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Unheilige Nacht

 

 

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Dorian Hunter & Das Haus Zamis


Unheilige Nacht

 

Herausgegeben von Susanne Wilhelm und Uwe Voehl

 

 

© Zaubermond Verlag 2016

© "Dorian Hunter – Dämonenkiller"

by Pabel-Moewig Verlag GmbH, Rastatt

 

 

Titelbild: Mark Freier

eBook-Erstellung: Die Autoren-Manufaktur

 

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Alle Rechte vorbehalten

 

 

Vorwort

 

Der Winter kommt immer auf leisen Sohlen. Er ist eine Zeit der Dunkelheit, eine Zeit, in der den Menschen die Grenze zwischen der Realität und dem Übernatürlichen immer schon besonders dünn schien. Die Dämonen werden mit zunehmender Finsternis von Nacht zu Nacht realer. Und spätestens, wenn die ganz fiesen Alpträume uns um den Schlaf bringen, sollten wir sie mit passender Lektüre verscheuchen. Höchste Zeit also, Dorian Hunter oder Coco Zamis auf ihrer Winterreise zu begleiten – denn sie meinen es in der Regel gut mit uns, wenn sie diese Welt von dem einen oder anderen Dämon befreien. Aber Vorsicht: Nicht immer geht es gut aus, und mancher aus der Sippe der Zamis sieht die Sache wieder ganz anders, während Dorian Hunter auch mal seine inneren Dämonen bekämpft – aber das alles kennen Sie ja, die beiden sind Ihnen vertraut aus DORIAN HUNTER oder DAS HAUS ZAMIS, nicht wahr?

Der ZAUBERMOND-Verlag startete einen Aufruf, dem alle Autoren folgten: Schreibt eine Geschichte, die zu einer der beiden Serien passt. Mindestens 5000 Wörter sollte sie lang sein. Ach ja, und möglichst zur Winterzeit spielen. Die Autoren ließen ihrer Phantasie freien Lauf – und herausgekommen ist diese Anthologie, die ganz besondere Geschichten exklusiv vereint:

Simon Borner widmet sich in Das ABC des Teufels einem Zeitvertreib, der schon immer als teuflisch und sündig galt: Dem Glücksspiel.

In Der Freak der Weihnacht erkundet Uwe Voehl ganz in Dickens’’scher Tradition Dorian Hunters vergangene, gegenwärtige und zukünftige Weihnacht.

Catherine Parker entführt zu Hogmanay nach Schottland. Das titelgebende Fest ist die schottische Version von Silvester, hat hier aber wenig mit fröhlichen Feiern und Feuerwerk zu tun.

In Loiwein gibt es zusammen mit Michael Marcus Thurner heidnische Opferstätten zu besichtigen.

Christian Schwarz dagegen verstrickt Dorian Hunter in eine Fehde, die nicht ganz den Regeln der Schwarzen Familie entspricht.

In Susanne Wilhelms Krampus wird Coco mit ihrer Vergangenheit auf Schloss Behemoth konfrontiert, aber auch mit einem wilden Gesellen, der im Revier ihres Onkels auf Menschenjagd geht.

Jörg Kleudgen und Logan Dee lassen es in Black Snow jahreszeitlich gemäß schneien, nur fällt stattdessen schwarzer Schnee – und der ist auch noch tödlich!

In Catalina Corvos bittersüßer Romanze Thomasnacht begegnen wir einem alten Bekannten, der sein schwarzes Herz an eine ganz ungewöhnliche Dämonin verliert.

Und Michael Marcus Thurner klärt uns in Unheilige Nacht endlich darüber auf, wer eigentlich in den Etagen über dem Café Zamis haust.

Sie sehen schon, so ganz friedlich verlaufen unsere Weihnachtsfeste nicht …

 

Susanne Wilhelm & Uwe Voehl

 

 

Erstes Buch: Dorian Hunter

 

 

Das ABC des Teufels

von Simon Borner

 

 

Karten sind des Teufels ABC.

- sorbisches Sprichwort

 

 

Spanien, 1796

Sein Name war Hugo Bassarak. Aber er hatte keine Bedeutung mehr. Er gehörte der Vergangenheit an – genau wie jedes andere Detail seines Lebens. Und die Vergangenheit war vorüber. Endgültig. Sie musste es einfach sein.

Andernfalls wäre es vermutlich sein Tod.

 

Die Straße war lang, staubig und kerzengerade. Bassarak wusste nicht, wie lange er sie schon beschritt. Tage? Wochen? Die Zeit verlor jegliche Bedeutung, wenn man stur nach Süden wanderte, nichts als den Himmel und das Gras am Wegesrand als Begleitung und nichts als das ferne Ziel im Sinn:

Portugal. Die Atlantikküste.

Dort würde er ein Schiff finden, das ihn noch weiter weg von all dem brachte, was er zu vergessen suchte. Wenn erst Ozeane zwischen ihm und Paris lagen … Vielleicht würde er dann endlich vergessen können. Endlich leben können. Endlich Frieden finden.

Am Tag gelang ihm das schon recht gut. Die staubige Landstraße half, die Erinnerungen verblassen zu lassen. Sie bestätigte einem mit jedem zurückgelegten Schritt und jedem passierten Grashalm aufs Neue, dass es vorwärts ging und die Grauen des Gestern immer weiter hinter ihm lagen. Die Straße gab einem eine Beschäftigung und ein Gefühl von Fortschritt. Nur bei Nacht, wenn Bassarak allein auf seinem Lager ruhte, den Blick ins Dunkel gerichtet, kehrten die Erinnerungen zurück und überwältigten ihn wie Sturmwellen das schutzlose Ufer. Nachts bekam das Gestern Zähne, und sein Biss war noch so teuflisch wie eh und je.

Nicht denken, tadelte er sich daher und richtete den Blick nun wieder stur gen Horizont. Handeln.

Es war sein Mantra, seit Wochen schon. Er ging, um zu vergessen – das ja –, aber auch, um sich einen Neuanfang zu ermöglichen. Er ging, damit ein Schlussstrich gezogen wurde und ein neues Kapitel begann. Eines, in dem das Gestern keine Rolle mehr spielte, weil niemand es mehr kannte. Weil niemand Fragen stellte, die Bassarak nicht beantworten wollte. Und weil gefühlt Welten zwischen ihm und Paris liegen würden. Welten voller Sicherheit.

Es war spät geworden an diesem Tag. Dunkle Wolken bedeckten den Himmel über Spaniens Bergen. Bassarak war auf seiner Wanderung so in Gedanken versunken gewesen, dass er sie erst jetzt bemerkte. Ferner Donner drang nun an sein Ohr, und in der Luft lag eine drückende Schwüle, die ihm trotz der schon späten Stunde erneut den Schweiß aus den Poren lockte. Ein Sturm bahnte sich an. Sogar ein ziemlich starker, wenn er sich nicht irrte. Selbst das Zwitschern der Vögel – eigentlich eine Konstante auf seinem Weg – war inzwischen verstummt. Die gefiederten Tiere schienen bereits irgendwo Zuflucht gefunden zu haben.

Da geht es ihnen besser als mir.

Seufzend beschleunigte Bassarak seinen Schritt. Irgendwo würde er schon eine Scheune oder einen Gasthof finden. Wenn er Glück hatte und sich beeilte, erreichte er ihn noch, bevor das Wetter zur Gefahr wurde und ein Blitz an ihm beendete, was dem Grauen von Paris nicht gelungen war.

Knapp eine Stunde später kam er nach Punto Final. Der so pathetisch betitelte Ort war wenig mehr als ein Klecks auf der Landkarte. Eine Handvoll windschiefer Häuser, irgendwo im Hinterland des spanischen Nirgendwo gelegen, zwischen den Bergen und dem Wald, und rechts und links an ein und derselben staubigen Straße aufgereiht, der einzigen weit und breit. Schwarze Fenster, hinter denen sich nichts rührte. Krumme Schornsteine, aus denen kein Rauch aufstieg. Schmutzige Fassaden. Doch mittendrin: ein Gasthaus.

Bassarak, inzwischen regennass bis auf die Knochen, atmete erleichtert auf. Schnell bog er von der Straße ab und steuerte auf das ebenso kleine wie unscheinbar wirkende Lokal zu. Es hieß genau wie der Ort, und zumindest von außen machte es selbst an diesem Unwetterabend einen alles andere als heimeligen Eindruck. Aber in der Not war jeder Hafen eine Rettung, und das Punto Final hatte der Straße und dem Sturm zumindest Wände und ein Dach voraus. Das war im Moment alles, was für Bassarak zählte. Dankbar betrat er den Schankraum.

Auch das Innere des Gasthauses verdiente eigentlich keine Beschreibung. Schmucklose Wände, abgewetzte Tische und Stühle. Ein langer Tresen am hinteren Ende des Raumes wirkte so windschief wie der gesamte Ort, und die Handvoll schlicht wirkender Gestalten, die sich an ihm versammelt hatten, um ein Glas nach dem anderen zu leeren, waren sich selbst genug. Niemand von ihnen drehte sich nach Bassarak um.

Das, fand dieser, war ein weiterer Glücksfall. Er achtete kaum auf sie. Schweigend nahm Bassarak an einem Ecktisch Platz, fuhr sich mit der Hand über das nasse Gesicht und streckte die Beine aus. Wie aus dem Nichts erschien der Wirt neben ihm – ein stämmiger Bär von einem Mann mit schwarzem Haar und vollem Bart –, stellte kommentarlos einen Krug Bier vor ihm ab und ging genauso kommentarlos wieder zum Tresen zurück. Unter anderen Umständen hätte Bassarak sich beschwert, schließlich hatte er nichts bestellt. Nun aber merkte er, wie durstig er war, und leerte den halben Krug in einem einzigen Zug. Das Gebräu schmeckte himmlisch.

Zeit verstrich. Bassarak hatte die Stiefel ausgezogen und das Regenwasser aus ihnen gekippt. Sein kurzes Haar begann zu trocknen, die Kleidung ebenfalls. Eine wohlige Wärme und Ruhe machte sich in seinem Inneren breit. Vor den Fenstern des Punto Final tobte das Unwetter. Wind pfiff um die schiefen Häuser, und die restlos verlassene Straße schien im Nass zu versinken. Doch hier im Schankraum war es trocken und friedlich. Außerdem gab es Bier.

Bassarak war bereits beim dritten Krug, als er sich endlich einmal nach den Gestalten am Tresen umdrehte. Zwei von ihnen waren tatsächlich eher simple Gesellen. In die Jahre gekommene Männer vom Land, mit wettergegerbten Gesichtern, schwieligen Händen und Hosen, die öfter geflickt worden waren als gewaschen. Stoisch und zügig leerten sie ihre Humpen, einen nach dem anderen. Sie redeten nicht viel, aber das taten sie draußen auf ihren Feldern vermutlich auch nie.

Nur einer redete viel. Zu viel.

»Herr Wirt, noch eine Runde für meine neuen Freunde! Und zwar das starke Zeug, hört Ihr? Dieser Sturm, der uns so unverhofft in Eurer Schänke zusammengeführt hat, soll uns ein Grund zum Feiern sein.«

Sehr gestelzte Worte für einen so simplen Ort. Auch ihr Sprecher passte nicht ganz in die Umgebung. Der Mann dort in den Schatten am hinteren Tresenende war deutlich auffälliger gekleidet als die Landeier, fast schon städtisch. Er war gertenschlank und drahtig, wo sie eher durch Muskeln und klobigere Statur überzeugten. Außerdem hatte er feuerrotes Haar, eine unnatürliche Blässe und trug sogar hier im Haus noch einen Hut, dessen Krempe seine Züge zum Großteil in Dunkelheit hüllte. Der Kragen seines Mantels war hochgeschlagen, als würde er frieren. Und doch lag eine Herzlichkeit und Wärme in seinem Tonfall, die von allem anderen als von Kälte kündete.

Sie war klebrig wie Honig und falsch wie der Tod.

Bassarak begriff sofort. Denn er kannte solch einen Tonfall gut. Aus Paris … und aus den schlaflosen Nächten.

Sofort sah er wieder weg. Sein Atem ging schneller, und die Hände, die seinen dritten Krug hielten, zitterten plötzlich leicht. Mit einem Mal war er stocknüchtern.

Konnte es wirklich wahr sein? Einer von ihnen, so weit draußen im Nichts? So fern von Paris und dem pulsierenden Leben, nach dem diese elenden Ungetüme doch so sehr lechzten?

Bassarak versuchte sich einzureden, dass seine Phantasie ihm Streiche spielte. Doch sein Instinkt sprach eine ganz andere, erschreckend deutliche Sprache. Die so menschlich anmutende Kreatur da am Tresen war keine Phantasie. Sie war echt. Und sie jagte!

»Trinkt, Freunde. Trinkt. Ich lade euch ein. Eure Gesellschaft ist mir ein Segen. Wer hätte gedacht, dass ich hier draußen auf solch herrliche Kumpane stoße?«

Bassarak biss die Zähne zusammen, dass ihm die Kiefer schmerzten. Sein ganzer Körper schien zu verkrampfen, so sehr ekelte und entsetzte ihn die Präsenz des blassen Ungeheuers dort am Tresen. Warum hatte er diesen Dämon nicht schon bei seiner Ankunft bemerkt? War er zu müde gewesen, zu erschöpft? Waren die alten Instinkte nach all den Wochen auf der Landstraße etwa eingerostet?

Es änderte nichts: Der Blasse Mann war hier, und mit jedem Krug, den er den tumben Feldarbeitern spendierte, zog er seine Schlinge enger zu. Nicht mehr lange, und er würde sich einen der Zecher als Beute nehmen. Wenn nicht sogar alle. Die Gier war schließlich das, was seine elende Brut vor allem anderen auszeichnete. Sogar noch vor dem Mangel an Moral.

»Was ist mit Euch, Freund? Wollt Ihr Euch uns nicht anschließen? In stürmischen Nächten wie heute kann man sich doch keine bessere Gesellschaft wünschen?«

Bassarak wusste sehr genau, wem die Frage galt. So genau, wie er wusste, dass der Blick des Blassen plötzlich allein auf ihm ruhte. Dieser gierige, unmenschliche, elende Blick.

»Wir haben noch Platz für Euch, mein Freund«, rief der Fremde in Bassaraks Rücken. »Kommt doch einfach her. Die nächste Runde geht auf mich!«

Bassaraks Augen waren weit geöffnet. Doch obwohl er stur auf den Sturm jenseits der Fenster blickte, sah er nur die Bilder seiner Vergangenheit vor sich. Das Blut von Paris, die Toten und die dämonische, gierige Brut.

»Freund?«, rief der Fremde. Falsche Freundlichkeit, falscher Charme. Trügerisch und verlogen. Lockend schlug er zwei Bierkrüge aneinander. »Trinkt mit uns, was sagt Ihr?«

Ruckartig stand Bassarak auf. »Nein danke!«

Sein Herz pochte wie wild, und hinter seiner Stirn kämpfte Wut mit Angst und Übelkeit. Er drehte sich nicht um, dachte nicht groß nach, als er nach seinen Stiefeln griff. Schroff warf ein paar Münzen auf den Tisch und verließ das Punto Final ohne ein weiteres Wort.

Hass loderte in ihm wie Feuer, als er zurück auf die Straße trat. Der Regen, der Wind, die grellen Blitze am pechfinsteren Wolkenhimmel – all das scherte ihn mit einem Mal nicht mehr. Alles war besser als noch eine Sekunde länger in diesem von den Göttern verfluchten Gasthaus zu verbringen. Er hatte Paris verlassen, um die Vergangenheit zu vergessen und neu zu beginnen. Also durfte – und würde, verdammt! – er sich auch nicht von ihr einholen lassen. Auf gar keinen Fall. Die Gestalt dort im Schankraum … Sie kümmerte ihn nicht. Warum sollte sie? Er war schließlich nicht mehr der Mann von damals.

 

Sein Wille war stark, doch der Sturm war stärker. Kaum eine halbe Stunde, nachdem Bassarak Punto Final verlassen hatte, musste er einsehen, dass ein Weiterkommen absolut unmöglich war. Zum einen lag das an der Uhrzeit. Es war nach Mitternacht, und die schmale Landstraße, die vom Ort in den Wald führte, schien kaum noch erkennbar. Zum anderen erschwerte auch das Unwetter Bassaraks Unterfangen. Der Sturm, der am frühen Abend aufgezogen war, hatte sich inzwischen in ein absolut apokalyptisches Inferno verwandelt. Pechschwarze Wolken türmten sich am Himmel, als wollten sie Mond und Sterne auf ewig in ihrer Schwärze verschlingen. Gleißend helle Blitze durchfuhren die Nacht, flink wie das scharfe Messer eines Mörders. Unbändiger, laut tosender Wind brachte die Bäume zum Schwanken und ließ wahre Fontänen aus abgerissenen Ästen, Blattwerk und Dreck auf die verlassene Landstraße prasseln. Und der elende, eiskalte Regen, der mittlerweile aus allen Richtungen zu kommen schien, tat sein Übriges, Bassarak am Weitergehen zu hindern.

Bislang hatte sich der Wanderer nicht groß um das Wetter geschert. Der Hass und der Ekel, die die Begegnung in der Gaststätte in ihm geweckt hatten, waren ihm Antrieb genug gewesen, der Natur die Stirn zu bieten und einfach stur weiterzuziehen. Zu handeln, statt zu denken. Nun aber, nach knapp zwei Kilometern durch finsterste, unwirtliche Gewitternacht, musste Bassarak sich eingestehen, dass seine Sturheit nicht heroisch, sondern ganz und gar töricht war. Wenn er nicht bald zur Besinnung kam, wurde sie vermutlich sogar sein Tod.

Als wolle er diese Erkenntnis noch unterstreichen, schlug just in dem Moment ein Blitz rechts von Bassarak in einen Baum ein. Der Knall war ohrenbetäubend, das Licht blendete – und selbst der immens starke Regen brauchte einige Augenblicke, um das prompt in Flammen stehende Holz wieder zu löschen. Zurück blieb ein verkohlter Baumstumpf und ein nicht minder verkohlter Stamm, der abbrach, seitlich umkippte und wenige Schritte vor Bassarak quer über die nasse Landstraße fiel.

Das könnte ich sein, ging es dem Wanderer durch den Kopf. Und mit einem Mal kehrte die Vernunft endgültig in ihn zurück. Es nützt nichts. Ich brauche einen Unterschlupf. Schnell.

Doch woher nehmen? Das Punto Final lag zwar nur eine halbe Stunde hinter ihm, doch wäre er lieber gestorben, als sich erneut der Gesellschaft des dort jagenden Monstrums auszusetzen. Die anderen Gebäude des kleinen Ortes waren gewiss eine Option, aber ebenfalls keine, die Bassarak angenehm war.

Dieser Dämon wird sich vielleicht nicht mit den Zechern in der Schänke begnügen. Der ganze Ort wird seine Spielwiese. Der Ort … ist verseucht!

Ja, das traf es, oder? Die Gegenwart des Blassen Mannes hatte das kleine Dorf Punto Final in Bassaraks Augen befleckt, es infiziert und unrein werden lassen. Der Blasse Mann machte es zu einem Stück aus Bassaraks Vergangenheit, nicht zu der Zukunft, die der nächtliche Wanderer so dringend suchte. Dorthin konnte er nicht zurück. Niemals. Sein ganzes Wesen sträubte sich dagegen.

Aber ich kann auch nicht hier stehen bleiben. So viel ist sicher.

Donner grollte, hungrig wie ein Raubtier. Ratlos kniff Bassarak die Lider enger zusammen und ließ den Blick schweifen. Die Nacht und der Wald waren dunkel und ungastlich. Nirgends konnte er einen Unterstand ausmachen, keinen Felsvorsprung, keine Scheune, nichts.

Bei der Finsternis ist das auch keine Überraschung. Selbst wenn da direkt vor mir ein mehrstöckiges Haus stünde, würde ich es nicht erkennen.

Er wollte gerade weiterziehen und über den Baumstamm steigen, da bemerkte er eine Bewegung im Augenwinkel. Sofort übernahmen die alten Instinkte das Ruder. Bassarak spannte die Muskeln an, ballte die Hände zu Fäusten … und drehte den Kopf zur Seite.

Nichts. Nur Schwärze und Dunkelheit.

Bassarak runzelte die Stirn. War seine Phantasie mit ihm durchgegangen?

Da! Wieder bewegte sich etwas. Bassarak hielt den Atem an, lauschte, hörte aber nur den Sturm.

Und mit einem Mal sah er das Licht. Es befand sich vielleicht ein Dutzend Meter links von ihm, jenseits der Baumgrenze. Ein kleines, rötlich flackerndes Leuchten inmitten der Finsternis. Es wanderte nicht, es blieb dort, wo es war. Die Bewegung, die er meinte wahrgenommen zu haben, mussten die im Wind schaukelnden Baumkronen sein, die das Licht mal verdeckten und mal enthüllten.

Bassarak trat einen Schritt näher, dann noch einen. Was war das? Eine Laterne? Das Fenster einer kleinen Hütte? Hier draußen im nachtdunklen Nichts?

Oder handelte es sich um einen weiteren dämonischen Spuk?

Vorsichtig hielt Bassarak auf das rötliche Licht zu. Er durchbrach die Baumgrenze, schlich weiter. Und ein neuer Blitz, der die Nacht kurz taghell werden ließ, schenkte ihm endlich Gewissheit. Das war eine Hütte!

Sie war winzig klein und wirkte recht ramponiert. Vier Wände aus grobem Holz, ein schiefes Dach, auf dem das Moos wucherte. Licht, das aus einem Fenster fiel. Die hintere Wand wurde von einem gemauerten Schornstein dominiert, der von stattlichem Umfang war. Und rings herum wucherten Gras, Efeu, Büsche …

Ein Köhler?, fragte sich Bassarak. Die Vermutung lag nahe. Wer sonst sollte so weit außerhalb der Ortschaft weilen? Und trotzdem … Irgendwie weckte sie neue Zweifel in ihm.

Doch eine Hütte war eine Hütte. Und manchmal durfte man sein Glück nicht zu sehr hinterfragen. Klatschnass, wie er war, trat Bassarak an die Tür der vermeintlichen Köhlerhütte und klopfte an.

Nichts regte sich, aber die Tür war unverschlossen und glitt einfach auf. Bassarak sah einen schlichten Raum, ein brennendes Kaminfeuer, einen Tisch mit zwei Stühlen.

»Hallo? Ist hier jemand?«

Stille. Nur der Sturm drang an sein Ohr. Vorsichtig trat Bassarak über die Schwelle, raus aus dem Unwetter.

Das Haus – es schien tatsächlich nur aus dem einen Zimmer zu bestehen – war verlassen, obwohl das Kaminfeuer brannte. Eigenartig.

Bassarak schloss die Tür hinter sich, und schon verspürte er eine angenehme Wärme, die die Nässe und Kälte des Unwetters vertrieb. Auch das Tosen des Windes vernahm er deutlich schwächer als vorhin. Das Prasseln des Feuers dort im gemauerten Kamin war deutlich lauter – und deutlich heimeliger.

Ächzend ließ er sich auf einem der beiden Stühle nieder, nur für einen kurzen Moment. Er wusste nicht, welchem Wink des Schicksals er diese Oase inmitten der stürmischen Nacht verdankte, und er wollte seine unbekannten Gastgeber auch nicht über Gebühr belasten. Nein, er würde sich einfach kurz aufwärmen und den ärgsten Teil des Unwetters aussitzen. Dann würde er weiterziehen. Wem auch immer diese Hütte gehörte, bekam so vielleicht gar nicht mit, dass er hier gewesen war.

Zufrieden und erleichtert legte Bassarak den nassen Kopf in den Nacken und sah zur Decke. Mit einem Mal musste er gähnen. Seine Lider wurden schwer, denn die Anstrengungen der vergangenen halben Stunde schienen nun doch ihren Tribut zu fordern. Bassarak schloss die Augen – Nur ganz kurz, nur für einen winzigen Augenblick, einverstanden? Nur … – und öffnete sie wieder.

Und sah einen Mann.

Der Alte, der mit einem Mal auf dem zweiten Stuhl saß, war groß und hatte graumeliertes, strubbeliges Haar. Ein stattlicher Vollbart zierte sein Gesicht, und auch die buschigen Brauen unter der faltig-wettergegerbten Stirn hatten lange keine Klinge mehr gesehen. Er trug die typische Arbeitskleidung eines Köhlers und ein freundliches Lächeln auf den Zügen.

»Guten Abend«, sagte er.

Bassarak erholte sich nur langsam von seinem anfänglichen Schrecken. Verdammt, war er etwa kurz eingenickt? Er hatte den Mann gar nicht kommen hören.

Schnell stand er auf. »Ich bitte um Verzeihung. Ich …«

Doch der Alte winkte nur ab. »Spart Euch die Erklärungen, mein junger Gast. Ihr seid nicht im Feindesland, sondern bei mir. Unter Freunden.« Er deutete auf Bassaraks Stuhl. »Und bitte: Setzt euch. Bei diesem Wetter schicke ich niemanden hinaus ins Freie. Erst recht keine willkommene Gesellschaft.«

Bassarak sah zum Fenster. So lange konnte er nicht geschlafen haben, wenn denn überhaupt. Die Nacht, der Regen und der Sturm regierten dort draußen nach wie vor und mit ungebrochener Macht. »Ich möchte nicht unhöflich wirken. Das Haus war leer, als ich es fand. Ich bin unterwegs und …«

»Natürlich, natürlich.« Wieder lächelte der Alte. Sein Blick war freundlich, seine Miene einladend. »Und der Zufall hat uns hier zusammengeführt. Ehrlich gesagt, bin ich froh über Eure Gesellschaft. Dann vergeht die Nacht schneller, wisst Ihr? Wenn man Begleitung hat.«

Der Donner grollte wieder, näher als zuvor. Das Holz im Kamin knackte, und die Flammen warfen tanzende Schatten auf die Wände der Köhlerhütte.

»Was sagt Ihr, junger Freund? An Schlaf ist in dieser stürmischen Nacht nicht zu denken. Und in der Einsamkeit wird Zeit zu einer wahren Strafe, findet Ihr nicht auch? Daher mein Vorschlag: Lenken wir uns gegenseitig ab, bis der Morgen anbricht und ein neuer Tag beginnt.«

Bassarak hob den Blick. Zweifel schlich in seinen Tonfall. »Ablenken?«

»Indem wir einander Geschichten erzählen«, fuhr der Alte fort. Er klang ganz unbekümmert, und doch …

Irgendetwas an seiner Art ließ Bassarak stutzen. »Was für Geschichten sollen das sein, hm?«, hakte er zögernd nach.

Der Alte breitete die Arme aus. »Ich zum Beispiel wüsste gern, wer Ihr seid. Was treibt Euch zu solch unchristlicher Zeit hier hinaus ins Nichts? Ihr seid nicht von hier, oder? Wo kommt Ihr her, wo wollt Ihr hin, und was ist es, das Euch auf Eure anscheinend so dringende Reise brachte?«

All das waren Fragen, die Bassarak nachvollziehen konnte, die er aber nichts und niemandem beantworten wollte. Nicht diesem Fremden, ja, nicht einmal sich selbst. Sie betrafen die Vergangenheit, und mit der hatte er abgeschlossen – ein für alle Mal. »Ich bin nur ein Wandersmann, weiter nichts.«

Der Alte nickte theatralisch. »Und ich bin der König von Spanien«, sagte er ganz nüchtern, aber mit schelmischem Funkeln im Blick.

Bassarak seufzte. »Wirklich, Señor: Ich danke Euch für Eure Gastfreundschaft. Und ich bedaure, ungefragt Eure Bleibe betreten zu haben. Aber ich will wirklich nicht …«

Der Mann mit den grauen Haaren griff in die Tasche seiner abgewetzten dunklen Weste und entnahm ihr ein kleines, rechteckiges Kästchen. Das stellte er auf den Tisch. Bassarak, der prompt verstummte, erkannte es staunend. Es handelte sich um eine Schachtel für Spielkarten, wie man sie wohl in jeder Gaststätte des Kontinents fand. Diese jedoch war sehr kunstvoll verziert. Das dünne Holz wies Schnitzereien auf, die äußerst kostbar wirkten: Engelsfiguren, die mit Teufelchen spielten. Wolken, die sich teilten und den Blick auf eine Sonne freigaben, die genauso gut ein kreisrundes Höllenfeuer hätte sein können. Die Köhlerhütte mochte schlicht und zweckmäßig sein, die Kleidung des Köhlers alt – aber dieses hölzerne Kästchen hatte irgendwann einmal ganz schön viel gekostet. Das stand fest.

Der Alte öffnete das Kästchen und entnahm ihm die Spielkarten. Wo ihre Verpackung wertvoll und prächtig wirkte, waren sie ganz eindeutig schon zu oft benutzt worden. Das Papier war abgewetzt und von unzähligen Händen beschmutzt. Die Karten wiesen Knicke und leichte Risse auf. Die Ecken waren schon fast schwarz. Doch die Farben der Figuren – all der Buben und Damen, Könige und Asse – leuchteten noch so stark wie am Tag ihrer Drucklegung.

»Was wird das?«

Der vermeintliche Köhler lachte leise. »Ein Versuch, mein Freund. Ihr wollt nicht reden, das merke ich. Aber vielleicht wollt Ihr es ja, wenn es mit einem Einsatz verbunden ist?«

Bassarak runzelte die Stirn. Diese Situation gefiel ihm immer weniger – und doch faszinierte sie ihn auch. Irgendwie.

»Wir spielen«, schlug der Alte vor. Mit flinken Händen begann er, die Karten zu mischen. Darin hatte er merklich Erfahrung. »Das hilft mir stets dabei, die Nacht und ihre Gräuel auf Abstand zu halten. Und es vertreibt uns zwei Zufallsgefährten ein wenig die Zeit. Die Regeln sind simpel: Gewinnt Ihr eine Runde, dürft Ihr mir eine vollkommen beliebige Frage stellen, und ich muss sie Euch ehrlich beantworten. Gewinne ich allerdings …«

Bassarak schüttelte sofort den Kopf. »Ich bin kein Spieler«, sagte er schlicht. »Kein Interesse.« Aber das stimmte nicht. Nicht mehr. Je länger er auf die Karten seines Gastgebers blickte, desto größer wurde seine Faszination. Die Karten schienen ihn beinahe magisch anzulocken. Und überhaupt: Diese eigenartige Begegnung, diese seltsame Nacht – all das reizte ihn plötzlich über jede Vernunft und über jedes Schweigen hinaus. Es war wie ein Lockruf. Wie Sirenengesang.

Das schien auch der Alte zu bemerken. Lächelnd ignorierte er Bassaraks Widerspruch und begann, die gemischten Karten zu verteilen. Der kleine Stapel vor Bassarak wuchs und wuchs. Und lockte.

»Ich habe gegeben«, sagte der Alte schließlich. »Demnach dürft Ihr anfangen, mein Freund. Nur zu.«

Abermals erklang lauter Donner von draußen. Ein heller Blitz tauchte das Hütteninnere für einen kurzen Augenblick in gleißendes Licht, das umgehend wieder verging. Wind heulte im Kamin.

Hugo Bassarak griff nach dem Kartenstapel vor sich. »Wer seid Ihr, alter Mann?«, murmelte er, den Blick fest auf sein Gegenüber gerichtet.

Das Lächeln des Alten war freundlich und offen. »Man nennt mich Ángel«, sagte er schlicht. »Und nun spielt, unbekannter Wandersmann. Spielt, als wäre es die letzte Nacht der Welt.«

 

Das Spiel war simpler als simpel. Sogar ein Simpel oder Idiot hätte es binnen weniger Minuten beherrscht. Und doch besaß es einen Charme und vor allem eine Dramatik, die ihresgleichen suchte. Immer wieder musste Bassarak Augen zählen, Farben quittieren, mit den Folgen unerwartet aufgedeckter Damen umgehen. Denn das Spiel war schnell!

Und – so ungern er es sich auch eingestand – es machte Spaß. Mit jedem neuen Spielzug, jeder neuen Wendung wuchs die Freude, die Bassarak dabei empfand. Und die er sich selbst kaum erklären konnte. Dieses Spiel … war einfach angenehm spannend. Reizvoll. Und es tat tatsächlich, was der Alte versprach: Es half, die Nacht auf Abstand zu halten. Und die Erinnerungen.

»Die geht dann wohl an mich«, sagte Bassarak, als die letzte Karte der ersten Runde aufgedeckt war. Auffordernd sah er sein Gegenüber an. »Korrekt?«

Der Alte nickte. »Was möchtet Ihr wissen, mein Freund?«

Bassarak dachte nach. Es gab Milliarden Fragen hinter seiner Stirn – und viele, deren Antwort er eigentlich gar nicht so recht wissen wollte. Doch über seine Lippen drang eine vermeintlich harmlose. »Wo sind wir hier?«

Der Köhler, wenn er denn einer war, lächelte wieder. »Am Schlussstrich«, sagte er so ruhig und gelassen, als wäre es tatsächlich eine Antwort und kein bisschen kryptisch. »Am Punto Final, wo das Vergangene auf das Kommende trifft. Wo sich Wege gabeln und Menschen sich gezwungen sehen, endlich Entscheidungen zu fällen.«

Wieder runzelte Bassarak die Stirn. »Große Worte«, brummte er. »Geht das auch weniger blumig?«

Nun grinste der Alte – und dieses Grinsen war gleich deutlich weniger herzlich und warm als sein Lächeln. »Vielleicht«, sagte er. Sein schwieliger Zeigefinger deutete auf die beiden Kartenstapel auf dem Tisch. »Findet es doch einfach heraus, junger Freund. Ihr seid dran mit Mischen.«

 

Auch Runde zwei ging an Bassarak. Sie dauerte länger als die erste, und mehrmals sah es so aus, als habe der mysteriöse Köhler alle Trümpfe in der Hand. Doch wie durch ein kleines Wunder gewann Bassarak.

Der Alte lächelte auffordernd und begann, neu zu mischen. »Eure Frage, mein nächtlicher Gefährte?«

Bassarak zögerte nicht. »Ángel«, sprach er aus, was ihn schon die ganze Zeit beschäftigt hatte – jede Silbe ein Köder, jedes Wort eine kaum noch verhohlene Aufforderung zum Krieg. Und doch: Er wusste nicht, ob er die Antwort wirklich hören wollte. Vielleicht blieb die Frage, als sie ihm endlich entwich, deswegen so entsetzlich unkonkret. »Das ist ein durchaus blumiger Name. Oder etwa nicht?«

Ángel legte den Kopf leicht schräg. »Findet Ihr?« Er schien zu wissen, was Bassarak eigentlich hatte sagen wollen. Und es amüsierte ihn offenbar, dass dies Bassarak misslang. »Ah, ich vergaß. Ihr seid ja nicht von hier. Nein, so ungewöhnlich ist er gar nicht. Es heißt ja nicht jeder Spanier Pedro.« Er lachte wieder, herzlich und warm. »Und nicht jeder Franzose … Pierre?«

Nun musste Bassarak trotz aller Anspannung laut lachen.

 

Die Zeit verging inzwischen wie im Flug. Zwar regierte nach wie vor der Sturm die Nacht jenseits der Hüttenwände, doch hier im warmen Schein des Feuers hatten allein die Spielkarten das Sagen. Sie … und die stetig wachsenden Zweifel hinter Hugo Bassaraks Stirn.

Wer war dieser Ángel wirklich? Stimmte das Bild, das sein Äußeres und die wenigen, eher rätselhaften Kommentare zeichneten, die er über seine Person machte? Handelte es sich um nichts anderes als einen alt gewordenen Aussiedler, einen Mann des Waldes und der harten Arbeit, der schlicht ein wenig schrullig und froh über unerwarteten Besuch war?

Oder steckte mehr hinter seiner Gastfreundschaft? Etwa … viel mehr?

Mittlerweile hatte Bassaraks Anfängerglück mit den Karten nachgelassen. Immer mal wieder ging die Runde auch an Ángel, so dass der »Punktestand« deutlich ausgeglichener war als zu Beginn ihres denkwürdigen Treffens. Eigenartigerweise nutzte der Alte seine Siege aber noch gar nicht aus. Wann immer er gewann, winkte er bloß ab und sah Bassarak tief in die Augen.

»Doppelt oder nichts, mein Freund?«, fragte er dann stets. »Was meint Ihr? Spielen wir einfach weiter, und sollte ich erneut siegen, stelle ich einfach eine ›größere‹ Frage zum Ausgleich.«

Bassarak willigte jedes Mal ein. Hauptsächlich, weil es das kleinere Übel bedeutete: Solange er keine Antwort schuldig war, musste er seinen Gastgeber auch nicht enttäuschen, indem er – wie er es ohnehin plante – die Spielschuld einfach schuldig blieb. Denn eins war gewiss: Seine Vergangenheit blieb vergangen. Ganz egal, was die Karten sagten!

Irgendwann – es mochten Stunden verstrichen sein – sah Ángel zum Fenster, vor dem noch immer finsterste Sturmnacht herrschte, Bäume sich bogen und sintflutartige Schauer das Land unter sich begruben. »Es wird Zeit«, sagte er.

Bassaraks Alarmglocken schrillten sofort. »Zeit wofür?«

Doch der Alte winkte einmal mehr ab. »Dafür, dass ich auch mal wieder gewinne«, sagte er ganz freundlich. »Andernfalls ist die Nacht vorüber, und ich habe Euch trotz allem kaum kennengelernt, junger Freund.« Sein Blick haftete wieder an Bassarak. »Und das wäre doch jammerschade, findet Ihr nicht auch?«

Bassarak schluckte trocken. Ganz plötzlich schien es ihm, als hätte die Kraft des Feuers im Kamin sich verdreifacht. Es war heiß in der Hütte. Höllisch heiß. »War das eine Frage?«, entgegnete er schnell und, wie er bemerkte, durchaus schroffer als beabsichtigt. »Falls ja, dann spielt gefälligst um die Antwort, Ángel. So lautet schließlich die Regel, und die habt Ihr selbst aufgestellt.«

Der vermeintliche Köhler nickte lachend. Dann griff er nach dem Kartenstapel. »Mit Vergnügen«, sagte er – und war auch das nur überreizte Phantasie, oder lag plötzlich ein unverhohlener Drohklang in seiner eben noch so warmen Stimme? »Mit dem größten Vergnügen.«

Die Hände des Köhlers mochten alt sein, doch sie waren auch flink. Mühelos mischte er die Karten, und mit geübter Leichtigkeit teilte er sie aus. Die letzte Runde stand unmittelbar bevor.

»Alles oder nichts«, wiederholte Ángel, und ein schelmisches – oder war es ein teuflisches? – Funkeln lag nun in seinem Blick. »Gewinnt Ihr diese letzte Partie, so bin ich Euch noch eine letzte Antwort schuldig. Gewinne ich sie jedoch …« Er lächelte erneut. Doch es war Bassarak, als läge nun keinerlei Wärme mehr in diesem Lächeln, keine Herzlichkeit. Nur noch Gier.

»Wollt Ihr reden«, fuhr er den Alten an, »oder spielen?« Beunruhigt merkte er, wie nervös er geworden war. Die Nacht, das Feuer, die Blicke des Köhlers … All das türmte sich gewissermaßen über ihm auf, schien ihn unter sich begraben zu wollen. Er musste aufpassen, verdammt. Wachsam bleiben. Kämpfen.

Ángel griff zu den Karten. »Spielen«, sagte er verschlagen und deckte die oberste Karte seines Stapels auf. Es war eine Dame.

Bassarak schluckte. Er hatte nur eine Sieben.

Und so ging es weiter. Ángel trumpfte auf, sein Gast konnte nur Luschen abwerfen. Wo der Köhler eine Figur nach der anderen präsentierte, die allesamt höhere Wertungen erbrachten, fand Bassarak bloß Zahlen in seinem eigenen Stapel. Minderwertige Ware. Nichts, was Ángels Heldenriege gefährlich werden konnte.

Mit jeder neuen Karte schrumpfte Bassaraks Stapel. Klar, die unterste Karte entschied erst wirklich über Sieg oder Niederlage – aber das »Vorspiel« tat einiges, den Weg dorthin spannend zu gestalten. Wenn nicht sogar kaum erträglich.

»Nervös?« Ángels Augen funkelten wieder. Das höllisch heiße Kaminfeuer schien sich in ihnen zu spiegeln. Sein Tonfall war fordernd, neckend, lockend. »Ihr schwitzt ja, mein unbekannter Freund. Was habt Ihr denn plötzlich?«

Bassarak drehte seine nächste Karte um. Wieder eine Sieben. Verflucht! »Keine Lust auf Eure spöttischen Kommentare, das habe ich«, erwiderte er schroff. Seine Fingerkuppen kribbelten, und sein Atem wurde schnaufend vor Anspannung. »Spielt gefälligst, alter Narr. Spielt!«

»Aber, aber …« Àngel schüttelte tadelnd den Kopf, sein Lächeln war allerdings frei von allem Tadel. Es war das Lächeln eines Raubtieres, das die Jagd schon so gut wie beendet wusste. Beendet … und erfolgreich. »Was für Töne.«

Der vermeintliche Köhler griff zu seiner letzten Karte. »Seid Ihr bereit?«, fragte er schelmisch.

Bassarak schwieg. Eine Zahl, dachte er fast schon panisch. Sein Herz schlug wie wild. Komm schon. Nur eine Zahl, keine Figur. Eine simple, niedrige, verlierende Zahl.

Ángel nickte nur. Dann deckte er die Karte auf. Es war der Herz-Bube.

Der Köhler lächelte. Auffordernd schaute er Bassarak ins Gesicht.

Und Bassarak schluckte. Welche Karten waren überhaupt noch im Spiel? Es wurden nie sämtliche ausgeteilt, daher konnte man das nicht sagen. Doch auch wenn: Vor lauter Anspannung hätte er sowieso längst den Überblick verloren. Er wusste nicht, was er noch auf der Hand hatte. Würde es genügen? Zum allerersten Mal in dieser Runde? Zum einzig entscheidenden Mal?

Natürlich nicht. Darum war es diesem mysteriösen Alten doch von Anfang an gegangen – um diesen Moment, jetzt und hier. Um die Fliege namens Bassarak in seinem kunstvoll ausgespannten Spinnennetz. Um den Moment des Sieges … und der Niederlage.

Donner grollte. Hart prasselte der Regen gegen die Fensterscheibe der abgeschiedenen Hütte.

Ich bin erledigt, dachte Hugo Bassarak und drehte seine letzte Karte um.

Es war die Pik-Dame.

Mehr als ein Bube.

Bassarak blinzelte verblüfft, begriff nicht gleich. Und ein gleißend heller Blitz schlug in das Dach der Köhlerhütte ein!

 

Binnen weniger Sekundenbruchteile stand Ángels kleine Behausung in Flammen. Hell lodernd leckte das Feuer an den hölzernen Wänden empor, und aus dem steinernen Kamin schoss eine flammende Fontäne glühend-gieriger Vernichtung. Die Dachbalken stürzten ein, das Fenster zersplitterte. Überall waren Lärm und Qualm, Rauch und Chaos, Hitze und Tod.

Bassarak zögerte nicht. Alte, geschulte Überlebensinstinkte übernahmen das Ruder. Zielsicher und schnell brachten sie ihn aus dem einstürzenden Gebäude ins Freie, aus dem flammenden Inferno hinaus in die regennasse Nacht.

»Ángel?«, rief er, hustete und fuhr sich über die vom Rauch brennenden Augen. Er sah kaum noch etwas. »Ángel?«

Keine Antwort. Hatte der Köhler es ins Freie geschafft?

»Hört Ihr mich, alter Mann? Ángel?«

Nichts. Hustend und keuchend richtete Bassarak sich auf, drehte sich zu der brennenden Hütte um und blinzelte, bis er wieder klar sehen konnte.

Die Hütte war nirgends zu finden. Nichts, absolut gar nichts erinnerte mehr an sie! Keine Überreste, keine Aschehaufen – gar nichts. Wo eben noch die Behausung des Köhlers gewesen war, präsentierte sich dem Betrachter nun bloß nackter, unberührter Waldboden. Als hätte es die Hütte nie gegeben.

Was … Bassarak keuchte wieder, doch nicht wegen des Rauchs. Es gab keinen Rauch mehr, und auch kein Feuer. Was geschieht hier?

Das war nicht der Blitz gewesen. So viel stand fest. Kein Feuer der Welt konnte eine Hütte nebst Bewohner binnen weniger Augenblicke spurlos verschwinden lassen. Bassarak sah sich in alle Richtungen um. Hatte er die Orientierung verloren? Den Verstand?

Nichts. Wohin er auch blickte, sah er nur Wald.

Der Regen hatte inzwischen nachgelassen. Die Wolkendecke brach auf, und am Horizont konnte Bassarak schon die ersten Anzeichen eines Sonnenaufgangs erkennen. Die Nacht, die so endlos gewesen war, war vorüber.

Und ihre Gestalten, so schien es, hatte sie mitgenommen.

»Was geschieht hier?«, wiederholte Bassarak, diesmal leise murmelnd. Fassungslos. Ratlos.

Er wusste, was er erlebt hatte. Er wusste es doch genau, verdammt! Und trotzdem … Keine Spur von Ángel. Kein Beweis. Nichts.

»Was soll das?«, flüsterte er.

Und mit einem Mal wusste er die Antwort. So sicher, wie er seinen eigenen Namen wusste.

Wartet es ab, hörte er den Alten in seiner Erinnerung necken. Ich dringe schon noch bis zu Eurem Geheimnis vor.

Und er nickte.

Fünf Minuten später war Bassarak wieder auf Wanderschaft, auf der verlassenen Landstraße. Doch sein Ziel war noch nicht wieder Portugal. Der Süden würde warten müssen. Zuvor, so wusste er nun, hatte er noch etwas zu erledigen. Eine Spielschuld zu begleichen. In Punto Final.

Wir haben noch Platz für Euch, mein Freund, so hatte der Vampir im Gasthof es gesagt. Kommt doch einfach her.

»Oh, das werde ich«, knurrte Hugo Bassarak, die Fäuste geballt und den Blick fest nach vorn gerichtet. »Und dann, du Monster, gnade dir Gott!«

 

 

 

Der Freak der Weihnacht

von Uwe Voehl

 

Ich hasse Weihnachten. Dabei habe ich es mal geliebt. Als kleiner Junge. Aber das ist lange her. In meinem Herzen ist kein Platz für Sentimentalitäten.

Als ich aufstand, hörte ich Lilian in der Küche klappern. Ich stellte mir vor, wie sie dabei fröhlich »Jingle Bells« summte und kleine Mince Pies in den Backofen schob. Augenblicklich fühlte ich mich noch mieser. Das lag nicht an ihr, sondern an mir. Ich kam mir vor wie der Spielverderber, der im Sandkasten die Burgen der anderen Kinder zerstörte.

Ich saß auf der Bettkante und überlegte, ob ich mich nicht einfach wieder hinlegen, die Decke über den Kopf ziehen und erst nach Weihnachten wieder aufstehen sollte.

Aber das konnte ich Lilian nicht antun.