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Ulrike Jureit

Das Ordnen von Räumen

Territorium und Lebensraum
im 19. und 20. Jahrhundert

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Hamburger Edition HIS Verlagsges. mbH
Mittelweg 36
20148 Hamburg
www.hamburger-edition.de

© der E-Book-Ausgabe 2016 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-904-1

© 2012 by Hamburger Edition
ISBN 978-3-86854-248-6

Umschlag- und Innengestaltung: Wilfried Gandras
Typografie und Herstellung: Jan und Elke Enns
Satz aus der Aldus von Dörlemann Satz, Lemförde

Inhalt

I»Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft«. Zur Organisation des Nebeneinanders

IIOrdnungen des Raumes: Nationalstaat und Modernisierung

Vom Ort zum Territorium

Verdichtung und Raumschwund

IIIEntdeckung des kolonialen Raumes

Europäischer Staat und koloniale Landnahme

Von unauffindbaren Bergmassiven und wandernden Wasserfällen: Praktiken kolonialer Grenzziehung

Leerer Raum

IVLebensraum: Bewegungsgesetze und Bodenhaftung

Biologisierung des Raumes

Kampf um Raum

VVom Territorium zum Deutschen Raum

Räume des Übergangs: Deutsche Herrschaft in Ober Ost

Völkische Grundrechenarten: Praktiken internationaler Grenzziehung in Oberschlesien nach dem Ersten Weltkrieg

Deutscher Raum: Territoriale Konzepte jenseits des Nationalstaates

Volk ohne Raum: Besichtigung eines klaustrophobischen Lebensgefühls

VIGroßraum: Ordnungen nach Rasse und Raum

Homogenisierung des Raumes: Lebensraum als Begriff rassischer Ordnung

Verflechtungen: Der Hitler-Stalin-Pakt – räumlich betrachtet

Blonde Provinzen. Die Eingliederung der Ostgebiete

»Unsere Grenze ist das Blut« – Visionen einer Großraumordnung

VIIFazit: Das Ordnen von Räumen

Archivmaterial und Literatur

Bildnachweise

Zur Autorin

I

»Raumbilder sind die Träume der Gesellschaft«.1 Zur Organisation des Nebeneinanders

Am 31. Oktober 2011 lebten nach Angaben der Vereinten Nationen sieben Milliarden Menschen auf der Erde. Zuletzt waren 1987 und 1999 Milliardengrenzen überschritten worden. In vierzig Jahren wird die Weltbevölkerung voraussichtlich neun Milliarden Menschen zählen. Angesichts von Hungerkatastrophen, Klimawandel und explodierenden Nahrungsmittelpreisen überrascht die Expertenprognose, dass selbst eine solche Bevölkerungsdichte tragfähig wäre, wenn nur der vorhandene Raum nachhaltiger als bisher genutzt werden würde. Wissenschaftler verweisen in diesem Zusammenhang auf eine intensivere Bodenbewirtschaftung, auf eine ökologisch verträgliche Erschließung neuer Anbauflächen, auf die Züchtungserfolge klimaresistenter Nutzpflanzen bei gleichzeitiger Drosselung des weiterhin steigenden Fleischkonsums. Wie immer man diesen Maßnahmenkatalog bewerten will, eines demonstriert die Welternährungsdebatte bis heute: Das Verhältnis von Raum und Bevölkerung ist sowohl eines der zentralen wie auch eines der umstrittensten Phänomene ökonomischer, politischer und sozialer Verflechtungszusammenhänge. Seit der britische Ökonom und Theologe Robert Malthus 1798 mit seinem antirevolutionären »Essay on the Principle of Population«2 die vorindustrielle Vorstellung popularisierte, Einwohnerzahl und Nahrungsraum müssten durch bevölkerungs- und sozialpolitische Maßnahmen im Gleichgewicht gehalten werden, um eine ausreichende Versorgung zu gewährleisten, steht die Variable Raum mit der demographischen Bevölkerungsentwicklung einer Region oder eines Staates in einem durchaus ambivalent bewerteten Abhängigkeitsverhältnis. Während sich mit einer daraus abgeleiteten, oftmals jedoch eher behaupteten als diagnostizierten Übervölkerung bis heute diffuse Bedrohungsszenarien verbinden können oder aber im umgekehrten Fall ein statistischer Bevölkerungsrückgang Ängste vor Überfremdung anzuheizen vermag, wird die Kategorie Raum als materielle Substanz und damit als eine Ressource verstanden, die sich spätestens seit dem Durchbruch des Industriekapitalismus stetig zu verringern scheint. Modernisierung gilt in dieser Logik als raumgreifender Verdichtungsprozess, durch den vorhandener Naturraum kultiviert und zerstört wird. Oder anders gesagt: In der Moderne geht nicht nur alles schneller, es wird auch zunehmend enger. Wie der Beschleunigungsbegriff seit dem 18. Jahrhundert eine für die Moderne signifikante Verzeitlichung beschreibt, qualifiziert Verdichtung eine veränderte Raumwahrnehmung, die nicht nur, aber im Kern einen gefühlten Verlust von Raum suggeriert. Der Mensch meint in einer tendenziell zu engen Welt zu leben – zumindest für Europa handelt es sich dabei kulturgeschichtlich um eine gesättigte Erfahrungskategorie mit verhängnisvollen Folgen.3

Das Verhältnis von Raum und Bevölkerung ist in der Forschung als demographisches wie auch als bevölkerungswissenschaftliches Phänomen intensiv erörtert und analysiert worden.4 Bevölkerung erwies sich dabei als ein soziales Konstrukt, das seit dem 18. Jahrhundert zu einer neuen politischen Figur und damit zum Objekt regulierenden Handelns aufstieg. Das moderne Herrschaftsgefüge Regierung/Bevölkerung korrespondierte dabei eng mit den Dynamiken politischer Kollektivität, folglich stehen die bis heute wirkungsmächtigen Vergemeinschaftungs- und Zugehörigkeitsversprechen wie Nation, Volk und Rasse im Kontext eines sich allmählich herausbildenden Regierungshandelns, das Michel Foucault mit Verweis auf die beginnende Formierung eines Gattungskörpers als Biopolitik charakterisiert hat. Dabei bilden die Disziplinierung des individuellen Körpers wie auch die regulierende Kontrolle der Bevölkerung »die beiden Pole, um die herum sich die Macht zum Leben organisiert«.5 Obgleich Foucault in anderen Zusammenhängen die Kategorie Raum historisch differenzierte, mit Galilei den Wandel räumlicher Muster vom Ort zur Ausdehnung nachvollzog und die Figur der räumlichen Lagerung unterstrich, blieb diese Dimension in seinen biopolitischen Arbeiten erstaunlich unspezifisch.6 Während er die Herausforderungen des modernen Regierungshandelns daran festmachte, die mit dem liberalen Freiheitsdenken einsetzenden Zirkulationsprozesse zu organisieren und zu regulieren, blieb seine räumliche Figuralität darauf reduziert, die Reichweiten von Souveränitäts-, Disziplinierungs- und Sicherheitsdispositiven zu vermessen. Raum war für Foucault vor allem eine für die staatliche Souveränitätsausübung relevante Bezugsgröße, ein variables Ordnungsprinzip, mit dem aus der Gemengelage sozialer Beziehungen gesellschaftsspezifische Platzierungen mit bestimmten Öffnungs- und Schließungsmechaniken entstehen. Dabei bleibt allerdings die Variabilität der räumlichen Verfasstheit relativ unverbunden mit dem biopolitischen Paradigma, das zu entscheiden beansprucht, »leben zu machen oder in den Tod zu stoßen«.7 In seiner Herrschaftsanalyse droht folglich der Raum trotz eines konstruktivistischen Lagerungsbegriffs zum Geltungs- und Wirkungsrahmen zu verkümmern, da die von Foucault ansonsten fast schon überdehnten Zirkulationsfreiheiten auf die Dynamiken und Praktiken des räumlichen Ordnens wenig Anwendung finden.8

Gleichwohl gehört Foucault zu den Theoretikern, die für die seit Mitte der 1990er Jahre konstatierte »Wiederentdeckung des Raumes«9 regelmäßig beansprucht und zitiert werden, wenn es gilt, eine konstruktivistische Sicht auf Raum abzustützen. Hinzu treten die klassischen Referenztexte von Georg Simmel, Henri Lefebvre, Ernst Cassirer oder Michel de Certeau. Wer es noch philosophischer oder gar physikalischer mag, greift zu Immanuel Kant, Gaston Bachelard oder Albert Einstein.10 Dass der Transfer des philosophischen Raumdiskurses in die vom spatial turn erfassten Sozial- und Kulturwissenschaften gelungen ist, lässt sich indes wohl kaum behaupten. Mit Blick auf die gegenwärtig zu beobachtenden Globalisierungsprozesse versprechen raumorientierte Sozial- und Kulturwissenschaftler zwar, das bisher nationalstaatlich geformte Behältermodell zu überwinden, um den komplexen Zusammenhängen ökonomischer, politischer und kultureller Vernetzungen und Zirkulationen analytisch Rechnung zu tragen, doch im Ergebnis zeigt sich häufig eine irritierende Gleichzeitigkeit von konstruktivistisch argumentierenden Raumbekenntnissen und einer relativ konventionellen Forschungspraxis, die die Materialität und Kontinuität politischer Räume zwar handlungstheoretisch zerlegen will, sie aber letztlich als Form eher reproduziert statt analysiert. Die besonders von gesellschaftstheoretisch informierten Humangeographen vorgebrachte Kritik an diesen von einer gewissen Ahnungslosigkeit geleiteten Raumbeobachtungen arbeitet sich nicht nur an dem offenbar unerschöpflichen spacing and placing der Soziologie ab, sie nimmt auch raumemphatische Historiker wie Karl Schlögel ins Visier.11 Bewirkt haben die Warnungen vor überholten Landschafts- und Raumbildern bisher allerdings relativ wenig. Gerade mit Verweis auf Karl Schlögels Buch »Im Raume lesen wir die Zeit« setzt sich unter der leichtsinnigen Inanspruchnahme geographischer Altbestände eine Raumkonjunktur fort, die es den selbsternannten Raumpionieren zu erlauben scheint, zur Materialität der Dinge, Orte und Geschehnisse zurückzukehren. Ob es nun gilt, die brutale Weite des russischen Raumes oder aber die Poesie des amerikanischen Highways zu entdecken,12 die neuen Land- und Raumvermesser suchen und finden selbst in Wagners »Parsifal« die für angemahnte Paradigmenwechsel so unverzichtbaren Belegstellen: »Ich schreite kaum, doch wähn ich mich schon weit – Du siehst, mein Sohn, zum Raum wird hier die Zeit.« Der so vehement eingeforderte, oftmals mit hochkarätigen Gewährsmännern dekorierte Perspektivwechsel erschöpft sich dann aber häufig darin, bisherige Begrifflichkeiten wie Stadt, Territorium oder Region durch das Etikett Raum zu ersetzen. Jenseits der alltagspraktischen Orientierungsleistung, für die wir die Illusion kontinuierlicher Raumverhältnisse benötigen, versperren solche Raumvorstellungen allerdings den Blick, wenn es darum geht, Entstehung, Wandel und Transformationen räumlicher Ordnungen sichtbar zu machen. Nicht nur politische und soziale Räume, sondern auch ihre Ordnungssysteme sind keine starren natürlichen Größen, sondern Ergebnisse gesellschaftlicher und politischer Zuschreibungsprozesse. In ihnen spiegeln sich folglich Strukturprinzipien wie beispielsweise soziale Schichtung, Gender und Ethnizität wider. Dabei drückt sich in der jeweiligen Ordnung eine spezifische Raumvorstellung aus, denn »jeder typische Raum wird durch typische gesellschaftliche Verhältnisse zustande gebracht, die sich ohne störende Dazwischenkunft des Bewußtseins in ihm ausdrücken.« Raumbilder – so Kracauer 1929 – sind »die Träume der Gesellschaft«.13

Einer solchen konstruktivistischen Sicht auf Raum, wie sie seit der Frühen Neuzeit in Abgrenzung zum heilsgeschichtlichen Verständnis des Mittelalters entstanden und bis heute – trotz aller Differenzen im Detail – für moderne Raumtheorien im Sinne einer Organisation des Nebeneinanders maßgeblich geblieben ist, stehen Konzepte oder deren Überreste gegenüber, die auf eine Natur des Raumes rekurrieren und denen mit Verweis auf (natur)wissenschaftliche Gesetzmäßigkeiten ihre Legitimationsbasis stets vorauszugehen scheint. Aktuell begegnet einem diese Variante weniger in Gestalt überzeugter Raummaterialisten, sondern eher als eine Art Spurensuche nach dem stahlharten Gehäuse des physikalischen Raumes. Fast schon trotzig verweisen mittlerweile selbst Systemtheoretiker auf die »kausalen Wirkungen räumlicher Unterschiede«, die unabhängig davon, ob die Gesellschaft von ihnen weiß, wirkungsmächtig seien.14 Daher kennzeichnet die wechselseitige Durchdringung materialistischer und konstruktivistischer Raumkonzepte den gegenwärtigen Zustand raumtheoretisch argumentierender Forschungen wohl am ehesten. Als problematisch erweist sich dabei weniger der oftmals heftige Schlagabtausch zwischen den einzelnen Fachvertretern als vielmehr die schleichende Revitalisierung dezidiert biologistischer Geschichtstheorien. Denn lässt man sich von den kursierenden Raumbildern einmal weniger beeindrucken, ist es der Geograph Friedrich Ratzel, der Ende des 19. Jahrhunderts eine zwischen Geo- und Biowissenschaften vermittelnde Biogeographie konzipierte, in der der politische Raum nicht mehr nur als Lebensform verstanden wurde, sondern sich zu eine Kategorie des Lebens selbst und damit zu einer Kategorie der Substanz wandelte. Diesen Transfer vollzog Ratzel mittels einer geographisch begründeten Evolutions- und Bewegungstheorie, in der er die Kräfte des kapitalistisch-industriellen Weltmarktes zu Dynamiken des Lebens naturalisierte und somit Weltgeschichte als Naturgeschichte zu entwerfen begann. Solche biologistischen Vorstellungen vom Raum haben seit der Aufklärung enorme Wirkungskräfte entfaltet, was auf die potenzielle Verfügbarkeit beider Raumkonzepte sowie auf ihr Wechselverhältnis aufmerksam macht. Analytisch ist es daher auch wenig sinnvoll, danach zu fragen, welche Vorstellung vom Raum die richtige ist oder war, sondern es gilt herauszuarbeiten, wann, von wem und mit welchen Interessen welche Raumkonzepte in Anspruch genommen werden. In Anlehnung an den von Marc Redepenning entwickelten kommunikations- und systemtheoretischen Ansatz soll somit Raum als eine Selbstbeschreibungsformel von Gesellschaften verstanden werden,15 die als Ordnungs-, Kommunikations- und Beobachtungsform mithilfe der Differenz hier/dort gesellschaftsspezifische Unterscheidungen zu markieren ermöglicht. Die Kategorie Raum fungiert in dieser Logik als Kontingenzunterbrecher und bedient das ungebrochene Verlangen nach Übersichtlichkeit, Ordnung und Harmonie. Vor allem in Krisensituationen kann die Rede vom Raum eine Art Bewältigungsstrategie sein, die Komplexität reduzieren, Unsicherheiten einebnen und stabile Ordnungen suggerieren hilft. Geordnete Räume scheinen im modernen Durcheinander »irgendwie immer glücklich zu machen«.16

Mittlerweile hat der Buchmarkt die Sättigungsgrenzen raumbezogener Sammelbände ausgelotet.17 Doch trotz der Anstrengungen seines selbsternannten Mentors konnte sich der spatial turn bislang nicht als Großparadigma durchsetzen.18 Dem Rausch der ersten Jahre folgte die nüchterne Zwischenbilanz, dass die Ordnungen des Raumes nicht nur beschrieben, sondern in ihren historischen Dynamiken auch empirisch untersucht werden wollen, wenn man sich nicht mit Etikettierungen zufriedengeben möchte. Space building ist zwar mittlerweile ein dekoratives Schlagwort in den von diversen culture turns erschütterten Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften, die mühsame Analyse raumordnender Konzepte, Strategien und Praktiken kann eine euphorische Rede vom Raum gleichwohl nicht ersetzen. Während in anderen Fachdisziplinen soziale, gesellschaftliche und ästhetische Räume in den Mittelpunkt des Interesses gerückt sind oder aber die Kategorie Raum im metaphorischen Sinne gebraucht und analysiert wird, haben sich in der deutschen Geschichtswissenschaft zunächst drei größere Forschungsfelder etabliert. Ein erstes und gewissermaßen naheliegendes Terrain bildet die kritische Auseinandersetzung mit der Geopolitik.19 Die unter Historiker/-innen nicht unumstrittene Wiederentdeckung des Raumes seit den 1990er Jahren machte eine Vergewisserung über die historische Kontamination des Räumlichen unerlässlich. Hierbei galt es zu überprüfen, ob und inwiefern der Raumbegriff jenseits seiner historischen Deformierungen eine sinnvolle und lohnende Kategorie für die Analyse gesellschaftlicher Wandlungsprozesse darstellen kann. Die daraufhin einsetzende Konjunktur des Räumlichen reagierte damit auch auf den aktuellen Trend, geopolitisches und geostrategisches Denken angesichts der seit 1989 veränderten Machtbalancen zu reaktivieren und vor dem Hintergrund globaler Verflechtungszusammenhänge neu zu überdenken. Nicht zufälligerweise konturieren daher transnationale beziehungsweise globalgeschichtliche Forschungsansätze das zweite größere Forschungsgebiet, das den Raumbegriff als historiographisch relevante Größe integriert hat.20 Hierfür ist es zunächst relativ unerheblich, zwischen Welt- und Universalgeschichte, zwischen Makrohistorie, histoire croisée und Geohistorie, zwischen entangled und transnational history zu differenzieren – entscheidender ist die Beobachtung, wie gegenwärtige Wandlungsprozesse das begriffliche Arsenal historiographischen Arbeitens erneuern und der räumlichen Dimension von Geschichte zu neuer Aufmerksamkeit verhelfen. Diesem Gegenwartsbezug kommt auch im dritten Forschungskomplex eine zentrale Bedeutung zu, schließlich illustriert gerade die europäische Integration, wie sich die räumliche Verfasstheit von Nationalstaaten transformiert, ohne dass schon absehbar wäre, welche neuen Formen sich letztlich als tragfähig oder als politisch durchsetzbar erweisen werden. Neben den staats- und ordnungspolitischen Herausforderungen spielt dabei die Veränderung von Grenzregimen eine entscheidende Rolle.21 Die Geschichtswissenschaft verdankt es vor allem den Impulsen der Frühneuzeitforschung, dass sich eine theoretisch reflektierte, kultur- und sozialgeschichtlich orientierte Grenzforschung herausgebildet hat, die mittlerweile über Epochengrenzen hinweg und mit transnationalen Verklammerungen die Konstruktion politischer Räume von ihren Außenmarkierungen her betrachtet. Dabei sind die jeweiligen Zugriffe wie auch die bearbeiteten Themen ebenso vielfältig wie die theoretischen Anleihen bei den Nachbardisziplinen.22 Historische Grenzforschung gehört heute zu den profiliertesten Forschungsfeldern einer raumorientierten Geschichtswissenschaft.

Die Grenzforschung, wie sie sich in den letzten zwanzig Jahren entwickelt und ausdifferenziert hat, unterhält ein spezifisches und naheliegenderweise enges Verhältnis zur historischen Territorialitätsforschung. Wer die Herstellung, die Veränderungen sowie die Um- und Neudeutungen von politischen Grenzen im diachronen wie im transnationalen Vergleich untersucht und sich dabei von einem Raumbegriff leiten lässt, der die Konstruktionsmechanismen und -bedingungen als grenzstiftende wie auch als grenzregulierende Praktiken einbezieht, der beschäftigt sich nahezu zwangsläufig auch mit Fragen des territorialen Wandels. Unter Territorialisierung kann allgemein die Herstellung politischer Räume verstanden werden, die historisch zwar nicht durchgängig, aber häufig mit Staatsbildungsprozessen verknüpft und manchmal auch mit ihnen identisch ist. Für diesen Vorgang sind einerseits Grenzherstellungsverfahren konstitutiv, andererseits gilt es, die unterschiedlichen Formen der administrativen, ökonomischen, institutionellen wie auch infrastrukturellen Raumaneignung als Territorialisierungspraktiken herauszuarbeiten und zu analysieren.23 Territorialisierung erweist sich dann als ein komplexer Vorgang der inneren oder äußeren Landnahme, der sich an historisch wandelbaren Leitbildern der räumlichen Verfasstheit orientiert, ohne jedoch Territorialität im Sinne staatlicher Gebietshoheit zwingend zum Ziel haben zu müssen. Entscheidend ist vielmehr, dass Territorialisierungsprozesse sowohl symbolische wie auch machtpolitische Aneignungsvorgänge darstellen, die sich in Europa zwar vor allem an Konzepten nationalstaatlicher wie auch imperialer Herrschaft ausgebildet und konkretisiert, die sich aber keinesfalls ausschließlich auf diese beiden Ordnungssysteme bezogen haben oder aktuell beziehen. Ein politischer Raumbegriff, wie er für die Beobachtung von Territorialisierungsvorgängen grundlegend ist, setzt vielmehr kulturgeschichtlich das Wissen und die Fähigkeit voraus, ein bestimmtes Gebiet als geschlossene geometrische Fläche mit einheitlichem Größenmaßstab zu erfassen und zu projizieren. Die Kartographie stellt daher nicht nur irgendeine Kulturtechnik dar, sondern ist das zentrale Leitmedium räumlicher Repräsentation. Historisch hängt diese Abstraktionsleistung wiederum mit der Ausdifferenzierung einer staatlichen Herrschafts- und Verwaltungspraxis zusammen, die seit dem 17. Jahrhundert zentral gesteuerte Zugriffe auf jeden Punkt im Raum zu organisieren erlaubt.24 Erst der institutionelle Flächenstaat brachte geschlossene politische Räume hervor und entwickelte ein modernes Verständnis von Grenze und Territorium.25

Obgleich Territorialisierung sowohl zeitlich als auch institutionell nicht zwingend mit den europäischen Nationalstaatsbildungen zusammenfällt, besteht zwischen beiden Prozessen zweifellos eine enge Korrelation. Nation building gehört inzwischen zu den ertragreichsten Forschungsfeldern der Geschichts-, Kultur- und Sozialwissenschaften.26 Neue Impulse erhielt die Analyse politischer Kollektivität vor allem durch Benedict Andersons Erfindung der Nation und durch Eric J. Hobsbawms »Invention of Tradition«.27 Anderson deutet Nation als eine imagined community und beschreibt ihre Realisierung als sinnstiftenden und integrativen Vergemeinschaftungsprozess. Während sich der Nationenbegriff daraufhin mit einer bemerkenswerten Durchschlagskraft dynamisierte, blieben Untersuchungen zur räumlichen Verfasstheit lange Zeit auf die rechtliche Vereinheitlichung zum Staatsgebiet konzentriert. Dieser Stillstand geriet erst in Bewegung, als Charles S. Maier in seinem ebenso instruktiven wie viel rezipierten Aufsatz Territorialität zum Schlüsselbegriff für die Periodisierung des letzten Jahrhunderts erklärte.28 Zwischen 1860 und 1970 habe – so Maier – Territorialität die Organisation von Gesellschaften so nachdrücklich geprägt, dass ihre fundamentale Rolle erst im Zuge der Globalisierung und der damit einhergehenden Transformation nationalstaatlicher Ordnung erkannt wurde.29 Dabei versteht Maier Territorialität nicht als zeitloses Attribut, sondern als historisch gewachsene Formation, die sich seit dem Westfälischen Frieden allmählich als europäisches Raumordnungsprinzip entwickelt habe. Ab etwa der Mitte des 19. Jahrhunderts sieht Maier das Konzept der Territorialität nicht nur durch die Verfestigung von Grenzsystemen realisiert, sondern er will darunter auch eine neue Beschaffenheit nach innen verstanden wissen. Der politische Raum sei nun durch die Ausbildung einer zentralen Regierungsgewalt, durch industrielle Erschließung, Infrastrukturprojekte und Ressourcenabbau sowie durch den Aufstieg neuer Eliten anders »gefüllt« als jemals zuvor und habe sich erst aufgrund dieser neuen Qualitäten zu einem »identity space« entwickeln können. Territorialität »meint schlicht die auf Kontrolle eines umgrenzten politischen Raumes beruhenden Eigenschaften, inklusive Macht, die bisher zumindest den Rahmen für nationale und häufig ethnische Identität schufen«.30

Den Argumenten Maiers, warum gerade Territorialität für den Zeitraum zwischen 1860 und 1970 von signifikanter Bedeutung und als Periodisierungstheorem anderen Schlüsselbegriffen wie Industrialisierung oder Nationalisierung vorzuziehen sei, soll hier nicht weiter nachgegangen werden. Wie das 20. Jahrhundert überzeugend periodisiert werden kann oder ob es überhaupt sinnvoll ist, Jahrhunderte in dieser Weise voneinander abzugrenzen, mögen andere diskutieren, hier interessiert Maiers Argumentation vor allem bezüglich der Fragestellung, wie Territorialität als historisch gewachsene Formation konzipiert und analysiert werden kann. Maier versteht Territorialität als eine Herrschaftsstrategie, die sich nach einer relativ langen Konstituierungs- und Erprobungsphase in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einer konsistenten Form räumlicher Verfasstheit entwickelt habe. Nicht nur, aber vor allem in Europa und in den USA sei dieses Ordnungsprinzip überaus wirkungsmächtig, und darüber hinaus noch für andere Entwicklungs- und Modernisierungsdynamiken wie beispielsweise für die Ausbildung staatlicher Souveränität absolut grundlegend gewesen. »Territorialität […] ist eine wirksame Strategie, mit der durch räumliche Kontrolle zugleich Menschen und Dinge kontrolliert werden.«31 Obgleich Maier diesen epochalen Vorgang sowohl in seiner Außen- wie auch in seiner Binnendifferenzierung andeutet und Territorialität quasi zur räumlichen Grundstruktur moderner Gesellschaften erklärt, bleibt sein Periodisierungsnarrativ nicht ganz widerspruchsfrei. So ist weiterhin offen, ob und wie sich Territorialität seit den 1970er Jahren im Zuge globaler Vernetzungen signifikant verändert hat, während es gleichzeitig zweifelhaft scheint, ob es sich bei der von Maier vertretenen Epochengrenze von 1860 tatsächlich um eine räumliche oder doch eher um eine modernisierungstheoretische Zäsur handelt.32 Streng territorialgeschichtlich wäre dieser Zeitpunkt zumindest für Europa deutlich früher anzusetzen, wenn man ihn nicht auf den Durchbruch des Industriekapitalismus verengen möchte. Gleichzeitig erweist es sich bei genauerer Betrachtung als nicht unproblematisch, dass Maiers Periodisierungsvorschlag den Eindruck vermittelt, Territorialität stelle über einen Zeitraum von etwa einhundert Jahren ein konstantes Prinzip dar, das sich zudem vom Nationalstaat als quasi territorialer Normgröße kaum mehr differenzieren ließe. Hier wird Kontinuität unterstellt, die doch zunächst einmal zu überprüfen wäre. Denn Territorialität als solche lässt sich historisch weder beobachten noch analysieren, sie ist nur in ihren kulturellen Ausprägungen räumlicher Verfasstheit zugänglich, die sich zwar in spezifischen Ordnungskonzepten manifestieren und realisieren, die aber trotz allem vielschichtig und historisch wandelbar bleiben.

Geht es somit allgemein um die konsequente Historisierung politischer Räumlichkeit, dann gehört der Wandel von Territorialität zweifellos zu den zentralen Forschungsgegenständen einer raumorientierten Geschichtswissenschaft. Für das späte 19. Jahrhundert liegen hierzu bereits erste Studien vor, die sich vor allem auf die von Gilles Deleuze und Felix Guattari vertretene Dialektik globaler De- und Reterritorialisierungsprozesse berufen.33 Sebastian Conrad beispielsweise verschlagwortet seine Kernthese zum Deutschen Kaiserreich in diesem Sinne als »Globalisierung des Nationalstaates«. Im Zuge der vor allem ökonomischen Komplexitätssteigerungen zwischen 1880 und 1914 habe sich der deutsche Staat sowohl nationalstaatlich konstituiert als auch global vernetzt. Mit der akzentuierten Gleichzeitigkeit beider Prozesse kann Conrad überzeugend zeigen, dass Globalisierungsvorgänge keineswegs zwangsläufig Nationalstaatlichkeit unterminieren oder gar aushebeln. Sein Plädoyer zielt darauf ab, nicht von einer binär codierten Struktur fortschreitender De- und Reterritorialisierungen auszugehen, wie sie in global- und weltgeschichtlichen Debatten immer wieder mitschwingt, sondern von »Regimen der Territorialität« zu sprechen, »also von sich verändernden Beziehungen zwischen Nation und Staat, Bevölkerung und Infrastruktur, Territorium und globaler Ordnung«.34 Eine solche Dynamisierung territorialer Verfasstheiten liest sich auch als Kritik an Maiers Entwicklungsnarrativ, mit dem er die Entstehung nationalstaatlich geformter Territorialität, ihre Hochphase zwischen 1860 und 1970 sowie ihren Niedergang seit den 1970er Jahren als klassisches Drama komponiert. Globalisierung wird dabei als eine Art postmoderne Kraft ausgegeben, deren Wirkungsmächtigkeit erst in den letzten dreißig Jahren greift, während die globalen Vernetzungen beispielsweise um 1900 keinerlei Auswirkungen auf Territorialisierungsprozesse in Europa gehabt zu haben scheinen. Es bedarf kaum einer Anstrengung, sich über die begrenzte Reichweite einer solchen Periodisierung zu verständigen. Conrad zieht daraus die Konsequenz, die Territorialisierung der Nation sowie die Nationalisierung des Territorium35 nicht nur als politik- und gesellschaftshistorisches, sondern auch als globalgeschichtliches Phänomen zu betrachten. Mobilität, Arbeitsmigration, Weltwirtschaft – dieses sind nur einige Untersuchungsfelder, an denen Conrad die »Effekte der Globalisierung auf nationale Parameter« auslotet.36 Im Ergebnis kann jedoch die Feststellung, dass »die Stabilisierung und Territorialisierung des Nationalstaates […] einer der zentralen Effekte der globalen Vernetzung vor dem Ersten Weltkrieg« war, nicht wirklich überraschen.37 Das Ineinandergreifen regionaler, nationaler sowie globaler Verflechtungszusammenhänge stellt das zentrale Bedingungsgefüge dar, in dem sich das Deutsche Kaiserreich sowohl als Nationalstaat wie auch als imperiale Macht vor dem Ersten Weltkrieg konstituierte. Der von Conrad zugleich formulierte Anspruch, die Formveränderung des Nationalen nicht mehr nur als zeitlichen, sondern auch als räumlichen Prozess zu analysieren,38 folgt allerdings der eindimensionalen Annahme, dass sich Territorialität mit der Differenz national/global ausreichend beobachten lässt. Sicherlich bleibt die Konsolidierung der Nationalstaaten ohne »die Vernetzung der Welt durch kapitalistische Produktions-, Konsumtions- und Handelskreisläufe, ohne die politische Formatierung der Welt im Kontext von Imperialismus und Völkerrecht« unvollständig, allerdings sollte eine Historisierung politischer Räumlichkeit weitere Parameter der Handlungsrelevanz von Raum berücksichtigen.39 In dem Maße, wie von der »Vorstellung eines stabilen Referenzgegenstandes Raum Abschied genommen würde, ließen sich […] die Mechanismen in den Blick nehmen, die ihn als Realität wirksam werden lassen«.40 Um derlei Transformationen für das 19. und 20. Jahrhundert beobachten und analysieren zu können, wird im Folgenden nach der Herstellung und Variabilität von Raumvorstellungen, nach spezifischen Erscheinungsformen politischer Territorialität, nach der Verklammerung wissenschaftlicher Theoriebildung und politischer Handlungspraxis sowie nach den zentralen Semantiken, Konzepten und Praktiken räumlichen Ordnens gefragt.

Fokussiert man auf diese Weise den Wandel politischer Territorialitätsvorstellungen vom 19. zum 20. Jahrhundert, wie dies für Deutschland versucht werden soll, ist es zunächst unerlässlich, signifikante Veränderungen der Raumkonstituierung im Übergang zur Moderne in Erinnerung zu rufen. Die Frühneuzeitforschung hat in den letzten Jahren intensiv zum Territorialisierungsschub zwischen dem 16. und dem 18. Jahrhundert gearbeitet und durch zahlreiche Studien aufzeigen können, dass es im Übergang zur modernen Nationalstaatsbildung im Wesentlichen drei Praktiken der territorialen Markierung waren, die sich in diesem Zeitraum veränderten.41 Topographische Vermessung des Raumes, seine statistische und kartographische Erfassung sowie die mit der Aufklärung entstehende Vorstellung, dass politische Territorialität staatlicherseits herstellbar ist, verdichteten sich bis ins 19. Jahrhundert zu einem komplexen System raumbezogener Praktiken der inneren und äußeren Landnahme. Dabei setzte sich der durch eindeutig definierte Grenzen geschlossene Flächenstaat in seiner nationalstaatlichen Variante als europäisches Raummodell durch, auch wenn weiterhin Großreiche wie das Zaren- und das Habsburgerreich fortbestanden und zudem – insbesondere in Deutschland – nationale Zugehörigkeitsfragen offen und strittig blieben. Neben diesem überwiegend am Nationalstaat vermessenen Territorialkonzept verfestigte sich im 19. Jahrhundert darüber hinaus das Wahrnehmungsmuster eines sich verringernden Raumes, das seine Dynamik aus den gravierenden Modernisierungs- und Technisierungsprozessen bezog. Die enge Verzahnung von Industrialisierung, Bevölkerungszunahme, Arbeitsmigration und Urbanisierung korrespondierte dabei mit einem zirkulären Verflechtungsgeschehen, das seine Stabilität aus der Dichte der ihm zugrundeliegenden Austauschprozesse gewann. Dieses Beziehungsgeflecht wurde als ein raumgreifender Strukturwandel wahrgenommen, der sich immer stärker zu verdichten schien, sodass Metaphern wie die vom Raumschwund die räumliche Dimension industriellen Wandels akzentuierten. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bezog sich Raumschwund zwar noch nicht auf Konzepte politischer Territorialität, aber der gefühlte Verlust von Raum gehörte in Deutschland zu den entscheidenden Antriebskräften einer nun immer vehementer geforderten kolonialen Landnahme.

Mit den kolonialen Eroberungen exportierten die europäischen Großmächte nicht nur ihre Vorstellungen vom Staat, sondern sie übertrugen auch ihre territorialen Ordnungskonzepte vor allem nach Afrika. Koloniale Landnahme am Ende des 19. Jahrhunderts vollzog sich zumindest in den deutschen Schutzgebieten als ein Territorialisierungsprozess, der zwar im Ergebnis als weitgehend gescheitert betrachtet werden muss, der aber mithilfe ritualisierter Praktiken des räumlichen Ordnens wie Vermessen, Zählen und Kartographieren deutsche Herrschaft über koloniales Land stabilisieren sollte. Was aber geschieht, wenn afrikanischer Raum in koloniales Territorium transferiert wird? Am Beispiel von bi- und multilateralen Grenzherstellungsverfahren in Deutsch-Südwest soll empirisch nachvollzogen werden, wie souveräne Nationalstaaten ihr territoriales Ordnungsmodell in internationales Recht überführten und mithilfe standardisierter Grenzherstellungsverfahren kolonialen Raum untereinander aufteilten und territorialisierten. Dass die räumliche Erschließung der Kolonien dabei oft im Ungefähren verblieb, stellte eine ebenso schwere Hypothek dar wie die Installation einer Territorialordnung, die nicht selten auf allenfalls »vorgedachten« Grenzführungen basierte. Koloniale Grenzziehung war zu einem nicht unerheblichen Teil ein auf Karten vollzogener Akt der Inbesitznahme. Die Diskrepanz von kolonialem Herrschaftsanspruch, fiktiver Grenzziehung und faktischer Territorialisierung schlug sich in den Grenzkommissionen auf signifikante Weise nieder. Die Kommissionen waren Orte der räumlichen Wissensproduktion, dort wurden Reiseberichte, Tagebücher, Vermessungsdaten, Forschungsberichte gesammelt und ausgewertet. Doch die diskursive Verdichtung und Operationalisierung dieses Wissens war am Ende des 19. Jahrhunderts noch nicht vollständig ausgereift und erreichte nur für bestimmte Regionen Afrikas ein tragfähiges Niveau. Die binäre Codierung von Hier und Dort setzt hingegen ein gesichertes Wissen über den geographischen Raum voraus, das im kolonialen Kontext jedoch nur unter Einsatz erheblicher finanzieller, technischer und personeller Mittel zu erlangen war. Gerade die begrenzten Ressourcen machten die kartographische Visualisierung zu einer Art Ersatzhandlung der ansonsten allenfalls oberflächlichen Raumerfassung.42

Doch trotz dieser erheblichen Defizite brachte die koloniale Landnahme ein weiteres, in seiner Wirkung bisher eher unterschätztes Raumbild hervor: die Vorstellung vom leeren Raum. Die rechtliche Architektur der kolonialen Territorialisierung korrespondierte mit den Anschauungs-, Beobachtungs- und Erschließungsformen der Kolonisierenden in signifikanter Weise. Die Europäer erkundeten Afrika entlang von Routen und deren kartographische Verarbeitung erzeugte ein von weißen Flächen und schmalen Linien dominiertes Kartenbild. Der leere Raum war somit auch das Resultat eines europäischen Raumaneignungsprozesses. Diese Fiktion wurde nicht nur zu einem zentralen Wahrnehmungsmuster kolonialer Expansion, sie unterfütterte auch den Anspruch, bevölkerungsstarke, kulturell hoch entwickelte Staaten verfügten allein schon wegen ihres hohen Nahrungs- und Ressourcenbedarfs über ein natürliches Recht auf koloniale Landnahme. Die Verkoppelung von politischen Territorialitätskonzepten mit der Erfahrungskategorie eines sich durch Modernisierungs- und Industrialisierungsprozesse verringernden Raumes organisierte sich daraufhin wissenschaftlich wie semantisch um den Lebensraumbegriff. Die Vorstellung vom Lebensraum war dabei eng mit der Objektkonstituierung des damals noch jungen Faches Geographie sowie mit dessen Ausformung als Politische Geographie verbunden. Im Zuge der Biologisierung geographischer Wissensbestände wurden organizistische Staats- und Territorialitätsauffassungen mit einem physiologisch-biologischen Vokabular ausgestattet, das es erlauben sollte, imperiale Politik mithilfe von räumlichen Gesetzmäßigkeiten wissenschaftlich zu legitimieren und vor allem zu prognostizieren. Profiliertester Vertreter dieser evolutions- und migrationstheoretischen Raumkonzeption war der bereits erwähnte Geograph Friedrich Ratzel, der mithilfe des Lebensraumprinzips die für das 19. Jahrhundert signifikanten Verdichtungsdynamiken in das politische Feld staatlicher Territorialisierungsprozesse transferierte. Obgleich der Erste Weltkrieg und somit auch die deutsche Herrschaft in Ober Ost weitgehend einem imperialen Raumparadigma verpflichtet blieben, markierte das nur für einen historisch kurzen Moment aufscheinende deutsche Ostimperium, wie sich koloniale Territorialisierungskonzepte nach Ost- und Ostmitteleuropa verlagerten. Ähnlich wie zuvor in Afrika griffen die Eroberer dabei auf die Fiktion vom leeren Raum zurück, mit der die vor Ort gewachsenen Ordnungen als koloniales Inventar ausgeblendet wurden. Raum wurde hierbei zu einer Art Beschreibungsformel, die fremdes Land in eigenes Territorium umzudeuten half. Bemerkenswert ist dabei, wie sich trotz detaillierter Wahrnehmung des Vorhandenen die Vorstellung vom leeren Raum entfalten konnte. Die Imagination eines unberührten, unerschlossenen Terrains erwies sich in den Visionen eines deutschen Ostens als nahezu übermächtig.

Für die Frage der Neuordnung Europas sowie für das spezifisch deutsche Verständnis der eigenen territorialen Ordnung erwies sich der Versailler Vertrag als dramatischer Tief- und Wendepunkt. Völkischer Herkunftsglaube, nationale Ungleichzeitigkeiten, kulturelle Überlegenheitsgefühle, historische Referenzerzählungen sowie handfeste ökonomische Interessenlagen prägten die räumlichen Rechtfertigungs- und Legitimationsmuster, nach denen Europa neu geordnet wurde. Gerade die mit völkischen Zugehörigkeitskonstruktionen untermauerten Territorialansprüche offenbarten in Versailles ihre politische Brisanz, was sich an der Oberschlesienfrage exemplarisch nachzeichnen lässt. Dabei erwies sich das völkische Einmaleins als eine relativ beliebige und für durchaus unterschiedliche Interessen instrumentalisierbare Grundrechenart. Territoriale Ordnungsfragen ließen sich damit jedenfalls nicht vereindeutigen. Räumlich gesehen stand Europa vor der unlösbaren Aufgabe, völkische Zugehörigkeitskonstruktionen und nationale Grenzziehungen in Gebieten zur Deckung zu bringen, in denen eine solche Homogenisierung nur durch massiven Bevölkerungsaustausch hätte hergestellt werden können. Im Unterschied zu den Regelungen, wie sie beispielsweise nach den Balkankriegen 1912/13 getroffen worden waren, setzte der Versailler Vertrag jedoch nicht auf Bevölkerungstransfers als regulierendes Prinzip, sondern etablierte eine territoriale Ordnung, die sich unter Inkaufnahme erheblicher Minderheitenproblematiken an völkischen Mehrheitsverhältnissen ausrichtete, ohne sie überall konsequent umzusetzen. Die Vorstellung des völkisch homogenen und von international anerkannten Grenzen umschlossenen Nationalstaates erwies sich dabei als ein europäisches Idealbild, das zwar in den Pariser Verhandlungen handlungsleitend war, dort aber bereits seine politische Sprengkraft unter Beweis stellte. Gerade die Grenzherstellung in Oberschlesien erwies sich als ein komplizierter, widersprüchlicher und zudem extrem gewalthafter Territorialisierungsprozess, in dem nicht nur die Fallstricke, sondern bereits das Scheitern homogen gedachter Raumordnungen sichtbar wurden. In Deutschland verkehrte sich daraufhin das eigene imperiale Selbstverständnis in die klaustrophobisch aufgeladene Panik, infolge der auferlegten Gebietsabtretungen einen existenzbedrohenden Raumverlust zu erleiden.

Die Delegitimierung der eigenen Territorialkonzepte gehörte zu den Schlüsselerlebnissen einer sich in den 1920er Jahren formierenden Deutschtumsforschung. Nachdem nicht nur der Krieg, sondern auch der Frieden verloren war, standen Politiker und Wissenschaftler vor der Herausforderung, belastbare Konzepte der territorialen Verfasstheit zu entwickeln, mit denen sich Deutschland jenseits seiner aktuellen Territorialordnung konzipieren ließ. Unter dem Schlagwort »Deutscher Raum« versammelten sich Theorien, Konzepte und Ideen, die verschiedene Szenarien jenseits der seit 1919 international festgelegten Grenzen propagierten. Die als Fortschrittsnarrativ arrangierte Kulturbodentheorie ermöglichte es beispielsweise, relativ unabhängig von den aktuellen Besiedlungsverhältnissen räumliche Besitzansprüche zu rechtfertigen. Damit fügte sie sich vortrefflich in den politischen Diskurs des Grenz- und Auslandsdeutschtums ein und empfahl sich einer revisionistischen, den aktuellen politischen Kräfteverhältnissen gleichwohl angepassten Außenpolitik. Nicht mehr nationalstaatliche, sondern am Volks- und Kulturboden vermessene Grenzen verwiesen auf einen zukünftigen deutschen Staat, den es alsbald zu realisieren galt. Der politische Raumdiskurs der Weimarer Republik unterschied sich dadurch eklatant vom imperialen Getöse des Kaiserreiches, da sich Raum nun zu einer existenziellen Größe radikalisierte. Nach verlorenem Krieg, nach Gebietsabtretungen und dem Verlust der staatlichen Einheit aktualisierte sich die Wahrnehmung, Deutschland leide unter einer unerträglichen Raumenge. Dabei korrespondierten die Gebietsverluste seit 1919 mit latenten Verdichtungserfahrungen und beförderten ein klaustrophobisches Lebensgefühl, das für den Raumdiskurs der 1920er und 1930er Jahre symptomatisch wurde. Die Zeitschrift für Geopolitik war nur ein zentraler Ort, an dem sich dieses Raummuster manifestierte und wo es sich zudem mit wissenschaftlicher Legitimität versorgte. Hier wie an anderen Kontexten transformierte sich ein existenzielles Bedrohungsgefühl in einen ideologisierten Affekt, der sich schließlich mit der Formel Volk ohne Raum zu einer Art historischem Phantomschmerz steigerte.

Die Vorstellung vom Lebensraum erfuhr seit der Jahrhundertwende sowohl semantische wie auch konzeptionelle Umarbeitungen. Friedrich Ratzel verstand darunter eine auf natürlichen Daseinsgrundlagen basierende Raumordnung von Staaten, die aufgrund biologischer Bewegungsantriebe nahezu zwangsläufig zu einem erbitterten »Kampf um Raum« führen müsse. Territorialisierung war nach seiner Logik eine natürliche Bewegungsdynamik moderner Gesellschaften. Da mit dieser evolutionstheoretischen Raummechanik vor allem koloniale Landnahmen legitimiert werden sollten, gehörte Lebensraum schon bald zum Grundwortschatz imperialer Rechtfertigungsdiskurse, die sich jedoch nach dem verlorenen Weltkrieg und den erzwungenen Gebietsverlusten radikal wandelten. Vor allem in den 1920er Jahren lässt sich eine klaustrophobische Anreicherung des Lebensraumprinzips beobachten, die anhand des geopolitischen und nationalökonomischen Diskurses sowie am Beispiel des 1926 von Hans Grimm verfassten Romans »Volk ohne Raum« nachgezeichnet werden kann. Auch Hitlers »Mein Kampf« liest sich im Kontext dieses Transformationsprozesses nochmals anders. Bemerkenswert ist nämlich, dass Hitler noch Ende der zwanziger Jahre den Lebensraumbegriff keineswegs zum Dreh- und Angelpunkt seines außenpolitischen Programms deklarierte, sondern ihn wohl aufgrund seiner geopolitisch-bürgerlichen Konnotation eher noch vermied und stattdessen eine nationalsozialistische Bodenpolitik propagierte. An der unmittelbar nach 1933 einsetzenden rassischen Homogenisierung des »Deutschen Raumes« änderten diese Nuancen indes wenig. Am rasanten Aufstieg der Raumplanung lässt sich vielmehr exemplarisch verdeutlichen, wie der zunächst ideologisch bevorzugte Terminus Boden tendenziell auf die Bedeutung einer agrarwirtschaftlichen Germanisierung vorhandener und später eroberter Gebiete konzentriert blieb, während sich Lebensraum zu einem nach rassenbiologischen Kriterien homogenisierten Ordnungskonzept entwickelte, das vorrangig auf die Eroberung, Besiedlung und Beherrschung von Großräumen ausgerichtet war. Der Beginn des Zweiten Weltkrieges markierte in diesem Umschreibungsprozess eine Zäsur: Mit dem Hitler-Stalin-Pakt vom 23. August 1939 begann sich nicht nur der räumliche Horizont nationalsozialistischer Eroberungspolitiken zu konkretisieren, Lebensraum kennzeichnete nun die Totalität eines Zerstörungs- und Neuordnungswillens, der die eroberten Gebiete nicht mehr im kolonialen Sinne als leer phantasierte, sondern sie im Sinne rassischer Auslese zu leeren und neu zu sortieren beabsichtigte. Konkret verwirklichte sich diese Programmatik bereits bei der territorialen Einverleibung Westpolens. Allein durch Grenzziehung waren rassisch homogene Räume, wie sie die deutschen Besatzer anstrebten, nicht herstellbar. Die ins Reich eingegliederten Gebiete sollten daher umgehend durch Bevölkerungsaustausch germanisiert werden. Dieses territoriale Grundprinzip verkoppelte von Anbeginn an die im Hitler-Stalin-Pakt vereinbarten Umsiedlungen mit den Aussiedlungs- und Vertreibungspraktiken in Westpolen. Im Spannungsfeld zwischen einem rassenbiologischen Selektionsverfahren, einer politisch-kulturellen Assimilations- und Eindeutschungspolitik gegenüber Teilen der polnischen Bevölkerung, einer kriegsbedingten Leistungsmobilisierung sowie dem Aufbau einer völkischen Gesellschafts- und Sozialordnung vollzog sich eine auf Segregation zielende Territorialordnung, deren Scheitern einen der wohl folgenschwersten Schritte auf dem Weg zum Holocaust darstellte.

Raumtheoretisch gehört der Konflikt um Großraum versus Lebensraum zu den aufschlussreichsten während des Zweiten Weltkrieges, denn in ihm gipfelte eine begriffliche »Karriere«, an deren Ende Lebensraum zum Leitbegriff einer territorialen Homogenisierungs- und Vernichtungspolitik avancierte. In der Umarbeitung der »völkerrechtlichen« zur »völkischen« Großraumordnung vollzog sich der semantische wie auch der faktische Übergang von einer rechtlichen zu einer biologischen Territorialordnung. Die Homogenisierung des vormals polnischen Staatsgebietes diente hierfür als Experimentierfeld, ab Juni 1941 übertrugen dann die Planungsstäbe das bisherige Territorialprinzip der »Umvolkung« mit gewissen Modifikationen auf die neu besetzten Ostgebiete. Die rassische Homogenisierung der eroberten Räume blieb im Kern das territoriale Leitbild der nationalsozialistischen Eroberungspolitik, auch wenn die räumlichen Verhältnisse in der Sowjetunion gewisse Übergangskonzepte notwendig machten und eine rassische Selektion der polnischen Bevölkerungen nicht flächendeckend durchsetzbar war. Die Entscheidung zum systematischen Massenmord an den europäischen Juden fiel indes nicht zufälligerweise genau in dem historischen Moment, als die Besiedlungs- und Territorialisierungspolitiken im Osten Größenordnungen von vorher unvorstellbarem Ausmaß annahmen.

1 Kracauer, Über Arbeitsnachweise, S. 186.

2 Vgl. Malthus, Eine Abhandlung über das Bevölkerungsgesetz. Zu ergänzen wäre, dass bereits am Ende des 18. Jahrhunderts durchaus kontroverse Positionen zur Bevölkerungsregulierung existierten.

3 Hierfür zentral der von Koselleck geprägte Begriff des Erfahrungswandels, den er anhand von Verzeitlichungsphänomenen entwickelt hat. Vgl. Koselleck, Zeitschichten, vor allem S. 27–77. Zu Beschleunigungs- und Verdichtungsprozessen vgl. Großklaus, Medien-Zeit sowie Rosa, Beschleunigung.

4 Hier nur einige Hinweise zur umfangreichen Literatur: Mackenroth, Bevölkerungslehre; Köllmann/Marschalck (Hg.), Bevölkerungsgeschichte; Köllmann, Bevölkerung in der industriellen Revolution; Marschalck, Bevölkerungsgeschichte Deutschlands; Mackensen/Thill-Thouet/Stark (Hg.), Bevölkerungsentwicklung; Haupt/Marschalck (Hg.), Städtische Bevölkerungsentwicklung; Heim/Schaz, Berechnung und Beschwörung; Ferdinand, Das Malthusische Erbe; Wehler, Gesellschaftsgeschichte, Bd. 2, S. 7–24; ders., ebenda, Bd. 3, S. 7–37; Ehmer, Bevölkerungsgeschichte; Etzemüller, Ein ewigwährender Untergang.

5 Foucault, Die Geburt der Biopolitik, S. 465, FN 70 sowie ders., Der Wille zum Wissen, S. 136.

6 Vgl. Foucault, Andere Räume, S. 34–46.

7 Foucault, Der Wille zum Wissen, S. 166.

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