Stephan Valentin
Vielfarben
Kurzgeschichten




Pfefferkorn Verlag





Vollständige E-Book-Ausgabe.
Alle Rechte vorbehalten.
Dieses Buch ist auch als Hardcover unter
ISBN 978-3-9807298-9-5
erschienen bei
© 2002 Pfefferkorn Verlag

Ähnlichkeiten mit realen Personen oder Ereignissen wären zufällig und unbeabsichtigt
ISBN E-BOOK 978-3-9807298-4-0

Lektorat: Veronika C. Haas
Umschlagillustration: Copyright © 2002 François
Fouquet-Dubois
Satz/Layout: Winter-Orthen Heidelberg

Sie finden uns im Internet unter www.pfefferkorn-verlag.de



INHALTSANGABE


Das Leben sonst wo. Stephan Valentins Geschichten sind kaleidoskopische Kurzbesuche hinter die Kulissen des alltäglichen Seins. Scharfkantig, rau, zuweilen fremdartig — es sind die vielfarbigen Momentaufnahmen aus dem diffusen Kunterbunt des Lebens, die seine Prosa so eindrucksvoll machen. Stephan Valentins Figuren hoffen und zweifeln, rebellieren und resignieren, flüchten und leisten Widerstand, letztlich suchen sie nach Auswegen, warten auf die Gelegenheit auszubrechen.

So bleiben Zeit und Zeitlosigkeit, Wirklichkeit und Traum, das Jetzt und das Gestern nah beieinander, verschmelzen im Sog der Geschichten. Das Leben als Arena, als Kuriosa und vielleicht irgendwann versöhnlich, stehe ich am Fenster. Zwischen dem Garten und dem Vorhang. Nur noch Wolken von beiden Seiten.


ÜBER DEN AUTOR
Stephan Valentin, Doktor der Kinderpsychologie, lebt seit seinem 20. Lebensjahr in Paris, wo er Schauspiel und Psychologie studiert hat. Ehrenamtliche Einsätze führten ihn in Armenkrankenhäuser bis nach Bombay und an die Elfenbeinküste. Seine Kurzgeschichte Der Taubenturm (veröffentlicht in seinem Werk Vielfarben) wurde mit dem Bettina von Arnim-Preis ausgezeichnet.

Mehr zum Autor: www.stephan-valentin.com



BUCHREZENSIONEN


"Vielfarben": Gefühlte Welt

"Er kann sehr gut hinsehen. Hinhören. Und hineinspüren. Stephan Valentin, mehrfach ausgezeichneter deutscher Autor, ist ein sprachlicher Minimalist. Das, was er in seinen wunderbar pointierten Geschichten Vielfarben weglässt, macht seine Erzählkunst aus. (…) Valentins Kunst ist das Rätselhafte. Das Unvollkommene seiner Geschichten fasziniert. Am Ende steht oft noch ein Wort. "Großmutter", etwa. Wie ein Echo, ein Frage- oder Ausrufungszeichen. Valentins Neugierde macht ihn zum Meister des Kinderblicks. Großäugig seziert er die ganze Welt."
— Literaturtipp, Frankfurter Rundschau

Bettina von Arnim-Preis — Laudatio Der Taubenturm:

"Die Erzählung beschreibt eine Art inneren Monolog, das Selbstgespräch eines Gedemütigten, der mit Fluchtträumen, mit Bildern des Auffliegens auf eine Situation der Unterdrückung antwortet. Kraft und Rätselhaftigkeit bekommt die Erzählung nicht zuletzt dadurch, dass nicht eindeutig erklärt wird, warum der Ich-Erzähler in die Position des Ungeliebten geriet. Bedrohlich und anrührend wirkt dieses Prosastück dadurch, dass "Verstehen" ausgeschlossen wird und die Gewalttätigkeit finster bleibt."
—Jörg Drews für die Zeitschrift BRIGITTE


Für Rosa Albach






Was passiert mit meinem Leben?

Elsa







Eliah, fünf Jahre


»Du, weißt du, dass ich Jude bin?«
   Und ich Deutscher, liegt es mir auf der Zunge. Ich fühle seinen beunruhigten Blick aus klaren blauen Augen.
   »Ja, ich bin zum Beispiel katholisch. Das sind nur Religionen. Weiter nichts. Wasch dir die Hände, wir essen gleich.«
   Er bleibt stehen und ich muss an heute Morgen denken, als er im Badezimmer mein Haar mit seinem verglichen hat. Dieselbe helle Farbe. Blond. Nur meines ist kürzer, hat er stolz verkündet. Er hat zugeschaut, wie ich mich rasiert habe.
   »Hast du gehört, Eliah? Wir essen in ein paar Minuten!«
   »Wo ist die Mama?«
   Wahrscheinlich schon im Büro. Sonntag. In der Filmwelt gibt es kein Wochenende und Kinderspiele machen Kopfschmerzen.
   »Sie kommt nachher. Willst du Tomaten?«
   Igitt, verzieht sich sein Mund und ich grinse, denn wir beide wissen, dass er die roten Kugeln nicht mag. Er trottet aus der Küche und ich frage mich, wie ihm seine Mutter beigebracht hat, dass sie jüdisch ist. Und er auch. Dass es Menschen gibt, die ihn deshalb nicht mögen könnten, dass der Weihnachtsbaum im Wohnzimmer eigentlich nur Schabernack ist und der Weihnachtskalender ein Spiel. Dass bald Hanoukka ist und er sich in Schwarzweiß kleiden muss und ich weiß schon jetzt, dass er sich dagegen wehren wird, weil er glaubt, darin alt auszusehen. Eliah, fünf Jahre, liebt Farben.

»Schau mal, magst du das Kleid? Die Arielle hat auch so eins!«
   Eliah, fünf Jahre, ist eine Meerjungfrau. Und wenn er mit Michael nachmittags im Park Robin Hood spielt, dann ist er Marianne und erwartet den Kuss ihres Retters und Michael ist stolz, weil er die Bösen aus dem Sherwood-Wald verjagt hat und mich, der hier nur den Bösen spielen soll, besiegt hat. Michael, sechs Jahre, ein mutiger Kämpfer und sich der Belohnung, die um seinen Hals fliegt, nicht bewusst. Das Plastikschwert, in dem noch vor kurzem der blaue Strahl von Luke Skywalker laserblau blitzte, am Ende des ausgestreckten Arms. Eliah überglücklich, die langen Wimpern und die hohe Stimme. Wir gehen zurück zur Wohnung. Beide rennen auf dem Bürgersteig. Von den Gehilfen des Sheriffs von Nottingham keine Spur. Vereint lachen sie und ich denke an die Straße, an den Verkehr, an das Auto, das urplötzlich vor ihnen auftauchen könnte. Verschwunden. Zebrastreifen sind manchmal blind, Autofahrer im Recht. Aber an der Ecke, zwischen geparkten Wagen, lauern mir die beiden auf und ich tue so, als würde ich sie nicht sehen und kaum vorbei, drehe ich mich um mit einem lauten Schrei und sie erstarren, und dann lachen sie wieder und sausen in Richtung unseres Hauses. Sie klettern auf die Mauer und grölen und Eliah, fünf Jahre, ist wieder ein Junge.

Die Tür öffnet sich. Ich schaue auf. Diane, sechsundvierzig Jahre, schleicht sich vorbei. Es ist spät und Eliah schläft. Diane, sechsundvierzig Jahre, Regisseurin und zuweilen Mutter, kommt nach Hause. Ich liege auf der Couch, der Fernseher flimmert und das Licht bleibt aus. Weibliche Formen bewegen sich zum Fenster, verharren wartend und ich richte mich auf.
   »Ich wollte Sie nicht wecken.«
   Der oberste Knopf der Bluse offen, weißer Hals entblößt. Ich gehe schlafen.

Morgenlicht. Zwei kleine Füße stolzieren gekonnt in hochhackigen Schuhen. Diane unwohl, fragender Blick. Dafür sind Sie doch da.
   »Hohe Absätze sind nicht mehr modern! Nicht wahr, Tim?«
   Eliah ungläubig. Ihm ist es egal. Ich sage nichts. Sie holt seine Sportschuhe aus dem Schrank. Aber glänzender Lack ist spannender. Er singt und ich glaube, es ist Dalida, die unsichtbare blonde lange Haare schwenkt und sich dabei am Schreibtisch festhält. Mit einem bunten Seidenschal streichelt sie das Gesicht von Diane, sechsundvierzig Jahre, die jetzt aus dem Kinderzimmer geht. Dalida zuckt die Achseln. Dalida ist tot. Sie hat sich umgebracht.

»Honigsnacks oder Müsli?«

Sein blonder Schopf in meinem Schoß. Seine Welt steht Kopf.
   »Ich weiß, nicht was mit mir passiert!«
   Seine Tränen schmerzen. Die Märchenfee hat ihr Versprechen nicht gehalten. Sie hat einfach gelogen. Der Ausflug damals ins Eurodisneyland, umsonst. Eliah, fünf Jahre, bleibt ein Junge.

Wir gehen raus. Eliah zerrt mich in die Kirche an der großen Kreuzung. Nägel in Händen und Füßen. Dornen drängen in hölzerne Haut. Blutiger Schweiß. Flackerndes Kerzenlicht auf fromm geflochtenen Adventskränzen erhellt verzerrte Gesichtszüge.
   »Warum nimmt ihn niemand von da oben herunter?«
   Eliah, fünf Jahre, kennt Jesus nicht. Und Menschen sind ihm auch noch fremd.

Im Park sind die Bäume kahl, aber Kindern ist das egal. Der Spielplatz ist gerammelt voll und Eltern sitzen träge auf einer Bank, Handy in der Hand. Eliah zieht mich mit, bin wieder klein, ein Kind und zwänge mich durch Tunnel aus Eisenrohren, über Brücken aus Seilen bis hin ins Blockhaus, wo ich auf Knien robbe und Kinder mich umrennen. Erwachsensein bremst mich im Elan. Verkrampft meine Muskeln. Das alles habe ich doch schon einmal gesehen. Und um mich herum nehmen Kinderköpfe andere Gesichter an und Erinnerungen stoßen mich in Richtung Rutsche. Lautes Weinen holt mich zurück. Eliah liegt am Boden. Blut am Kinn, nicht viel, aber Schmerzen brauchen Zeugen. Bin Vater in fremden Augen. Schneeflocken lassen den Kratzer vergessen. Zungen versuchen sie zu erwischen. Der Himmel, so tief und schwer, entlädt seine Last. Ich sitze auf einem Drachen, der sich langsam hin- und herwiegt. Diane taucht auf. Eine junge Frau im Schlepptau.

   »Das ist Isabelle!«
   Hallo. Mehr auch nicht und Eliah springt nicht in die Arme seiner Mutter, sondern auf meine Schultern. Diane ist glücklich, weil Eliah lächelt.
   »Man könnte meinen, sie wären Brüder mit ihren blonden Haaren.«
   Isabelle ruft zwei Namen. Ein Junge und ein Mädchen trennen die Schneeflockenwand entzwei. Isabelle lädt uns ein. Eliah will eigentlich nicht mit, aber er muss, er ist noch ein Kind. Isabelle, Isabelle. Isabelle kennt Diane und Diane kennt nicht irgendeine Isabelle und da erkenne ich dieses Gesicht, das mich sonst von der Leinwand aus in ein anderes Jahrhundert lockt. Die Hausmeisterin hält uns auf, zeigt auf rote Glühbirnen und Lametta in ihrer Loge. Im zweiten Stock öffnet der Junge die Wohnungstür. Auch hier ist ein Weihnachtsbaum.

   »Papa ist Jude, aber wir haben trotzdem einen Baum. Und Geschenke kriegen wir auch, weil Mama keine Jüdin ist!«
   Der Vater steht an der Tür und hört wortlos zu. Er nimmt die Mäntel entgegen und die Kinder verschwinden in einem Flur. Ohne sie fühle ich mich fehl am Platz.
   »Und wer ist das?«
   »Das ist mein Babysitter.«
   »Tim, wollen Sie hier bleiben oder draußen spazieren gehen? Eliah braucht Sie momentan nicht. Wir treffen uns dann zu Hause.«
   Ich nehme meinen Mantel und wundere mich, wie schnell Stoff erkaltet. Isabelle begleitet mich die wenigen Schritte zur Tür.
   »Was machen Sie eigentlich, wenn Sie nicht gerade bei Diane sind?«
   »Ich studiere Theater.«
   Isabelle, dreiundvierzig Jahre, Schauspielerin. Ihr manieriertes Gesicht erstarrt und ich stehe im Treppenhaus.
Eliah, fünf Jahre, ist kein Künstler. Diane kauft ihm Malstifte und gutes Papier.
   »Und was soll ich jetzt malen? Hilfst du mir?«
   Diane schüttelt den Kopf. Das Telefon klingelt. Ich setze mich neben ihn und Eliah schaut ratlos auf das weiße Blatt. Ich rede ihm zu. Er will nicht alleine. Unsere Stifte kritzeln wild und Eliah fragt mich, welche Farben er nehmen soll. Und für den Hut und die Blume? Er rennt ins Zimmer seiner Mutter.
   »Ich habe Ihnen doch gesagt, dass Sie ihm nicht helfen sollen!«
   Diane, sechsundvierzig Jahre, hat viele Falten. Sie ist unzufrieden. Ein Picasso weniger. Zwei Tage später hängt der Clown gerahmt in der Küche.

»Gehen Sie mir und Eliah bitte zwei Eclairs holen. Einmal Schokolade und das andere Café. Hier ist das Geld!«
   Zwei Eclairs und ich schaue auf uns drei.
   »Wenn es sein muss, dann eben auch eines für Sie!«
   Eliah rennt um die Wette die Treppe hinunter. Er will nach links, ich muss nach rechts. Links, wegen dem Tiergeschäft. Zetern und Quengeln. Also machen wir den Umweg. Gestank leitet unsere Schritte, an der Kasse vorbei, wo Grillen und Fliegen auf ihr Ende warten. Eine Boa kringelt sich ein und Hunde und Katzen spielen mit den Fingern, die durch das Gitter auf ihre Köpfe drücken. Los, bewege dich. Drei Rehpinscher liegen nackt auf dem Rücken in der Holzwolle. Bekommen von allem nichts mit. In einem Käfig entdecke ich einen Vogel, der mir im letzten Sommer beim Joggen über den Weg geflogen ist. Ob er mich erkennt? Im Freien hat er laut gekrächzt und Sturzflüge vollzogen. Seine schwarzen Federn glänzten im Sommerlicht. Eliah will am Käfig rütteln, ihn beleben. Ein Blick von dem Mann hinter Kasse genügt. Draußen liegt Zentimeter dick Schnee. Ich ziehe den Schal um Eliahs Hals fester. Seine Nase läuft bereits. In der Bäckerei hole ich zwei Eclairs. Schokolade und Café.

Eliah, fünf Jahre, redet mit einem bärtigen Mann. Einmal die Woche. Sie reden über Papa und Mama. Diane geht auch manchmal hin. Aber nicht gerne. Sie will über Eliah reden und der Mann spricht nur von ihr.

»Mama, meinst du nicht, dass Tim immer bei uns bleiben könnte?«
   »Wenn er ständig hier wäre, dann hätte er schnell die Nase voll von dir!«
   Diane, sechsundvierzig Jahre, liebt ihr Kind, das mich enttäuscht anschaut. Augen, die sagen, du auch. Ich nicht, ganz bestimmt nicht.

Auf dem Stuhl liegt die neue Jeans, eine Latzhose. Dazu ein passendes blaues Hemd und einen Pulli. Kein Nicki wie früher. Marken prangen an allen Nähten. Diane kämmt sein Haar. Er zieht ungeduldig an ihrer Kette.
   »Bekomme ich auch so eine?«
   »Jungen tragen keine Ketten! Tim hat auch keine, siehst du? Zieh die Hose an.«
   Eliah, fünf Jahre, rennt aus dem Zimmer. Der Stuhl mit den Sachen kippt um.
   »Er soll anziehen, was er will.«
   Eliah versteckt sich hinter der Gardine. Ich rufe seinen Namen. Wo bist du nur? Und die Gardine wölbt sich und trotzdem sehe ich ihn gar nicht, dabei stehe ich genau vor ihm. Seine Zehen schauen nackt hervor und ich gehe wieder in sein Zimmer. Vielleicht ist er ja dort. Dann bin ich still und verstecke mich. Seine Stimme sucht mich. Von hinten packe ich ihn, werfe ihn aufs Bett, wo ich ihn durchkitzle und er schlägt lachend um sich, rollt sich hin und her. Zwei Minuten später ist er angezogen.
   »Oh, die Latzhose! Bei mir hört er nie. Wie machen Sie das bloß?«

Ein Anruf auf Leitung vier. Für mich. Meine Leitung. Diane, sechsundvierzig Jahre, braucht mich nicht mehr. Eliah ist bei seinem Vater über die Ferien. Und dann sehen wir weiter.

Im Januar beobachte ich einen kleinen blonden Jungen auf seinem Weihnachtsgeschenk radeln. Ein junger Mann leitet ihn an. Der junge Mann ist schwarz. Ich fühle mich seltsam ausgelöscht. Eliah, fünf Jahre. Zwei davon mit mir.



Fremde Nähe

Höher und höher. Der Himmel steht Kopf. Sie lacht übermütig. Noch höher. Ihr Körper löst sich gefährlich vom Sitz, die Ketten quietschen und wieder saust sie hinunter, die Beine angezogen. Sand wirbelt unter ihren Füßen auf, bestaubt nackte braune Zehen. Mit voller Wucht wird sie wieder in die Luft gestoßen. Das Stahlgerüst zittert. Verkrampfte, weiß gepresste Finger. Beide Kettenstricke scheinen nachzugeben, wollen abknicken, alles starr, ruhig, und dann zieht es sie wieder straff, begleitet von einem Schrei. Rauschen in den Ohren. Haare fliegen in ihr Gesicht, in den Mund, vom Fahrtwind entstellt. Noch mal, los. Der Schwung schleudert sie empor. Höher als zuvor. Im Halbkreis. Der Körper so leicht. Kitzeln im Magen, fast wie im Fahrstuhl. Bilder schießen ihr vor Augen. Füllen sekundenlang einen Gedanken. Die Schaukel droht sich zu überschlagen. Kein Lachen. Arme, so kraftlos. Feuchte Finger. Ihr Kopf weit nach hinten, abwärts, der Hals gespannt und dann dieser Druck. Stopp, stopp. Sonne sonst wo. Alles verdreht. Wind tobt in grünem Stoff. Ist das das Pfeifen eines Zuges am Horizont, die Linie, die die Welt durchschneidet? Trompetenrüssel, grau und runzlig, greifen rund ins süße Laub, wo gelbbraun gescheckte Hälse lange rosa Zungen hinauftragen. Im Sog nach oben, seltsam verschmieren sich die Konturen der Feuervögel, die nun nur noch nutzlos auf geschmiedeten Rohren den Tag abwarten und dann die Nacht und wieder den Morgen. Soll der Tod sie doch holen, nach Hause bringen, und ihr Krächzen dringt in Ohren, die sie nicht hören wollen. Bonbons knallen an Fell und verkleben, bilden Wirbelzirbel. Hektische Halsbewegungen, Zähne arbeiten sich durch Karamell. Bonbonpapier im Gras. Augen, gar nicht mehr glücklich, schauen zweifarbig in eine farbenlose Welt. Höher und höher schreien klaffende Münder aus Käfigen und Gittern, Aquarien gleich gigantischen Fischaugen, aber der Schwung reicht nicht aus. Limit. Nicht mehr weiter und gewaltsam reißt es sie aus dem Blickfeld nach unten. Runter. Anhalten. Unerträglich. Starke Hände fangen sie auf. Die Sonne zurück, scheint auf eine Bank, wo das Picknick wartet, angefangen von Bienen, von Wespen weiter gegessen. Warme Strahlen auf ihrer Haut. Der Mund sucht den Strohhalm. Prickeln und gleichzeitig tränen ihre Augen von der Kohlensäure.
   »Tut dir etwas weh?«
   »Nichts. Das ist nur die Cola. Hast du schon einmal einen Zoo von oben gesehen?«
   Sie wartet nicht auf seine Antwort. Ein Zeppelin schwebt schwer gleich einer farbigen Melone. Kann man in Wolken tauchen? Aus einem Gully sprudelt Wasser. Immer wieder schwingen Worte in ihren Ohren. Sie wünschte, es wäre der Vers eines Gedichtes. Am Ufer des Sees blinkt ein weißes Schild. »Angeln verboten.« Vor ein paar Tagen hat ein Spaziergänger sechs verendete Schwäne im Wasser gefunden. Eine Bakterie im grünen See hat ihre Lungen gelähmt.
   »Ich möchte gehen.«
   »Aber wir sind doch gerade erst hierher gekommen.«
   Sie nimmt ihre Strickjacke.

Der Rollstuhl schiebt sich durch die Einfahrt. Ein Rettungswagen mit weit geöffneten Türen. Eine junge Frau rennt vom gegenüberliegenden Parkplatz aufs Krankenhaus zu. Welche Nachricht wird sie erwarten?
   »Du kannst jetzt gehen. Den Rest schaffe ich alleine.«
   »Soll ich morgen kommen?«
   Der Fahrstuhl verschluckt sie samt Rollstuhl. Sie atmet auf.

Der Fernseher schreit arabische Lieder. So sieht also ihr Mann aus. Auf dem Bett hocken drei kleine Kinder. Mit den Schuhen. Das ist der Zimmernachbarin egal.
   »Vera, das ist meine Familie. Mein Mann.«
   Er nickt freundlich. Die Kinder spielen mit einem Schleier und fast gleicht diese Familie einem Stilleben. Bitte nicht bewegen. Endstation Fotoalbum.
   »Ich war drüben beim Zoo. Mit Karsten.«
   »Karsten ist ihr Freund.«
   Das sagt Henrietta erst auf Deutsch und dann übersetzt sie es. Wieder nickt ihr Mann. Und Vera ertappt sich ebenfalls dabei.
   »Kommen Sie auch aus dem Iran?«
   Aber keiner beachtet sie mehr. Vera rollt hinaus auf den Gang. Ihre dunkle Sonnenbrille auf der Nase verbirgt Narben. Glas splitterte. Sie flog durch die Luft. Die Zeit war nicht stillgestanden. Ihr Leben nicht vorbeigezogen. Kein strahlendes Licht. Nur ein Warten auf den Schmerz. Einschneidend.
   Mit einem kleinen Hebel steuert sie zur Wasserfontäne und eine Frau blickt sich entschuldigend um. Weiße Kittel zischen über Linoleum. Ich kann Ihnen nicht wegen allem Möglichen Tabletten geben. Wo kommen wir denn da hin? Stimmen verebben. Sie hat sich nie ihre Zukunft vorstellen können. Eine Prophezeiung. Und wie mit dem Alter die Menschen um uns herum immer jünger werden. Das kühle Wasser schießt in ihren Mund und kitzelt den Gaumen, spritzt über ihr Gesicht. Tropfen auf dunklem Glas.
   »Sie machen sich ja ganz nass!«

Henrietta entfernt mit einem feuchten Tuch Schokoflecken von ihrer Bettdecke. Der Fernseher ist jetzt still. Mit einem kurzen Blick nimmt sie Vera wahr, die ihre Sonnenbrille nach oben in den Haaransatz schiebt. Eine Krankenschwester stellt zwei Tabletts auf den Tisch vor den beiden Betten. Abendessen. Die abgedeckten Teller sehen aus wie gelandete UFOs. Glänzende Salami, transpirierender Emmentaler. Diät, leicht gemacht. Vera knabbert an der Gewürzgurke.
   »Deine Mutter hat vorhin angerufen.«

Im Krankenhaus spielt Zeit keine Rolle. »Nächste Woche kommen Sie bestimmt raus.« Beschwichtigende Worte. Verletzungen werden verglichen. Geschichten übertrumpft. Krankenschwestern, überarbeitet und abgekämpft. Puderige Gummihandschuhe. Feuchte Waschlappen wischen Träume zur Seite. Draußen ist tiefste Nacht. Nur die Vögel zwitschern, solange die Maschinen noch schlafen. »Ich liebe Dich. Ich liebe Dich. Ich liebe Dich«, steht auf der Karte. Karsten hat sie an die Blumenvase auf dem Nachttisch gelehnt. Die Ecken biegen sich nach innen. Auf der Vorderseite fallen rote Rosenblätter aus dem Himmel. Vera betrachtet die Worte und spricht sie leise nach. Fast eine Beschwörungsformel.
   »Wie hast du geschlafen?«
   Henrietta beugt sich über Vera. Dunkles Haar berührt hellbraune Locken. Sie streicht Strähnen aus Veras Gesicht und lächelt.
   »Nicht weinen ... Schschsch ... Das wird schon wieder.«
   Das Licht wird ausgeschaltet und am Himmel geht es an. Das Frühstück wird abgeräumt. Henrietta unterhält sich mit der Krankenschwester. Sie sprechen die gleiche fremde Sprache. Ein Buch liegt aufgeschlagen vor Vera. Der Chefarzt rauscht in das Zimmer und begutachtet Henriettas Krankenakte. Er fühlt sich wichtig und die Studenten neben ihm umso mehr. Alles lauscht den weisen Worten.
   »Das Fieber scheint völlig zurückgegangen zu sein. Ich denke, dass wir Sie heute Abend entlassen werden.«
   Eine Krankenschwester öffnet demonstrativ das Fenster. Der Arzt wendet sich Vera zu.
   »Und wie geht es Ihnen?«
   »Die Augen tun mir etwas weh.«
   »Sie müssen lernen, mit Schmerzen zu leben.«
   Mit seinen Fingern betastet er Veras Augenpartie. Die Studenten bilden eine Traube und sezieren mit ihren Blicken. Vera soll ihre Beine zeigen. Es sind nicht mehr die ihrigen. Manchmal glaubt sie, etwas in den Zehen zu fühlen. Ein Kribbeln. Mit einer Nadel fährt er über die Fußsohlen. Nichts.
   »Morgen beginnen wir mit den Wassermassagen. Schwester, vermerken Sie das bitte.«
   Die Bettdecke versteckt wieder diese Beine, die nicht mehr Beine sein wollen. Einer der Studenten öffnet für den Arzt die Tür.
   »Du hast es gut. Bald darfst du gehen.«
   »Glaube mir, du hast es besser, Vera.«
Henriettas Schleier sinkt langsam.
   »Eines Tages wirst du wieder laufen können. Ich bin ständig wie in einem Rollstuhl. Ohne meinen Mann darf ich die Wohnung so gut wie nie verlassen. Ich würde weiß was darum geben, um noch etwas hier bleiben zu können.«
   »Wenn du willst, tauschen wir.«
   »Und du wirst mein Leben leben? Versteckt hinter einem Schleier. Unbeachtet.«
   »So ab und zu fände ich das ganz angenehm, nicht von anderen Männern angestarrt zu werden.«
   »Ihr deutschen Frauen habt keine Ahnung, wovon ihr redet. Mit dem Schleier wirst du zum Besitz, zu Eigentum. Ich möchte mein Gesicht zeigen können.«
   »Kannst du nicht mit deinem Mann darüber reden?«
   Henrietta schüttelt den Kopf, winkt mit der Hand ab. Sie geht zum Spiegel, betrachtet ihre Haut, die Augen, fährt mit dem Zeigefinger über ihren Mund.
   »Zeigst du mir, wie man sich schminkt?«

Vera löst Kreuzworträtsel. Der Telefonhörer klemmt zwischen Schulter und Kinn.
   »Ja, Henrietta hat es mir ausgerichtet. Papa soll das mit der Versicherung regeln. Du, das Essen kommt. Halt, warte. Kennst du ein österreichisches Wort für 'faulenzen'? Mit elf Buchstaben.«
   Vera legt auf. Sie kaut auf dem Kugelschreiber.
   »Warum lügst du deine Mutter an?«
Eine halbe Stunde später poltert der Essenswagen im Gang. Ein Pfleger bringt das Mittagessen herein.
   »Sie kennen nicht zufällig ein österreichisches Wort für 'faulenzen'?«
   »Worte wie 'faulenzen' habe ich aus meinem Vokabular längst gestrichen.«
   »Was gibt's denn heute?«
   »Fisch und Salzkartoffeln.«
   Vera weiß bereits, wie das schmecken wird und verkriecht sich in ihr Bett. Der Pfleger schiebt den Rollstuhl heran.
   »Ich brauche keine Hilfe!«
   »Wie Sie meinen. So, guten Appetit, meine Damen.«
   Er schließt die Tür. Vera zieht sich widerwillig auf den Rollstuhl. Sie schnauft.
   »Guten Appetit ... Was geht es den an, was für einen Appetit ich habe!«
   Henrietta schweigt. Heißer Dampf steigt auf, als sie die Kartoffeln aufschneidet. Der Fisch schwimmt in Mehlsoße. Vera lässt das Essen links liegen und öffnet den Joghurt. Sie beobachtet Henrietta, die bedächtig die Gräten heraus sucht und an den Tellerrand legt.
   »Ich frage mich, wer hier mehr lügt!«
   »Was meinst du damit?«
   Vera löffelt den Joghurt mit Erdbeergeschmack aus und stößt sich vom Tisch ab, rollt zum Bett.
   »Wer wird heute Nachmittag pünktlich um fünf Uhr sein Gesicht sauber abgewischt haben?«