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2085

Der Fall der Götter

 

von John Marc

 

 

Dystopischer Roman

Vollständige E-Book-Ausgabe der Druckausgabe

 

 

 

ISBN 978-3-946348-14-6

ISBN 978-3-946348-13-9 (Kindle E-Book)

ISBN 978-3-946348-12-2 (Print Ausgabe)

 

© Eridanus Verlag | Jürgen Hoffhenke

Hastedter Osterdeich 241 | 28207 Bremen

Alle Rechte vorbehalten

 

Lektorat: Textflash (http://textflash.de)

Umschlaggestaltung: Michaela Stadelmann

Satz | Gestaltung: Jürgen Hoffhenke

Kapitel 1

 

Schnell, Sid. Hol die Hirnstimulatoren.«

Ich griff hinter mich und nahm zwei runde Plättchen vom Tisch. Nachdem ich sie eilig an den Schläfen des jungen Mannes fixiert hatte, startete die Stimulation des Stammhirns: nur noch unkontrollierte Zuckungen des Körpers, keine Eigenaktivität.

»Wir brauchen einen zentralen Zugang!«, schrie Francine. »Kann nicht jemand nach dem Blut sehen? Wir müssen unbedingt sein Volumen auffüllen!«

Hektik breitete sich im Raum aus. Zu jung war dieser Patient, als dass man ruhig bleiben konnte. Francine versuchte, in der Leistenbeuge ein Blutgefäß zu tasten. Eine medizinische Einheit assistierte ihr dabei. Dank des Monitors an der Seite war die Vene gut zu lokalisieren, jedoch glitt die Nadel bei jedem Versuch, sie zu punktieren, ab. »Irgendetwas stimmt nicht mit seinen Blutgefäßen. Schalte den Mikroscanner ein!«

Ein Hologramm erschien mitten im Raum. Man konnte die Gefäßwand eindeutig erkennen, die Intima, Media, Adventitia. Doch die Strukturen waren zu regelmäßig.

»Es sind Implantate!«, erkannte ich sofort. Der junge Mann war im Institut für Kryotechnik für wenige Sekunden in eine der Kältekammern geraten. Für einen menschlichen Körper war das ohne weiteres zu tolerieren, nicht jedoch für künstliche Gefäßwände. Ihre kybernetische Komponente hatte sich durch den Kälteschock kristallisiert. So perfekt die kybernetischen Implantate im normalen Leben auch ihren Dienst verrichteten, so gefährlich waren sie in Extremsituationen; sie mutierten zu wahren Killern, wie ich es schon oft erlebt hatte.

Auf das Gesicht des jungen Mannes legte sich bereits unaufhaltsam der Blick des Todes: fahl, bleich, fast gelblich wurde es. Das Ende nahte.

»Dreh die Stimulation höher!«, schrie mir Francine zu.

»Ich bin schon am Limit!«

»Dann geh drüber!«

Letzte unkontrollierte Zuckungen zeigten das Chaos in seinem Gehirn. Nur noch vereinzelte Entladungen seiner Hirnrinde kamen ungeordnet wie Gewitterblitze und ohne erkennbares System an den verschiedenen Orten seines Körpers zum Vorschein. Unaufhaltsam grub sich der Tod immer weiter in ihn hinein.

An jenem Tag begann das Unfassbare. Als der junge Mann starb, lag auch unsere Welt bereits im Sterben. Nun stehe ich hier vor den Trümmern unserer Zivilisation und halte normales Wasser aus dem Replikator in den Händen. Nur dieses ein Glas und ich werde alles um mich herum vergessen. Ich werde sein wie die anderen, ohne Hoffnung, ohne jeden Sinn im Leben. Und ich bin nun bereit, den letzten Schritt zu gehen.

Wir schreiben das Jahr 2085, Februar. Ich bin Arzt im Gesundheitspark MyFair. Krankenhäuser gibt es nicht mehr. Ein paar Jahre sah es tatsächlich so aus, als ob wir keine Krankenhäuser mehr bräuchten. Doch die Zeiten haben sich geändert. Vieles hat sich geändert.

Es war einer dieser endlosen Tage im MyFair. Ich hatte damit zu kämpfen, die Müdigkeit und den Kater der letzten Nacht zu überwinden. Meine Gedanken über das gestrige Gespräch mit meinem Kollegen Marvin Clay kreisten zäh in meinem Kopf und der Tod des jungen Mannes zerrte noch an meinen Nerven.

Schon einige Male hatte ich Patienten verloren. Doch diesmal war es besonders hart für mich. Er war ein gesunder junger Mann in meinem Alter, unschuldig an dem, was passierte. Nur selten verloren wir hier am MyFair so junge Patienten. Aber trotz unserer hoch entwickelten Technik kam es immer wieder zu irrsinnigen Unfällen. Und irgendwie wurde ich das Gefühl nicht los, dass sie sogar noch brutaler und erschreckender wurden. Auch wenn die moderne Technik zu unserem Schutz gedacht war – wenn sie versagte, traf uns die ganze Wucht ihrer Macht. Und wir hatten dem mit unseren schwachen menschlichen Körpern nur wenig entgegenzusetzen. – Gegen meine Gewohnheit fuhr ich am Abend mit einem Drivecar im »Fast Inn« vorbei, einem der vielen Nachfolger der einstigen McDonald’s-Kette, die nun ausschließlich synthetisches Rindfleisch anbieten. McDonald’s gibt es seit 2050 nicht mehr, seit dem Jahr des Rinderwahnsinns. Ich kenne diese Zeit nur aus den Erzählungen meiner Eltern. Junge intelligente Menschen fingen plötzlich an, wie Kleinkinder zu reden und liefen apathisch auf den Straßen herum. Die Universitäten verwaisten. Niemand dachte damals an Rinderwahn, seit Jahren gab es keine Hinweise mehr darauf. Doch die Krankenhäuser füllten sich mit todkranken Jugendlichen, bis ein findiger junger Laborant mit einer Abneigung gegen Rindfleisch dem Übel auf die Spur kam. Zum Glück fand man ein gentechnisches Therapieverfahren, das im Körper Antikörper gegen die todbringenden Prionen erzeugte. Es war Rettung in letzter Minute, denn viele Experten sahen schon das Ende der Welt kommen.

Noch heute müssen wir die Opfer behandeln. In speziellen Genesungszentren – der Begriff Pflegeheim wurde aus dem Vokabular der Medizin verbannt – verbringen sie den Rest ihres einst so hoffnungsvollen Lebens. Der durch die Prionen angerichtete Schaden konnte auch mit unserer modernen Medizin nicht behoben werden, und so vegetieren sie dort, während wir dem hilflos gegenüberstehen. Seit jenen Tagen gibt es kein Rindfleisch mehr, kein natürliches zumindest. Ich mag das synthetische Fleisch nicht, auch wenn Experten die Nahrhaftigkeit und die Ungefährlichkeit wie Werbeagenten tagtäglich propagierten. Bei jedem Bissen kann ich mich eines gewissen Nachgeschmacks von Plastik nicht erwehren. Die Vorstellung der Produktion in einer dieser neuartigen Fabriken mit künstlich gezüchteten Proteinen in riesigen Bottichen lässt mir den Geschmack noch fader und abscheulicher erscheinen. Doch die Müdigkeit siegte heute Abend. In dem Zustand, in dem ich mich befand, war mir die Art der Nahrung, mit der ich meinen Magen füllen und mich der nachfolgenden Trägheit hingeben konnte, ziemlich egal.

In Gedanken döste ich vor mich hin. Mein Drivecar fuhr selbstständig mit 300 km/h über den Highway. Die neu gebauten Gebäudekomplexe rasten an mir vorbei. Nur schemenhaft konnte ich die Menschen in den Innenhöfen erkennen. Ich schloss die Augen und streckte die Füße aus. In den selbstfahrenden Autos der heutigen Zeit ist viel Platz im Innenraum. Auch ist der Elektromotor kaum zu hören. Mit dem Einsatz von Supra, einem speziellen technischen Verfahren auf Basis von Supraleitern, ist ein solches Auto energetisch völlig autark. Es benötigt keinen Treibstoff mehr. Solarzellen und Hochleistungsspeicher liefern über Jahrzehnte genug Energie. Die Kommunikation erfolgt komplett via Spracheingabe, gesteuert wird es über einen Zentralrechner. Kaum noch jemand besitzt ein eigenes Auto. Warum auch? Man müsste sich darum kümmern. Das Drivecar wird bestellt, und da unzählige von ihnen unterwegs sind, steht er in wenigen Sekunden am Bestimmungsort bereit.

Der Drivecar raste in die Tiefgarage unseres Apartmentkomplexes. Ein Sensor an der Einfahrt erkannte mich sofort und öffnete die Stahltür. Automatisch wurde der Wagen durch einen Leitstrahl in seine Parkstellung geführt. Die Tür des Autos öffnete sich und ich stieg zügig in einen Fahrstuhl, der mich bis zur dritten Etage brachte. Neben der Tür meines Apartments legte ich die Hand auf den angebrachten Scanner. Ein Lichtstrahl tastete die Innenfläche ab. Ich spürte seine angenehme Wärme, die meine Hand von oben und wieder nach unten durchströmte. Doch auch wenn es mir jetzt gefiel, wusste ich doch, dass dies normalerweise nicht nötig war. Denn wie so oft in den letzten Tagen blieb auch diesmal die Tür zu meinem Appartement verschlossen. Wie die letzten Male schlug ich mit der Faust gegen den Scanner. Gestern noch hatte mir meine recht unkonventionelle Methode den erwünschten Erfolg gebracht.

»Sharon! Mach auf!«, rief ich genervt.

Aus dem Inneren des Apartments drang eine sanfte, computersimulierte Stimme. »Bitte legen Sie Ihre Handfläche auf den Scanner und warten Sie auf das Bestätigungssignal.«

Ich tat es, doch konnte ich nun nichts Angenehmes mehr daran finden. Keine Reaktion.

»Sharon, ich bins. Mach endlich die Tür auf!«

Wieder passierte nichts. Frustriert, einen Beutel voll mit synthetischem Rindfleisch in der Hand, lief ich zu dem Holoplay ein paar Meter den Gang hinunter. Das Holoplay hatte mit der Einführung holografischer Projektionen das herkömmliche Display abgelöst. Generatoren erzeugten Hologramme, die in der Wahrnehmung keinen Unterschied mehr zur Realität aufwiesen. Man konnte dies nur noch durch direkte Berührung feststellen, oder wie hier durch das äußere Erscheinungsbild. Als ich vor das Holoplay trat, fragte mich eine typische Servicesimulation mit perfektem Outfit und ewig lächelndem Gesicht nach meinem Problem. Wie die Tage zuvor, jedoch noch genervter als sonst, schilderte ich meine Situation.

»Dr. Foster, es tut uns leid. Eine Service-Einheit hätte den Schaden längst beheben sollen. Bitte legen Sie Ihre Hand auf den Scanner vor Ihnen und ich werde die Tür zu Ihrem Apartment sofort öffnen.«

Wieder legte ich meine Hand auf den Scanner und sah diesmal kaltes Licht gründlich die Innenfläche abtasten. Ich war sauer. Was machten die Service-Einheiten eigentlich den ganzen Tag? Wenn ich so meine Patienten behandeln würde, wäre die Welt bald um die Hälfte ihrer Bewohner ärmer.

»Vielen herzlichen Dank!«, antwortete ich missgelaunt meinem lächelnden Gegenüber und biss in meinen synthetischen Hamburger. Wieder vor meinem Appartement angelangt, fand ich die Tür nun geöffnet. Müde trat ich ein.

»Guten Abend, Dr. Foster. Ich hoffe, Sie hatten einen schönen Tag.«

»Er wäre noch schöner gewesen, wenn du mich gleich reingelassen hättest, Sharon«, antwortete ich gereizt.

»Aber Sie wissen doch, dass ich ohne Handscan niemanden in Ihr Apartment lassen darf.«

»Ja, ja. Schon gut, Sharon.« Ich hatte keine Lust, mit ihr zu streiten. In letzter Zeit hatten die Übergriffe in unserer Gegend zugenommen. Eine Gruppe Krimineller, sehr intelligent und mit einem unglaublichen technischen Know-how, terrorisierte die gesamte Stadt und ärgerte nicht nur das Sicherheitspersonal unseres Apartmentkomplexes. Wer hinter den Einbrüchen steckte, war laut offiziellen Angaben nicht bekannt. In den meisten Fällen wurde jedoch nur die zentrale Rechnereinheit entfernt. Auf andere materielle Dinge legten die Diebe anscheinend keinen Wert.

»Sharon!«

»Ja, Dr. Foster?«

»Lass mir bitte ein Bad ein und reguliere die Temperatur etwas höher. Außerdem möchte ich einen Gin Tonic. Danke. Und gib mir Kanal 4, 6 und 8.«

Die Wand öffnete sich an der langen Seite des Zimmers und ein Hologramm füllte die Vertiefung komplett aus. Auf dem Holoplay leuchteten drei Fernsehkanäle gleichzeitig auf. Auf Kanal 6 liefen gerade die letzten Nachrichten. Ich bat Sharon, die Lautstärke zu erhöhen.

»Mit dem heutigen Tag wird der Einsatz von Replikatoren auch im privaten Sektor vollzogen. Ein entsprechender Beschluss wurde einstimmig vom Parteirat verabschiedet. Schon nächsten Monat werden die ersten Geräte in den größeren Städten ausgegeben. Bis zum Jahresende soll jeder Haushalt mit einem eigenen Replikator bestückt sein. Damit kommt mehr Luxus in jede einzelne Wohneinheit.«

Na toll, jetzt würden Naturprodukte sicher ganz aus den Verkaufsregalen verschwinden.

»Washington. Auf Anregung von Präsident Gates wurde ein neues Gesetz erlassen, woraufhin Gentechnik und Gentherapie schärferen Kontrollen und stärkerer staatlicher Überwachung unterworfen werden sollen. Jüngste Veröffentlichungen der World Gen Organisation, kurz WGO, warnen vor drastischen Folgen einer unkontrollierten und unsachgemäßen Anwendung der Gentherapie.«

Auf dem Weg zum Bad spülte ich mit dem Gin Tonic den Rest meines Hamburgers hinunter. Wie erwartet war es auch diesmal keine Delikatesse. Plötzlich wurde der Sprecher lauter und ich drehte mich noch einmal um.

»In fünf Tagen ist es soweit. In fünf Tagen wird Jesus Christus das zweite Mal auferstehen. Halleluja! Haltet euch bereit, die Offenbarung zu erfahren. In fünf Tagen werden alle eure Fragen beantwortet werden …«

Ich schlenderte ins Bad und stieg in das wohltemperierte Wasser. Seit Monaten kamen nun schon derartige Nachrichten auf allen Kanälen, rund um die Uhr, die Sensation des Jahrtausends. Wissenschaftler in Harvard hatten es geschafft, ein komplett erhaltenes Genom des heiligen Sohnes von seinem Leichenhemd zu isolieren. Nach langwierigen Forschungen hat sich tatsächlich herausgestellt, dass es von Jesus Christus stammte. In einem speziellen Genlabor wurde die DNS einer menschlichen Eizelle eingesetzt und in einem Hybridomat inkubiert. Dort wuchs der Klon seit zwölf Monaten, und in fünf Tagen würde er zum Leben erweckt werden, voll ausgereift, in voller Lebensgröße. Die gesamte Menschheit wartete auf diesen Augenblick. Seit Wiedereinführung der Fußballweltmeisterschaft vor drei Jahren hat es keine so große Aufregung mehr gegeben. In fünf Tagen würde eines der größten Geheimnisse der Menschheit gelüftet. Der Begründer der wichtigsten Religion aller Zeiten sollte wieder zu seinen Gläubigen sprechen. In Scharen hatten sie sich überall versammelt, in Rom, Jerusalem, London, L.A. Noch fünf Tage, dann würde endlich das Rätsel gelöst und die Geschichte des berühmtesten Mannes der Welt offenbart. Wäre das ein neuer Anfang oder das Ende?

Ich betrachtete das Ganze rein wissenschaftlich. Ich war Atheist und konnte mich keiner Religion öffnen. So wurde ich erzogen und so habe ich mein ganzes Leben lang gelebt. Ich hatte kein Bedürfnis nach der tröstenden Vorstellung einer unbekannten Macht, die, Gott genannt, Wunder vollbringt. Auch konnte ich nicht an Dinge wie das Paradies oder die Erlösung glauben, so verlockend sie in manchen Situationen auch wirkten. Manchmal dachte ich, wie einfach es doch wäre, seine Probleme zu leugnen und Sünden zu bereuen, um die Absolution zu erhalten – ein Glaube, der dir die Sorgen nahm. Wie einfach wäre es, sein Gewissen durch Buße zu erleichtern, anstatt die Konsequenzen seines eigenen Lebens zu ertragen! Aber wozu sollte ich mir jetzt weiter Gedanken darüber machen? Ich verbannte Jesus Christus aus meinem Kopf.

Sharon hatte das Klima in meinem Appartement gut geregelt. Ich lag in meinem herrlichen Pool, den ich mir erst letzten Monat geleistet hatte und spürte die kleinen Bläschen, die langsam an meinem Körper nach oben glitten und meine Beine sanft massierten. Ich war entspannt. Meine Kopfschmerzen, die mich schon den ganzen Tag gequält hatten, verschwanden allmählich wieder.

»Dr. Foster?«, fragte mich Sharon mit sanfter Stimme.

»Ja?«, antwortete ich im Halbschlaf.

»Dr. Clay hat Ihnen eine Nachricht hinterlassen. Er muss Sie dringend sprechen.«

Ich hatte keine Lust, ihn zurückzurufen. Er würde sich schon melden, wenn es etwas Wichtiges gab. Jetzt wollte ich mein Bad genießen und nur noch schlafen. Mein Körper nahm begierig die wohlige Wärme des Wassers auf, als sich Marvin erneut meldete. Nur auf sein wiederholtes Drängen erlaubte ich Sharon, den Kanal zu öffnen. Sein Gesicht erschien an der gegenüberliegenden Wand.

»Hi, Sid. Wie geht es dir heute Abend?« Ohne meine Reaktion abzuwarten, polterte er los: »Du glaubst nicht, was gestern Abend noch passiert ist!«

»Was denn?«, antwortete ich genervt, da ich erneut gegen meine Müdigkeit ankämpfen musste. »Wir hatten eine heiße Diskussion, was wohl wichtiger wäre, dein Zentrallabor oder die Arbeit mit den Patienten auf den Sektionen. Dann haben wir uns volllaufen lassen und kamen zu den Schluss, dass beides mit einem ordentlichen Schuss Wodka leichter zu ertragen ist. Irgendwie bin ich dann am frühen Morgen nach Hause gekommen. Ich dachte eigentlich, du hättest mich heimgebracht.«

Marvins Gesicht verzog sich zu einem Grinsen. »Du Schlitzohr. Du wirst dich wohl noch an die süße blonde Maus aus Sektion 2 erinnern, die mit den langen Beinen und dem unglaublichen Schmollmund, mit der du verschwunden bist? Nicht gerade die feine englische Art, mich in der Bar mit den ganzen Zombies zurückzulassen, deren Gesprächigkeit und intellektuelles Niveau weit unter dem eines abgestandenen Glases Soda liegt. Ich hoffe, du hattest wenigstens Spaß mit der Kleinen.«

Langsam durchbrach ein matter Lichtschein den Schleier der letzten Nacht. Irgendwann am späteren Abend war Carry, die leitende Schwester von Sektion 2, in die Bar gekommen. Schon länger knisterte es zwischen uns. Kleine versteckte Andeutungen und meist nicht ernst genommene Komplimente während der Arbeit hatten ein zartes Band zwischen uns geknüpft, welches nicht nur mit sexueller Begierde erklärt werden konnte. Bis jetzt hatten wir jedoch auf eine Vertiefung unsere Beziehung verzichtet, zumal ich gerade eine andere Frau im Kopf hatte, auf die ich, wie ich damals meinte, mein Leben lang gewartet hatte. Ihr Name war Francine. Und so schien auch gestern Nacht nicht viel passiert zu sein, denn heute Morgen wachte ich allein in meinem Bett auf, ein Umstand, den ich in letzter Zeit allzu oft bedauerte.

»Also gut, Marvin. Was ist passiert?«, ließ ich mich auf seinen Anruf ein.

»Kurz, nachdem du verschwunden bist, kam Roy Harold und setzte sich zu mir an die Bar. Ich hätte nicht gedacht, dass sein Aristokratenarsch auf einen Barhocker passt.«

Dr. Roy Harold war Sektionsleiter am MyFair. Vor etwa zwanzig Jahren war er aus England gekommen und weigerte sich seither beharrlich, seine gute britische Erziehung und sein steifes englisches Wesen abzulegen, was ihn als ziemlich ungeselligen Typen erscheinen ließ. Im Grunde war er jedoch ein Durchschnittskerl, der keine Anlässe zu irgendwelchen Skandalen gab und sich nicht von der Masse unterschied. Er war einer der Menschen, die ihren Weg durchs Leben gingen, ohne auf größere Hindernisse zu stoßen. Bei Schwierigkeiten wusste er sie mit geschickten Manövern zu umsegeln, ohne sie in Wahrheit zu lösen. Roy Harold war in glücklicher Harmonie mit sich selbst und seiner Umwelt. Ein grauer Mensch in einer grauen Masse.

»Er sitzt also da«, fuhr Marvin aufgeregt fort, »und fängt tatsächlich an zu reden. Aber nur wirres Zeug, völlig unverständlich. Keine Ahnung, was er mir sagen wollte. Dann öffnete er einen Brief, mit dem er mir die ganze Zeit vor der Nase herumgewedelt hatte, las ihn, fing an zu lachen, steckte ihn in den Mund und schluckte ihn hinunter. – Mann, er hat ihn einfach runtergeschluckt, ohne mir auch nur ein Wort zu sagen, worum es eigentlich ging! Du kannst dir nicht vorstellen, was danach geschah.«

Ich konnte die Erregung in Marvins Stimme hören. Er schnalzte mit der Zunge. Das tat er nur, wenn er aufgeregt war; ein sehr seltsames Geräusch, aber es gehörte zu ihm. Ich habe mich mit den Jahren so daran gewöhnt, dass ich es kaum noch wahrnahm.

Aufgeregt erzählte Marvin weiter. »Zunächst zuckten nur seine Augenwinkel. Erst links, dann rechts. Plötzlich verzog sich sein ganzes Gesicht zu einer Grimasse …« Wieder schnalzte Marvin. »Er sprang auf und schlug wie wild um sich. Ich habe noch nie einen Menschen so tanzen sehen. Ich dachte erst, es wäre ein epileptischer Anfall und fixierte schon zwei Hirnstimulatoren an seinen Schläfen. Nach etwa fünfzehn Minuten schien es auch zu wirken. Er beruhigte sich und sah mich an. Ich werde seinen Blick in meinem ganzen Leben nicht vergessen, Sid. Dann zog er eine Pistole aus seinem Jackett, steckte sie sich in den Mund und drückte ab. Er hat meinen Armani-Anzug ruiniert, den kann ich jetzt wegschmeißen. Zweitausend Dollar in den Wind geschossen.«

Jetzt saß ich hellwach im Pool. Das Gefühl der Müdigkeit wich blankem Entsetzen. Harold war mir jeden Morgen auf dem Flur begegnet. Erst gestern hatten wir über seine jüngste Tochter gesprochen, die in England Psychochirurgie studierte. Ich hatte versprochen, ihm noch ein paar neue Fallbeschreibungen für sie mitzubringen. Jetzt war er tot. Es war der zehnte mysteriöse nationale Todesfall innerhalb der letzten fünf Monate, alles Ärzte und alle in leitenden Positionen. Doch bislang war unsere Stadt verschont geblieben.

Bis gestern.

Kapitel 2

 

Das MyFair war einer der Gebäudekomplexe, an denen man versucht hatte, Architekturen längst vergangener Epochen wiederzubeleben. Es war ein rundes Gebäude mit einem Portal am Eingang und glich eher einem römischen Wohnsitz als einer medizinischen Einrichtung. Durch die drei Meter hohe Eingangstür kam man in eine große runde Eingangshalle. Den Weg von der Tür bis zur Mitte säumten riesige holografische Säulen. Überall wurden Hologramme statt teurer Innenarchitektur verwendet. Mit der Zeit hatten wir uns daran gewöhnt, die Projektionen gar nicht mehr wahrzunehmen und einfach durch sie hindurchzulaufen. In der Mitte thronte auf einem Podest in einem runden Pult Eddy, unser Portier. Ich war sehr froh, dass zumindest er seinen Posten nicht an ein Hologramm verloren hatte. Über Eddys Pult konnte man direkt nach oben zu den Verbindungsgängen der Sektionen bis zum gewölbten Glasdach in den blauen Himmel schauen. Die meisten Wände, Decken und Böden im MyFair bestanden aus Glas. In den Seitenbereichen und im hinteren Teil der Halle befanden sich die Beförderungsschächte. Sobald man einen Fuß hineinsetzte, kam ein Boden aus der Wand gefahren. Mit Ansage des Ziels wurde man wie mit einer antiquierten Rohrpost bis zu seinem Bestimmungsort gebracht.

Zu viele holografische Blumen und Pflanzen hinter den Säulen sollten den Eindruck einer gemütlichen und heimischen Atmosphäre vermitteln, genauso wie die holografischen Wasserfälle, welche sich wie kleine Niagarafälle von Etage zu Etage stürzten. Doch wie die meisten Versuche, die echte Atmosphäre eines Gesundheitsparks zu verschleiern, blieb auch hier das Gefühl des Unbehagens, sodass man trotz der Schönheit wünschte, so schnell wie möglich wieder zu verschwinden. Die seichte Musik, eine Kreuzung zwischen Mystik und Klassik, wirkte unaufhörlich auf den Zuhörer und verstärkte das Unbehagen.

Ich arbeitete in Sektion 8. Das MyFair bestand aus vierzehn Sektionen auf sieben Etagen, einer Notaufnahme mit einer kleinen chirurgischen Abteilung im Keller und dem großen Zentrallabor im hinteren Teil des Erdgeschosses. Auf jeder Etage wurden jeweils zwei Sektionen durch eine riesige Halle verbunden. Jede Sektion wurde von einer zentralen Recheneinheit geleitet, die wiederum mit einem Zentralcomputer vernetzt war. Seit dem Gerichtsbeschluss letzten Jahres, dass Recheneinheiten mit Sprachfunktion keiner sexuellen Belästigungen ausgesetzt sein dürfen, hatten die meisten ihre weibliche Stimme wiederbekommen. Ja ich glaubte, sie wären sogar noch sinnlicher geworden, ein Effekt, der mir manchmal sehr tröstlich erschien.

Jede Rechnereinheit verwaltete sämtliche Patientendaten, wertete sie aus und interpretierte sie. Vorschläge zu Diagnose und Therapie sollten vom ärztlichen Team, welches aus drei Ärzten, darunter ein Psychiater, bestand, als Leitlinie genutzt werden und nicht, wie es allmählich Sitte wurde, unkritisch als kompletter Behandlungsplan.

Ich hatte schon seit Jahren kein echtes Papier mehr zu Gesicht bekommen. Zunächst kam digitales Papier, so dünn und faltbar wie normales Papier. Man konnte darauf schreiben und es zerknüllen. Doch mit der Holotechnik verschwand auch dieses Medium. Jeder von uns hatte nun eine winzige Einheit auf seinem Hemd, kaum sichtbar, doch ausreichend, um elektronische Seiten zu projizieren, ganze Akten, wenn nötig. Oder man bediente sich eines der zahlreichen Holoplays, die an jeder Ecke des Hauses und in den Patientenzimmern platziert waren. Das meiste erfolgte jedoch per Spracheingabe. Wir redeten jetzt mit Eve, unserem Computer, der alles erfasste und uns mit Informationen belieferte.

Eine Krankenschwester betreute mit einer medizinischen Einheit fünf Patientenzimmer mit jeweils zwei Patienten. Es hatte sich als falsch erwiesen, Patienten in Einzelzimmern unterzubringen. Der soziale Kontakt zwischen ihnen wurde als ein wesentlicher Faktor der Therapie erkannt. Es wurde dabei genau darauf geachtet, dass beide Patienten menschlich gut zueinanderpassten, um sich gegenseitig zu unterstützen und zu motivieren. Meistens erledigte die Recheneinheit anhand der erfassten Profile die Zuordnung und nur selten kamen dabei Fehler vor.

Medizinische Einheiten waren nun seit einigen Jahren im Einsatz. Es war damals ein Meilenstein der Medizintechnik, denn erstmalig wurde Replikatortechnik im Gesundheitsbereich eingesetzt. Im Ursprungszustand war so eine Einheit nichts weiter als ein Kasten, halb so groß wie ein Mensch. Im Inneren befand sich eine Replikatoreinheit, die je nach Notwendigkeit Körperteile erzeugen und recyceln konnte. Für den Transport wurde ein Magnetstreifen repliziert, der die Einheit über dem Boden schweben ließ, für Assistenzen wurden Greifarme gebildet, die dem Arzt oder der Schwester wie menschliche Hände helfen konnten. Sobald ein weiterer Arm benötigt wurde, wuchs er in Sekundenschnelle an der richtigen Stelle und kam sofort zum Einsatz. Danach verschwand er einfach wieder. Sobald eine Einheit direkt mit dem Patienten kommunizierte, wurden auch Köpfe und Gesichter repliziert. Mitunter saßen sie so stundenlang bei Patienten, lasen vor, fütterten oder stützten beim Aufstehen.

In der Medizin hatte es in den letzten Jahren viele bahnbrechende Veränderungen gegeben. Seit der genetischen Revolution wurden fast alle Erkrankungen des Menschen medikamentös behandelt. Chirurgen wurden durch die Gentechnik größtenteils arbeitslos. Der Beruf des Mediziners entwickelte sich zu einer nahezu labortechnischen Tätigkeit. Nicht nur, dass man Stoffwechselerkrankungen so gut wie eliminierte, Herzinfarkt und Schlaganfall wie Fremdwörter aus längst vergangenen Tagen klangen, niemand mehr etwas mit Begriffen wie Krebs oder Aids anzufangen wusste. Auch abgetrennte Gliedmaßen oder Organe wurden neu gezüchtet. Es schien keine Grenzen mehr zu geben. Die Halbgötter in Weiß waren zu echten Göttern aufgestiegen und entschieden im wahrsten Sinne des Wortes über Leben und Tod. Der Mensch nach Plan war Realität geworden.

Doch noch waren nicht alle Grenzen gefallen. Psychische Krankheiten ließen sich nicht so einfach überlisten. So wuchs die Zahl der Psychosen und Neurosen und es entstanden ganz neue Erkrankungen, von denen zuvor niemand etwas gehört hatte. Soweit entwickelt unsere Medizin auch war, die menschliche Psyche zu begreifen, blieb das letzte Geheimnis. Doch auch daran arbeiteten unsere Wissenschaftler mit ungeheurer Intensität. Mir wurde schwindlig bei dem Gedanken an die Möglichkeiten, die sich aus ihrem Wissen ergeben würden.

Am Morgen fuhr ich seit langer Zeit wieder mit meinem Ford Mustang zum MyFair. Gestern war das letzte Ersatzteil eingetroffen und heute stand mein Schmuckstück nach drei Wochen wieder an seinem gewohnten Platz in der Tiefgarage. Er war mein ganzer Stolz; ein Oldtimer, wie es wohl weltweit nur noch wenige gab. Wie sehr hatte ich mich darauf gefreut, ihn wieder zu fahren! – Der weiche Ledersitz schmiegte sich an meinen Körper. Optimal meiner Form angepasst, saß ich darin wie in einem Cockpit. Die Armaturen begannen zu leuchten. Als ich den Zündschlüssel drehte, heulte der Motor auf. Ich spürte sein vertrautes Vibrieren unter mir und gab genüsslich Gas. Schnell verließ ich die Tiefgarage und fuhr auf den Highway. Nur noch wenige Autos hatten eine Handschaltung wie mein Mustang. Ich spielte mit der Kupplung und beschleunigte, bis der Motor an seine Grenzen stieß. Die unbändige Kraft von zweihundertachtzig Pferdestärken und das Feuer unter meinem Hintern versetzten mich in pure Ekstase.

Trotz der Kälte hatte ich das Verdeck geöffnet. Der eisige Wind wehte mir durchs Haar, aber das störte mich nicht. Es war ein Traum! Die Fliehkraft in den Kurven drückte mich zur Seite. Ich fühlte mich frei und unbändig wie der letzte Cowboy in der Weite der Prärie, der letzte Easy Rider auf der Piste, denn ich war allein auf dem langen Highway, und ich trat noch fester auf das Gaspedal. Auch wenn die Steuern einen erheblichen Teil meines Gehaltes auffraßen, wollte ich keinesfalls auf diesen Spaß verzichten. Oh, wie hatte ich ihn vermisst, meinen geliebten Ford! Jetzt war er wieder bei mir und wir würden uns nie mehr trennen.

Gut gelaunt betrat ich die Eingangshalle des MyFair. Den Tag würde ich im Eiltempo absolvieren und dann mit Francine in meinem Ford Mustang ins Blaue fahren. Endlich hatten wir eine Möglichkeit gefunden, ein Wochenende gemeinsam zu verbringen. Ich freute mich sehr auf unseren Ausflug.

»Guten Morgen«, begrüßte ich Eddy.

Wie jeden Morgen antwortete er: »Grüß Gott, Dr. Foster.«

Mir gefiel seine direkte freundliche Art, ein stämmiger Deutscher mit einem Hang zu fast schon übertriebener Ordnungsliebe und Akkuratesse, jederzeit pünktlich und gut gelaunt, beständig wie eine deutsche Eiche. Ich glaube, ich habe ihn nie wütend oder missmutig erlebt.

Ich schritt durch die Eingangshalle bis zu den Aufzügen am hinteren Ende. Als ich in Sektion 8 hinaussprang, kam mir Billy entgegen. Er grinste breit über sein mit Pickeln übersätes Teenager-Gesicht und hielt mir seine Arme oder besser das, was davon übrig geblieben war, vors Gesicht. Trotz seiner kräftigen Statur verliehen ihm das rötliche Haar und die Sommersprossen ein kindliches Aussehen, das durch die weiten Hosen und die grellen Farben noch verstärkt wurde.

In letzter Zeit vertrieben sich die Kids die Langeweile mit immer gefährlicheren Sportarten. »Ritterspiele« hieß der letzte Schrei. Auf ihren Skyboards, schwebenden Brettern, standen sie sich gegenüber wie die Ritter zu König Arthurs’ Zeiten. Doch bewaffnet waren sie nicht mit Lanzen, sondern mit Samuraischwertern, die sie günstig im globalen Internet, seit einiger Zeit auch Gate genannt, erwarben. Der einzige Schutz, den sie sich gestatteten, war ein Kraftfeld, erzeugt von gestohlenen, meist veralteten Generatoren. Das Kraftfeld umspannte, wenn überhaupt, leider nur den Rumpf und ließ die Gliedmaßen ungeschützt. Dann nahmen sie Anlauf und stürzten sich aufeinander, bis sie auf halben Weg zusammentrafen und ihre Klingen kreuzten. Billy hatte Pech gehabt und dabei beide Hände verloren.

Jetzt strahlte über das ganze Gesicht. »Dr. Foster, sehen Sie nur. In ein paar Wochen kann ich wieder auf mein Skyboard steigen.«

Und tatsächlich, an beiden Armstummeln zeigten sich kleine Wucherungen, rosig, noch etwas unförmig, aber winzigen Babyhänden nicht unähnlich. Es war ein Wunder der modernen Medizin: Erst vor zwei Wochen hatte Billys Therapie begonnen. Noch vor dreißig Jahren wäre er als Invalide in irgendeiner Spezialklinik verkommen. Doch nun würde er in etwa acht Wochen wieder seine Kreise ziehen, um sich die nächsten Gliedmaßen abtrennen zu lassen.

»Zeig mal her, Billy.«

Billy streckte seine Stummel aus. Ganz genau schaute ich mir die neuen Fingerchen an. Gut sahen sie aus, aber links waren es nur vier statt fünf. »Ich fürchte, wir müssen deine Gentherapie nochmals ändern.«

»Was ist los, Doc?«

»Nichts Schlimmes. Es fehlt ein Finger. Wir werden deine Gencodierung anpassen und es wird noch einer nachwachsen.«

»Versprochen, Doc?«, scherzte Billy.

Ich nickte. »Ich hoffe, du hast deine Lektion gelernt und lässt den Samurai-Quatsch in Zukunft sein. Könnt ihr nicht gegen Hologramme kämpfen?«

»Wo bleibt da der Spaß, Doc? Kein Nervenkitzel. Wenn ich gegen ein Hologramm antrete, kann ich genauso gut Halma oder Schach spielen.«

»Ja, du solltest es mal mit Schach versuchen. Das wäre wahrscheinlich gesünder für dich.«

»Aber Doc, waren Sie denn niemals jung?«

Ich wurde ernst. »Ich habe mir nie irgendwelche Gliedmaßen abgetrennt. Findest du es gut, wie du jetzt aussiehst?«

»Dafür seid ihr doch da. Ihr werdet das schon hinkriegen.« Mit diesen Worten ging Billy langsam rückwärts, drehte sich dann um und lief den Flur entlang zur Cafeteria.

Ich erreichte schließlich die Zentrale in Sektion 8. Steve, Assistenzarzt wie ich, stritt sich bereits heftig mit Eve, unserer zentralen Recheneinheit, über die Ereignisse der letzten Nacht.

»Du dummer Schrotthaufen! Was soll das heißen, du hast ihn entlassen? Der Mann ist vollkommen plemplem. Der gehört behandelt mit seiner Schizophrenie!«

»Dr. Kallen. Nach allgemeingültigen Regeln der Psychiatrie hatte der Patient eine reaktive Depression, verursacht durch den Tod seines Hundes. Da seine Symptome gestern Nacht abklangen und nicht mehr nachzuweisen waren, habe ich ihn entlassen. Außerdem war sein Dopamin-Spiegel im Normbereich.«

Wütend wandte sich Steve von dem Hauptterminal ab. »Wer hat den Robotern eigentlich das Kommando gegeben, Sid? Kannst du mir sagen, wie man mit solchen Blecheimern vernünftig arbeiten soll? Der Patient ist ein hochintelligenter Mann, der seit Jahren Stimmen hört. Reaktive Depression wegen dem Tod seines Köters, lächerlich. Diese Recheneinheiten sind so leicht aufs Glatteis zu führen. Man sollte ihnen verbieten, psychiatrische Patienten zu behandeln! Dopamin im Normbereich und alle sind zufrieden, nur dem Patienten ist nicht geholfen.«

Er hatte recht. Doch was nutzte es, mit Eve zu streiten? Jede Kritik prallte an ihr ab wie ein Porsche an einer fünf Zoll dicken Betonmauer. Sie konnte ihr Verhalten nicht ändern. Also versuchte ich, Steve zu beruhigen. »Lass uns etwas essen gehen.«

Steve lenkte ein. »Du hast recht, soll sich Eve doch alleine um die Station kümmern! Sie macht ja doch, was sie will, das Miststück.«

Seit fünf Monaten versuchten Steve und ich, die Wunder der Medizin des einundzwanzigsten Jahrhunderts mit mehr oder weniger Erfolg in Sektion 8 anzuwenden. Ich kannte ihn schon aus meiner Studentenzeit in Europa. Wir waren enthusiastische Studenten der United University of Europe in Berlin. Nichts schien uns unmöglich. Nichts war uns zu schwierig oder zu kompliziert. Wie schnell hatte uns der Alltag doch eingeholt …

Steve war über zwei Meter groß und kräftig von Statur. Seine lockigen halblangen Haare verliehen ihm ein wildes, unbändiges Aussehen, welches jedoch durch sein sanftes, fast zartes Gesicht an Wirkung verlor. Sein offenes Wesen ließ ihn sofort sympathisch erscheinen. Er hatte im Umgang mit seinen Patienten stets einen Scherz auf den Lippen. Aber eine Eigenschaft hatte mich damals schon zur Weißglut gebracht. Er war pathologisch unordentlich. In seiner Wohnung stand alles kreuz und quer. Was er anfasste, interessierte ihn. Sobald sein Interesse jedoch erlosch, ließ er alles an Ort und Stelle fallen, und dort lag es dann, Tage, Wochen, Monate, egal ob Bücher, Papiere, Medikamente, Bierdosen oder Unterhosen. Sein Kühlschrank glich einem Feuchtbiotop, in dem man eine Versuchsreihe für neue Pilzsorten angelegt hatte, von den Gerüchen, die da herauskamen, ganz zu schweigen. – Nach dem Studium trennten sich unsere Wege. Er ging nach Wien, um die Feinheiten der Psychiatrie zu erlernen. Ich kam zurück in die Heimat, die United Nations of America, als Assistenzarzt am MyFair, dem renommiertesten Gesundheitspark an der Westküste, mit einem der größten Genlabore der gesamten UNA. Als damals der wirtschaftliche Druck aus Europa und Asien zu groß wurde, verschmolzen die USA mit Mexico und den meisten karibischen Ländern zu einer neuen großen Nation. Seitdem ging es auch ökonomisch wieder aufwärts.

Nach dem Ende seiner theoretischen Ausbildung in Wien traf ich Steve vor etwa fünf Monaten in Sektion 8 wieder, wo er zu meiner Überraschung vor Eves Monitor stand und mit ihr über das Wetter in Wien stritt. Steve und ich hatten uns eine eigene Strategie zurechtgelegt, um mit Eve klarzukommen. Jedes Mal, wenn ein schwieriger Fall aufgenommen wurde oder wenn uns ein Patient besonders wichtig war, kennzeichneten wir den Fall mit einem VaVir, was so viel wie »Verdacht auf Viren« bedeutete. Vor nichts schützte Eve sich besser als vor den heimtückischen Virenprogrammen, die ganze Stadtteile lahmlegten. Dieser Trick funktionierte eigentlich immer. Mit nahezu hundertprozentiger Sicherheit würde Eve sich nicht um solche Patienten kümmern. So gesehen erschien sie mir sogar menschlich, was zwar absurd klingt, in unserer Welt der Technik aber häufiger zu beobachten war. Die Grenzen zwischen Mensch und Maschine verwischten.

Auf dem Weg zur Cafeteria im Erdgeschoss beruhigte sich Steve wieder. Hier waren in regelmäßigen Abständen runde Tische platziert. Sobald man einen von ihnen berührte, fuhren aus dem Boden schalenförmige Stühle heraus und ordneten sich in einem Halbkreis um den Tisch an. Überall flitzten kleine Roboter herum und räumten die Tische ab. In der Mitte der Cafeteria ragte eine auf einem Podest montierte Replikatoreinheit empor wie die Siegessäule auf einem Marktplatz. Jedes erdenkliche Gericht und jedes Getränk konnte hier repliziert werden. An den Seiten wurden zwei kleinere Bars mit den üblichen Naturprodukten aufgestellt, die aber wegen des mangelnden Absatzes eher spärlich bestückt waren. Man sah deutlich, dass der kümmerliche Rest der angebotenen Naturprodukte schon ziemlich lange dort herumlag. Jeder wollte lieber Essen aus dem Replikator.

»Hast du das mit Harold gehört? Üble Sache.« Steve bestellte sich ein Steak, einen Muffin und einen extragroßen Kaffee.

»Ja, habe ich. Unglaublich, keiner begreift so richtig, was eigentlich passiert ist.«

»Was soll ich dir bestellen, Sid?«

»Danke, ich werde mir etwas von dem Obst dort drüben holen.«

»Ach komm schon Sid, du wirst doch nicht diesen verwelkten Fraß in dich reinstopfen. Was soll ich dir bestellen?«

»Lass es gut sein, Steve.« Ich konnte mich nicht dazu durchringen, meine Abscheu gegenüber diesem synthetischen Essen abzulegen. Wahrscheinlich war ich der einzige Mensch in der Klinik, dem das Essen aus dem Replikator nicht zusagte. Ich ging zur Bar und holte mir einen Orangensalat und ein gekochtes Ei.

»Heute Nachmittag findet eine Trauerfeier für Harold statt. Wirst du hingehen?«, fragte ich Steve, als wir uns an einen der Tische setzten.

»Nein. Ich habe die Sache von heute Nacht noch auszubügeln. Ich hoffe, Mr. Dog stürzt sich nicht aus dem Fenster. Außerdem kannte ich Harold kaum. Dieser stocksteife Brite hat doch schon immer sein eigenes Süppchen gekocht.«

Seine Art, mit dem Tod umzugehen, hatte mich früher schon beeindruckt. Es schien ihn nicht im Geringsten zu berühren. Doch im Laufe der Jahre hatte ich erkannt, dass dies nur eine Fassade war. In Wahrheit war er ein sehr sensibler Mensch, der viel über Dinge wie Leben und Tod nachdachte.

Steve hatte in kurzer Zeit sein riesiges Steak verschlungen und spülte seinen Muffin mit dem Rest seines Kaffees hinunter. »Übrigens habe ich dir einen Fall übrig gelassen. Ein einfältiger 35-jähriger Mann in Zimmer 4. Viel Spaß, wir sehen uns.« Er sprang auf und verschwand zum Zentrallabor.

Kapitel 3

 

Eve, wer liegt in Zimmer 4?«

»Tut mir leid Dr. Foster. Ich konnte die Patientendaten noch nicht bearbeiten.«

Auf meine Anweisung hin erschien die holografische Akte vor mir. Auf der ersten Seite las ich in der rechten oberen Ecke: VaVir, ein interessanter Fall also, den Steve vor Eve bewahrt hatte. Neugierig vertiefte ich mich in die Dokumente.

Michael Richburry, weißer 35-jähriger Mann mit bekanntem Hirnschaden seit zehn Jahren bei Zustand nach Reanimation … Seine Krankenakte war wie die vieler unserer Patienten. Auch als ich weiterlas, konnte ich nichts Aufregendes entdecken: Keine Besserung seit der letzten Therapie in Ihrem Hause. Verlegung des Patienten zur routinemäßigen diagnostischen Neubeurteilung seiner Hirnaktivitäten … Was fand Steve an diesem Fall so interessant? Wieso hatte er ihn vor Eves Zugriff geschützt? Ich beschloss, nicht weiterzulesen und mir selbst ein Bild zu verschaffen.

Vor dem Zimmer wartete ein älterer Mann, etwas gebückt und eingefallen, mit einem stumpfen, jedoch freundlichen Gesichtsausdruck. Hilfe suchend blickte er in meine Richtung.

»Guten Tag. Kann ich Ihnen helfen?«, fragte ich.

»Ich bin der Vater von Michael Richburry. Ich sollte hier auf den Arzt warten.«

»Es freut mich, Sie kennenzulernen. Mein Name ist Dr. Foster. Ich werde Ihren Sohn behandeln. Kommen Sie doch bitte mit.« Gemeinsam betraten wir Michaels Zimmer. Zunächst sah ich nur einen Mann im mittleren Alter vor dem Fenster am hinteren Bett stehen. Nicht besonders auffällig, etwas ungepflegt vielleicht, aber nicht unbedingt passend zum Krankheitsbild. Ich erwartete einen Patienten, dem man seine Krankheit ansah, bettlägerig oder zumindest äußerlich auffällig. Ich schaute mich um, ob nicht noch ein anderer Patient im Zimmer war. Dann sah ich jedoch Michaels ungeschickte Bewegungen. Er wirkte wie ein Kind, sodass ich ihn bei meiner Vorstellung sofort duzte. »Guten Tag, mein Name ist Dr. Foster. Ich bin dein behandelnder Arzt.«

»Hallo«, sagte er mit kindlicher Stimme. Unbeholfen reichte er mir die Hand. Auch seinen Vater begrüßte er wie einen Fremden mit Handschlag. Ich setzte mich an den Tisch und bedeutete den beiden, ebenfalls Platz zu nehmen.

»Wie geht es dir?«, fragte ich Michael freundlich. Doch er sagte kein Wort. Als ob er plötzlich meine Sprache nicht mehr sprechen würde, schaute er mit großen runden Augen durch mich hindurch.

Gerade, als ich mich umdrehen und mit seinem Vater reden wollte, öffneten sich seine Lippen. »Du, Doktor, weißt du, wann Mike Geburtstag hat?«

Verdutzt schaute ich ihn an. Mit dieser Frage hatte ich nicht gerechnet. Einen Augenblick wusste ich nicht so recht, was er meinte. Doch dann schaute ich auf seine holografische Akte. Michael Richburry, geb. 14.05.2050. Es war wohl sein eigener Geburtstag, nach dem er mich fragte, und so antwortete ich ihm: »Am 14. Mai.«

Ungläubig schaute er mich an, stockte einen Augenblick und fragte wieder: »Du, Doktor, weißt du, wann Mike Geburtstag hat?«

Er hatte kein Wort von dem verstanden, was ich sagte. Ich ignorierte ihn und wandte mich seinem Vater zu. »Können Sie mir etwas über ihn erzählen?«

»Ja, natürlich.« An seinem Tonfall erkannte ich, dass er dies schon unzählige Male getan hatte und es ihn nach wie vor schmerzte, über seinen Sohn zu sprechen. Dennoch begann er mit ruhiger Stimme zu erzählen: »Er war ein ganz normaler Junge. Nicht sehr schlau, aber er hat viel gemacht. Gern hat er in der Scheune alte Traktoren repariert. Sie wissen schon, diese alten Geräte, mit denen wir früher angebaut und geerntet haben.«

»Du, Doktor, wann hat der Mike Geburtstag?«, fiel Mike seinem Vater ins Wort. Ich versuchte erneut, ihn zu ignorieren.

Sein Vater fuhr fort: »Die staatlichen Behörden schickten uns einen Brief, dass Michael zu dumm sei für eine Ausbildung in der Stadt. Dann kam ein Mann in unser Dorf. Er sagte, es wäre noch nichts verloren. Es gäbe andere Wege, ihn in die Stadt zu schicken. Wir hatten noch nie mit Gentechnik zu tun gehabt. Wir sind einfache Leute, die im Leben zurechtkommen, wissen Sie?«

»Doktor, Doktor, wann hat Mike Geburtstag?«, fragte Mike.

Ungeduldig antwortete ich: »Im Mai, im Mai.« Er muss wohl den Tonfall meiner Stimme erkannt haben, denn er senkte den Kopf und fragte nicht mehr. Ich widmete mich wieder seinem Vater. Der alte Richburry schüttelte bekümmert den Kopf.

»Seitdem es die neuen Lebensmittel und nun sogar Replikatoren gibt, haben wir nicht mehr viel zu tun. Wir wollten unserem Sohn unbedingt eine Zukunft in der Stadt verschaffen. Er sollte etwas werden in seinem Leben, und das können nur klugen Menschen. Also haben wir ihn in die Stadt in eine Spezialklinik gebracht. Wir mussten unser halbes Land verkaufen, um den Arzt zu bezahlen. Aus der Klinik kam er zurück wie ein Fremder. Er erzählte über Pflanzen und Tiere und irgendwelche Säuren in Genen. Ich verstand den Jungen einfach nicht mehr. Aber er meinte, dadurch werden Kühe größer und Menschen schlauer. Er las so viele Bücher und redete mit allen möglichen Leuten. Er wollte sogar Arzt werden, so wie Sie.« Ein kurzes Lächeln huschte über sein Gesicht. »Alles, was wir wollten, war passiert. Doch dann wurde er so still. Ich fragte ihn, was ist los …«

»Wann hat Mike Geburtstag, Doktor?« Wie eine zerkratzte Platte sprang Mike wieder an die gleiche Stelle.

»Du hast im Mai Geburtstag, Mike«, antwortete sein Vater mit einer Stimme, die ihn zu beruhigen schien, denn er wirkte zufrieden.

Mr. Richburry kratzte sich am Kopf. »Ich fragte also: Was ist los, Mike? Hast du irgendwelche Probleme? Doch er sagte, alles ist gut. Es sei der Stress, der ihm zu schaffen mache, und er freue sich auf sein Studium. Am nächsten Morgen fand unsere fünfjährige Tochter ihn im Pool hinter unserem Haus. Er hatte sich betrunken, die Pulsadern aufgeschnitten und sich ins Wasser gelegt. Es war furchtbar. Das Wasser war so rot.« Seine Stimme bebte. Eine Träne lief seine Wangen herab. »Der Arzt sagte, er war schon seit einer Stunde da drin.« Er sah mich an und erwartete wohl eine medizinische Erklärung für das, was passiert war. »Zwei lange Stunden haben sie versucht, ihn wieder zurückzuholen. Damals gab es noch nicht so gute Geräte wie heute. Dann haben sie es geschafft und ihn in eine ihrer Kliniken gebracht. Dort war er sechs Monate im Koma. Er kam wieder zu sich, ist seitdem aber in diesem jämmerlichen Zustand.« Langsam nickte ich. »Wir werden uns um ihn kümmern, das verspreche ich Ihnen, Mr. Richburry. Wir werden alles tun, was in unserer Macht steht.«

»Das haben die anderen Ärzte auch alle gesagt, doch keiner konnte meinem Sohn helfen.«

»Er ist hier in guten Händen, glauben Sie mir. Das MyFair ist einer der besten Gesundheitsparks im Land.« Ich verabschiedete mich von ihm und versprach, in Kontakt zu bleiben.

Mike saß wie in Trance auf seinem Stuhl. Während er ein Kinderlied leise vor sich hinsummte, wippte sein Oberkörper kaum merklich nach vorn und hinten. Als ich ging, sah er mich wieder fragend an.

»Im Mai, Mike, im Mai«, sagte ich automatisch. Dann trat ich endlich auf den Flur.

Ich war sauer. Steve hatte mich ins offene Messer laufen lassen. Es handelte sich nicht um eine gewöhnliche Krankheit. Michael Richburry litt an GPS, ein durch Gentechnik Provoziertes Syndrom. Solche Patienten waren unberechenbar und äußerst schwer zu therapieren, nicht zu reden von der strikten Chefanweisung, GPS-Patienten sofort zu melden, da sich spezielle Teams mit ihnen beschäftigten und dazu auch von staatlichen Behörden autorisiert waren.

»Eve!«, schrie ich über den Flur. »Wo ist Dr. Kallen im Moment?«

»Er ist im Zentrallabor.«

»Sofort eine Bildverbindung. Und es ist mir egal, was er gerade treibt!«

Natürlich hatte ich früher schon mit GPS-Patienten zu tun gehabt. Doch das war Jahre her, vor der Chefanweisung. Wenn ich es recht überlegte, verschwanden diese Patienten schon damals gleich nach den ersten Diagnoseschritten in irgendwelchen Spezialkliniken. Intensiver hatte ich mich noch nicht mit diesem Thema beschäftigen können. Es war wie unsichtbare Materie, die für niemanden greifbar sein sollte.

»Hi, Sid! Was gibts denn so Dringendes?«

»Was sollte das mit Michael Richburry? Bist du jetzt völlig durchgeknallt?«

Nicht Gefühle, sondern Argumente sollen uns bei der Frage nach Gut und Böse leiten.

»Was hast du vor?«

»Wir müssen versuchen, mit ihm zu reden, ihn zu provozieren. Wir müssen Michael helfen, seine Barriere zu überwinden. Wir müssen ihm helfen, den Mantel um seinen Geist zu durchdringen. Aber, Sid …« Er schaute sich um und sprach leiser. »Niemand darf etwas erfahren, vor allem nicht Eve! Versprich mir das?«

Ich gab ihm mein Wort. Mir war klar, dass wir uns mit Michael auf illegalem Boden bewegten.