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Ralf Rothmann

Feuer brennt nicht

Roman

Suhrkamp

Umschlagfoto: Reinhold Schroers







ebook Suhrkamp Verlag Berlin 2010

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 2009

Suhrkamp Taschenbuch Verlag

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das

der Übersetzung, des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung

durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile.

Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form

(durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren)

ohne schriftliche Genehmigung des Verlages reproduziert

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Umschlag: Göllner, Michels, Zegarzewski



www.suhrkamp.de

eISBN 978-3-518-74380-5

Sie musste glauben, es sei das Sonnenlicht,

das mir die Augen mit Tränen füllte.



Julio Cortázar

1

Frühe Jahre

Wie alltäglich oder unbedeutend die Reise auch sein mag, wie trist der Bahnhof und wie voll das Abteil mit den lärmenden Kindern, den ungelenk sich abmühenden Kofferträgern und den Keuchenden, die es gerade noch geschafft haben: Wenn alle Ansagen gemacht und alle Türen geschlossen sind und jeder auf das Anrucken des Zuges wartet, gibt es nicht selten einen Moment der Stille, der mehr zu meinen scheint als das unausgesprochene »Endlich!« oder die Entfernungen zwischen hier und da, der einem wie ein geheimnisvolles Innehalten vorkommt, ein Atemholen der Zukunft, und die meisten Menschen, selbst die misslaunigen oder ungeduldigen, einen Herzschlag lang demütig aussehen lässt.

Wir wissen nichts, wenn jemand stirbt, nicht viel, wir stehen vor einem Rätsel, und will man Obskures vermeiden, schweigt man besser. Zwar haben wir uns angewöhnt zu sagen, die oder der Verstorbene lebt in uns, unserem Gedenken, weiter; aber irgendwann sind auch wir vergessen, und was dann? Sicher ist nur so viel: Niemand auf der Welt kann ein Leben, sei es nun lang oder kurz gewesen, ungeschehen machen. Es hat einmal für immer stattgefunden, es hat eingewirkt auf den vergangenen, es wirkt ein auf den gegenwärtigen und wird einwirken auf den künftigen Zustand der Mysterien; und wie die Natur, der physische Bereich, in Wahrheit keinen Tod kennt, sondern immer nur Verwandlung, endlos, so wird es im metaphysischen Bereich eine Entsprechung geben. Jetzt, in diesem Moment, schließen unzählige Menschen zum letzten Mal die Lider, und gleichzeitig schlagen unzählige andere sie zum ersten Mal auf, und sieht man einmal ab von allem Persönlichen, könnte man den Eindruck gewinnen, das ganze Dasein, das leidige Werden und Vergehen, sei nichts als ein Blinzeln oder Augenzwinkern auf dem Grund einer allumfassenden Gelassenheit. Wäre das ein Trost?

Die Fahrt kommt einem endlos vor. Es ist heiß, die Luft über dem Gleisgewirr zittert. Pappelsamen fliegt im Abteil herum. Ein alter S-Bahnwagen mit Holzbänken, wie es sie in Westberlin schon längst nicht mehr gibt; der Feuerlöscher wackelt, die geöffneten Fenster rappeln in den Rahmen, Türen schnellen zu mit hartem Knall. Die Stationen haben ungewohnte Namen: Ostkreuz, Wuhlheide, Rummelsburg. Vor den langen, mit Graffitis besprühten Ställen der Trabrennbahn in Karlshorst dösen Pferde in der Sonne. Es wird immer grüner, und die Menschen reden kaum und blicken aus dem Fenster mit Gesichtern, denen man wenig Humor zutraut. Viele Männer tragen Hemden mit verblichenen Mustern, unglaublichen, wie auf Sofas von Möbel-Discountern. Strohfarben das Haar der Frauen, billig der Schmuck, und der zementfarbene Teint wird noch etwas grauer, die Lippen schmaler, wenn sie bemerken, dass man sie anschaut. Obwohl sie hemmungslos gegafft haben, als Alina und er den Wagen betraten, ist ein Blick auf sie offenbar nicht erwünscht, auch kein freundlich gemeinter. In Köpenick ausgestiegen, dreht sich eine Frau noch einmal nach ihnen um, und als Wolf ihr zunickt, schüttelt sie den Kopf und geht beleidigt davon in ihren Sandalen aus dem anderen Staat.

Noch mehr Pappelsamen, ohne dass man die Bäume sähe. Auf dem Bahnsteig in Hirschgarten kein Mensch. Spatzen picken Moos aus den Fugen der Betonplatten, deren Relief an Kopfsteinpflaster erinnern soll, und Alina trinkt einen Schluck Wasser aus einer kleinen Plastikflasche. Heimlich beobachtet er ihre Spiegelung in der Wagenscheibe, die verzitterte Silhouette. Aufrecht sitzt sie, die Hände locker im Schoß, wo sie manchmal an dem Ring am kleinen Finger dreht, und weil sie übernächtigt ist und blass, wirken ihre blauen Augen dunkler als sonst. Feine Falten ziehen sich von den Lidwinkeln zu den Schläfen, doch die Stirn mit den vereinzelten Sommersprossen ist trotz ihrer sechsunddreißig Jahre glatt. Sie trägt die roten, früher einmal lockigen Haare neuerdings kurz geschnitten, was ihr Gesicht ein wenig fülliger aussehen lässt. Mit dem runden Kinn, den schmalen Lippen und der geraden, kurz vor der Wurzel leicht eingewölbten Nase hat sie etwas von einer Jugendstil-Schönheit, wie man sie auf alten Drucken findet, in Büchern mit Exlibris. Doch der ornamentale Ernst und die pathetische Schicksalhaftigkeit solcher Frauen sind ihre Sache nicht; dazu hat sie zu viel Humor. Sie atmet tief, bei offenem Mund, und wie immer, wenn sie seinen Blick bemerkt, hellen sich ihre Züge auf, ein fast reflexartiges Lächeln. Der Wagen steht, aus irgendeinem Grund geht es nicht weiter, und die Stille nimmt immer noch zu. Pappelsamen wirbelt herum wie Schnee, ein wildes Stöbern.



Sie hatten sich Ende des Jahres entschieden, gegen Weihnachten. Sie waren ihr altes Viertel leid. Eine zunächst nur lästige Bronchitis, die Folge einer Vortragsreise im Oktober, des Wartens auf zugigen Bahnsteigen, war in der Berliner Luft zu einer Lungenentzündung geworden, mit hohem Fieber, und die Heilung zog sich hin. Erschöpft lag er auf dem Bett, nippte am Tee und versuchte zu lesen, während Alina ein paar Kiefernzweige mit Schleifen, Kerzen und Glaskugeln schmückte. Der Weihnachtszauber muss sein.

Trotz der geschlossenen Fenster riecht es nach Kohlenrauch und Autoabgasen; die Rahmen sind verrottet, die Scheiben zittern, wenn Lieferwagen durch die Straße fahren. Die Fixer in den Räumen über ihnen streiten sich, verfluchen einander mit krächzenden Stimmen. Ein Spanier oder Südamerikaner ist dabei, »Te mato!« ruft er, und noch einmal schriller: »Te mato!« Irgend etwas poltert auf die Dielen, und unter ihnen kläfft Lola, die Hündin des Hauswarts, der sie selten mitnimmt in die Kneipe, ein feuchtes Gewölbe im Souterrain. Nachts hört man das Klicken der Billardkugeln im Kamin, und die Bässe der Musikbox, man fühlt sie im Bett.

Es ist zum Verrücktwerden, dieses Haus, wenn auch mit schönem Blick; man sieht die Schwäne auf dem Landwehrkanal, und der Himmel zieht sich hin bis zu den Baukränen am Potsdamer Platz. Es ist schmutzig und stinkt aus allen Rohren, und besonders wenn Wolf heimkehrt von Reisen durch das saubere Westdeutschland, wo er in der Villa seines Verlegers gewohnt hat oder im Frankfurter Hof, wenn er die schwere Türe aufdrückt und zwischen verbeulten Briefkästen und vertrockneten Topfpalmen hinaufsteigt in den vierten Stock, kommt es ihm wie eine Kränkung vor. Kronkorken knirschen unter seinen Schuhen, die Scherben zerschlagener Lampen.

Außerdem plagt Alina ein seltsames Niesen, vermutlich eine Allergie gegen den Mülldunst aus dem Hof, und natürlich wissen sie, dass es so nicht weitergehen kann, seit Jahren ist es klar. Nach dem Mauerfall hat sich die Statik der Stadtteile verschoben, kaum merklich erst, wie sich ein Gebiss nach neuen Kronen oder Brücken ändert, und was man früher für ein Lächeln halten konnte, ist jetzt ein unverhohlenes Zähneblecken. Die buntscheckige Boheme, die das Kreuzberg längs der Kanalufer ausmachte, floh vor den neuen Mietpreisen nach Friedrichshain, Neuköllner Gangs durchstreifen die Hasenheide, und der U-Bahnhof Südstern ist zu einem Treffpunkt für Dealer und Süchtige geworden. In Rotten stehen sie davor mit ihren Kampfhunden, deren Maulkörbe locker am Halsband hängen, und wenn seine Freundin von einem späten Kurs oder einer privaten Unterrichtsstunde nach Hause kommt, muss Wolf sie abholen am Gleis.

Angst hat sie, geht kaum mehr allein aus in der Nacht, und auch ihm ist oft mulmig; doch mehr noch fürchtet er sich vor einer anderen Gegend, einem neuen, vielleicht weniger freien Leben. Denn das Haus, so schrecklich es ist und so sehr ihn die betrunkenen und abgerissenen Mieter deprimieren, hat einen schönen Vorteil: Sie wohnen gemeinsam darin und doch getrennt; sie haben zwei Appartements im selben Stock. Vor Jahren hatte sich das ergeben, und ohne viel Mühe, obwohl es eine Zeit der Raumnot und des Preiswuchers war. Alina lebte bereits dort, und sie umgingen die Warteliste für die plötzlich freie Nachbarwohnung, indem er einen Brief an die Verwalterin schrieb, einen geschliffenen Appell an ihren Sinn für Romantik, und ein signiertes Buch dazulegte: Das erste Mal, dass er eine Wohnung bekam, weil er Schriftsteller ist; früher hatte man ihm aus demselben Grund so manche verweigert.

Tür an Tür in teilnahmsvoller Distanz, das ist ihre Vorstellung von Anfang an; ein gemeinsames Leben, ohne dass Zauber und Anziehung sich durch zuviel Nähe und Gewöhnung aufbrauchen – hier scheint es möglich zu sein. Sie haben zwei Küchen, zwei Bäder, zwei breite Betten und eine Hoffnung, und das seit nunmehr siebzehn Jahren. Oft sehen sie sich Tage nicht, manchmal stellt er das Essen, das er für sie gekocht hat, in einem Topf vor ihre Tür. Sie schieben einander Zettel durch den Briefschlitz, Verse, Blödsinn, Marzipan, und wünschen sich per Klopfzeichen gute Nacht, und wenn sie telefonieren und bei Alina läuft Musik, hört Wolf sie nach dem Auflegen leiser weiter.

Ihre Wohnung liegt zum Hinterhof hinaus und ist heller und vor allem ruhiger; außerdem sind die Fenster dicht, und die Heizung funktioniert, und es ist spät am Heiligen Abend, als sie sich auf den Teppich hocken und einen Stadtplan ausbreiten, ein zerfleddertes Ding aus der Zeit vor der Wende; der Ostteil ist noch wie neu. – Wohin, mein Engel? Er hat bis dahin in Steglitz und in verschiedenen Straßen in Schöneberg gewohnt, sie hat ihre ersten Berliner Jahre im Wedding verbracht, und selbstverständlich geht man nicht zurück. Allein der Gedanke an so einen Schritt scheint den Kreislauf umzukehren, das Herz pocht auf dem Rücken. Also nach Friedenau oder Charlottenburg, wo es große Wohnungen mit hohen Räumen und Parkettböden gibt? Oder gar nach Dahlem? Doch die vertrauten Westbezirke, besonders die bürgerlichen, wirken abgelegen und verblichen seit dem Beginn der neuen Zeit; Stapel von Kompottschälchen auf dem Trödelmarkt fallen einem ein, emaillierte Reklameschilder fürs Bad, dunkle Anrichten in Berliner Zimmern und glatzköpfige Pfeifenraucher in Lederwesten. Und in den neuen Kiezen, die in Betracht kommen, in Mitte, Friedrichshain und am Prenzlauer Berg, kennt man sich vor lauter Lifestile und Logos nicht mehr aus; dort hat man Jugend zu einem Beruf gemacht, Erfolg zu einer Religion, und lebt auf viel zu dünnem Eis; man hört es leise knacken, wenn sie die Deckel ihrer Laptops schließen. Also fort aus dieser Stadt? Doch auch das kommt nicht in Frage. Man kann sie zwar nicht lieben, gewiss nicht; trotzdem bleibt es die beste für jemanden, der eigentlich nirgendwo hingehört.

Weil sie eine ihrer Selbstgedrehten rauchen will, öffnet Alina ein Oberlicht. Es schneit, Flocken fallen durch den Schein der Fenster im Hof, wo die Zweige einer Eiche bei Wind die Mauern streifen; es gibt Spuren davon im mürben Putz, ein Muster aus halbmondförmigen Schrammen. Sie schließt die Augen, lässt einen Zeigefinger kreisen und tippt auf den Plan, auf den äußersten Winkel unten rechts. Krumme Straßen, Gassen fast, eine dörfliche Struktur am Nordufer des Müggelsees; ringsum viel Grün, S-Bahnstationen im Wald. Es gibt eine Sternwarte und einen Tunnel unter der Spree, die nach einer Krümmung Dahme heißt, das Forum Köpenick, ein Einkaufszentrum, ist nah und der Flughafen Schönefeld beruhigend weit entfernt, und Alina reißt ein Streichholz an und sagt: »Da werden wir leben.« Die Flamme spiegelt sich in den Scheiben, Doppelglas, und ein paar Flocken wirbeln in das Zimmer und zerschmelzen auf ihrem roten Haar.



Von sich zu schreiben in der ersten Person geht selten ohne Verstellung. Das »Ich« ist ein schiefes Licht, und der Vorsatz, schonungs- oder gar schamlos zu sein, hat sich immer noch abgeschliffen während der Arbeit und Schwächen in persönliche Vorzüge verwandelt. So bleibt nur die dritte Person, eine dürftige Tarnung, womöglich mit sprechendem Namen. Man denkt an das Kind, das glaubt, nicht gesehen zu werden, wenn es die Augen schließt oder beide Hände vors Gesicht schlägt. Man denkt an den ausweglos gefangenen, allen Blicken und jedem Hohn preisgegebenen Nackten. Die dritte Person ist ein Senken der Lider.

Bei einem Spaziergang durch Friedrichshagen gefällt ihnen das zweistöckige Biedermeierhaus auf den ersten Blick. Weiße Putzflächen zwischen gelben Klinkersegmenten, große Fenster, säulengetragene Balkone und eine verglaste Veranda im Parterre, jetzt das Wartezimmer eines Arztes. Die Proportionen im Schatten der noch kahlen Bäume haben ein erfreulich menschliches Maß, und es ist Alina, die einen kleinen Zettel hinter dem Ziergitter der Tür entdeckt: Dachgeschosswohnung frei. Sie zieht ihn am Ärmel in die Einfahrt zum Hof. Die Vermieterin, eine Frau um die sechzig, steht im Garten und begrüßt sie freundlich, nahezu strahlend; zu polierten Pumps und einem dunklen Kostüm, das nicht die Andeutung einer Taille sehen lässt, trägt sie rosa Gummihandschuhe, an denen noch das Preisschild klebt, und die dauergewellten Haare sind so energisch mit Spray fixiert, dass sie an ein Baiser erinnern. Ihre Gepflegtheit meint eindeutig Abgrenzung, ein fast amerikanisches Vorsichtshalber, und ihrem flinken Blick entgeht kein Detail an ihnen. Sie legt die Harke weg und bedauert, die Räume im Moment nicht zeigen zu können; es sei schließlich Sonntag, und die derzeitigen Mieter wären überrumpelt. Aber man verabredet ein Telefonat. »Schriftsteller sind Sie? Na, dann ist das hier richtig. Strindberg hat mal nebenan gelebt.«

In den folgenden Tagen fahren sie immer wieder in den Bezirk, um herauszufinden, ob das Haus auch wirklich das geeignete ist. Denn vor allen Dingen wollen sie ruhig wohnen. So gesehen ist ein Dachgeschoss schon mal besser als jede andere Etage; der Trittschall von oben entfällt. Und die übrigen Mieter scheinen den Gardinen nach gutbürgerlich zu sein, keine Rapper oder Punks. Die S-Bahn hört man kaum, die Güterzüge nur abends ein oder zwei Stunden lang, und die Flugzeuge, die über dem Bezirk nach Tegel einschwenken, fliegen bei klarem Wetter sehr hoch; ohnehin will man den Airport schließen. Doch die Straße vor dem Haus wird von vielen Autofahrern zur Umgehung einer Ampelanlage mit langen Rotphasen genutzt, und auf dem Kopfsteinpflaster klingen alle Reifen, als hätten sie Spikes. Auch vom nahen Fürstenwalder Damm ist dieses Ratschen zu hören, unablässig, und fahren sie über Bodenwellen, kracht und scheppert es auf den Ladeflächen der Laster. Doch Alina tröstet Wolf mit der Hoffnung, dass man das in der Wohnung vielleicht nicht wahrnimmt. In jedem Fall ist es leiser als in Kreuzberg, am dröhnenden Südstern.

Lärmphobie als Berufskrankheit; man hört die Flöhe der Flöhe husten. Dabei haben ihm Geräusche lange Zeit nichts anhaben können; auf den Rockfestivals seiner Jugend schlief er schon mal unter der Bühne, und noch als Dreißigjähriger begann er den Tag mit voll aufgedrehten »Dum Dum Boys« von Iggy Pop. Eine Wohnung danach auszusuchen, ob sie ruhig ist oder laut, auf die Idee kam er nie; stets war er froh, dass er überhaupt eine hatte. Erst als er anfing, Prosa zu schreiben, ging ihm Lärm plötzlich auf die Nerven. Er fühlte sich wie gehäutet von der Scharfkantigkeit der Geräusche und machte die banale Erfahrung, dass Sprache, in der mehr anklingt als das Alltägliche, nicht ohne Stille zu haben ist. Denn die ist nicht einfach nur Lautlosigkeit; sie ist die Übersetzung der Wahrheit ins Akustische, ihr muss er ablauschen, was übertragen werden will in die Schrift, und seitdem verschlingt die Suche nach Verhältnissen, in denen er arbeiten kann, nach wirklich ruhigen Hotels oder Inseln ohne Autoverkehr, annähernd so viel Energie wie die Arbeit selbst. Andererseits ist ihm der Wunsch, etwas in Ruhe zu schreiben, auch wieder verdächtig; die wesentlichen Texte scheren sich nämlich nicht darum, ob es laut ist oder leise im Raum; was Gestalt annehmen will, tut es in fast jeder Situation.

Es vergehen gut zwei Wochen, ehe sie die Wohnung besichtigen können. Obwohl es ein kalter, fast frostiger Morgen Ende März ist, sind alle Fenster weit geöffnet, und sie lassen die Mäntel an, als die Vermieterin sie herumführt. Es gibt drei Zimmer, ein Bad, ein Gäste-WC und begehbare Schränke, und die Küche macht mit ihren Einbaumöbeln, dem Ceranherd und der polierten Abzugshaube unter alten Balken einen fast luxuriösen Eindruck. Doch Wolf, der einmal als Maurer gearbeitet hat, sieht auf den ersten Blick, dass hier sehr billig restauriert wurde, mit entsprechenden Baustoffen; Spanplatten liegen unter dem Teppichboden, und die Giebelwände sind mit Rigips verschalt, was oft ein Zeichen von verborgener Feuchtigkeit oder gar Schimmel ist. Zudem glaubt er den durchsottenen Kamin zu riechen, und ob die schrägen Fenster dicht sind, ist angesichts der Wasserspuren an den Rahmen fraglich. Doch als er die Frau darauf anspricht, schüttelt sie den Kopf. »Davon verstehe ich nichts. Fragen Sie meinen Mann, der ist Architekt. Wir haben drei Mietshäuser, alle von ihm ausgebaut, und bisher hat sich noch niemand beschwert.«

Dieser Hinweis auf den Beruf ihres Mannes beschwichtigt ihn, und nach einem Blick in Alinas Augen mag er nicht den Miesepeter spielen. Sie ist begeistert von den Räumen und kneift ihn heimlich, während sie der Frau durch die Glastür auf die Dachterrasse folgen. Ein Hauch von Raureif liegt über den Höfen und weitläufigen Gärten unter ihnen, die zarten Kristalle an den Zäunen und Sträuchern und Kohlstrünken funkeln in der fahlen Sonne. Irgendwo am Waldrand klingelt eine Tram, ein Taubenschwarm kreist über dem Schlag, und in einer offenen Remise schnaubt ein Pferd, von dem sie freilich nur den Atem sehen. »Das ist unsere Wohnung«, flüstert sie, als die Vermieterin sich über die Brüstung beugt und etwas in den ersten Stock hinunterruft, wo ihr Sohn lebt. »Oder nicht?«, insistiert sie beinahe ängstlich, und einmal mehr bewundert er die Tapferkeit und den unbedingten Zukunftswillen in ihrem Gesicht und fragt sich einen melancholischen Moment lang, was er ihr denn geboten hat in all den Jahren außer seinen Spleens und Neurosen und der welker werdenden Haut. Nichts hat er ihr geboten, dieser wunderbaren Frau, und als er schließlich nickt und ihr einen Arm um die Schultern legt, donnert eine Maschine der Lufthansa über das Dach.



Erinnerung, auch und gerade die gewollte, ist selten wahr; sie gaukelt uns vor, etwas liege hinter uns und sei vorbei. Doch mit dem Horizont nimmt die Ahnung zu, dass Zeit nichts ist, was sich bewegt; alle Zeit meint vielmehr Gleichzeitigkeit, was vermutlich schon deswegen stimmt, weil es unser Verständnis übersteigt. Wer weiß, in den Traumtiefen dieses Augenblicks passiert vielleicht das Mittelalter, die Antike, die Zukunft in Maschinen aus Gedankenkraft und Licht; in diesem Moment juckt mich ein Mückenstich, während Plotin sich kratzt und mir irgendwer mit einem Zwinkern seine Software überspielt. Wie es auch sei, Erinnerung ist jedenfalls nicht das Mittel, um aus dem eigenen Leben ein Kunstwerk zu machen. Dazu fehlt es ihr an Vollkommenheit.

Mit der Liebe sieht es da schon anders aus. Zögernd hatte es begonnen mit ihnen, nahezu klassisch: der Autor und die Buchhändlerin. Er hatte gerade debütiert und für seine Lyrik und eine Erzählung ein Jahresstipendium im Sauerländischen bekommen. Dazu gehörte eine Wohnung in einer städtischen Villa, in der auch das Standesamt untergebracht ist; Marmortreppen, weitläufige Räume, große ovale Fenster mit Blick auf Hügel und Wälder. Es schneit oder regnet viel hier, fast ununterbrochen, immerzu hängen Wolkenfetzen zwischen den Wipfeln der gewaltigen Tannen, und der einzige Lichtblick ist die Einkaufsstraße im Tal. Doch der Glutstrom trügt; die Menschen tragen Grau oder Beige, oder beides; auch die Schuhe sind grau oder beige. Und natürlich bezieht er den Missmut in den Mienen der meisten auf sich; er kriegt Unsummen an Steuergeldern für ein paar Gedichte, die sich nicht einmal reimen, und sie müssen ihre Münzen zählen im Penny-Markt. Ein Handwerker schiebt ihm den Einkaufswagen in die Hacken, mehrfach; aufrücken soll er, näher zur Kasse, und als er zwar protestiert, es aber dennoch tut, sagt der andere: »Na bitte, geht doch …«

Er gibt sich grüblerisch und arbeitsam, spricht von seinem ersten Roman und liegt in Wahrheit nur auf dem Sofa und starrt in den verhangenen Himmel, Monate. Erwartet wird wenig. Ab und zu soll er aus seinen Texten lesen, im örtlichen Rotary-Club zum Beispiel, in der Leihbücherei, im Kulturzentrum der Nachbarstadt, einer ehemaligen Wassermühle mit klapperndem Rad. Dennoch ist seine Depression oft so lähmend, dass es ihm schwerfällt, die Teetasse an den Mund zu führen. Das Schreiben ist ein Glück von Jugend an, trotz aller Mühe. Das Schriftstellersein dagegen, jedenfalls in der Öffentlichkeit, ist kaum erträglich. Dass er etwas zu sagen haben soll über seine Texte hinaus, empfindet er als Zumutung, und wenn er dann nur stammeln kann, schürt das am ehesten bei ihm selbst den Verdacht, dass er wohl doch kein richtiger Autor ist: Der Brauereibesitzer weist ihn auf einen problematischen Genitiv hin, der Studienrat hat alles schon mal gelesen, und seine Frau fragt ihn, ob er jenes Gedicht von Schiller kenne, das da anhebt: »Größeres wolltest auch du …« Interessiert sieht man ihm beim Signieren seines Buches zu, und prompt verkrampfen sich die Finger so, dass er den Namenszug nicht zu Ende bringt. Will er dem aber zuvorkommen, indem er schwungvoller beginnt, mit großen Anfangsbuchstaben, reicht der Platz nicht aus.

Die Mühle klappert, und der Veranstalter blickt auf die Uhr. Er betreibt eine Versandbuchhandlung nebenan, mit einer beachtlichen theologischen Abteilung, Devotionalien inbegriffen. Zeitgenössische Literatur verkauft er wenig, am besten gehen Gartenbücher. Sieben Zuhörer haben sich eingefunden, und er hat noch einen Termin und stellt ihm die Auszubildende hinter dem Verkaufstisch vor, Alina. »Die bringt sie später nach Haus.« Sie nickt ihm zu, scheint verlegen, aber ihre Hand ist warm und weich und angenehm trocken. Ihr volles rotes Haar trägt sie im Nacken zusammengebunden, in der zarten Stimme ist etwas, das ihn an Rispengras erinnert, und gefragt nach ihrem ungewöhnlichen Vornamen, erwähnt sie eine lettische Urgroßmutter. Ein zerlesenes Exemplar seines Gedichtbandes hat sie dabei, und als sie ihn um eine Widmung bittet, schreibt er »Danke für den Anblick!« hinein.

Die Veranstaltung ist im ersten Stock, in einem absurd großen Saal. Sie dimmt das Licht herunter und setzt sich in die erste Reihe, als einzige, die Kassette mit dem Geld auf dem Nachbarstuhl. Ein weißhaariges Ehepaar hat einen Hund dabei, einen riesigen, zotteligen, der sich neben den Heizkörper legt. Es gibt kein Mikrofon, das Anlesen gegen die Leere ist schweißtreibend, die Brille beschlägt. »Etwas lauter bitte!« ruft ein Zuhörer von hinten, und er klammert sich an den Buchseiten fest und liest schneller, um fertig zu werden. Da er den Wörtern so den Atem nimmt, verliert sich ihr Zauber, und selbst die heiteren Stellen klingen taub; wenn aber zwischendurch der Hund gähnt und seine Kieferknochen vernehmlich zusammenklappen läßt, ist hier und da ein Kichern zu hören, ein Prusten durch die Nase. Als schließlich applaudiert wird, zögerlich, schlaff und doch mit einem Hall, der den Saal noch höher zu wölben scheint, springt das Tier bellend auf und kann nicht schnell genug zum Ausgang kommen.

Später, beim Wein mit einem Galeristen, der Kulturamtsleiterin und dem Apotheker, schweigt sie meistens, die Schöne, spielt mit ihren Autoschlüsseln und träumt aus dem Fenster hinaus, Butzenscheiben. Vergeblich versucht er, etwas von ihrer Figur auszumachen unter dem flauschigen Pullover und der weiten Jeans, einer Latzhose wohl; jedenfalls hat sie eine Zollstocktasche. Auch die Schuhe sehen eher gesund aus, und sie trägt keinen Schmuck, die Ohrlöcher sind leer. Ihr krauses Haar wird von dem Kerzenschein auf der Fensterbank umglüht, die Haut am Hals ist erschütternd weiß, und Wolf, dem der Apotheker gerade gesagt hat, dass er ein »Goethe-Fan« und jedes Jahr in Weimar sei, greift nach ihrer Hand, den rastlosen Fingern, und fragt sie leise, ob sie sich langweile und lieber nach Hause möchte? Doch sie schüttelt nur den Kopf; eine Locke fällt ihr in die Stirn, und das Lächeln kommt ihm unsicher vor und spöttisch zugleich. Ein verstörendes Lächeln, denn eigentlich bewegt sie nur einen Mundwinkel; sie wölbt die Oberlippe etwas hoch, und man kann die Eckzähne sehen in dem flackernden Licht, ihren glänzenden Schmelz. Ruhig entzieht sie ihm die Hand.

Ohne jedes Interesse für den über Dreißigjährigen scheint sie zu sein und in jedem Fall zu keusch für ihn. Draußen hat es geschneit, und im Auto, einem klapperigen Kleinwagen, bleibt es lange kalt. Einsilbig ist sie, den Blick starr auf die Straße gerichtet. Sie muss sich konzentrieren in den abschüssigen Kurven im Wald und auf den Talbrücken, wo der Wind das Eis poliert hat wie Glas. Immerhin erfährt er, dass sie demnächst ihre Prüfung macht, aber nicht weiter als Buchhändlerin arbeiten will. Germanistik möchte sie studieren, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaft, in Köln. Das Zimmer im Studentenheim sei schon reserviert. Er legt seine Hand so, dass ihre sie berühren muss, wenn sie schaltet. Doch irgendwie kann sie das verhindern; ihre Zunge erscheint zwischen den Lippen, als sie auf den Parkplatz vor dem Standesamt biegt. Der Magnolienbaum ist noch kahl. »Mein Verlobter studiert übrigens auch in Köln«, sagt sie. »Betriebswirtschaftslehre. Er wird dann das Reisebüro seiner Eltern führen.«

Alles klar, doch Wolf steigt nicht gleich aus, die Heizung ist in Gang gekommen. Er tut interessiert und möchte sie hinaufbitten, auf einen Kaffee, einen Cognac; er hat Angst vor dem trostlosen Hotelgefühl nach solchen Veranstaltungen, der Stunde zwischen kalten Laken; doch findet er keine Worte, die besser als eindeutig wären. An einem Aufkleber am Armaturenbrett knibbelt er herum, einer weißen Taube auf blauem Grund, und als er anbietet, ihr die Räume der Villa zu zeigen, den denkmalgeschützten Stuck voller Früchte, Putten, Rosen, ist da wieder dieses Lächeln, jetzt mit eindeutig frivoler Note. »Ich kenne die Räume«, sagt sie und schiebt den Rückwärtsgang ein. »Mein Vater hat sie restauriert.« – Obwohl er stehen bleibt vor dem Haus und zusieht, wie sie den Wagen wendet, beachtet Alina ihn nicht, als sie an ihm vorbeifährt. Sie wischt mit dem Handrücken über die beschlagene Scheibe und konzentriert sich auf die Straße.

Damals hielt er sich zwar nicht für humorlos, doch sicher fehlte ihm der Sinn für das Spielerische, das möglich und manchmal auch nötig ist zwischen den Geschlechtern. Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre, als ihm klar wurde, dass er trotz seiner Scheu auf Frauen wirkte – es war nie viel zu tun, er musste nur ihren Blicken standhalten –, war man schneller miteinander intim, als man sich kennenlernte, und aus dieser Zeit ist ihm vermutlich ein Mangel an Einfühlsamkeit und Geduld geblieben. Umwerbung ist seine Sache nicht, dazu steht ihm sein Stolz im Weg, und außerdem macht es ihm Mühe, Achtung aufzubringen für eine Frau, die Wert auf dieses ganze Balztheater legt. Der Aspekt, dass sie ihm mit verlockendem Lächeln die kühle Schulter zeigt, um seine ernsten Absichten zu prüfen, seine Kraft und Ausdauer und die Qualität seiner Gene, ist ihm doch zu zoologisch. Er träumt von dem stummen Erkennen jenseits des Gequatsches, dem einen Blick, in dem alles ist. Er träumt von jemandem, mit dem er schweigen kann.

Der Winter dauert lange in dieser Gegend, die Parterrefenster verschwinden im Schnee, doch nun taut es wieder, die Knospen werden praller und glänzen wie glasiert, und er fängt an zu arbeiten, endlich. Irgendetwas treibt ihn über die Seiten, eine neue Zuversicht, die mit der Jahreszeit zu tun haben muss, dem veränderten Lauf der Sonne; im morgenhellen Zimmer sitzt er nackt an seinem Tisch, und wie sich bei der Lektüre mancher Bücher eine fast behagliche Benommenheit einstellt, die einen nur noch dunkel spüren und verstehen lässt, was genau man liest – man gibt sich dem Sprachfluss hin, dem Sound, und vertraut darauf, dass einem der Text irgendwie hilft, dass er etwas für einen tut –, so ist es jetzt beim Schreiben. Alle Pläne und Konzepte vergessen, die meisten Notizen zerknüllt, und während er sich der rhythmischen und poetischen Logik der Sätze überlässt, dem Geruch der Bleistifte, dem leisen Rauschen ihrer Spitzen auf dem Papier, füllt er Seite um Seite mit einer Geschichte, an die er vorher mit keiner Silbe gedacht hat. Ja, der Frühling dichtet für ihn, wochenlang; er narrt ihn mit überflüssigen Adjektiven und lässt die Knospen platzen und das Telefon klingeln wie von fern. Vermutlich ruft jemand im Standesamt an. Doch dann wird es lauter und schrillt im Flur: Alina.

Er hat noch ein kleines Komma am Kinn, Schnittlauch vom hastig zubereiteten Omelette, das sieht er im Garderobenspiegel. Ihre mündliche Prüfung in der Buchhändlerschule stehe bevor, und sie habe sich entschlossen, ein Referat zu halten über ihn und seine Arbeit, und bitte um ein Treffen, möglichst bald. Er schlägt ein italienisches Restaurant in der Einkaufsstraße vor, das abends meistens leer ist, eine mit Aquarien vollgestellte Grotte aus Gips, wo sie schon auf ihn wartet. Die Wassergläser sind blau, und die Weinpokale haben Stiele aus Milchglas, schlanke Statuetten. Sie essen Nudeln und kommen überein, sich zu duzen. Einen Recorder hat sie dabei, nicht größer als eine Zigarettenschachtel, und während sie von ihrer Cola nippt und ihn nach seinen Texten und dem Leben als Autor fragt, betrachtet er von neuem ihr Gesicht, das ihn anders anspricht als vor Wochen – als wäre es nachgezeichnet worden von einem Entschluss, dessen Ernst in sein Innerstes zielt. Es erstaunt ihn, dass er sich nicht hart macht dagegen, was möglicherweise an ihrer Blässe liegt, dem Teint der Rothaarigen, hinter dem er sich nichts Arges denken kann. Besonders die Klarheit um die leicht sommersprossige Stirn und die blauen Augen herum erschüttert ihn mehr und mehr; hier neigt sich ihm etwas zu, das nicht unbedingt mit ihr zu tun hat; reiner kann die Ausstrahlung eines Menschen kaum sein. In einer Menge oder auch nur auf deren Foto – und sei es eines jener grobkörnigen aus der Zeit, als sie beide noch gar nicht geboren waren – würde er diese Partie schneller wiedererkennen als sein eigenes Gesicht.

Während sie ihn interviewt, fühlt er sich zunehmend beengt in seiner Autorenrolle, ihrer lachhaften Seriosität, die ihn an Tweedjacken erinnert, feuchte, leicht dampfende; Autorenfalle, denkt er. Bis vor kurzem hat er in vielen verschiedenen Berufen gearbeitet, körperlich hart, und die Membran zwischen Poet und Prolet ist noch zu dünn und zu durchlässig, als dass er sich eines von beiden glauben könnte. So greift er denn wieder nach Alinas Fingern und spricht sie auf ihre Wimpern an, schwarz getuscht: Wie sie es hinkriege, dass es keine Klümpchen darin gebe wie bei den meisten anderen Frauen, nicht ein einziges. Und sie lächelt verlegen und stellt den Recorder wieder aus: Ja, das sei auch eine Art Kunst, eine mühevolle jeden Morgen. Aber sie mag deren natürliche Farbe nicht, das Rot, das etwas heller sei als ihr Haar, im Sommer fast blond. »Ungeschminkt, sagt mein Freund, sehe ich aus wie ein Albino.«

Diesmal lässt sie ihm die Hand länger, und später trinkt auch sie etwas Wein. Die Knöpfe an den Manschetten ihrer weißen Bluse, dunkle Granatsteine, klicken gegen das Glas, und während sie sich unterhalten, wird er mehr und mehr eingenommen von ihrer Aufmerksamkeit, dem ruhigen Vertrauen darin, gibt sie seinen Formulierungen doch genau das Licht und die Kontur, die sie sonst vermissen lassen; Unfug wird gar nicht erst laut. Ihr anschmiegendes Verständnis wiederum lässt sie Sätze sagen, deren sanfte Kraft etwas zurechtzurücken scheint in seinem Innern, und einen ungläubigen Moment lang hat er das Gefühl, dass ihre jeweiligen Geheimnisse einander aufheben und nichts mehr falsch ist an ihm, nicht einmal sein schlimmster Fehler. Die Gespräche mögen mehr oder weniger alltägliche sein, ihr innerster Hall aber lotet eine Tiefe aus zwischen ihnen, in der sie sich seit jeher kennen und nie getrennt waren; und wenn sie schweigen und auf die Fische in den Aquarien blicken, umschließt sie diese stille, fraglos ohne Worte auskommende Übereinstimmung wie etwas Samtenes, ein unsichtbares Futteral. Wolf bestellt noch einen Schnaps.

Auf dem Weg zur Villa – ganz selbstverständlich geht sie mit ihm durch die Stadt, und manchmal ist die gesamte Breite der Straße zwischen ihnen, der Mondglanz auf dem nassen Asphalt – fragt er sie nach ihrem Freund, worauf sie nur wenig antwortet, klar. Auch er will schließlich nicht von seiner Freundin reden, eine Geschichte für sich, und sie bleiben unter dem nun erblühten, von einer Laterne durchleuchteten Magnolienbaum stehen. Ein paar Räume des Standesamtes werden abends von der Volkshochschule genutzt, für einen Tangokurs, wie es scheint. Sie sehen die Tanzenden nicht, nur ihre Schatten an der Wand, die sich auch noch bewegen, als das Bandoneon verstummt. Wolken treiben über den Himmel, verdunkeln den Mond, und in der Stille hören sie die harten Blütenblätter auf den Rasen fallen, auf das Pflaster.

Beide sind sie leicht betrunken. Seit ihm klar war, dass sie in der Nacht zusammenbleiben würden, hatte er sich genau die Menge gegeben, die er braucht, um nicht zu schnell zu kommen. In der Wohnung greift Alina nach seinem Revers, die Locken kitzeln ihn im Gesicht, und er ist leicht enttäuscht von ihrer Art zu küssen. Er hätte sich den Mund weicher und beweglicher gewünscht, erfahrener auch, ein bisschen verrucht; er hätte gern ihre Hand zwischen seinen Beinen gespürt. Doch sie hat kindlich feuchte Lippen und hält die Augen noch geschlossen, als er sich schon wieder von ihr löst. Dann atmet sie tief und fragt nach dem Telefon.

Es liegt im Schlafzimmer, und sie ruft zu Hause an, um sich abzumelden für die Nacht. Obwohl er kein Wort versteht, fällt ihm ihre veränderte Stimme auf – als hätte man einen Goldfaden daraus entfernt. Etwas Familiär-Alltägliches überschattet sie, und nicht nur der verabredete Gehorsam der Tochter ist darin, sondern auch die kurzsilbige Entschlossenheit, sich keine Ratschläge oder Mahnungen anzuhören, diesmal nicht. Offenbar wird es dennoch versucht, man lebt in einer sauerländischen Kleinstadt, sie ist verlobt, und ihr grußloses Auflegen bei gerunzelten Brauen gibt dem Moment einen Stich ins Eisige. Wolf entkorkt einen jungen Burgunder. »Vorsicht«, ruft er, als sie auf das Sofa sinkt. »Die Lehne wackelt!«

»Ach was«, sagt sie und lässt ihre Manschettenknöpfe in ein leeres Weinglas fallen. »Die ganze Welt wackelt.« Sie küssen sich erneut, und während er ein paar Kerzen anzündet, streift sie Jeans und Slip in einem Zug herunter, und er versucht vergeblich, seine Heiserkeit hinwegzuräuspern. Das Unscheinbare oder auch etwas Unfertige ihrer Schönheit, wie sie ihm in Kleidern erschien, ist ausgelöscht vom Anblick ihrer reifen Formen. Die Scham ist nur wenig behaart, eine schmale Flamme, die Brustwarzen sind blass, fast rosa, und was sich da seiner Hand entgegenschmiegt und bereitwillig öffnet, erschüttert ihn um so mehr, als Alina gar nicht zu wissen scheint, wie herrlich sie ist, wie leuchtend in ihrer Jugend. Er sagt ihr das, während er seinen Gürtel öffnet und sich selbst in die Hacken tritt, um die Stiefel loszuwerden, und sie verschränkt die Finger hinter dem Kopf und blickt ironisch schmunzelnd an sich hinunter, als dächte sie: Wenn du denn glauben möchtest, dass das der Körper einer Göttin ist – bitte, gern. Lass uns was Nettes damit machen.

Wolf ist heftig, fast grob in der Nacht, als müsste er herausfinden, wie sehr sie ihn meint. Doch sie, die ihre Lider fest zusammenkneift und ihn mit allen Gliedmaßen umschlingt wie etwas Rettendes, einen Halt in der Strömung, sie weint vor Lust und will es heftiger, und schließlich platzt das Kondom. »Macht nichts«, keucht sie, »macht überhaupt nichts. Ich bin im grünen Bereich.« Doch ihr Herz hämmert, und später, während sie schwitzend nebeneinanderliegen und an einer gemeinsamen Zigarette ziehen, tupft sie ihm lächelnd den Schwanz ab und sagt: »Er weint noch.«

Nackt geht sie durch die Räume am nächsten Morgen, eine Tasse Kaffee in beiden Händen, zaghaft tritt sie auf, als wäre den Dielen nicht zu trauen. Sehr diskret blickt sie sich um, wobei sie den chaotischen Arbeitstisch wie etwas Intimes übersieht, und manchmal zeigt sie aus einem Fenster über den Ort und ruft: »Dort hinten, das war meine Schule!« Oder: »An dem Hang hab ich mir das Nasenbein gebrochen, beim Rodeln.« Ein wenig steif in den Schultern, die außergewöhnlich sind, von klassischer Symmetrie, schiebt sie wie viele behutsame oder nicht sehr selbstgewisse Menschen das Becken etwas vor, so dass ihr Po flacher wirkt, als er ist, und es gibt eine Andeutung von Bauch, eine florentinische Wölbung. Doch von hinten sieht sie knabenhaft aus, mit kraftvollen Waden, und der Glanz der gelösten, in alle möglichen Richtungen abstehenden Locken, einer Mähne aus feinem Kupferdraht, lässt die Haut noch weißer erscheinen, fast durchscheinend zart. Alles an ihr sagt »Schütze mich!«, und zu seinem eigenen Erstaunen fühlt er einen Lidschlag lang auch Kraft dazu.

Sie interessiert sich für den Rummel, der auf dem Marktplatz vor dem Haus aufgebaut wird, die Frühjahrskirmes, und um nicht gesehen zu werden hinter dem Fenster, legt sie die Unterarme aufs Brett und stützt das Kinn auf die Hände, und nun wölbt sich ihr Hintern rund in den Raum; die jungen Brüste sind schwer, man sieht die Rippen an den Seiten, und lautlos huscht er hinter sie. »Bleib so!«, flüstert er, geht auf die Knie und atmet ihn tief ein, den leisen Bernsteingeruch zwischen ihren Schenkeln.

Zwei Monate dauert das Stipendium noch, und in dieser Zeit sehen sie sich kaum öfter als einmal in der Woche, meistens donnerstags. Da geht sie offiziell zur Gymnastik, wegen einer leichten Skoliose, und anschließend zur Massage; sie möchte weder die Eltern noch ihren Verlobten vor Tatsachen stellen, die vielleicht keine sind. Den Wagen parkt sie hinter dem Amt, zwischen Mülltonnen und Gestrüpp, und zieht die Vorhänge vor die großen Fenster, sobald sie in der Wohnung ist; das Haus einer Tante steht in der Nähe. Aber immer kommt sie wie zu einem Fest, mit Wein oder Sekt oder Süßigkeiten, und kann es kaum erwarten, dass sie das Geschirr abräumen und er ihr den Pullover oder das Kleid auszieht. Sie liebt schöne Wäsche, sie kauft sich Strapse vom Lehrlingslohn.

Im Bett macht sie es ihm leicht. Obwohl es in dieser Hinsicht kaum Maßstäbe geben kann, hat er sich meistens mittelmäßig gefunden als Liebhaber. Einmal davon abgesehen, dass es ihn anwidert, wenn von einem geregelten oder ausgeglichenen Sexualleben gesprochen wird, als wäre es eine hygienische Notwendigkeit – immer wieder ist er zu lange allein und dann zu aufgeladen, um im entscheidenden Moment behutsam oder einfühlsam oder ausdauernd zu sein. Aber Alina wertet nicht; sie nimmt ihn, wie er ist, und kommt manchmal schon nach Sekunden zum ersten Mal. Sie liebt sein Ungestüm und spürt offenbar wenig von seiner Befangenheit, die durchaus mit ihrer Jugend zu tun hat, der fast unwirklichen Glätte der Haut, verdeutlicht sie ihm doch zum ersten Mal im Leben, was für immer vorbei ist. Gerade in der Dunkelheit oder im Licht einer Kerze, die hinter einem Blumenstrauß brennt, fürchtet er sich vor ihren Händen, dem zärtlichen Tasten, wie vor etwas Entlarvendem, und wälzt sich dann über sie wie ein Barbar. Doch an ihrem letzten Abend muss er lachen, als sie sagt: »Weißt du, was mir als erstes an dir aufgefallen ist? Soll ich ehrlich sein? Dein toller Mund. Ach nee, dein Arsch!«

Ihr Abschied voneinander ist unsentimental. Hoffnung ist ein schönes Wort, aber es passt nicht. In Berlin zu studieren wäre ein Wunsch, der vorerst unerfüllt bleiben muss; es gibt keine freien Plätze. Sie trinken ein Glas Wein und nehmen sich das Versprechen ab, mit dem Rauchen aufzuhören. Schließlich schenkt er ihr eine Kette, zartes Gold mit einer einzelnen Perle, und bringt sie zur Tür, zu ihrem Auto. Beim Anfahren reißt sie eine Fliederdolde mit dem Seitenspiegel herunter, und er bemerkt, dass sie weint. Doch streckt sie ihm die Zunge heraus und biegt um die Ecke. Leben in verschiedenen Richtungen. Am Tag seiner Abreise sieht er sie noch einmal in der Einkaufsstraße, hinter einer Schaufensterscheibe. Sie steht vor den Regalen eines Herrenausstatters und lässt sich Taschentücher zeigen, fein gewebte Kostbarkeiten, und obwohl er winkt, bemerkt sie ihn nicht. Einen Lidschlag lang überlegt er, ob er zu ihr gehen soll; doch dann kommt das Taxi.

Es gibt Momente nach einer Autorenlesung, die gehören zu den traurigsten, trostlosesten, besonders wenn es eine gute Veranstaltung war, mit freundlichem Applaus und vielen verkauften Büchern: Das Publikum hat den Raum verlassen, der Händler macht Kasse, und der Autor signiert noch ein paar Exemplare für das Schaufenster; das Lehrmädchen reißt sie für ihn aus der Folie. Und während er überlegt, wie er der üblichen Einladung zum Essen in irgendein Restaurant mit schweren, in Leder gebundenen Speisekarten und typischen Gerichten der Region ausweichen kann, blickt er kurz auf und sieht, dass ein paar Zuhörer geblieben sind, möglicherweise Freunde oder Bekannte des Buchhändlers, denn sie machen sich nützlich. Sie rücken die Warentische zurecht und sammeln Gläser und Aschenbecher und Schälchen mit Erdnüssen ein. Manche nicken ihm zu oder lächeln scheu, andere unterhalten sich leise, und der Autor, der wieder und wieder seinen Namen schreibt, hat plötzlich das ungute Gefühl, dass alles vergeblich war. Dass er den Menschen das, was sie im Innersten herbeisehnen, nicht geben konnte, nie wirklich geben können wird, trotz aller Kunst nicht, und also auch nur ein elender Faxenmacher ist, einer von denen, die aus Eitelkeit ihr Publikum blenden, damit die eigene Blindheit verborgen bleibt. Denn jeder dieser Kulturteilnehmer ist wegen etwas ganz anderem aus dem stillen Haus gegangen, aus der Wohnung mit der Katze und den blauen Ansichtskarten hinter dem Gewürzregal; jeder hat sich ein Versprechen erhofft, ein neues Schweben, etwas, das ihn in die Wolken reißt – und verbirgt nun seine Enttäuschung, indem er hilft, die Stühle zu stapeln.

Er denkt an Alina in ihrem Köln, er wünscht sie sich in sein Hotelzimmer, nur mit einem Laken drapiert, während ein Pornofilm läuft. Doch er hat nicht einmal ihre Telefonnummer, wenn es denn eine gibt. Sie ist es, die gelegentlich anruft, aus einer Zelle vor dem Studentenheim, und sonntags hört er Glocken im Hintergrund, die ganze Stadt scheint zu dröhnen. Dann reden sie zwanglos miteinander, ein fröhliches Plappern ohne Vorbehalte, das er sonst nicht von sich kennt und über das er nach dem Auflegen staunt; fast immer setzt er sich beschwingter an seinen Tisch, und das Schreiben wird für eine Weile leicht. Doch dass das mit ihr zu tun haben könnte, kommt ihm nach wie vor nicht in den Sinn, nicht einmal, wenn es wieder schwerer wird.



Wo war man gestern? Der Verlag vereinbart die Termine, der Autor klappert sie ab. Er kennt sein schmales Buch inzwischen auswendig; er könnte die Augen schließen und fragt sich während des Vorlesens, ob er danach eine Pizza essen geht oder doch eher ein Steak. Mehr Obst wäre besser, weniger Schokolade. Am nächsten Tag dasselbe, wochenlang, und er macht einen Umweg über die Heimatstadt und steht eine Weile am Grab der Eltern, bei laufendem Taxameter.



Die Fahrt von Kreuzberg in den Wedding hat etwas Gespenstisches in der Zeit, denn die U-Bahn verlässt nach der Kochstraße den Westteil Berlins und unterquert bis zur Reinickendorfer den Osten, sechs Stationen lang; die stillgelegten, für die Bevölkerung gesperrten Bahnhöfe, seit Kriegsende unverändert, müssen im Schritttempo passiert werden. Schriftzüge in zerschossener Fraktur, bröckelnde Treppen, zugemauerte Eingänge, hin und wieder ein Spruchband oder ein Plakat: »Antikommunismus und Antisowjetismus sind Ursache für die verschärfte Weltlage!« oder »Die Deutsche Demokratische Republik steht für die Erhaltung des Friedens zwischen den Völkern!« Nur vereinzelt brennen Glühbirnen oder auch Neonröhren, deren Licht einem grauer vorkommt als gewohnt und die Gesichter der Wachsoldaten, meistens sind es zwei, wächsern erscheinen lässt, wie Masken.

Im Winter tragen sie Pelzmützen mit rotem Stern und Ohrenklappen, und man sieht ihren Atem. Doch sie reagieren nicht, wenn ausgelassene Touristen ihnen zuwinken oder Betrunkene etwas durch die schmalen Oberlichter der Bahn grölen oder gar eine Banane hinauswerfen. Das Gewehr geschultert, stehen sie stumm zwischen den Säulen und Trägern, mustern jeden Waggon, und die Jungen sehen traurig aus, hilflos in ihrer Autorität, und die Älteren, vor verleugneter Sehnsucht, böse. Besonders dem einen oder anderen Offizier, die Brauen gerunzelt über einem Blick aus Stahl, glaubt man das gedachte »Wartet nur!« anzusehen, den Wunsch nach Vergeltung, wenn sich so ein glänzend gelber, triumphierend heller Zug durch seine unterirdische Republik schiebt: wie ein Schmerz durch alte Venen.