Das Spiegelbild von Geistern

Es stand außer Frage: Das tote Wesen im Rinnstein war einer seiner Klone.

Es lag nackt da, zusammengekrümmt wie ein Fötus oder eine vertrocknete Spinne, und Regentropfen prasselten auf den weißen, skelettartigen Körper. Das Gesicht war zum Himmel gewandt, die Lippen entblößten aufeinander gepresste schwarze Zähne. Das Fleisch war verknöchert, hart wie Stein, und wies an den Gelenken, an Hals und an Kiefer unzählige Öffnungen und dunkle Risse auf. Die schwarzen Augen wirkten wie Löcher, die von Stacheln gebohrt worden waren.

Drew hielt es für schön, wie es so dalag, gleich einer Gipsfigur aus Pompeji. Er sah sich um, während er an seinem abgedeckten Kaffeebecher nippte. Auf der anderen Straßenseite stand die chrislamische Kathedrale, ein bedrohlich aufragendes Metallgebäude mit zackigen schwarzen Türmchen und Bleiglasfenstern, tiefrot in Netzen aus schwarzem Stahl. Auf dieser Seite befand sich eine Reihe von Lagerhallen, etwa die Hälfte davon leer und verriegelt; einige wenige waren in Unterkünfte für die billigen Arbeitskräfte umgewandelt worden, die in den noch geöffneten Lagerhallen arbeiteten. Es war eine hübsche Umgebung für den Leichnam; eine ruhige Straße, eine einsame Straße. Eine so einsame Straße, wie man sie sich zum Sterben nur wünschen konnte.

Er fühlte sich versucht, das Geschöpf nur ein paar Meter zu verschieben, damit es unmittelbar der Kathedrale gegenüberlag. Dann sah es sicherlich noch mehr wie eine verlorene Seele aus, der man die Erlösung versagt hatte. Aber nein, das Wesen hatte sich hier zu sterben entschieden, nicht dort, und obwohl Drew der Künstler war, respektierte er diese Wahl.

Er legte den Rest des Heimwegs schnell zurück. Der Aufzug zu seinem Loft funktionierte heute wieder nicht; er quietschte bloß so laut, dass es wehtat, und ruckelte, bis er wieder automatisch abschaltete. Die Metalltreppe, die er nun hinaufging, klapperte unter seinen schweren Stiefeln; manche der Treppen, die er bestieg, befanden sich innerhalb der alten Lagerhalle, manche außerhalb. Dreckiges Regenwasser lief zwischen schmutzigen weißen Keramikkacheln an der Außenhaut des Gebäudes herab, an welcher die äußeren Treppen befestigt waren wie die Gerippe gewaltiger Parasiten. Er hörte hinter einem der Fenster, an denen er vorbeiging, eine Frau schreien. Ihm war gar nicht aufgefallen, dass jemand in den zerstörten dritten Stock eingezogen war. Vielleicht war es ja ein Gespenst. Er hatte mal geglaubt, es gebe auf dem Dach einer alten, geschlossenen Fabrik in dieser Straße Geister – des Nachts bewegten sie sich oft im Regen, ein sanftes blaues Glühen –, bis ihm schließlich klar wurde, dass es der Holotank von irgendjemandem war, der in stürmischen Nächten Streusignale aussandte. Das erklärte die häufigen Schusswechsel. Spielfilme. Drew hatte geglaubt, die Gespenster würden ihren Tod immer wieder neu durchleben.

Sein Loft nahm das gesamte obere Geschoss ein. Der schmale Balkon zog sich am gesamten Gebäude entlang, und in warmen Nächten saß er oft draußen und lauschte der Musik und blickte hinaus auf die Stadtlichter dieser irdischen Kolonie namens Paxton – oder, wie man sie häufiger, aber nicht unbedingt mit größerer Zuneigung nannte: Punktown. Manchmal machte er da draußen Skizzen. Obwohl er mit eher dreidimensionalen Medien arbeitete, war er der unerschütterlichen Überzeugung, dass jeder Künstler das Zeichnen beherrschen sollte, so wie ja auch jeder Chirurg noch wissen musste, wie man eine Wunde näht.

Die Balkonmöbel hatte er für den Winter an die Wand gestellt, und der Regen lief ihm über den Rücken, als er sich damit abmühte, die Tür zu öffnen. Die beleuchteten Türknöpfe flackerten, und er wollte schon seinen Schlüssel hervorkramen, als die große Metalltür endlich zu drei Vierteln knirschend aufging, bevor sie stecken blieb. Er schlüpfte hinein, schaltete das Oberlicht mit den kränklich grünen Birnen an und schlug auf den inneren Türknopf. Die Tür glitt mit einem metallischen Klagelaut zu.

Das Oberlicht flackerte nun ebenfalls. Vielleicht machte der Sturm seinem illegalen Stromabnehmer zu schaffen. Nun, das war der Preis, den er bezahlen musste.

Er zog seinen Mantel nicht aus. Schwer vom Regen, schwang er noch immer um seine Beine, als er geradewegs zu einer Reihe von Metallregalen ging, auf denen große Krüge mit Flüssigkeiten und Pulvern standen, mit beschriftetem Klebeband versehen. Er nahm einen Krug ohne Schild, schraubte den Deckel ab, schnupperte am Inhalt und schreckte vor den Dünsten zurück. Genau das, was er gesucht hatte. Er steckte den Finger in den Griff des Kruges wie in einen Abzug, stapfte wieder in Richtung Tür und kehrte zurück in den strömenden Regen.

Der Niederschlag wurde immer stärker, doch er bezweifelte, dass das Wasser dem Dichtungsmittel etwas anhaben würde. Es war schließlich wasserdicht.

Der Klon lag noch da. Kein Wesen hatte ihn fortgebracht, kein Tier war gekommen, sich davon zu nähren. Er roch nicht. Wie lange war er wohl schon tot? Versiegelte die versteinerte Haut den Zerfall im Innern? Das Plastikdichtungsmittel würde das noch viel besser erledigen.

Er goss die klare, sirupdicke Flüssigkeit direkt über den Leichnam, ohne auf die paar Fahrzeuge zu achten, die vorüberschwebten oder platschend über die nasse Straße fuhren. Er gab Acht darauf, nicht mit den Füßen in die Nähe des Zeugs zu gelangen, während es um die Gestalt herum eine Lache bildete. Er wollte das Dichtungsmittel so dick auftragen, dass der Klon auf der Straße festklebte und unmöglich entfernt werden könnte. Man würde ihn schon freimeißeln müssen.

Nur wenig Dichtungsmittel war übrig geblieben, also goss er auch noch den Rest darüber und warf den Krug dann in eine Gasse zwischen den Lagerhallen. Er nickte lächelnd über die Figur, die wie lackiert glänzte. Er dachte darüber nach, dass es interessant wäre, seine Signatur auf den Gehweg daneben zu setzen – er hatte seine Unterschrift schließlich auf ein paar seiner Klone tätowiert und gebrannt, bevor er sie losgeschickt hatte –, befürchtete aber, jemand könnte das hier für einen gewöhnlichen Mutanten halten, den er ermordet habe.

Natürlich gab es immer genug Klone, an denen er gerade in seinem Atelier arbeitete, um die tatsächliche Lage zu beweisen.

Er war mittlerweile nass bis auf die Knochen, wollte unbedingt heim und ein heißes Bad nehmen, eine frische Kanne Kaffee kochen. Er ließ seinen toten Sprössling zurück, zufrieden über die Art seines Dahinscheidens und dass er selbst im Tode als Kunstwerk weiterexistieren würde.

Er besaß einen großen Kaffeetank, der früher einem örtlichen Kunstkino gehört hatte, den er immer voll ließ; der Geruch wirkte behaglich und das Aquariumsprudeln beruhigend. Dieses Gebräu hier war etwas alt, mehrere Tage, also schüttete er es aus, um neuen Kaffee aufzusetzen. Er hatte bereits gebadet, eine saubere Trainingshose, ein schwarzes T-Shirt und Kung-Fu-Schuhe angezogen. Inspiriert durch die Entdeckung, die er am frühen Abend gemacht hatte, wollte er sich schnell wieder an die Arbeit machen. Ein bezahlter Auftrag harrte der Fertigstellung.

War es der hier, der in seinem Chemikalienbad schwappte? Auch das erzeugte ein nettes Sprudeln, aber der chemische Gestank war unangenehm, darum ließ er für gewöhnlich die Zwischenwand so wie jetzt zugezogen und die Entlüftungsanlage angeschaltet. Wie Föten mit schweren Träumen warfen sich die Klone oft in ihren amniotischen Bädern hin und her.

Dieser hier war wie üblich für einen wohlhabenden Kunden bestimmt. Es dauerte zwei Wochen, manchmal länger, einen Klon zu erschaffen, aber ein verkauftes Exemplar brachte die Monatsmiete ein und versorgte Drew mit Lebensmitteln und Materialien zum Arbeiten.

Anfangs war er naiv gewesen, was seine Verkäufe betraf. Er hatte geglaubt, die von ihm verkauften Klone würden vielleicht wie exotische Tiere in zellengleichen Terrarien ausgestellt werden oder sich auf Partys frei zwischen den Gästen bewegen, damit man sie von nahem betrachten konnte. Nun ja, beides traf zu. Aber ein Freund, Sol, sein Verbindungsmann zu den Reichen, war einmal auf einer Party gewesen, auf der einer von Drews Klonen zum Geburtstag verschenkt worden war. Man hatte das Wesen die ganze Nacht an eine Säule aus falschem Marmor gekettet. Gegen Ende der Nacht hatte man es hinaus auf einen von Flutlichtern bestrahlten Hof gebracht und gezwungen, einen ungeheuer teuren Ring zu verschlucken. Dann hatte man dem jungen Mann, dessen Geburtstag gefeiert wurde, ein Messer gegeben, damit er sich den Ring, sein zweites Geburtstagsgeschenk, zurückholen konnte. Seine jungen Freunde hatten geheult und gejohlt, ihn angefeuert, als er anfing, zu schneiden und graben und das kriechende Ding zu jagen. Sol hatte Drew erzählt, der junge Mann sei enttäuscht gewesen, als der sterbende Klon den Ring schließlich ausgekotzt hatte. Aber der junge Mann hatte ihn trotzdem ausgeweidet, seine hysterischen Freunde mit den Eingeweiden beworfen und seine Freundin mit dem Kopf des Dings um den Pool gejagt, bis er diesen Kopf schließlich unter Beifallsstürmen in das Becken warf.

Drew hatte anfangs nicht gewusst, was er von all dem halten sollte. Zum einen war es offenkundig eine Zerstörung seines Kunstwerks, wie eine in Fetzen geschnittene Leinwand.

Aber zudem waren die Klone doch eine Erweiterung seiner selbst, nicht wahr?

Das Wichtigste, was mit jedem Klon zu tun war, egal, welche Gestalt er später haben würde, war die Auslöschung der Ähnlichkeit mit ihm. Das gelang ihm durch vielerlei Mittel: chemische Infusionen, Färbung, Brandwunden, Tätowierungen, Vernarbungen, Entfernen von Gliedmaßen, Hinzufügen von Gliedmaßen, Chirurgie, Herumbasteln an den Molekülen, genetische Manipulation. Er wollte die Kreaturen nicht zu Selbstporträts werden lassen. Sie durften nicht wie er aussehen, sonst wären es lediglich Werke der Natur und Wissenschaft, nicht aber die eines Künstlers. Er benutzte seine eigene Materie nur als eine Art Lehm, weil sie ihm zur Verfügung stand. Und sollte es je rechtliche Probleme geben – er hatte sein Kunststipendium verloren, als er mit den Klonen angefangen hatte –, konnte er sich damit verteidigen, dass er allein an seinem eigenen Körper herumpfuschte, und mit dem konnte er schließlich tun, was er wollte. Die ethische Dimension des Klonens und die Rechte geklonter Lebensformen waren zu dieser Zeit höchst unklare Themen, sodass er sich bei seinen Tätigkeiten ziemlich sicher fühlte. So lange er nur sich selbst klonte.

Ebenso wichtig wie die Auslöschung körperlicher Ähnlichkeit war die Auslöschung des Geistes, damit auch dieser keinerlei Analogie zu seinem eigenen aufwies. Auch das erreichte er mit verschiedenen Mitteln, manche davon krude und brutal, andere raffinierter; alle aber verwandelten einen Klon in einen bestenfalls umherschlurfenden Subidioten, der nicht einmal fähig war, bei einer dieser Oberschicht-Partys auf einem Tablett Schnittchen zu servieren. Das war ebenfalls eine legale Absicherung – auf diese Weise erschuf er etwas, das so wenig einem Menschen entsprach wie ein Seestern –, doch außerdem wollte er seinen Geist nicht in etwas so Elendem reproduziert haben. Etwas, das Entsetzen über den eigenen Zustand empfinden mochte.

Schließlich gewöhnte er sich an die eher sadistischen Verwendungsweisen seiner Nachkommen. Die erstickten Klone, die gefolterten Klone, die gejagten Klone, die von ganzen Gruppen vergewaltigten Klone. Zielscheiben für Pfeile, wie Sol gehört hatte – Gartenspiele im Sommer. Sie waren ja nicht er. Sie waren gewiss überhaupt niemand. Er musste nicht mehr um sie trauern als um die Hautzellen, die er andauernd verlor, oder die Fingernägel, die er abschnitt. Und wenn seine Kunst zerstört wurde, nun, sie befand sich jetzt im Besitz von anderen, die damit tun konnten, was ihnen beliebte. Das Geld, das sie dafür bezahlten, um einen Teil von ihm zu besitzen und manchmal zu töten, hielt den Hauptteil von ihm am Leben.

Und mit diesem Geld konnte er die Klone erschaffen, die ihm am wichtigsten waren; diejenigen, die er nach Vollendung in die Welt hinausschickte, um durch die Straßen von Paxton/Punktown zu wandern, wohin ihr leerer Geist sie auch ziehen mochte. Manche nackt, manche für den Winter gekleidet, manche auf ihre Art schön und manche scheußlich, so wie die vier, die er zu seinem eigenen Vergnügen letztes Halloween losgeschickt hatte.

Doch trotz all der Klone, die er in den vergangenen drei Jahren gefertigt hatte, war ihm vor heute Abend noch nie einer ihrer Leichname vor Augen gekommen. Oh, er hatte von dem Schicksal einiger weniger gehört. Von einer Bande ermordet, von einem Hovercar überfahren. Er malte sich aus, dass die meisten verhungert oder erfroren waren. Er hatte gehört, dass mehrere in Obdachlosenheime gebracht worden waren. Es faszinierte ihn, darüber nachzudenken, in welchem Teil der riesigen Stadt seine Geschöpfe verschwunden waren.

Einmal hatte er voller Aufregung einen von ihnen ein Jahr später lebendig gesehen, wie er in einem kleinen Hofpark einen Vogel aß. Das Ding hatte zu ihm aufgeblickt, ohne ihn zu erkennen; sein Fleisch war für immer in kräftigem Rot gefärbt, und eingebrannte Spiralen auf der Stirn und beiden Seiten der nackten Brust ließen es wie einen hübschen Dämon aussehen. Auch wenn die Menschen sich nicht nahe genug heranwagten, um die eingebrannte Signatur sehen zu können, auch wenn sie niemals Drews Namen erfahren würden, auch wenn sie das Ding für einen bemalten Irren, Mutanten, Außerirdischen oder wirklichen Dämon hielten, so würden sie es doch bestaunen, und obwohl Drew ihr Staunen nie sah, war er doch zufrieden mit dem Wissen, dass sie es taten. Ob die Menschen es nun voller Bewunderung oder voller Entsetzen anblickten, er wusste, dass sie hinsahen, und indem sie seine Geschöpfe ansahen, sahen sie ihn an, ihren Schöpfer.

Auch wenn er sie fortschickte, stand er mit den Wesen immer in Verbindung; auch wenn er sie verstieß, so gehörten sie doch alle ihm.

Mit dem Kaffee in der Hand ging er an der Zwischenwand vorbei, um seine unfertigen Werke zu überprüfen.

In Aquarien auf einer Werkbank und an den Wänden schwebten unklare organische Formen in sprudelnden Lösungen aus violetter Flüssigkeit. Manche waren Embryos, und in einem Aquarium hatte er allein eine Kopie seines Kopfes gezüchtet, wie eine lebendige Büste; er hatte vor, sie genau so einer örtlichen Galerie zur Ausstellung anzubieten, im gebärmuttergleichen Container mit einem Lebenserhaltungssystem verbunden.

Er kniete hin, sagte: »Hallo, Robespierre.« Er tippte gegen das Glas und sah die Augenlider flattern, als habe er ihn aus einem Traum geweckt. Er hatte das Wachstum des Haares, der Augenbrauen und Wimpern unterdrückt, um die Ähnlichkeit auf ein Minimum zu reduzieren, aber um des Effektes willen hatte er das Ding so menschenähnlich wie möglich gelassen.

Weiteres Schwappen; er blickte auf und sah violette Flüssigkeit über den Rand der Hauptwanne und an der Seite herunterlaufen. Er seufzte, erhob sich und nahm einen Wischmopp, bevor er hinüber zu der Wanne ging, die er ›Becken des Narziss‹ getauft hatte.

Drew konnte nicht anders, er musste es angrinsen. Sie angrinsen.

Bei dem körperlosen Kopf hatte er den Haarwuchs unterdrückt, hier aber gefördert; langes dunkles Haar bewegte sich langsam um das Gesicht des Klons wie eine Seepflanze. Er hatte ihr Gesicht nicht verzerrt oder verschandelt, sondern stattdessen durch geschickte genetische Arbeit einen großartigen Wandel vollzogen. Es war keine chirurgische Geschlechtsumwandlung, sondern etwas Subtileres und Echteres. Dies hier war in jeglicher Hinsicht eine weibliche Ausgabe seiner selbst. Selbst die Natur in ihrer Allmacht konnte so etwas nicht erreichen: ein eineiiger Zwilling des anderen Geschlechts.

Er krempelte den Ärmel hoch, steckte die Hand in die blubbernde violette Flüssigkeit. Nahm eine der eher kleinen Brüste in die Hand und knetete sie, als forme er sie aus Lehm. Er strich mit dem Daumen über die Brustwarze und wollte eine Reaktion auslösen. Es dauerte mehrere Minuten, doch endlich wurde die Brustwarze hart. Etwas Ähnliches geschah mit Drew. Er grinste noch breiter und sah zu, wie ihre Augen sich unter den dünnen Lidern im Traum bewegten. Bald würde er diese Schönheit aus ihrem Dornröschenschlaf erwecken. Er hatte eine unglaublich bezaubernde Frau geschaffen, fand er.

Er ließ den Blick ihren Körper entlang bis zu der Ausbuchtung ihrer Hüften streifen, dann zu dem schattenhaften Flecken Haar. Wieder hoch zu den Brüsten, die er in bescheidener Größe gehalten hatte, entgegen der Versuchung, sie praller zu machen. Er wollte sie nicht zur Karikatur werden lassen.

Ja, sie war wundervoll. Eine Schande, dass er ihren Geist bereits ruiniert hatte. Welche Art Frau er wohl gewesen wäre, fragte er sich?

Er musste jedoch zugeben, dass er ihren Verstand nicht in dem Maße ausgelöscht hatte, wie er es bei seinen Schöpfungen sonst zu tun pflegte.

In dem Teil des Lofts, den Drew als Wohnzimmer hergerichtet hatte, hing an der Wand über dem Sofa ein Klon, den er zur dauerhaften persönlichen Ausstellung behalten hatte. Das Wesen hatte einen sehr menschenähnlichen Kopf, aber er hatte die Bildung von Augen unterdrückt, da er nicht ständig beim Arbeiten oder beim Dösen auf der Couch angestarrt werden wollte. Das Ding konnte jedoch grunzen oder keuchen, was es manchmal auch tat. Es war an einem Lebenserhaltungssystem aufgehängt, das hinter dem Sofa verborgen war. Auf einem Beistelltisch stand eine Tastatur; wenn einer seiner wenigen Freunde vorbeikam, konnte Drew ihn damit amüsieren oder ärgern, dass er durch einen Tastendruck in den Gliedern oder dem Gesicht des gekreuzigten Wesens eine Bewegung auslöste – lediglich elektrisch erzeugte Muskelkrämpfe oder Zuckungen.

Der Brustkorb des Wesens war geöffnet wie ein sezierter Froschbauch, zwei große Lappen waren wie eine ausgebreitete Kuhhaut an die Wand genagelt. Durch eine durchsichtige Membran waren die Rippen und das Nest fetter, bläulicher Eingeweide sichtbar.

Als Sol das Ding zum ersten Mal gesehen hatte, hatte er gesagt: »Drew-Man, ich glaube, du musst dich selbst wirklich hassen, um deinen eigenen Körper derart zu erniedrigen. Das ist masochistisch. Du erschaffst dich selbst, damit du dich selbst zerstören kannst. Das ist eine Art von Selbstmord, oder?«

Drew hatte gelacht. »Es ist Kunst, das ist alles. Ich habe mich einfach nur entschieden, mit Fleisch künstlerisch zu arbeiten. Das haben die Menschen schon immer getan. Tätowierungen und Brandwunden, Narben und Piercings, Beschneidungen bei Männern und Frauen. Das Fleisch als Leinwand. Es tut einfach nur weniger weh, wenn ich es bei einem Klon von mir mache.«

»Ja, verstehe, das ist es also – eine sichere Art, dich selbst zu bestrafen.«

»Wenn du meinst.«

»Du hast mir mal gesagt, du kannst keine Kinder zeugen, nicht? Du produzierst kein Sperma. Ist das hier so eine Art perverse Reaktion darauf? Sind das hier deine Kinder, geschaffen aus Hass auf einen Körper, der keine richtigen machen kann?«

»Klar«, hatte Drew entgegnet, »warum nicht?«

»Liegt es daran, dass du deinen Vater gehasst hast, und er dich?«

»Ja, genau das ist es.« Dann hatte Drew den Kopf geschüttelt. »Du deutest zu viel in mein Zeug hinein. Sie sind nicht ich. Sie sollen nicht meinen emotionalen oder psychologischen Zustand darstellen. Sie sind alle ein Jedermann; sie sind kein Ausdruck meiner Persönlichkeit. Hey, mir gefällt einfach, wie sie aussehen. Es ist eine Frage der Ästhetik, das ist alles.«

Er trocknete sich die Hand ab und lächelte seinem Spiegelbild in der Flüssigkeit des Beckens zu. Da er gerade beim Thema Ästhetik war: Das hier würde ein Volltreffer werden, das war sicher. Sie sah so hübsch aus, dass er bezweifelte, dass man sie als Piñata benutzen würde. Wäre sie für mich, dachte er, würde ich sie in einem Zimmer einsperren und als Haustier für einsame Nächte behalten.

Er verspürte noch immer eine aufsteigende Erregung. Er würde sich schon selbst davon befreien müssen. Drew hatte sich vor drei Jahren von seiner letzten Freundin getrennt. Sie hatte seine Kunst noch weniger als Sol geschätzt. Er hatte gelernt, mit fehlendem Verständnis umzugehen.

Mit fehlender Gesellschaft war es schon schwieriger.

Der Regen war vorbei und die Straßen trockneten. Natürlich war die Leiche in der Gosse noch da, und die Verwesung war erfolgreich versiegelt und erstickt worden. Doch in seinem Eifer, das Ding am Gehsteig festzukleben, hatte er zu viel Dichtungsmittel verwendet, und es hatte beim Trocknen ein farbloses Gelb angenommen und hüllte seine Schöpfung so dick wie eine Schicht aus schmutzigem Wachs ein. Aber da war noch etwas Schlimmeres als das: Irgendein Jugendlicher, irgendein Punk hatte eine witzige Bemerkung auf die Leiche gesprüht. Eine Obszönität. Es war eine Entweihung seiner Kunst. Er hatte es selbst nicht unterschrieben, und irgendein wertloses Insekt hatte einen Witz auf das Ding gesprüht, als wollte es seinen eigenen Namen darauf setzen. Wütend schaute Drew sich um, als erwarte er, den Schuldigen kichernd in einer Seitenstraße lauern zu sehen. Er sah niemanden. Konnte er die Farbe mit einem Lösungsmittel entfernen? Er musste es versuchen. Wenn das nicht klappte, würde er den ganzen Kadaver in einer anderen Farbe besprühen, um den Vandalismus zu übertünchen. Oder vielleicht würde er das Ding losmeißeln und entfernen müssen, anstatt es hier zu lassen, wie es war – die einsame Schönheit, die Aussage besudelt.

Die einsame Aussage. Ja, schon gut, dachte Drew. Er suchte also doch nach persönlichem Ausdruck in seinem Werk. Aber es war eine universelle Palette des Gefühls, mit der er arbeitete, und keine persönliche. Er malte in breiten, archetypischen Pinselstrichen von Farbe und Bedeutung. Jeder seiner Klone war schlicht ein weiterer Jedermann – ein erniedrigter Leib, ein ausgelöschter Verstand und eine herausgeschnittene Seele.

Drew seufzte und wandte sich von den Bildschirmen vor ihm ab. Vor einem Teil der Mauer in seiner Werkstatt befand sich sein Computerzentrum, dessen Bildschirme wie Aquarien fremdartigen Wissens leuchteten, und gebündelte Kabel verliefen über den Boden und die Wand. Drew war auf dem College einer der Besten gewesen. Er hätte Arzt werden können, wäre es nach allen Familienmitgliedern, Freunden und Freundinnen gegangen, die ihn je kritisiert hatten. Aber Medizin war etwas für Mechaniker. Er war ein Künstler. Dasselbe Wissen konnte auf ein Ohr gerichtet werden, um es umzukrempeln, um eine Blume aus Fleisch zu schaffen. Gleich, ob hässlich oder schön, es wäre das Wunder der Vorstellungskraft eines Mannes, kein Wunder der gedankenlosen Technik der Natur.

Sie war bereit, aus ihrer künstlichen Gebärmutter geboren zu werden. Er erhob sich vom Stuhl, nahm noch einen Schluck Kaffee und ging zu ihr.

Zuerst ließ er die violette Flüssigkeit in ein Wiederaufbereitungssystem abfließen, wo sie für die nächste Schöpfung gereinigt wurde. Als die Wanne ausreichend trocken war, ließ er die Plattform aufsteigen, auf der sein Klon lag. Ihr Gesicht wirkte heiter, die Arme waren seitlich angelegt und ihre Füße weiß wie die einer Toten im Leichenschauhaus. Aber Drew führte ein Rohr in ihren Mund ein und die Kehle hinab, als wolle er so ihre Einbalsamierung ungeschehen machen. Scheiben waren an ihrer Brust befestigt, und er betätigte die Schalter eines Geräts auf einem Rollwagen neben der Wanne. Ein Ruck durchzuckte das feuchte, glänzende Fleisch der Frau, und ihr Rücken krümmte sich heftig. Wieder. Und wieder. Sie war wie ein Fisch, der an der Luft erstickte. Wie eine Schlafende im Griff eines schrecklichen Traumes. Doch endlich kam ein Piepton aus dem tragbaren Gerät auf dem Wagen, und Drew lächelte. Es war der Klang ihres Herzens, das stolpernd ins Leben trat.

Ein paar Minuten später öffnete sie die Augen. Sie sah mit einem teilnahmslosen, leeren Gesichtsausdruck zu Drew auf. Doch ihre Blicke folgten ihm, als er durch den Raum ging, um sich eine frische Tasse Kaffee zu nehmen. Er stellte das mit Zufriedenheit fest. Er hatte sie als Tier belassen wollen. Aber nicht als Seestern, so wie sonst. Dieses Geschöpf, das Erzeugnis seiner höchsten künstlerischen Raffinesse, schien etwas mehr nötig zu haben als der übliche herumschlurfende Zombie.

Als sie sich aufsetzen wollte, stellte er seine Tasse ab und lief zu ihr, legte ihren Arm um seine Schultern, um sie zu stützen. Er schwang ihre Beine über den Rand der Plattform, stellte sie vorsichtig auf. Sie war schwer und unbeholfen, aber er brachte sie zu einem fleckigen kleinen Sofa. Auf dem Weg dahin wandte sie ihm das Gesicht zu, starrte ihn an.

Er grinste ihr zu. »Hallo, meine Schöne«, flüsterte er. Er war so stolz wie ein Vater – oder wie ein Bräutigam, der seine Frau über die Schwelle trägt.

Er durchsuchte seine Kommode nach ein paar Kleidern für sie, eine Trainingshose und ein T-Shirt vielleicht, und sah zu, wie sie auf Händen und Knien durchs Zimmer kroch. Sie hielt vor der Couch an und blickte stumm zu der gehäuteten, gekreuzigten Kreatur an der Wand auf. Als habe das blinde Ding sie bemerkt, fing es an zu stöhnen.

Drew runzelte die Stirn und fragte sich, ob er nicht vielleicht doch zu viel Intelligenz in dem weiblichen Klon gelassen hatte. Dann konnte er nicht zulassen, dass sie durch sein ganzes Apartment kroch, vielleicht sogar zu gehen lernte. An Dinge herankam. Vielleicht würde er sie betäuben müssen, aber Sol würde sie so oder so in einer guten Woche abholen, dann wäre das Problem gelöst.

Sie hatte ihm den Rücken zugewandt, nackt, die dunkle Spalte einladend, das trocknende Haar auf dem Rücken ausgebreitet. Gott, worauf wartete er denn bloß noch? Er wusste, dass es unausweichlich war. Er brauchte sich seines Verlangens doch nicht zu schämen, oder? Schließlich wäre das doch nicht viel mehr als die übliche Selbstbefriedigung, nicht wahr?

Drew legte die Kleider für sie beiseite, durchquerte den Raum, kniete sich hinter den Klon. Er fing an, über ihren Rücken zu reiben; so glatt. Er gurrte ihr etwas zu, beruhigende Babysprache, als rede er mit einem Kätzchen. Sie drehte sich zu ihm um, vielleicht wegen des Geräusches seines Reißverschlusses. Er drückte sich an sie, und etwas wie drogenumnebelte Vorsicht – nicht ganz Bestürzung – trat in ihren Blick, doch er war langsam, sacht, wollte ihr nicht wehtun, hatte nicht vor, sie zu vergewaltigen. Falls auch sie es angenehm fand, so wäre er hingerissen. Das würde seinen Erfolg umso nachhaltiger beweisen.

Er konnte nicht sagen, welche Gefühle es bei ihr auslöste. Sie widerstand nicht, als er sie in das Sofakissen drückte, seine Arme um sie legte und seinen Bauch gegen ihren Hintern presste. Sie beide hatten die gleiche fahle Hautfarbe, und obwohl sie sonst so verschieden von ihm war, beunruhigte ihn etwas in ihrem Gesicht und störte sein Lustempfinden, sodass er den Blick auf ihren Rücken richten musste. Ihr Kopf lag seitlich auf dem Sofa, und die Augen starrten fast ausdruckslos vor sich hin. Und auf ihrer Schläfe war ein kleines Muttermal, ein Punkt nur, genau wie das auf seiner eigenen Schläfe. Etwas so Winziges und Unwichtiges – alle seine Klone mussten das gehabt haben, und doch war es ihm nie zuvor aufgefallen. Aber jetzt … jetzt … schien es ihn anzustarren wie ein drittes Auge.

Er nahm sie in den folgenden Nächten mit zu sich ins Bett, um auf sie aufzupassen, aber auch, um sich an ihrem Fleisch zu erfreuen. Er verließ das Apartment nur selten – er hatte Angst, sie würde wie ein neugieriges Kleinkind in seinen Arbeitsgeräten herumstöbern –, aber das war in Ordnung. Sol rief an. Drew erzählte ihm, der Klon sei gut gelungen, und viel mehr sagte er nicht. Er erzählte Sol nicht, dass er das Ding gestern angekleidet und ein perverses Vergnügen dabei empfunden hatte, sie zu einem Hotdog bei einem automatischen Straßenverkäufer einzuladen.

Er erzählte Sol auch nicht, wie er letzte Nacht im Dunkeln aufgewacht war und gemerkt hatte, dass der Klon sich im Schlaf an ihn schmiegte, ihr Gesicht in seinem Nacken und ihr Arm über seiner Brust.

So sehr er dieses Gefühl auch genossen hatte, er hatte das Ding sanft von sich weggeschoben.

Heute Nacht würde er auf der Couch schlafen. Sie konnte das Bett haben. Schließlich würde sie nur noch wenige Nächte sein Gast sein.

Aber später am Abend rief er Sol zurück.

»Dieser Kunde, Sol … was hat er mit diesem Klon vor? Braucht er sie für eine Party?«

»Ich glaube nicht; es ist nur ein reiches Ehepaar, das ein Kunstwerk kaufen will.«

Sie hatten eine Frau verlangt – das war ihre Idee gewesen. Anfangs hatten sie einen Klon von einer ihnen bekannten Frau gewollt, denn Sol hatte sie darüber unterrichtet, dass Drew nur Klone von sich selbst herstellte. Aber Drew war sehr inspiriert und der Aufgabe gewachsen gewesen. Das von ihnen gesuchte Kunstwerk würde umso besonderer und wertvoller sein, weil es auf diese Weise als Frau geschaffen worden war.

Er bedrängte Sol. »Weißt du denn überhaupt nichts über diese Leute? Werden sie sie in einem Schaukasten ausstellen? Sie zu Partys rauslassen? Sie mit zu sich ins Bett nehmen – was?«

»Drew-Man, ich weiß es nicht. Das ist nicht ausgeschlossen. Sogar einige deiner groteskesten Stücke sind dafür benutzt worden. Wieso fragst du, ist sie dazu nicht fähig, Drew? Gibt es damit ein Problem?«

Drew warf einen Blick auf den Klon: Sie kniete auf dem Boden und starrte auf einen Film auf seinem alten 2D-VT. »Die werden sie doch nicht … jagen oder so was, oder?«, fragte er. »Sie fesseln … Zigaretten auf ihr ausdrücken? Sie strangulieren, während sie sie vergewaltigen? So was in der Art? Kannst du das herausfinden?«

»Hör mal, das kann ich nicht. Was ist los mit dir?«

»Können sie nicht noch ein paar Wochen warten? Auf einen anderen Klon? Dieser hier … ich hab mich zu sehr daran gewöhnt. Es ist mein Meisterwerk. Ich kann einen anderen machen, der genauso schön ist.« Allerdings etwas mehr wie ein Seestern, dachte er.

»Hör mal«, sagte Sol, »mach einen anderen Klon für dich, aber wir haben eine Abmachung, und ich habe eine Abmachung mit ihnen, und es ist zu spät. Tut mir Leid. Ich will sie nicht enttäuschen, Drew – sie freuen sich darauf. Und du hast ihr Geld wesentlich nötiger als ich, wie du weißt.«

Drew blickte wieder den Klon an. Ja, es stimmte, er konnte einen weiteren herstellen. Und den könnte er sogar noch intelligenter machen. Intelligent genug, um sich nicht nur wie ein schmachtendes Hündchen an ihn zu kuscheln, sondern ihn zu lieben, wie eine richtige Frau es tut.

Aber würde sie ihn dann nicht verlassen, wie die anderen Frauen es getan hatten? Zuerst seine Kunst kritisieren und ihn dann sitzen lassen?

Ob er einen anderen Klon für sich machen würde oder nicht, diesen hier musste er aufgeben. Und vielleicht war das auch das Beste. Sie verwirrte ihn zu sehr. Sie ließ ihn sich lebendiger fühlen, als ihm lieb war. Es war in Ordnung, wenn seine Klone verhungerten, erfroren, auf der Straße starben. Aber den Schmerz seiner eigenen Einsamkeit zu spüren … das war eine Bürde, die er nicht tragen wollte. Es war besser, sein Leid in diese Erweiterungen seiner Person zu stecken, es in sicherer Entfernung zu halten.

Beim Ausschalten des Videofons sah Drew, dass die Frau sich vom VT abgewandt hatte, um das Ende seines Gesprächs mit Sol zu verfolgen. »Hey du«, sagte er und lächelte schuldbewusst wie ein Teenager, der von seiner lauschenden Mutter bei etwas Verbotenem ertappt worden ist. Die Frau starrte ihn nur an, die dunklen Augen schmal und blinzelnd. Sie sah aus, als versuche sie sich an einen Traum zu erinnern.

Ein schwerer Schlag riss ihn aus dem Schlaf.

Über die Zwischenwand hinweg warfen die Bildschirme und Wannen seiner Werkstatt ein blaues und violettes Glühen an die Decke. Sonst war alles dunkel. Der Künstler fühlte sich, als schwebe er in einem finsteren Abgrund, einer schwarzen Gebärmutter, als er dem Gluckern von Kaffee und Chemikalien lauschte. Ein Computer surrte wie ein nachtaktives Insekt. Draußen auf dem Balkon prasselte der Regen.

Das war alles ganz normal, aber irgendetwas stimmte nicht.

Ein Geräusch, als bewege sich etwas im Wohnzimmer. Etwas – Kriechendes. Etwas, das sich in tiefer Dunkelheit über den kalten, kahlen Boden schleppte.

Da fiel Drew auf, was nicht stimmte: Die Frau war fort. Kein warmer Leib, der sich wie in den vergangenen Nächten an seinen schmiegte, schweißnass nach ihren Anstrengungen. In der letzten Nacht hatte sie ihn auf den Mund geküsst, noch ehe er irgendwelche Annäherungen machen konnte. War sie programmiert worden? Oder war sie nun mehr als nur ein vernarrtes Hündchen? In diesen letzten Nächten hatte sie bei ihren Vereinigungen zu stöhnen angefangen und enthusiastischer auf das Liebesspiel reagiert; sie hatte sich gewunden, ihn an sich gedrückt, letzte Nacht war sie sogar auf ihm geritten.

Nur noch zwei Tage, bis er sie fortgeben musste, und Drew zweifelte erneut daran, dass er sich von ihr würde trennen können. Auch wenn er die Fähigkeit hatte, ein Dutzend weiterer Geschöpfe wie sie zu erschaffen. Ein Dutzend Frauen wie sie. Aber sie wären nicht sie.

Er setzte sich im Bett auf und starrte in die Finsternis. Er wollte sie beim Namen rufen, doch er hatte ihr keinen gegeben. Sie schien auf das Bett zuzukriechen. Ja, entschied er, das tat sie. War sie im Dunkeln gestürzt, hatte sie sich verletzt? Sofort tastete er blind nach der Nachttischlampe …

Doch noch während er das tat, fühlte er, wie sie gegen die Matratze stieß. Er griff nun nach ihr, fasste sie an den Armen, zog sie hinauf. »Bist du in Ordnung?«, fragte er, ohne eine Antwort zu erwarten.

Sie gab ein tiefes Stöhnen von sich.

Ihre Arme schienen dünner zu sein, verkümmert wie die eines verhungernden Kindes. Und ihr Atem roch schlecht. Und ihre Brust, als sie auf ihn fiel – sie war hart und knochig …

Drew schrie laut und versuchte, das Ding von sich zu schieben, doch die breiten Hautlappen bedeckten ihn wie ein Laken, klammerten das erbärmliche Geschöpf fest, das auf ihm lag. Es drückte ihm das Gesicht an den Hals, als wolle es auf scheußliche Weise die Frau imitieren, aber Drew wusste, es war nicht sie. Es war das gekreuzigte Ding. Irgendwie war es runtergefallen, irgendwie hatte es sich von den Stacheln gelöst.

Er stieß es in einem panischen Anfall vom Bett, hatte plötzlich Angst, von dem heuschreckenähnlichen Körper erstickt zu werden. Es schlug dumpf auf dem Boden auf, und er streckte den Arm nach der Lampe aus.

Das Licht ging an, und er sprang aus dem Bett, rannte durchs Zimmer. Er sah, wie die Scheußlichkeit sich aufzurichten versuchte. Der augenlose Kopf hob sich, als wittere er eine Spur, der verzerrte Mund bewegte sich und sabberte. Es zog die Fäden des Lebenserhaltungssystems hinter sich her.

Er sah zu der Wand, wo es gehangen hatte, und erblickte dort die Frau, die vor ihm stand.

Sie war nackt. Sie war so schön wie immer, und das dichte Haar verdeckte ihre eine Gesichtshälfte wie bei einem Wesen der Urzeit, einer unschuldigen Wilden. Seine Bestie. Sein Haustier.

Unter einem Arm hielt sie seinen abgetrennten Kopf.

Auf den Sofakissen lagen alle seine Embryos, seine zukünftigen Klone. Alle waren bereits tot bis auf einen, dessen winzige Glieder wie Schwimmflossen zappelten.

Robespierre hatte unter ihrem Arm die Augen verdreht, und seine Lippen bebten im Todeskampf, weil er von seinem Becken getrennt worden war.

Drew spürte die Wut in sich hochsteigen. Doch damit verbunden war ein Schwindelgefühl voller Grauen und Ekel, das ihm die Orientierung raubte, ihn betäubte. Sein Blick fiel auf den Stachel in der anderen Hand der Frau. Einer der Stacheln, die das gekreuzigte Wesen an der Wand gehalten hatten.

Da trat sie vor, unter einem Arm den Kopf und den Stachel wie einen Dolch in der Hand.

Drew riss die Arme hoch und schrie: »Nein!«

Die Frau stieß an ihm vorbei und fiel auf den Rücken des blinden, halb gehäuteten Dings, das gerade aufzustehen versuchte, und trieb ihm dabei den Stachel in den Hals.

Sie brachen gleichzeitig zusammen: die Frau, die blinde Kreatur. Allein die Frau stand wieder auf, und sie nahm den Kopf auf den Arm. Der war nun völlig reglos, wie alle der Embryos, die voller Ehrfurcht auf dem Sofa arrangiert worden waren.

»Was tust du da?«, fragte Drew die Frau und senkte langsam die Arme. »Was hast du getan?«

Einen Moment lang starrte sie ihn an. Ihr Gesicht war nahezu leer. Und doch kannte er sein eigenes Gesicht gut genug, um Traurigkeit darin zu erkennen. Verzweiflung. Und Ekel vor sich selbst. Er hatte diese Dinge oft genug im Spiegel gesehen.

Sie drehte sich um und ging zur Tür. Tippte auf die Tasten, um sie zu öffnen, wie sie es bei ihm beobachtet haben musste. Von innen war kein Code nötig, und die Tür öffnete sich schmerzhaft knarrend. Wohin wollte sie gehen, nackt, mit einem menschlichen Kopf auf dem Arm wie einen Säugling? Sie hatte jetzt keine Waffe mehr, doch Drew hatte immer noch Angst, ihr zu folgen. Er tat es dennoch.

»Warte!«, rief er ihr nach.

Als er durch die Tür in den stärker werdenden Regen schlüpfte, sah er die Frau am Balkongeländer stehen und auf die Lichter der Stadt blicken. Vielleicht suchte sie nach den Gespenstern, die er gesehen hatte.

»Hey«, sagte er zu ihr und streckte ihr die Hände entgegen. »Komm wieder rein. Bitte. Ich werde dich nicht fortschicken. Ich schwöre es dir.«

Sie drehte sich um und sah ihn an. Regenwasser strömte ihr Gesicht hinab. Er sah, wie ihre Lippen sich leicht bewegten, als versuche sie, Wörter zu formen.

»Bitte bleib bei mir«, sagte er zu ihr.

Die Frau wandte ihr Gesicht wieder der Nacht zu. Mit feierlicher Anmut stieg sie über das niedrige Geländer.

»Hey!«, rief Drew und sprang vor. Und er sah die Frau in die dunkle, nasse Nacht springen, seinen eigenen körperlosen Kopf noch immer an sich gedrückt. Drew schrie ihr nach, sie solle es nicht tun, während er ihre weiße Gestalt hinabstürzen sah. Er fiel gegen das Geländer, blickte hinunter. Sah sie in ihrem Sturz durch das gelbe Licht eines tiefer gelegenen Fensters fallen. Dann verließ sie das Licht, und er verlor sie völlig aus den Augen. Er hörte einen heftigen Aufprall, und es war, als habe man ihm das Herz aus der Brust gerissen.

Er rannte die Treppen hinab, manche davon im Innern des Lagerhauses, andere außen, bis er die Straße erreichte. Unter seinen bloßen Füßen war der Boden kalt wie die Oberfläche eines zugefrorenen Sees. Er hieß diese strafende Empfindung willkommen. Er lief zu ihr hin, kniete neben ihr. »Oh Gott«, murmelte er. »Warum … warum hast du das getan?«

Er strich ihr das nasse Haar aus dem Gesicht und fürchtete sich vor dem, was der Tod, jener boshafte Bildhauer, daraus gemacht haben mochte. Der Aufprall war nicht so hart gewesen, um sie zu entstellen. Mit dem zur Seite geneigten Kopf schien sie lediglich zu schlafen. Selbst im Tod war sie wunderschön. Ein wunderschönes Kunstwerk, das in der Gosse sein Blut verströmte.

Zärtlich schob er das Haar an ihrer Schläfe beiseite. Obwohl es zu dunkel war, um etwas zu erkennen, berührte er sanft das winzige Muttermal. Das Muttermal, das sie beide vereinte.

Drew ließ sie nicht in der Gosse. Sachte nahm er ihre erschlaffte Gestalt in die Arme und machte sich an den langen, quälenden Wiederaufstieg.

Er trug sie zum Bett und legte sie darauf. Erneut strich er ihr nasse Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Er hatte auch den Kopf mitgenommen, und nun sammelte er die Embryos und den schweren, grotesken Leichnam des gekreuzigten Wesens auf. Dann ging er ins Labor seiner Werkstatt und nahm die organischen Kulturen und Triebe, die die Frau im Dunkeln übersehen hatte.

Er legte die Frau mitsamt seiner restlichen Brut in die Wanne, in der er sie gezüchtet hatte. Doch anstatt die violette, amniotische Lösung hineinzupumpen, nahm er aus seinem Metallregal zwei Krüge mit Chemikalien.

Mit einer Maske über seinem Gesicht goss er den Inhalt erst des einen und dann des anderen Krugs über die Gestalten in der Wanne. Rasch trat er vor den aufwogenden Dämpfen zurück. Hinter diesen Wolken waren die Körper in der Wanne undeutliche Schemen. Sie schienen alle zu einem einzigen missgestalteten Wesen verschmolzen zu sein. Doch die Glieder vergingen, die Schemen verblassten allmählich und hinterließen nur den Dunst … der von der Entlüftung hinaus in die Nacht gesogen wurde, um zerstreut zu werden wie die Asche eines Scheiterhaufens.

Als er die letzten Rauchschwaden zum Ventilator aufsteigen sah, trauerte Drew um die Frau. Trauerte um sich selbst.

Er fühlte sich wie ein Gespenst seiner selbst … als sei er es, der Selbstmord begangen hatte.