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Stephan Valentin
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Pfefferkorn

WO HAT SICH JESUS SEINE NÄGEL GEKAUFT?

 

Jonas W.

Für July und Andrew

Die Mutter (9h 34)

Sie sitzt da und schaut mich an. Sieht mir beim Essen zu. Cornflakes und kalte Milch. Der blöde Hahn glotzt mich auch an. In der Packung war nicht mal eine Überraschung. Das Radio leiert vor sich hin. Orangenes Zeug weicht auf. Mit der Zunge zerdrücke ich es am Gaumen und ziehe alle Feuchtigkeit heraus.

»Spiel nicht mit dem Essen!«

Niemand sonst sitzt am Tisch. Die Großmutter, die mich nicht kennen will, harrt auf mein Verschwinden. Auf ihrem Zimmer im ersten Stock. Zwei Türen von meinem entfernt. Dazwischen Mutters. Meins war mal ihres gewesen. Wie toll! Krieg mich kaum ein. Heute Morgen hab ich zuerst mal einen Popel an die Schublade des Nachtschränkchens geschmiert. Reviermarkierung. Es war einer dieser langen mit Kometenschweif. Eigentlich wollte ich ihn auf meinem Arm trocknen lassen, aber die Lade war zu verlockend. Jetzt hängt er am Knauf. Danach hab ich das Zimmer inspiziert. Im Schrank war natürlich nichts, weil ich den Koffer noch nicht ausgepackt habe. Ein Kleiderbügel aus Holz baumelt da an einer Messingstange. Die Schranktür quietscht leise. Daneben ein Bücherregal ohne Bücher. Das Bett steht gegenüber, und wenn ich mich hinlege, kann ich den Himmel durch das Fenster sehen. Und ein paar grüne Äste mit Winzbirnen, die letzte Nacht emsig die Fensterläden entlanggestreift haben. Wie Geisterfinger mit Krallen. Die Kratzspuren auf meinen Händen sind noch immer zu sehen. Werd schon irgendwas erfinden. Das Fenster hat keine Gardinen. Wir haben auch keinen gegenüber. Nur so ’ne dappige Wiese. Und da hinten Berge wie meine Toblerone im Koffer. Nicht mal eine Straße, wo ich mit meinem Schießgewehr auf Leute zielen könnte. Überlege ich es mir so richtig, dann sind da überhaupt keine Häuser um uns herum. Das Kackdorf ist zehn Minuten zu Fuß weg. Das hat die Mutter gesagt. Laufen tu ich nicht dahin. Hab dort eh nichts verloren und die anderen Dorfkinder können mir die nächsten vier Wochen den Buckel runterrutschen. Mein Koffer liegt auf dem schrägen Schreibtisch. Meine Jacke hängt über der Rücklehne des Stuhls davor. Das war’s auch. Kein Bild. Kein Foto. Weiße Wände. Fast wie im Krankenhaus. Mutter meint, die Landluft würde mir guttun. Ich weiß besser, warum wir hier sind. Wegen dem dicken Bauch. Und wegen dem Mann, der ihr gestern Abend eine reingeschlagen hat. Ich habe Kratzspuren auf der Hand und Mutter einen blauen Flatscher übers Gesicht. Aber geweint hat sie nicht. Mutter ist so stark wie ich. Den Mann kenne ich nicht richtig. Seine Stimme schon. Der kam immer sehr spät zu uns. Immer wenn mein Zimmer von außen abgeschlossen wurde und Mutter am Morgen lächelte, wenn sie das Bett machte. Mich lächelt sie auch an. Und zwar jeden Morgen. Nur heute sieht sie k.o. aus. Ich bin aber auch müde von der langen Fahrt. Mutter hat gesagt, sie würde in meiner Schule anrufen und mich entschuldigen. Sind ja nur noch zehn Tage bis zu den Sommerferien. Wenn ich mich zum Fenster hinauslehne, kann ich einige Birnen erreichen. Die sind hart. Ein Wasserrohr hat gerauscht. Jemand war auf der Toilette. Sowas Komisches habe ich noch nie gesehen. Das Klo ist ganz am Ende eines langen Ganges. Also ich brauch bestimmt fünf Riesensprünge mit Anlauf, um bis zur Schüssel zu kommen. Und der Gang ist ganz eng. Nur eine Person kann durch. Ein Fenster gibt es auch nicht. Ob das die Großmutter war, die da gepinkelt hat? Ich frage mich, warum die mich nicht sehen will. Hab ihr doch nichts getan. Zumindest noch nicht. Dann kam die Mutter rein und hat mich zum Frühstück gerufen. Sie hat schon gegessen. Nur mein Teller stand auf dem Tisch. Sonst ist ja niemand im Haus. Kein Mann. Kein Vater. Kein Großvater, der mich an der Hand zum Teich geführt hätte, um mit mir selbst gebastelte Segelboote fahren zu lassen. Nur Weiber. Mutter geht in die Küche. Es plätschert. Abwasch. Eine Ameisenstraße windet sich von der Terrasse durch die offene Tür, über den verschlissenen, kackbraunen Teppich, plötzlich fast wie untergegangen und dann wieder am Tischbein aufgetaucht, zum Ziel. Dem Honigtopf. Ich schaue dem krabbelnden Geziefer zu. Tue nichts. Und dann, wenn sie sich langsam mit mehr und mehr Honig verkleben und verkleistern, dann schlage ich zu. Zerdrücke ihre gepanzerten Hohlköpfe, in denen kein Gehirn steckt, und sehe, wie die grausame Todesnachricht von einem Ende der Straße zum anderen getragen wird.

»Bist du endlich fertig? Hör auf, die Tiere zu quälen!«

Mein Löffel fällt in den tiefen Teller. Zucker ist zu einer Sandbank zerlaufen. Ich kipple mit dem Stuhl, mein Fuß als Sicherung, gegen das Tischbein. Oben, über mir, poltert es. Mutter sagt, dass die Großmutter auf Krücken geht. Die hätte sich den Hals am Bein gebrochen. Das glaub ich natürlich nicht. Ein Bein hat doch keinen Hals.

»Mama, kann ich ein Rührei haben?«

Mutter blickt fröhlich.

»Siehst du, ich habe es dir gesagt. Die gesunde Luft wird dir guttun.«

Ich hab zwar keinen Hunger mehr, aber schließlich muss ich Mutter etwas aufheitern und ihre Rühreier sind wirklich die besten auf der ganzen Welt. Die Ameisen sind jetzt weg. Kein Honigtopf. Keine Viecher. Hmmm, ich rieche die Eier. Das Angetrocknete in der Pfanne mag ich am liebsten. Ich kratze es mit der Gabel raus.

»Wieso sind die denn so komisch gelb?«

»Das sind Eier aus Omas Hühnerstall.«

»Ja, und?«

»Omas Hühner laufen frei herum. Nicht wie die Supermarkthühner, die eingezwängt in Käfigen leben müssen, weißt du. Die hier bekommen richtiges Gras und frische Körner zu fressen. Und manchmal im Mai auch Maikäfer.«

»Und deswegen sind die gelber?«

Nie wieder will ich Supermarkteier essen. Auch wenn mich das tiefe Gelb etwas anekelt. Das Brot schmeckt auch anders. Oben poltert es schon wieder. Ei klebt an meinem

Pyjamajackenkragen. Mutter kommt und leckt es weg. Und dann tut sie so, als ob sie in meinen Hals beißen will. Ich lache laut, mich schüttelt es leicht, Schauer über den Rücken. Sie nimmt mich in die Arme. Ich kuschele mich.

»Vorsicht! Mein Bauch!«

Ja, ich bin ganz vorsichtig. Zart streiche ich ihr über die Schwellungen im Gesicht.

»Tut es sehr weh?«

Mutter nickt, aber sie sagt Nein. Wir schauen uns in die Augen. Ich spiegel mich in ihren Pupillen wider. Bin in meiner Mutter. Tief drinnen. Fühle mich erwachsen.

»Mach dir keine Sorgen, Mama, der kommt nicht wieder.«

Heute will ich auch brav sein und räume den Tisch ab. Rosafeuchte Nasenlöcher blasen mich an. Ganz schwarzes Fell.

»Wer bist denn du?«

Eine dicke Zunge streckt sich mir entgegen. Unsicher starre ich auf den Kuhkopf, der ins Küchenfenster hängt. Kühe habe ich schon oft gesehen, im Fernsehen. Aber die hier ist viel riesiger und stinken tut sie auch. Mutter scheucht sie weg.

»Geh nach oben und mach dich fertig. Ich muss unbedingt zur Bank.«

Schwer trotte ich die Holztreppe hinauf, an Großmutters Tür vorbei, kurz bleib ich stehen, lausche, höre aber nichts. Und im Schlüsselloch steckt innen ein Schlüssel. Dumm ist die nicht. Bestimmt hat sie gehört, dass ich Halt gemacht habe. Der Fußboden knarzt so. Leicht wie eine Feder müsst man sein. Im Bad steht bereits meine blaue Kinderzahnbürste in einem Wasserglas auf dem Waschbecken. Eigentlich brauche ich mich fast nicht mehr auf die Zehenspitzen zu stellen, um in den Spiegel zu sehen, aber ich kann’s nicht lassen. Mein Haar klebt an. Mutter ist froh, dass ich nicht Vaters rote Haare habe. Blonde Strähnen bringen mich manchmal zum Zwinkern, wenn sie vorne zu lang sind. Ich hätte gern etwas rotes Haar. Vater habe ich nie gekannt. Der reist so viel umher. Der hat uns bestimmt vergessen. Ich mag nicht an ihn denken. Weil er nicht an uns denkt. Mit dem Waschlappen seife ich mir das Gesicht ab, auch hinter den Ohren. Dann halte ich die Luft an und fühle kaltes Wasser auf meiner Haut. In der Badewanne bleibe ich am liebsten unter Wasser. Über mir die Schaumlandschaft. Unten die dumpfe Stille.

 

Als ich ins Zimmer komme, ist mein Koffer bereits ausgepackt. Frische Kleidung liegt auf dem gemachten Bett. Der Popel ist noch da. Meine blauen Shorts und ein weißes T-Shirt, wo »Ibiza« vorne draufsteht. Da war mal ein Onkel von mir. Ibiza ist eine Stadt am Meer. Ich war noch nie am Meer. Mutter hat mir versprochen, dass wir mal dort hinfahren. Ohne Socken schlüpfe ich in die Sandalen. Mutter kommt herein und kämmt mein fast wieder getrocknetes Haar zurück. Ganz nah bin ich an dem lebendigen Ball. Sie geht hinaus. Ich trete fest ans Bett, in die Schranktür, schmeiße den Stuhl um, werfe mich aufs Bett. Geballte Fäuste schlagen in die Bettdecke. Ich schnaufe laut. Kriege schwer Luft. Meine Augen brennen. Niemand hört mich. Mutter ruft nach mir. Ich gehe wieder an Großmutters Tür vorbei. Beinahe hätte ich der ollen undurchsichtigen Glastür einen Tritt versetzt, aber dann erschreckt mich ein Schatten. Schnell renne ich die Treppe hinunter.

»Hast du geweint?«

Wortlos steige ich ins Auto. Mutter hat sich nicht angeschnallt. Ihr schneidet der Gurt so ein. Der Bauch berührt fast das Lenkrad. Ich schnalle mich auch nicht an. Mit angezogenen Beinen denke ich nach.

»Willst du nachher ins Schwimmbad gehen?«

Mutter macht das Radio an, drückt eine Kassette rein. Es ist eine von meinen. Kinderlieder. Von früher. Der Fahrtwind ist zum Glück so laut, dass ich fast nichts höre. Kinderkacke.

Ich darf nicht vergessen, eine Dose Haarspray zu kaufen. Endlich gelangen wir auf die Zementstraße. Keine Sau ist zu sehen. Papierblätter wirbeln hinten auf der Ablage umher. Mutter schaltet in den vierten Gang. Im Rückspiegel kann ich ihre grünen Augen sehen. Schöne Wimpern. Nach oben gewellt. Ihr langes, blondes Haar ist so glatt wie meins. Sommersprossen auf den Schultern. Zwei Träger vom Kleid. Mutter von hinten. Schon wieder Kühe. Schweine mag ich. Die haben so weiche Titten. Einmal sind wir mit der Klasse auf einem Bauernhof gewesen, und da habe ich mit den Titten der Sau gespielt. Die anderen haben sich nicht getraut. Schlappschwänze. Um mich herum sind sie gestanden und haben gegafft. Die ahnungslose Sau lag im Matsch. Auf der Seite. Die Titten waren rund und groß. Gegrunzt hat es, das Schwein. Dann habe ich reingekniffen. Gezogen. Gedrückt. Zwei Stunden musste ich nachsitzen wegen der blöden Sau.

 

Da ist das Dorf. Keine Ahnung, wie es heißt. Will es gar nicht wissen. Ich schaue weg, als wir uns dem Ortsschild nähern. Hoffentlich haben die hier Haarspray. Ohne das bin ich aufgeschmissen. In meiner Hosentasche fühle ich nach dem kalten Zweieurostück. Sieht so aus, als gäbe es hier nur eine Straße. Links und rechts sind die Häuser aufgereiht. Mir wird ganz mulmig. Kein Supermarkt bis jetzt. Nicht mal eine Ampel. Letzte Nacht war alles viel mächtiger. Wir halten vor einem Springbrunnen. Ein kleiner Regenbogen flittert im Strahl, der aus einem Fischmaul hochzischt. Einige Jungs hocken auf dem Rand. Starren mich an. Starre ich halt zurück. Durchs runtergekurbelte Fenster. Ich will ihnen die Zunge rausstrecken. Aber irgendwo bimmelt eine Glocke, und sie müssen weg. Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. Mutter geht in die Bank und fällt fast über einen Mann, der neben dem Eingang liegt und ratzt. Der trägt einen schäbigen Mantel und die Mutter trägt jetzt eine dunkle Sonnenbrille. Weg ist die Mutter. Der Mann stinkt bis zu mir her. Neben ihm steht eine ausgebeulte Plastiktasche. Ich drücke auf Stopp. Kaum auszuhalten dieses Gejaule. Die Bank ist eigentlich gar keine Bank, sondern ein Haus, wie ein Haus eben. Keine Fensterscheibe und keine lustige Drehtür, in der man sich bis zum Umfallen drehen, Daumen einquetschen kann. Da leuchtet ein rotes Schild »Sparkasse«. Ich frage mich, warum das nicht »Ausgebekasse« heißt. Wir heben nämlich immer nur ab. Mutter meint, dass wir uns demnächst etwas zurückhalten müssten, wegen dem Neuen. Mir ist es schnuppe, ob es ein Junge oder ein Mädchen wird. Da ist kein Unterschied. Das weiß ich, seit ich in der ersten Klasse bei einem dieser Mädchen unter den Rock geschaut und denselben Zipfel wie meinen entdeckt hab. Mädchen ziehen sich also anders an, aber sonst ist da nichts Besonderes. Jetzt ist es halb elf. Normalerweise müsste ich zu dieser Zeit in der Lindenschule hocken und der Monika zuhören. Wir dürfen Frau Kellner beim Vornamen nennen. Monika mag mich nicht, weil Mutter hübscher ist als sie. Indianerschminke überall. Puff. Da liegste am Boden. In deiner Scheiße, Moni. Etwas sabbert aus deiner Speckschwarte am Bauch. Der Pfeil steckt tief drin. Ich breche ihn nicht ab. Ziehe ihn heraus, und grünes Gift spritzt mir entgegen. Hexenblut. Eine Lache am Klassenzimmerboden. Endlich hält sie ihr mieses Maul.

»Jonas, an was denkst du? Du schaust so komisch.«

»Nix, Mama. Vergiss nicht, die Moni anzurufen, sonst krieg ich wieder eins drauf.«

Mutter steckt Geldscheine in die Handtasche. Mein Zweieurostück ist warm.

»Ja, du hast recht. Das mache ich gleich, wenn wir Zuhause ankommen.«

Zuhause ist gut. Tränen laufen mir die Wange entlang. Diesmal vom Fahrtwind. Wir sind wieder auf der Landstraße. Mutter will, Lob und Trumpf, Einkaufen gehen. Wir halten vor einem Supermarkt. Kein Wagen steht auf dem Parkplatz. Fast wie in einer Gespensterstadt. Fehlen nur noch diese fliegenden Büsche, die über die Straßen fegen. Ein Fahrrad steht angekettet an einem Pfahl. Gegenüber von uns gab es einmal einen kleinen Dschungel. Lianen hingen von den efeubewachsenen Bäumen herab. Ein kleiner Tümpel in der Mitte. Die Sonne selbst konnte nicht hinein. Zu dicht alles. Und ich ging mutig wie Ritter Pfefferkorn auf Weinbergschneckensuche. Ein Euro das Dutzend beim Italiener an der großen Kreuzung. Mutter wollte auch welche. Ins kochende, blubbernde Wasser habe ich sie geschmissen. Allesamt. Schleimige Gischt. Geschrien haben sie nur in meinen Gedanken. Die Kacke hat es ihnen rausgepresst, so Schiss müssen sie gehabt haben. Ihre dummen Fühler ganz welk. Tanzende Schneckenhäuser. Klirr. Klirr. Spannender als Kino. Ich stand auf dem Hocker, mein Gesicht vom Dampf beschlagen, mit einem Kochlöffel bewaffnet. Und dann haben wir den Leib abgeschnitten. Vielleicht haben wir das auch vorher gemacht. Harte Schnitte. Mit dem Schnitzer. Kein Blut. Wie seltsam. Aus der Spaß. Ich bin dann wieder vor den Fernseher gegangen. Irgendwann sind die Bagger gekommen und haben dem Dschungel den Garaus gemacht. Aldi öffnete mit Sonderangeboten. Niemand hatte mich gefragt. Mutter greift nach der Klinke.

»Mama, der Schattenmann war wieder da.«

Sie dreht sich um, meine Mutter.