaltenen Persönlichkeit mit starken Elementen von Verfolgungsangst (siehe auch Rohde-Dachser, 1989 und Weiß, 2009) und in der narzisstischen Persönlichkeitsstörung mit ihrem gespaltenen Selbst. Sogar bei H. Kohut (1975 und 1979), der sich in seiner Selbstpsychologie am weitesten von Klein entfernt hat, finden sich Klein’sche Abwehrformen der narzisstischen Idealisierung und der Omnipotenz.

Die klinische Theorie der Gegenwart beschäftigt aber vor allem in einer anderen Hinsicht die wissenschaftsphilosophische Fragestellung. Die klinisch außerordentlich fruchtbare Kleinianische Theorie sieht sich in der Gegenwart durch die ebenso erfolgreiche neuere Theorie der Säuglingsbeobachtung (Stern, 2007; Beebe & Lachmann, 2004; Fonagy, 2006 und Dornes, 2002, 2006, 2007) herausgefordert. Ihr Konzept angeborener aggressiver Triebe stößt hier auf eine Auffassung von Entwicklung, die von einem Intersubjektivitätsdenken bestimmt ist, in dem die Motivationssysteme Selbst und Bindung (vgl. Bowlby, 1969 und 1975) im Mittelpunkt stehen. Störungen der Entwicklung werden in dieser Sicht primär von traumatischer Einwirkung hergeleitet und erst sekundär, wie bei Klein, aus unbewussten Phantasien. Hieraus entstehen sehr unterschiedliche Auffassungen bezüglich der ersten beiden Lebensjahre des Kleinkindes mit unterschiedlichen Konsequenzen für die Behandlung. Kann hier ein wissenschaftsphilosophischer Vergleich der Voraussetzungen zur Klärung dieser unterschiedlichen Auffassungen beitragen? Wir werden uns in unserer Untersuchung dieser Fragen annehmen.

Teil I –   Wissenschaftsgeschichtliche Einordnung der Psychoanalyse

1          Ist die Psychoanalyse ein Kind der Aufklärung (Kant) oder des romantischen Gegenpols (Schelling)?

Einführung

Eine erste Frage, die sich jedem mit der Psychoanalyse und der Philosophie Befassten stellt, betrifft die strikte Unterscheidung, welche die Aufklärung zwischen dem bewussten Leben des Menschen und seinen unbewussten Erfahrungen eingeführt hat. Welchen Bereich erfahren wir in unserem Erleben in bewusster Weise, welcher bleibt dabei unbewusst? Wie hat das 19 Jhd. wissenschaftsgeschichtlich diese Fragen beantwortet? Welche methodischen Zugänge zum unbewussten Anteil unseres Erlebens hat es entwickelt?

Lernziele der Kapitel 1–3

•  Die methodische Differenzierung der Denkwege, welche im 19 Jhd. unbewusste Dimensionen erschlossen haben.

•  Liegt das Schwergewicht mehr auf der begrifflichen Klarheit über unbewusste Erlebnisse oder auf der gefühlten Intuition?

•  Sind psychische Erlebnisse primär über Reiz-Reaktions-Zusammenhänge erfassbar (messbare Schwellen des Bewusstseins) oder über Beschreibungen introspektiv gewonnener psychischer Akte?

•  Wie sind unbewusste Prozesse motiviert? Leiblich-seelisch, zwischenmenschlich oder beides? Was ist ein unbewusster Wille? Geht es dabei primär um Sexualität oder Macht?

Eine Klärung des Wissenschaftsstatus der Psychoanalyse muss auch historisch ansetzen. Spätestens seit F. Nietzsche (GM 1968 Vorr., 28) ist die »Genealogie« ein Muss, um Klarheit zu schaffen. Man würde allerdings sehr weit ausholen, wenn man bis zu den beiden großen Traditionen des Abendlandes zurückgehen würde. Immerhin gibt es da einen Wissenstypus von der Struktur Vergessen-Erinnern, der von Platon über Augustinus ins Mittelalter reicht und Erkennen zentral als Erinnern fasst. Der andere Wissenstypus dagegen hat die Struktur Empeiria-Begriffliche Ordnung und geht von Aristoteles über Thomas ins Mittelalter. Hier schon Vorläufer der Psychoanalyse zu suchen, wäre zu unspezifisch und zu weit hergeholt (Pongratz, 1967, S. 181 f.). Zweifelsohne ist aber die neuzeitliche Aufklärung die entscheidende Schaltstelle in der Disposition der Wissenschaften für die folgenden Jahrhunderte. Hier wollen wir mit der Frage ansetzen: Ist die Psychoanalyse ein Kind der Aufklärung oder ist sie eher dem romantischen Gegenpol zuzuordnen? Auskunft holen wir uns bei der zentralen Figur der Aufklärung I. Kant und als Quelle benützen wir seine »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht«. Doch zunächst erinnern wir uns, mit welchen Kriterien Kant arbeitet und welche großen Trennlinien und Unterscheidungen daraus abzuleiten sind.

Philosophische Grundlage jeder möglichen Erfahrung ist das Bewusstseinsfeld und die philosophische Aufgabe besteht darin, ein Bewusstsein von diesem Bewusstsein zu gewinnen. Anders ausgedrückt: Wenn das Bewusstsein sich in Vorstellungen gliedert, zielt die philosophische Klärung darauf, eine Vorstellung von diesen Vorstellungen zu gewinnen. Der Philosophie geht es also um reflektiertes Selbstbewusstsein, freilich nicht irgendwelcher Art, sondern methodisch begründetes Selbstbewusstsein. Als Maßstab dient R. Descartes Kriterium der Klarheit und Deutlichkeit der Vorstellungen (clare et distincte). Dieses ist dann erfüllt, wenn die Vorstellungen sowohl gegenüber anderen sicher abgegrenzt als auch in sich exakt gegliedert werden können. Eine solche exakte Bestimmung ist nach Ansicht der Aufklärung jedoch nur durch mathematisch gesichertes und denknotwendiges Wissen zu erreichen. Auf diese Weise halten nur zwei Wissensbereiche der Prüfung durch Aufklärungskriterien stand. Im Bereich des Gegenstandswissens ist dies das naturwissenschaftlich-mathematische Wissen von der Natur und im Bereich des philosophischen Selbstbewusstseins das exakte Wissen der Denkgesetze (Logik) und des Sittengesetzes (Moral). Wenn man so will, fällt das Licht der Aufklärung nur auf die mathematische Naturwissenschaft auf der einen und diese begründende Philosophie auf der anderen Seite.

Nun ist aber auch einigen Aufklärungstheoretikern klar, dass der Bereich dessen, was nicht unter die klaren und deutlichen Vorstellungen fällt, sondern als dunkle und unklare bezeichnet werden muss, durchaus im Bewusstseinsfeld existiert, ohne mit Aufklärungskriterien als Wissen ausgewiesen werden zu können. Bei I. Kant fallen darunter die Gegenstände des inneren Sinnes (d. h. der Gegenstandsbereich der Psychologie), die Lehre vom leib-seelischen Zusammenhang (der Bereich der Anthropologie) sowie die Lehre von den menschlichen Schöpfungen in Kultur und Geschichte. Kurzum, an den Wissensfeldern, die den Menschen betreffen, lässt sich demonstrieren, worauf das Licht der Aufklärung fällt und was es im Dunkel liegen lässt. Die entscheidende Stelle bei Kant lautet folgendermaßen: »Dass das Feld unserer Sinnesanschauungen und Empfindungen, deren wir uns nicht bewusst sind, ob wir gleich unbezweifelt schließen können, dass wir sie haben, d. i. dunkler Vorstellungen im Menschen (und so auch in Tieren) unermesslich sei, die klaren dagegen nur unendlich wenige Punkte derselben enthalten, die dem Bewusstsein offen liegen, dass gleichsam auf der großen Karte unseres Gemütes nur wenige Stellen illuminiert sind: kann uns Bewunderung über unseres eigenes Wesen einflößen« (I. Kant, 1983, S. 47).

Eine solche Engführung des Wissenschaftsverständnisses hat also ihren Preis. Sie führt

1.  zu einer Trennung der klaren und deutlichen Vorstellungen von den dunklen und unklaren. Die Lichtmetapher der Aufklärung wird den klaren und deutlichen Vorstellungen zugesprochen. Später wird man auch von der Wissenschaft von der Tagseite i. U. zur Nachtseite sprechen. Die Psychoanalyse wird später mit der Dunkelheitszuschreibung für das Unbewusste zu kämpfen haben.

2.  Das Aufklärungswissen nimmt eine kategoriale Trennung von Körper und Seele vor.
    Mathematisch gewiss ist nur das Körperwissen. Modell der Wissenschaft ist die Physik. Es muss zwischen äußerer und innerer Erfahrung geschieden werden. Der Körper wird seelenlos und die Seele wird körperlos. Die künftige Psychologie hat mit diesem Dilemma zu kämpfen. Entweder entscheidet sie sich dafür, sich dem Modell der Physik zu unterwerfen, dann wird sie Reiz-Reaktionswissenschaft oder Psychophysik. Oder sie thematisiert die innere Erfahrung, dann wird sie Akt- oder Erlebnispsychologie und hat mit dem Vorwurf zu kämpfen, dass introspektiv gewonnenes Wissen nicht wissenschaftlich überprüfbar ist, also defizitär bleibt.

3.  Das Aufklärungswissen trennt Theorie und Praxis, weil es Wertfreiheit für den Erkenntnisprozess fordert. Alle Wissenschaften, die ihre Erkenntnisse in der Praxis gewinnen, wie Politik, Kunst, Literatur, Geschichte, klinische Psychologie, etc. geraten in den Verdacht, ein Wissen unvollkommener Art, ein nicht vorurteilsfreies, weil implizit wertendes Wissen, zu vertreten. Die Psychoanalyse wird später genau mit diesem Problem zu ringen haben.

Aber wie hat sich Kant zu diesen Problemen gestellt? Die entscheidende Fundstelle in der Anthropologie in pragmatischer Hinsicht ist betitelt mit: »Von den Vorstellungen, die wir haben, ohne uns ihrer bewusst zu sein« (Kant, 1983, S. 46). Kant sieht also sehr deutlich, dass die Vorrangstellung, welche die Aufklärung bewirkt, wenn sie das Bewusstseinsfeld nach klaren und deutlichen Vorstellungen sortiert, zwangsläufig und unvermeidlich ein Problem der unbewussten Vorstellungen kreiert. Aber so stellt sich Kant die Frage: Ist das nicht ein Widerspruch, Vorstellungen zu haben, deren wir uns nicht bewusst sind? Das Thema der Dunkelheit der Vorstellungen wird jetzt brisant. Es kann doch jeder daherkommen und uns von Vorstellungen erzählen, die er hat, ohne sie im Bewusstsein klären zu können. Das können Vorstellungen von Dogmatikern, Scharlatanen, Religionsfanatikern, Verführern und Verrückten sein. Das ganze Projekt der Aufklärung zielt ja darauf ab, die Wissenschaften und die Menschen davor zu schützen, diesen trüben Quellen zu trauen. Und jetzt tut sich eine Dimension des Unbewussten auf. Könnte es sein, dass über diese Annahme die ganze dunkle Vorstellungswelt wieder einzieht, vor der die Aufklärung uns schützen will? Nach Kant hat J. Locke die radikale Konsequenz gezogen: Was ich nicht weiß, macht mich nicht heiß. Ein »Haben« von Vorstellungen, ohne sie sich als Vorstellungen vorstellen zu können, ist eine dogmatische Seinsannahme und daher zu negieren. Es gibt sie einfach nicht diese unbewussten Vorstellungen. Das ist die radikale Absage an eine Realität, die sich dem aufgeklärten Selbstbewusstsein entzieht. Keine romantische Annahme von bewusstloser Erfahrung hat hier Platz. Anders jedoch Kant: Unser Vorstellungsleben, wenn wir es denn kritisch prüfen, zwingt uns dazu festzustellen, dass alle Vorstellungen im Hinblick auf weitere Vorstellungen offen sind, dass die Lücken immens sind, dass sie auf Verbindungen mit anderen Vorstellungen beruhen, die selbst nicht im Blickfeld sind, ja dass die Vorstellungen ohne Verbindungslinien zu nicht vorgestellten Inhalten absurd würden. Kants nüchterne Analyse lautet, dass nur wenige Punkte unseres Vorstellungslebens illuminiert sind, d. h. ausgeleuchtet sind, während die dunklen Vorstellungen unermesslich sind. Aber gleichwohl stellt sich die Frage: Woher wissen wir das? Kann hier da Licht ins Dunkel gebracht werden? Kants Argumentationslinie weist in folgende Richtung: »Allein wir können uns doch mittelbar bewusst sein, eine Vorstellung zu haben, ob wir gleich unmittelbar uns ihrer nicht bewusst sind.« (Kant, 1983, S. 47). Somit gibt es eine Argumentationsmöglichkeit und eine Argumentationspflicht im Hinblick auf unbewusste Vorstellungen. Diese ermöglicht eine Abgrenzung kategorialer Art zwischen der Dunkelheit dogmatischer Dunkelmänner und der wissenschaftlichen Aufhellbarkeit des Unbewussten. Die Verbindungslinien zum bewussten Leben müssen argumentativ hergestellt werden. Analytisch ausgedrückt: Abwehr muss als Abwehr von Gefühl und Vorstellungen aus der bewussten Einstellung belegt und erschlossen werden, in der sie ihre Spuren hinterlässt. Kant verteidigt in dem Kapitel von den unbewussten Vorstellungen eine anthropologisch essentielle Form der Kenntnis unbewusster Vorstellungen in scharfer Abgrenzung zur gekünstelten Dunkelheit der dogmatischen und »mystischen« Verführer, gegen die die Aufklärung angeht. »Anthropologie in pragmatischer Hinsicht« ist ein Aufklärungsansatz, um die durch die Radikalität des Aufklärungsansatzes entstandenen Lücken aufgeklärt zu schließen. Die später entstehende Psychoanalyse in der Freud’schen Richtung wird genau diese Argumentation für den Nachweis ihres Wissenschaftscharakters heranziehen.

Für Kant ist Anthropologie in pragmatischer Hinsicht

1.  aufgeklärtes Wissen, allerdings weniger strenger Art als mathematisches Aufklärungswissen. Es ist Kenntnis im Sinne einer allgemeinen Weltkenntnis. Eine Kenntnis, die sich allen Erfahrungsbereichen der Welt öffnet und sie einbezieht, auch wenn sie diese nicht mathematisieren kann.

2.  Es ist Wissen psychosomatischer Art, weil es neben der Vernunft auch die Sinnlichkeit in ihr Recht einsetzt, nämlich das, was Körper und Seele zusammen brauchen.

3.  Es ist Wissen, das voraussetzt, dass man nicht bei der Theorie stehen bleibt, sondern praktisch »mitgespielt« hat, sei es als Politiker, Bürger, im Beruf, in der Familie, als Arzt, etc. Ja, die Kenntnis ist wesentlich dadurch bedingt, dass man mitgespielt hat.

4.  Die Anthropologie in pragmatischer Hinsicht definiert die Aufgabe eines »Seelenarztes«. Weil Affekte und Leidenschaften eine nicht vernünftig auflösbare Komponente von Trieben und Neigungen zur Grundlage haben, bedarf es eines Seelenarztes, um diese Triebe und Neigungen zu kanalisieren. (Kant, 1983, S. 192 f.)

5.  Die bewussten und unbewussten Vorstellungen beziehen sich auf den Trieb als die naturhafte Basis menschlichen Wollens und Handelns. Dieser wird durch die Vorstellungen zu Neigungen und Wünschen geformt. Damit ist das Thema unbewusster Vorstellungen schon bei Kant mit dem philosophischen Konzept des Triebs verknüpft. Dieser wird in Entgegensetzung zum moralischen Willen verstanden. Trieb ist nicht gleich moralischer Wille.

Ist die Psychoanalyse also ein Kind der Aufklärung?

1.  Der radikale Anspruch der Aufklärung, das Bewusstsein unter die Kontrolle des Selbstbewusstseins zu bringen, hat zweifelsohne das Problem des Unbewussten erst geschichtlich hervorgebracht.

2.  Kant hat einen aufgeklärten Weg gewiesen, die Dunkelheit unbewusster Vorstellungen mit dem klaren und deutlichen Bewusstsein in Verbindung zu bringen durch den Nachweis der mittelbaren Bedingtheit bewusster Vorstellungen durch unbewusste. Kant hat eine Definition des Seelenarztes gegeben, der zufolge dieser nicht vernünftig beherrschbare Affekte und Leidenschaften zu kanalisieren und sekundär in ein human gestaltetes Leben integrierbar zu machen hat.

Wenn die Psychoanalyse ein nicht gewolltes Kind der Aufklärung ist, das nachträglich von ihr anerkannt und legitimiert werden kann, wenn es sich wissenschaftlich ausweist, dann stellt sich die Frage, ob es möglicherweise von der Romantik als Kind ihres Geistes angesehen und adoptiert werden kann. Diese Frage kann nur dadurch beantwortet werden, dass der Stellenwert der Lehre von der Seele im romantischen Gedankenkreis umrissen wird. Den engen Zusammenhang von Aufklärung und Romantik können wir deutlich machen, wenn wir aus der Kantischen Gliederung der Wissenschaften festhalten, dass die beiden Säulen der Aufklärung die mathematische Naturwissenschaft einerseits und die sie begründende Vernunftswissenschaft (Logik und Moralphilosophie) andererseits sind. Die zwischen ihnen entstehende Lücke, also der Ort der Seelenlehre im Verbund mit dem Leib, der Gesellschafts- und