Über Birgit Jasmund

Birgit Jasmund, geboren 1967, stammt aus der Nähe von Hamburg. Nach dem Studium der Rechtswissenschaften in Kiel hat das Leben sie nach Dresden verschlagen. Wenn einem dort der Wind so richtig um die Nase weht, hält sie nichts im Haus. Im Aufbau Taschenbuch Verlag sind von ihr bereits der historische Roman »Die Tochter von Rungholt« und »Luther und der Pesttote« sowie bei Rütten & Loening die Liebesgeschichte »Krabbenfang« erschienen.

Informationen zum Buch

Die dunkle Seite des Kölnisch Wasser

Köln 1695: Ein Duftwasser versetzt die Stadt in Hysterie. Die enthemmende Wirkung seines Aromas wird dem Teufel zugeschrieben. Und die junge Witwe Kathrina gerät unter Verdacht, als dessen Handlangerin unschuldige Jungfrauen in seine Arme zu treiben. Um sie zu retten, ruft ihr Geliebter, der Kaufmannssohn Daniel, den Parfümeur Giovanni Paolo Feminis zu Hilfe. Aber gelingt es dem Erfinder des Aqua mirabilis, Kathrinas Unschuld zu beweisen und Köln von dem Fluch zu befreien?

Die packende Geschichte über die Entstehung des Eau de Cologne.

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Birgit Jasmund

Der Duft des Teufels

Historischer Roman

Inhaltsübersicht

Über Birgit Jasmund

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Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Worterklärungen

Kölnisch Wasser – Ein Nachwort

Impressum

Kapitel 1

Vor dem Portal der Kirche Klein St. Martin drängten sich Menschen, als der italienische Kramhändler Giovanni Paolo Feminis die Martinsgasse betrat, die am Gotteshaus vorbeiführte. Er kam vom Rheinhafen, wo er Glasperlen, verschiedene Knöpfe, Zitronen- und Portugalöl abgeholt hatte, die er bei einem Geschäftsfreund in Antwerpen bestellt hatte. Feminis und seine Familie gehörten der Gemeinde Klein St. Martin an, und seine Frau Sophia hatte an diesem Morgen zur Beichte gehen wollen. Warum ihm der Gedanke kam, dass der Auflauf vor der Kirche etwas mit ihr zu tun haben könnte, wusste er nicht; jedenfalls strebte er eilig der Menge zu. Er blickte in betroffene und fassungslose Gesichter. Eine Frau mit weit aufgerissenen Augen keuchte und musste gestützt werden. Sie sah aus, als hätte sie in den Schlund der Hölle geblickt. Feminis erkannte eine Nachbarin aus der Sternengasse.

»Was ist passiert, per amor di Dio?«, fragte er mit italienischem Akzent.

Die Frau war ungefähr eine Handbreit größer als er und neigte sich zu ihm. Hinter vorgehaltener Hand und mit gesenkter Stimme erzählte sie: »In der Kirche ist etwas passiert.«

»Hat es einen Unfall gegeben?« Er hatte von einem Fall aus seiner Heimat gehört, wo ein mannshoher gekreuzigter Jesus von der Wand gefallen war und eine davor betende Frau erschlagen hatte. Madre di Dio, lass so etwas nicht mit Sophia passiert sein!

»Kein Unfall«, flüsterte die Frau. »Die Kirche wurde geschändet.«

»Madonna Mia!« Feminis bekreuzigte sich. Er war entsetzt und erleichtert zugleich. »Wer macht so etwas?« In seinem Kopf wirbelten die Gedanken, und er fand die deutschen Worte nur mit Mühe.

»Das Böse geht um.« Auch die Nachbarin bekreuzigte sich.

»Das Böse?« Er wartete ihre Antwort nicht ab. »Meine Frau wollte zur Beichte gehen. Habt Ihr sie gesehen?«

Die Frau schüttelte den Kopf, und in der Menschenmenge stand Sophia auch nicht. Feminis drängte sich weiter nach vorne zum Portal. Dort verwehrten einige Älteste des Kirchspiels den Zugang.

Jemand erkannte ihn und flüsterte den anderen etwas zu, sie ließen ihn durch. Eine Hand winkte ihn Richtung Altar. War ihm vorher flau gewesen im Magen, begann er nun, sich richtig schlecht zu fühlen. Feminis eilte durch das leere Kirchenschiff, seine Schritte hallten auf dem Steinboden. Je näher er dem Altar kam, desto mehr fiel ihm ein eigenartiger Geruch auf: vergossener Rotwein, etwas wie Fäkalien oder Jauche und darunter ganz schwach der Geruch trockenen Brotes. Links hinter dem Altar befand sich die Sakristei, die Tür stand offen. Als Nächstes hörte er ein Schluchzen und erblickte den jungen Diakon von Klein St. Martin, der kreidebleich und mit bebenden Schultern an der Wand lehnte. Halb hinter einer Säule verborgen, in der Nähe der Tür, saß der Priester auf einem Stuhl. Er war ein kurzgewachsener feister Mann mit rundem Gesicht und grauem Haarkranz. Im Moment waren nur sein breiter Rücken und ein Teil des Hinterkopfs zu sehen. Neben ihm stand Sophia. Feminis seufzte erleichtert auf – was immer geschehen war, seiner Frau schien es gutzugehen.

Sie hatte sich zu dem Priester heruntergebeugt und redete auf ihn ein. Feminis näherte sich der Sakristei, und immer mehr Kleinigkeiten fielen ihm auf. Etwa, dass das stets rot angehauchte Gesicht des Priesters an diesem Tag die Farbe eines gekochten Krebses aufwies. Den Mund hatte der Mann geöffnet, als wollte er einen Schrei ausstoßen, der nicht über seine Lippen kam.

»Pater«, sagte seine Frau mit einer Stimme, als ob sie alles versucht hätte und nun nicht mehr weiterwusste. »Christus hat Euch nicht verlassen. So etwas dürft Ihr nicht einmal denken.«

Feminis trat leise zu seiner Frau und berührte sie am Arm. Sie schaute zu ihm auf. Erleichterung breitete sich auf ihrem Gesicht aus.

»Dem Himmel sei Dank, dass Ihr gekommen seid«, flüsterte sie. »Es ist schrecklich. In der Sakristei …«

Der Geruch von dort war so stark, dass Feminis beinahe würgen musste. An seiner Frau vorbei ging er zu der offenen Tür und warf einen Blick in den Raum, dessen Betreten den einfachen Gemeindemitgliedern verboten war. Er musste auch nicht weiter hineingehen, um das ganze Ausmaß zu erkennen: Auf dem Boden schwamm eine Weinlache, darin eine breiige Masse und etwas, das nur menschliche Fäkalien sein konnten. Feminis schüttelte sich, diesmal nicht nur wegen des Geruchs. Die Kirche war geschändet, und das einen Tag vor Mariä Lichtmess und dem Beginn des Karnevals.

Er schaute seine Frau fragend an.

»Jemand muss in der Nacht in die Sakristei eingedrungen sein und sie verwüstet haben. Das ist der Abendmahlswein da auf dem Boden. Darin schwimmen die Hostien, und das andere muss ich nicht erklären. Aus dem Kelch wurden die Edelsteine herausgebrochen, und man hat ihn in eine Ecke geworfen. Den Abendmahlsteller ebenso. Ich habe den Geruch bemerkt, als ich zur Beichte in die Kirche gekommen bin. Außer mir war niemand da, aber die Tür zur Sakristei stand offen. Ich habe gleich den guten Pater und den Diakon geholt«, erklärte Sophia leise. »Ihnen ist der Schreck in die Glieder gefahren und mir auch. Wer macht so etwas?«

»Ein im Geiste verwirrter Mensch.«

»So wirr kann er nicht gewesen sein, denn immerhin muss er an den Schlüssel des Paters gelangt sein.« Sophia deutete auf die Tür der Sakristei, und Feminis sah den Schlüssel im Schloss stecken.

»Es ist nicht an uns, Vermutungen anzustellen.« Er griff nach der Hand seiner Frau, die eiskalt war. Beruhigend streichelte er mit dem Daumen ihren Handrücken. Seine Sophia hatte sich tapfer verhalten. Er kannte eine Reihe Frauen – viele davon seine Kundinnen – die bei einem derartigen Fund schreiend aus der Kirche gelaufen wären und für den Rest des Tages kein vernünftiges Wort mehr herausgebracht hätten.

Behutsam zog er Sophia ein paar Schritte von dem Priester fort und bedeutete ihr, dass es am besten wäre, nach Hause zu gehen. Was jetzt getan werden musste, lag in der Hand der Gemeindeältesten und des Priesters, nicht mehr in ihrer. Sophia ließ sich von ihm den Mittelgang des Kirchenschiffs entlangführen.

»Das kann kein Mensch sein, der so etwas macht«, murmelte sie vor sich hin.

Die Frage nach dem Täter stellten sich auch die Menschen vor der Kirche, und ihre Antwort darauf lautete: Etwas Böses war nach Köln gekommen.

Klein St. Martin war geschändet, und bis die Kirche neu geweiht war, galt sie nicht als Gotteshaus. Der Priester, dem ein Glas Wein wieder zu klaren Gedanken verholfen hatte, schloss sie ab und schlurfte über die Gasse zu seiner Wohnung.

In seiner Studierstube setzte er sich an den Schreibtisch. Sorgfältig spitzte er eine Feder an und legte einen Bogen Papier vor sich. Er hatte den schwersten Brief seines Lebens zu schreiben: Der Erzbischof musste von dieser Schandtat erfahren.

Bis zur Neuweihung konnten in der Kirche weder Messen gelesen noch die Beichte abgenommen oder Sakramente gespendet werden. Die Mitglieder seiner Gemeinde würden sonntags die umliegenden Gotteshäuser aufsuchen müssen, und er musste mit deren Priestern sprechen, damit sie ihm Zeit in ihren Beichtstühlen einräumten, bis der Erzbischof in einem feierlichen Hochamt Klein St. Martin neu geweiht hatte.

Der Erzbischof war ein Wittelsbacher, der jüngere Bruder des bayerischen Kurfürsten, und hielt sich meist an dessen Hof in München auf. Die Amtsgeschäfte überließ er seiner erzbischöflichen Kanzlei in Bonn.

Normalerweise war es dem Priester am liebsten, wenn der Erzbischof sich so weit weg wie möglich aufhielt. Seine Einsetzung durch den Papst im Jahr 1688 war ein Anlass für den Krieg gewesen, der vor sieben Jahren zwischen dem französischen König und Kaiser Leopold I. ausgebrochen war. Es ging um Macht und Einfluss. Daran hatte er als einfacher Priester einer Stadtkirche kein Interesse. Er wollte nichts anderes, als dass Köln von den französischen Soldaten verschont blieb. Dass sie nicht vor den Mauern auftauchten, die Stadt mit Kanonen beschossen und sie am Ende eroberten – wie es Bonn 1689 ergangen war. Und nun musste er den Erzbischof herlocken, selbst wenn es Monate dauern mochte, bis er aus München angereist kam, und das lenkte die Aufmerksamkeit des französischen Königs auf die Freie Reichsstadt am Rhein. Deren Bürgermeister und Stadträte hatten es bisher klug vermieden, sich auf eine Seite der beiden Kriegsparteien zu schlagen. So sollte es auch bleiben.

Was dem Pater mindestens so viel Kopfzerbrechen bereitete wie der Brief an den Erzbischof, war die Frage, wie jemand in die Sakristei hatte eindringen können. Gestern Abend hatte er die Türen nach der letzten Andacht abgeschlossen, da war er sich sicher. Den Schlüssel trug er immer in einer Tasche seiner Soutane. Auch gestern – er hatte hineingegriffen und nachgefühlt, ehe er das Kleidungsstück in den Schrank neben der Eingangstür seiner Wohnung gehängt hatte.

Aber auf seiner Türschwelle hatte ein Krug mit Wein gestanden. Er ahnte, dass er ihn nicht hätte mit ins Haus nehmen und trinken sollen. Er hatte jedoch vermutet, einer der Ältesten seines Kirchspiels habe ihm den Wein vor die Tür gestellt, weil er ihm ein Geschenk versprochen hatte. Er hatte bemerkt, dass mit dem Wein etwas nicht stimmen konnte, als er beim zweiten Glas müde geworden war. Eine so geringe Menge machte ihm normalerweise nichts aus, da brauchte es schon mehr als einen Krug, ehe sein Kopf auf die Tischplatte sank.

Es half alles nichts: Er hatte es dem Frevler leicht gemacht, den Schlüssel zu entwenden. Darüber ärgerte er sich und seine Hand krampfte sich um die Feder, die sich durchbog. Bevor sie zerbrach, löste er seinen Griff. Nichts änderte etwas daran, dass er jetzt seiner Pflicht folgen musste. Entschlossen tauchte der Priester die Feder in die Tinte und schrieb die Anrede auf den Papierbogen. Seine übliche schön geschwungene Handschrift sah zittrig aus.

Das Ehepaar Feminis ging nach Hause. Sophia hatte sich bei ihm untergehakt und er seine Schritte den ihren angepasst.

»Ich habe zunächst gedacht, es wäre Blut«, sagte sie auf einmal, als sie bereits das Haus in der Sternengasse sehen konnten, in dem sie zur Miete wohnten. »Eine riesige Lache auf dem Boden. Ich habe jeden Moment erwartet, einen Toten zu finden. Unser guter Pater stand neben mir und wurde kreidebleich, er hat wohl das Gleiche gedacht.«

»Es war doch bereits an der Kirchentür zu riechen, dass kein Blut vergossen wurde, sondern Wein.«

»Nicht jeder hat Eure feine Nase. Ihr habt wahrscheinlich auch gerochen, aus welcher Gegend der Wein stammte. Burgund, Chianti oder Venetien?«

»Ich gebe zu, der Fäkaliengestank hat den des Weins überlagert und mir die Bestimmung der Herkunft unmöglich gemacht.« Sonst gelang es Feminis durchaus, am Geruch zu erkennen, woher ein Wein stammte. Verschiedene Male hatte ihm das in einem Wirtshaus die Bewunderung der anderen Gäste und einige Freigetränke eingebracht. Seine Nase war feiner als die gewöhnlicher Menschen.

»Es war trotzdem ein Schreck«, begann Sophia wieder, »und ich froh über Euer unerwartetes Erscheinen. Wo kamt Ihr auf einmal her? Ich wähnte Euch längst mit dem Kramkarren unterwegs.«

Sein Handel mit französisch Kram warf nicht genug ab, damit er ein Ladengeschäft in einem der besseren Stadtviertel mieten konnte. Denn dort wohnten die Kunden für den modischen Putz, den er verkaufte, und dort zog er mit einem Handkarren durch die Straßen.

»Ich habe im Hafen eine Sendung abgeholt. Ein Paket aus Antwerpen, Knöpfe, Perlen, Seidenstrümpfe.«

Madre di Dios – das Paket! Feminis trug es nicht mehr bei sich. Er musste es in der Kirche liegengelassen haben. Es war zu groß, um es in eine Rocktasche zu stecken, dennoch durchwühlte er sie.

Sophia versicherte ihm, sie könne alleine nach Hause gehen, und als er sich davon überzeugt hatte, verabschiedete er sich und eilte zurück nach Klein St. Martin.

Es kostete ihn eine Portion Überredungskunst, den Diakon zu veranlassen, die geschändete Kirche aufzuschließen und ihn nach dem Paket suchen zu lassen. Es lag in einer der Kirchenbänke. Feminis drückte es an seine Brust. Der Verlust an Knöpfen und Flitter hätte sein Geschäft nicht zum Erliegen gebracht, aber wenn er die ätherischen Öle verloren hätte, wäre er bei der Entwicklung eines Aqua mirabilis weit zurückgeworfen worden. Feminis war nicht nur Kramhändler, sondern auch Parfümeur. In seinem Besitz war das Geheimrezept für ein Aqua mirabilis, das Geist und Körper erfrischen und mit Schönheit segnen sollte. Bisher war es ihm nur noch nicht gelungen, alles daraus zu entziffern. Die Zubereitung des Duftwassers glich einem Fischen im Trüben.

Kapitel 2

In der Zeit des Kölner Karnevals erklang überall in der Stadt Musik. Die Gesellen trugen ihre Trachten, verbargen die Gesichter hinter Masken und zogen durch die Gassen. Wer kein Instrument beherrschte, klatschte im Takt und sang aus voller Kehle. In den Häusern der Wohlhabenden dauerten die Maskenbälle die ganze Nacht, die Gaffeln veranstalteten Festessen für ihre Mitglieder.

Selbst für Arme und Kranke bedeutete der Karneval eine Woche voller Feste. Kaum ein Kölner ließ es sich nehmen, Körbe mit Essen und Getränken in die Armenhäuser und Hospitäler zu schicken. Den Bettlern gaben sie reichlich, ebenso den Huren. Die Wirte hatten ihre Lager bis unters Dach mit Bier, Wein und Branntwein gefüllt und kamen kaum nach, ihren Gästen einzuschenken. Die Taschendiebe machten ebenfalls die besten Geschäfte des Jahres.

Dem tollen Treiben verschloss sich nicht einmal die Geistlichkeit: Einige Priester und etliche Domherren vergnügten sich auf privaten Feiern.

Dem Dominikanermönch Bruder Martin waren Lachen, Tanzen und Singen dagegen ein Dorn im Auge und nach seiner Meinung einem Christenmenschen unziemlich. Der Karneval war vom Teufel gesandt, um die Menschen zu Sünde zu verführen, und in den Kölnern fand der Leibhaftige leichte Opfer. Wie fest der Teufel die Stadt im Griff hielt, sah man ja daran, dass einen Tag vor dem Karneval Klein St. Martin geschändet worden war. Statt innezuhalten und umzukehren auf dem Weg der Sünde, trieben die Kölner es nur umso doller.

Bruder Martin ging mit finsterem Gesicht durch die Stadt, stellte sich auch auf den Altermarkt und versuchte, den Leuten ins Gewissen zu reden. Außer einigen Bettlern, die gerade nichts anderes zu tun hatten, hörte ihm niemand zu. Er nahm sich die Priester vor, die mit rotgeränderten Augen Gottesdienste abhielten und dabei die Predigten nicht selten auf einen Satz verkürzten, ehe sie die Gläubigen sofort wieder in die heidnische Tollerei auf den Gassen entließen.

»Die Menschen hören mir in der Woche des Karnevals nicht zu. Was soll ich tun?«, verteidigte sich ein Priester, als Bruder Martin ihm Vorhaltungen machte.

»Ihnen ins Gewissen reden.« Der Dominikaner roch den Wein im Atem des Geistlichen und musste an sich halten, ihn nicht bei der Soutane zu packen und zu schütteln.

»Sie laufen einfach aus der Kirche, wenn ich ihnen zu lange predige.«

»Verschließe die Türen!«

»Die Leute in der Kirche einsperren?«

»Ihre Seelen retten!«

»Das werden sie nicht dulden.« Der Priester gähnte und wandte sich ab. Er ließ Bruder Martin stehen, ohne sich zu verabschieden.

Ein anderer Priester verließ seine Kirche, bevor der Dominikaner ihn ansprechen konnte. Gottloses Pack!

All dem setzte der Priester von St. Kolumba die Krone auf: Der stemmte Bruder Martin die Hand vor die Brust und schob ihn aus der Kirche hinaus. Er war ein großer, kräftiger Mann, der nicht nur einen mächtigen Brustkasten, sondern auch einen ebensolchen Bauch besaß, dem Bruder Martin sich nicht entgegenzustemmen vermochte. Danach schlug der Priester die Tür krachend zu.

Bruder Martin wäre nicht erstaunt gewesen, käme ihm der Teufel persönlich in einer Gasse entgegen. Wenigstens stand er noch zwischen der Stadt und dem Leibhaftigen.

Auch die Hebamme Kathrina Obladen verspürte wenig Freude an den tollen Tagen. Es war der erste Karneval, den sie als Witwe verbrachte. Ihr Mann war der Handlungsgehilfe Joseph Obladen gewesen und im vergangenen Jahr an einem Bienenstich gestorben. Ein harmloser Bienenstich hatte seinen Hals schneller zuschwellen lassen, als sie ihn mit Wasser kühlen konnte. Er hatte ihm die Luft abgedrückt, bis er elend erstickt war. Ihre Trauer um den fünfzehn Jahre älteren Mann hielt sich in Grenzen, ihre Ehe war eine Zweckheirat gewesen. Trotzdem hatte sein Tod ihr Leben mehr verändert, als sie je geglaubt hatte.

Seit seinem Tod rief sie niemand mehr, damit sie einem Kind auf die Welt half. In den Augen der katholischen Kölner war sie eine Protestantische, da ihr Mann dieser Glaubensrichtung angehört und für den protestantischen Großhändler Johann Camp gearbeitet hatte. Dabei hatte sie den katholischen Glauben nie aufgegeben. Sie hatte die Kinder der protestantischen Familien auf die Welt gebracht, aber nachdem ihr Ehemann als Bindeglied weggefallen war, galt sie ihnen als die Katholische, und sie hatten sich nach einer anderen Hebamme umgesehen. Kathrina saß zwischen allen Stühlen und wusste nicht, wie sie diesen Übelstand beenden sollte. Ihre Barschaft schmolz dahin, und sie verdiente sich ein paar Groschen, indem sie Flickarbeiten für die Nachbarn übernahm.

Fest in ihren Umhang und einen dicken Schal gehüllt, verließ sie die Kirche St. Severin in der Nähe des Severinstors. Die Messe war erfreulich kurz gewesen, dennoch war ihr die feuchte Februarkälte erst unter die Röcke und dann in den Leib gekrochen. Sie wollte möglichst schnell nach Hause und hoffte, dass in der Zwischenzeit das Feuer im Ofen nicht ausgegangen war. Kathrina zog sich das eine Ende des Tuches über den Kopf und blinzelte kurz in den trüben Himmel. Alles grau in grau, nirgendwo ein Fleckchen Blau zu sehen.

Ein alter Mann mit einem Buckel, der ihm nicht mehr erlaubte, halbwegs aufrecht zu gehen, streckte ihr seine Bettelschale entgegen.

»Eine milde Gabe«, bat er.

Kathrina suchte in ihrem Beutel nach Kleingeld und ließ einen Kreuzer in die Schale fallen.

»Gott segne dich, gute Frau«, schnarrte er, klaubte die Münze hastig aus der Schale und prüfte ihre Güte, indem er darauf biss.

Als sie sich abwandte, stand ihr jemand im Weg. Jemand, der größer war als sie und von dem sie zunächst nur ein unordentlich gebundenes Halstuch und ein schmuddeliges Hemd unter einem dunklen Gehrock sah.

»Frau Kathrina, mildtätig wie immer.« Die Stimme gehörte dem Weber Fritz Haan.

Kathrina trat einen Schritt zurück und schaute ihm ins blasse, längliche Gesicht. Wie sie gehörte auch er zur Kirchgemeinde von St. Severin. Mehrere Wochen lang hatte er ihr während der Messen Blicke zugeworfen, bis er es nun wagte, sie anzusprechen.

»Ich habe dich aus der Kirche kommen sehen und wollte nicht versäumen, dich zu grüßen und mich nach deinem Befinden zu erkundigen.« Es klang wie auswendig gelernt.

Sein Eifer entlockte ihr ein Lächeln. Deshalb nickte sie, als Fritz Haan fragte, ob er sie begleiten dürfe.

Der Weber war ein schweigsamer Mann, mit großen Händen, die immer ein wenig ungelenk an seinen Seiten herunterhingen. Er galt in der Kirchgemeinde als fleißig und strebsam. Sie erreichten Kathrinas kleines Haus, das sie von ihrer Tante geerbt hatte; bei ihr war sie aufgewachsen und von ihr hatte sie den Hebammenberuf erlernt. Im Gegensatz zu den dreistöckigen Nachbarhäusern, in denen jeweils mehrere Familien wohnten, war ihr Haus sehr schmal, nur ein Fenster gab es neben der Tür, und es besaß nur zwei Stockwerke, dahinter einen tischtuchgroßen Garten. Sie lebte allein darin.

Fritz Haan machte keine Anstalten, sich zu verabschieden. Er drehte seine Filzkappe in den Händen und fragte sie schließlich, ob er ins Haus kommen dürfe. Die niedrige Stube direkt hinter dem Eingang schien mit seiner Anwesenheit überfüllt. Nachdem der Weber sich aufgerichtet hatte, passte zwischen seinen Kopf und die Decke gerade mal eine Handbreit. Kathrina schluckte und bereute es, ihn hereingebeten zu haben. Seine Begleitung hatte sie noch als angenehm gefunden, aber nun bedachte er sie mit einem gar zu brennenden Blick.

Sie bot ihm keinen Platz und keine Erfrischung an, sondern blieb mit vor dem Leib verschränkten Armen vor ihm stehen.

»Ich habe dich gut kennengelernt in den letzten Wochen, und ich schätze dich sehr. Das weißt du?«

»Danke für deine Worte.« Noch bevor sie darüber nachgedacht hatte, war der Dank über ihre Lippen gekommen. »Du bist ein guter Mann und ein fleißiger Weber. Das sagen alle in der Kirchgemeinde.«

Sein Blick auf sie wurde womöglich noch brennender.

»Wenn du so über mich denkst, darf ich mir wohl Hoffnungen machen.«

Sie wollte den Kopf schütteln, aber Fritz Haan sprach schnell weiter: »Ich will dich um deine Hand fragen, damit wir fortan gemeinsam durchs Leben gehen. Ich bin ein guter Weber und kann eine Frau ernähren. Meine Tuche gehören zu den besten, die du in Köln findest, sie wurden noch nie beanstandet. Du bist nicht nur Hebamme, sondern auch Flickschneiderin. Das passt gut zu einem Weber. Wenn wir zusammenarbeiten, steht der Webstuhl nicht mehr still, und wir werden ein gutes Leben haben. Du hast ja auch ein Haus, das du mit in die Ehe bringen kannst. Das reicht mir als Mitgift.«

»Wie stellst du dir das vor? Ich bin erst seit ein paar Monaten Witwe.«

»Wir müssen die Verlobung nicht sofort von der Kanzel verlesen lassen, und mit der Hochzeit können wir ein paar Wochen warten.« Mit jedem Wort klang Fritz Haan zuversichtlicher. »Wir machen alles so, wie es sich gehört.«

»Nein!«

»Du willst nicht warten? Aber hast du nicht eben …? Wir können auch sofort unsere Verlobung bekanntgeben und in drei Wochen Mann und Frau sein.«

»Nein, das können wir nicht. Ich bin keine Frau, der man die Ehe anbietet, nur weil sie ein Haus besitzt.«

Fritz Haans Stirn umwölkte sich.

»Ich meine«, fuhr Kathrina schnell fort, »dass wir nicht zusammenpassen. Wir könnten keine glückliche Ehe führen. Du brauchst ein junges Mädchen, das du erwecken kannst, keine Witwe, die jahrelang verheiratet war und ihrem Ehemann kein Kind geboren hat, dafür aber ein Übermaß an Widerspruchsgeist besitzt.«

»Was meinst du?«

»Ich bin so eine Frau. Ich würde mir ewig Vorwürfe machen, dass du mit mir unglücklich geworden bist, wenn ich dich heirate. Vor Gott und den Menschen will ich derartige Schuld nicht auf mich laden. Lieber bleibe ich allein und wünsche dir eine bessere Frau. Fritz, ich muss dich bitten, zu gehen.« Kathrina ergriff den Weber am Arm und schob ihn in Richtung Tür. Fritz Haan stolperte in den grauen Februartag hinaus.

Hinter ihm atmete Kathrina auf und verriegelte die Tür. Sie lehnte sich dagegen und brauchte eine Weile, ehe sich ihr Zittern beruhigte.

Warum war sie wochenlang so eitel gewesen, sich seine Schmeicheleien gefallen zu lassen? Sie hatte doch gewusst, wohin das führen mochte, schließlich war sie mit siebenundzwanzig Jahren kein unerfahrenes Ding mehr. Sein letzter Blick hatte ihr nicht gefallen; nicht nur Enttäuschung las sie darin, sondern auch Zorn. Sie nahm sich in Zukunft besser vor ihm in Acht.

Fritz Haan fand sich unversehens auf der feuchtkalten Gasse wieder und wusste nicht recht, wie ihm geschehen war. Aus einem nahen Gasthaus drangen Musik und Gelächter heraus, als wollte man ihn verhöhnen. Er wischte sich mit der Hand über das Gesicht und strich sich die Haare zurück. In seine Gedanken sickerte allmählich die Erkenntnis, dass sie seinen Antrag abgelehnt hatte.

Mit der Erkenntnis kam die Wut. Ein ehrbarer Weber hatte einer nicht so gut beleumdeten Hebamme einen Antrag gemacht und war abgelehnt worden. Abgelehnt! Das Wort hämmerte in seinem Schädel, verhöhnte ihn.

Fritz Haan stürzte in die Wirtschaft und rief nach einem Glas Branntwein. Zwischen den fröhlichen Gästen wirkte er wie ein Fremdkörper. Zu finster schaute er sich um, als dass ihn jemand in eine gut gelaunte Runde einlud.

In einem Zug stürzte er den Branntwein hinunter und rief gleich nach einem zweiten Glas. Nachdem er auch das getrunken hatte und der scharfe Alkohol in seinen Eingeweiden brannte, wurden seine Gedanken ruhiger. Seine Wut auf Kathrina verflog jedoch nicht.

Als katholische Frau war sie mit einem Protestanten verheiratet gewesen, da sollte sie froh sein, dass er bereit gewesen war, sie zu nehmen. Er war ein ganzer Kerl, der einer Frau was bieten konnte. Bei diesem Gedanken fasste er sich unter dem Tisch in den Schritt und stellte sich vor, wie Kathrina vor ihm hockte, sein Ding im Mund, und zu ihm aufsah, Kummer und Verzweiflung im Blick. In seiner Vorstellung tat sie alles, um ihn zufriedenzustellen. Ganz am Ende kam die Bitte über ihre Lippen, er möge sie heiraten und zu einer ehrbaren Frau zu machen. Honigsüße Worte, aber er würde sie kalt lächelnd in den Dreck zurückschicken, aus dem sie gekrochen war. Der Gedanke gefiel ihm: er als Herr über Kathrina Obladens Schicksal.

»Noch ein Glas?«, sprach die Schankmagd ihn an und schwenkte eine Flasche Branntwein.

Fritz Haan nahm die Hand aus dem Schritt und schüttelte den Kopf. Er warf ein paar Münzen auf den Tisch und verließ das Gasthaus, beim Gehen schwankte er leicht. Auf der Gasse fühlte er sich, als habe sich sein Hirn in ungesponnene Wolle verwandelt. Seine Füße trugen ihn ganz von selbst zu Kathrina Obladens Haus zurück.

Er ging daran vorbei, blieb an der nächsten Ecke stehen und lehnte sich gegen die Hausmauer. So konnte er die Tür beobachten und würde sehen, wenn sie das Haus verließ. Ihm wurde allmählich kalt, ohne dass etwas anderes passiert war, als dass ein streunender Hund an seinen Stiefeln geschnüffelt hatte.

Mit hochgezogenen Schultern kehrte Fritz Haan schließlich in seine Wohnung im Weberhof zurück. Sie bestand aus einem winzigen Flur und einem Zimmer, in dem ein Ofen, ein Bett und sein Webstuhl standen, und damit blieb kaum noch Platz. Die Küche musste er sich mit den anderen Bewohnern des Hauses teilen. Das Haus bildete mit anderen ein Geviert, in dem überwiegend Weber lebten, die dem Weberhof zu seinem Namen verholfen hatten.

Wie angenehm wäre das Leben als Herr eines Hauses und mit einer Ehefrau, die kocht, putzt, wäscht und das Bett wärmt.

Kapitel 3

Ein Tag bei Kerzenlicht auf einem dreibeinigen Schemel ließ das Kreuz schmerzen und die Augen tränen. Kathrina streckte sich und rieb sich über das Gesicht. Stunde um Stunde hatte sie Stoffstreifen an einen Kinderkittel angesetzt, um ihn an das gewachsene Kind anzupassen. Danach hatte sie mit kleinen und gleichmäßigen Stichen einen langen Riss im Ärmel eines Hemdes geflickt, dass man ihn kaum sah. Ein paar Kreuzer wären ihr Lohn dafür. Das Leben war nicht leicht, aber Kathrina war viel zu energisch gegen sich und andere, um sich dem Kummer hinzugeben. Gott gab es den Seinen, und auf schlechte Zeiten folgten auch wieder bessere, daran wollte sie fest glauben.

Ein zaghaftes Klopfen an der Tür unterbrach ihre Gedanken. Es hörte gar nicht wieder auf. Sie sprang auf. Wurde sie als Hebamme gebraucht? Endlich wieder? Ihr Blick flog zu der Tasche, die alles enthielt, was bei einer Geburt nötig werden konnte: saubere Tücher, eine Geburtszange und verschiedene Kräuter, um Schmerzen zu lindern, Blutungen zu stillen, eine Schlinge, um das Kind im Mutterleib in die richtige Lage zu drehen.

Vor der Tür stand eine junge Frau, beinahe noch ein Kind. Gegen die Februarkälte hatte sie sich in mehrere fadenscheinige Kleider übereinander gehüllt und in verschiedene Tücher gewickelt. Die Kleidung bestand aus grober Wolle, war vom vielen Waschen verfilzt und ausgebleicht, so dass sich kaum sagen ließ, welche Farbe sie ursprünglich einmal gehabt hatte. Rotgefrorene Hände krallten sich in einen der Schals. Sie stand auf der Schwelle, als wüsste sie nicht, ob sie hereinkommen oder fliehen sollte.

Kathrina bat sie ins Haus. »Gott zum Gruß, Mädchen. Komm aus dem Wind, bevor er dich wegweht.«

Allenfalls ein sanfter Wind strich durch die Kölner Gassen, aber die Worte brachten die Besucherin dazu, ins Haus zu treten. Hinter ihr verriegelte Kathrina die Tür.

Die Frau blieb in der Mitte des Zimmers stehen. Sie verschränkte die Hände ineinander und sah sich misstrauisch um.

»Bei welchem Leiden der Frauen soll ich dir helfen?« Außer Schwangeren kamen auch manchmal Frauen mit anderen Krankheiten zu ihr, wenn sie sich keinen Arzt leisten konnten.

Kathrina betrachtete im Schein der Lampe das Gesicht ihrer Besucherin genauer. Sie war jung – der erste Schein hatte nicht getrogen –, sah aber verhärmt aus, als hätte sie täglich schwere Arbeit zu verrichten.

Das Mädchen knetete ihre Hände weiterhin so fest, dass die Knöchel weiß hervortraten. »Da ist was Kleines in meinem Bauch. Das muss weg.« Sie legte die Hände auf ihren Leib, als müsse sie schützen, was sie nicht wollte.

»Du erwartest ein Kind?«

Sie nickte.

»Wer ist der Vater?«

»Dem Herrn Johann Moers sein ältester Sohn«, flüsterte sie beinahe unhörbar. »Ich arbeite in seinem Haus als Magd.«

»Hat der junge Moers sich an dir vergriffen?«

Wieder schüttelte sie den Kopf.

»Aber er hat dir was versprochen?«

»Er hat gesagt, er liebt mich. Aber jetzt ist im Haus die Rede davon, dass er sich mit einer anderen verloben wird. Er kommt nicht mehr zu mir und dreht sich weg, wenn ich mit ihm sprechen will. Du musst mir helfen! Wenn sie erst sehen, dass ich was Kleines erwarte, jagen sie mich davon. Und wo soll ich hin mit einem Kind und keinem Vater.« Sie wischte sich eine Träne aus dem Augenwinkel.

Kathrina tat die junge Frau leid. »Hast du keine Familie, zu der du gehen kannst?«

»Sie werden mich nicht aufnehmen, weil ich Schande über sie bringe. Du musst mir was geben, dass alles wieder in Ordnung kommt!«

Der hoffnungsvolle Blick der Frau tat Kathrina in der Seele weh. »In dir ist ein Kind. Da wächst neues Leben in deinem Bauch, das kannst du nicht einfach loswerden wollen wie löchrige Schuhe. Ich kann etwas einfädeln für dich. Tatsächlich weiß ich eine Frau, die selbst keine Kinder bekommen kann, die ehrbare Frau eines Gürtelmachers. Vielleicht wären sie bereit, dein Kind aufzunehmen. Nur diese Frau wüsste die Wahrheit, für alle anderen wäre es ein Waisenkind, das sie zu Gottes Wohlgefallen in ihren Haushalt aufgenommen hat.« Dabei verschwieg Kathrina, dass es sich bei der Familie um Lutheraner handelte, die auf der anderen Rheinseite in Deutz lebten und von denen sie seit dem Tode ihres Mannes – also seit einem halben Jahr – nichts mehr gehört hatte.

»Und es wird niemand etwas erfahren?« Die Verzweiflung war aus der Miene der jungen Frau verschwunden. Sie legte die Hände auf den Bauch.

»Niemand.«

»Aber ich muss das Kind bekommen?«

»Die Frau würde sehr gut für dein Kind sorgen.«

»Ich muss einen dicken Bauch bekommen und jeder wird sehen, dass ich was Kleines erwarte, und dann wird kein Kind da sein. Der ehrenwerte Johann Moers jagt mich davon.«

»Du brauchst einen Platz, wo du dein Kind in Ruhe bekommen kannst«, erklärte Kathrina. »Am besten an einem Ort, wo dich niemand kennt. Es gibt Geburtshäuser für Frauen in deiner Lage.«

Ihre junge Besucherin überlegte eine Weile. Kathrina beobachtete in dieser Zeit gespannt, wie die Frau die Stirn runzelte und einen Finger an die Lippen legte. Dann verdüsterte sich ihre Miene.

»Ich will kein Kleines haben. Du musst es wegmachen! Ich kann nicht mit einem dicken Bauch herumlaufen, und ich will kein Kind bei fremden Leuten haben.«

Kathrina kannte Kräuter und Tränke, die ein Kind aus dem Mutterleib austrieben. Dennoch gab es nach ihrer Überzeugung für dieses Ansinnen nur eine Antwort.

»Ich kann dir nicht geben, was du verlangst. Wir begehen eine Todsünde und werden bis an unser Lebensende verdammt sein. Ich werde dir in der Schwangerschaft beistehen, und du musst mit dem Vater sprechen, damit sie dich das Kind in Ruhe bekommen lassen und dir danach deine Arbeit wiedergeben.«

Kathrinas Besucherin schüttelte heftig den Kopf. Sie rieb sich eine weitere Träne aus dem Augenwinkel, und ihre Stimme zitterte. »Er will nichts mehr mit mir zu tun haben. Er hat mir gesagt, wenn ich noch einmal mit ihm spreche, sorgt er dafür, dass ich das Haus verlassen muss.«

»Von dem Kind weiß er nichts?«

»Er darf es nie erfahren!«

»Es ist ein Leben, das in dir heranwächst. Ich kann dir nichts geben, das es wegmacht.«

»Du musst!«, rief die Frau nun lauter und mit besorgter Stimme. »Es gibt Mittel, die ein Kind wegmachen, ich weiß das, du musst sie mir geben! Bitte!«

»Nein! Ich mache das nicht, du bist bei mir falsch. Ich helfe Kindern auf die Welt und treibe sie nicht aus den Leibern ihrer Mütter aus.«

»Ich kann bezahlen.«

»Nein!«

Die junge Frau fiel vor ihr auf die Knie. »Dann kann ich nur noch in den Rhein gehen.«

Am Ende ließ Kathrina sich überreden. Sie ging in das hintere Zimmer und suchte die jungen Triebe des Sadebaums, Myrrhe und Beifuß, legte alles in einen Mörser und begann, es zu einem grünen Brei zu zerstampfen. Während sie rhythmisch den Stößel bewegte, kam ihr eine Idee.

Sie ließ den Stößel sinken und betrachtete den halb zerstampften Brei. Mit den Fingern wischte sie ihn aus dem Mörser und er klatschte auf die Tischplatte. Aus verschiedenen Tontöpfen nahm Kathrina andere Kräuter: Frauenmantel, Ringelblume, Hopfen und Baldrian. Sie waren alle getrocknet, und nachdem sie sie zerstampft hatte, erhielt sie ein grünbräunliches Pulver, das sie in einen Tonbecher schüttete. Die Öffnung verschloss sie mit einem Lederlappen, den sie mit einem Stück Schnur festband.

Das reichte sie ihrer Besucherin. »Du musst es an drei Tagen hintereinander mit Wasser, Bier oder Milch einnehmen, immer zwei Löffel. Es muss etwas Kaltes sein, keine Suppe oder Mus. Hast du mich verstanden?«

»Ich danke dir, ich danke dir so sehr!. Du hast mein Leben gerettet.« Den Becher mit dem Pulver verstaute die junge Frau sorgfältig in einer Tasche, die zwischen den Falten ihrer Röcke verschwand. Anschließend wollte sie Kathrina etliche Kreuzer in die Hand drücken, etwa zwei Dutzend, schätzte sie. Die Münzen hatte die Magd sich wahrscheinlich jahrelang zusammengespart. Das Geld konnte Kathrina nicht nehmen, nicht nachdem sie … Sie schüttelte den Kopf und fragte sanft: »Hast du verstanden, wie du das Pulver einnehmen sollst?«

»Ja, ja. Drei Tage lang mit Wasser oder Dünnbier einnehmen.«

»Zwei Löffel davon in einen Becher. Nicht mehr und auch nur einmal am Tag. Falls etwas übrigbleibt, hebe es eine Woche auf und nimm es dann, bis es aufgebraucht ist.«

»Ja, ja.«

»Es kann sein, dass du Leibschmerzen bekommst und dir übel wird. Das musst du aushalten. Du wirst eine Blutung bekommen wie deine Regel, mit der die Leibesfrucht abgeht. Du musst dich ausruhen und darfst in dieser Zeit keine schwere Arbeit verrichten. Bete, damit alles gut wird.«

Wieder streckte die junge Frau ihr das Geld entgegen.

»Nein, behalte deine Ersparnisse.« Kathrina schloss die Hand des Mädchens um die Münzen. »Du musst auch wissen, dass die Kräuter nicht immer so wirken, wie wir es uns vorstellen. Manche Frauen behalten ihre Leibesfrucht, obwohl sie Mittel zum Austreiben eingenommen haben. Die Kinder klammern sich ans Leben. Das ist Gottes Wille.«

»Deine Mittel wirken, wird erzählt.« Die junge Frau steckte die Münzen wieder in die Tasche, und griff nach Kathrinas Händen, um sie zu küssen, als wären es die eines Geistlichen. Hastig verbarg Kathrina sie hinter dem Rücken und atmete auf, als ihre Besucherin aus dem Haus geschlüpft war. Sorgfältig verriegelte sie die Tür hinter ihr.

In ihrer Schlafkammer kniete sie sich vor den hölzernen Heiland und faltete die Hände zum Gebet.

»Gütiger Jesus, Heilige Jungfrau«, flüsterte sie, »haltet die Hände über dieses arme Ding und wendet die Blicke nicht von ihr. Seht mir auch diese Lüge nach, ich wusste mir keinen anderen Rat, sie von ihrem sündigen Weg abzubringen. Als Sühne zünde ich eine Kerze zu deinen Ehren an.«

Kapitel 4

Du musst leise sein und darfst deinen Papa nicht stören«, ermahnte Sophia Feminis ihre dreijährige Tochter Anna Maria, die neben ihr auf der Bank saß. Sie legte einen Finger an ihre Lippen und das Summen des Kindes verstummte.

Dafür spitzte eine kleine Zunge zwischen den Lippen des Mädchens hervor, als sie eifrig eine Nadel durch ein Stück Stoff zog. Sie machte es ihrer Mutter nach. Sophia säumte Taschentücher mit Spitzenborte, die ihr Mann später zum Verkauf anbot. Anna Marias Nadel bestand allerdings aus einem Kälberknochen so dick wie ihr kleiner Finger, besaß weder eine Spitze noch Faden, und sie zog sie durch Löcher in einem Stofffetzen, die ihre Mutter zuvor hineingeschnitten hatte. Bis sie die feinen, gleichmäßigen Stiche ihrer Mutter beherrschte, würde es noch etliche Jahre dauern.

In einem Korb zu Sophias Füßen lagen eingekuschelt in weiche Decken die Zwillinge Johann Anton und Sophia Maria, die noch kein Jahr alt waren und schliefen. Zum Glück, denn wenn sie aufwachten und gestillt werden wollten, war es mit der Ruhe vorbei.

Die junge Mutter warf einen Blick auf ihren Mann. Feminis saß in der Mitte des Raumes am Tisch und hatte vor sich eine Reihe kleiner Flaschen mit ätherischen Ölen stehen. Dort standen auch zwei größere Flaschen mit einem durchsichtigen Inhalt, und ein Chaos an Papieren bevölkerte die restliche freie Fläche des Tisches. Über diese Papiere saß Feminis gebeugt, schrieb eilig und konzentriert. Er arbeitete an der Entwicklung seines Duftwassers.

Sophia war stolz auf ihren Mann und gleichzeitig besorgt. Die Wasserherstellung verschlang viel Zeit und Geld; Zeit, in der ihr Mann mit seinem Kramhandel nichts verdiente. Schon die Herstellung des Weingeistes durch Destillation aus Wein war ein komplizierter Vorgang, den sie nicht verstand und der ihren Mann für Stunden beschäftigte. Der Destillierapparat wurde aus seiner Ecke hervorgeholt, angefeuert und dann dampfte und zischte es, als hätte die Hölle ihre Pforten geöffnet. Sophia berührte die Maschine nur mit äußerster Vorsicht, und nur, um den Staub von der Oberfläche zu wischen.

Der Weingeist wurde mit Wasser, allerlei Essenzen und Kräutern versetzt und wochenlang stehen gelassen, bevor er erneut destilliert wurde. Wenn hier ein Fehler passierte, eine falsche Essenz, eine falsche Menge, war er später nicht wiedergutzumachen, hatte Giovanni Paolo ihr erklärt. Das immerhin konnte sie sich vorstellen, denn was einmal in dem zweifach destillierten Weingeist enthalten war, bekam man dort nicht wieder heraus.

Danach begann die eigentliche Arbeit des Parfümeurs an seinem Aqua mirabilis. Die ätherischen Öle wurden Tropfen für Tropfen hinzugefügt, um sich mit dem Weingeist zu einem harmonischen Ganzen zu verbinden. Sie nannte es Zauberei, ihr Ehemann Alchemie, und man brauchte nicht nur eine gute Nase, sondern auch umfassende Vorstellungen von den Eigenschaften und Wirkungen der Elemente.

Giovanni Paolo hatte genaue Vorstellungen davon, wie sein Aqua mirabilis riechen sollte, und er war auch im Besitz eines Rezeptes für dessen Herstellung. Es stammte aus dem Erbe seines Großvaters väterlicherseits und erwies sich als komplizierter als alles, was sie je in ihrem Leben gesehen hatte. Mit der Sprache fing es an. Es befand sich darin kein einziges deutsches Wort, Teile waren auf Latein, andere auf Griechisch und sogar auf Persisch verfasst. Giovanni Paolo hatte es übersetzen lassen ins Italienische und ins Deutsche, und sie hatten beide nächtelang über den Texten gesessen und versucht, einen Sinn hineinzubekommen. Sophia hatte das als eine schöne Zeit empfunden, in der sie sich sehr nahe gewesen waren. Die Zwillinge waren dabei entstanden.

Das Rezept ähnelte in nichts dem, was sie kannte, wenn sie ihrer Nachbarin die Zubereitung der Zitronensuppe erklärte, die ihr Mann aus seiner Heimat mitgebracht hatte und die er so liebte. Die Kunst der Alchemie war kompliziert und voller Geheimnisse, und deshalb war es Giovanni Paolo bisher nicht gelungen, alle Zutaten und ihre Mengen einwandfrei zu identifizieren. Sophias Nase war nicht fein genug, um ihm dabei zu helfen. Die Kopf- und die Herznote eines Aqua mirabilis waren für sie nicht mehr als Begriffe.

Saß Giovanni Paolo noch lange so vornübergebeugt und verkrampft über seinen Papieren, hätte er am Abend nur wieder verspannte Schultern und Kopfschmerzen. Ihn daran zu erinnern war zwecklos, denn sobald er sich einmal in eine Sache verbissen hatte, gab er nicht auf. So war es gewesen, als er um sie geworben hatte, und nun war es eben sein Aqua mirabilis.

Anna Maria bohrte entschlossen ihre Knochennadel an einer Stelle in den Stofffetzen, an der kein Loch hineingeschnitten war und sie sich deshalb nicht durchschieben ließ. Das forderte ihre kindliche Wut heraus, und sie trommelte mit den Füßen gegen die Bank. Erneut ermahnte Sophia sie zur Ruhe, strenger diesmal, und sie half dem Mädchen, ein Loch für die Nadel zu finden, damit sie weiter nähen konnte.

Giovanni Paolo Feminis riss sich kurz von seinen Berechnungen los und warf seiner Familie einen Blick zu. Einen wohlwollenden, er wusste, was er seinen Lieben zumutete und dass es einer aufweckten Dreijährigen wie Anna Maria nicht leichtfiel, lange stillzusitzen. Außer diesem Raum, in dem gekocht, gegessen, genäht und sich aufgehalten wurde, verfügte die Familie nur noch über ein Schlafzimmer. Dieses konnte nicht geheizt werden, deshalb war es dort eiskalt, und weder Sophia und den Kindern, noch sich konnte er zumuten, sich dort außer zum Schlafen aufzuhalten.

Mit Daumen und Zeigefinger rieb er sich die Nasenwurzel. Obwohl er mehrere Bögen Papier mit Berechnungen bedeckt hatte und am Ende eine neue Liste der möglichen Zutaten und ihrer Mengen aufgeschrieben hatte, fühlte er sich nicht so, als wäre er der Lösung einen Schritt näher gekommen. Letztlich war nur eine weitere beliebige Liste entstanden, wie er bereits mehr als ein dutzend Mal eine geschrieben hatte. Mit keinem der daraus entwickelten Duftwässer war er zufrieden gewesen. Der Ansatz war richtig, davon war er überzeugt, aber der Weg bis zum perfekten Aqua mirabilis steiniger als der Weg von Mailand nach Köln.

Obwohl er von der Richtigkeit seiner Liste nicht überzeugt war, maß er eine genau berechnete Menge des vorbereiteten Weingeistes ab und goss ihn in eine flache Schale. Danach griff er nach den ätherischen Ölen, zuerst zum Zitronenöl, danach zum Lavendel, dann folgten das kostbare Neroliöl und zum Schluss Rosmarin. Mit einem Glasstäbchen rührte er die Lösung um, aber bevor er sich die Duftnote in die Nase fächeln konnte, wurde die Tür der Wohnung aufgerissen.

Ein Schwall kalter Luft strömte aus dem Hausflur herein. Sein Ältester, Carl Joseph, stampfte sich Feuchtigkeit und Schmutz von den Stiefeln, bevor er hereinkam. Sophia sprang auf und nahm den Jungen in Empfang. Sie schälte ihn aus Mantel, Tuch und Mütze. Seine Wangen waren gerötet und die Augen leuchteten.

»Du kommst spät«, schalt Sophia ihn milde. Der Unterricht in seiner Lateinschule war vor reichlich einer Stunde zu Ende gegangen, und kurz danach hätte der Junge zu Hause sein sollen.

»Ich wollte sehen, was in der Stadt los ist. Der Karneval ist einfach wunderbar. Alle Leute sind auf der Straße und niemand stört sich an der Kälte. Ich habe einen Zug der Weber gesehen und dann kamen die Schmiedegesellen. Das sind Männer mit Armen …« Er deutete einen Umfang an, der dem Oberschenkel eines Mannes näher kam als dessen Oberarm. »Überall gab es Musik. Ich bin eine Weile mit dem Zug mitgelaufen und die anderen Jungen auch.«

»Und bist dabei ganz kalt geworden.« Sophia zog ihren Sohn näher an den Ofen und rieb seine kalten Hände zwischen ihren. Carl Joseph entzog sich ihr wieder, er wollte nicht wie ein Kleinkind behandelt werden. Lieber sah er seinem Vater zu.

Feminis verkorkte die Flasche mit dem Rosmarinöl und strich dem Jungen über den Kopf.

»Das Rosmarinöl wird immer als Letztes zum Weingeist gegeben, das habt Ihr mir erklärt. Sorgt Euch nicht, Gott wird es Euch gelingen lassen, wenn es soweit ist«, sagte er leise und altklug.

Feminis fragte sich nicht zum ersten Mal, wie solche Gedanken in den Kopf eines Siebenjährigen kamen. Er nickte nur und rührte die Lösung in der flachen Schale um. Der Inhalt gluckerte, ein betörender Duft stieg auf. Feminis kräuselte die Nase, sog den Geruch tief ein und prüfte ihn mit allen Sinnen. Er wedelte ihn sich mit der Hand zu, tupfte sich endlich einen Tropfen auf die Haut und erschnüffelte, wie er sich mit der Zeit veränderte. Die Kopfnote, den Duft der Herznote würde er erst morgen richtig wahrnehmen können. Bisher konnte er nur ahnen, dass sie zu süß und zu schwer geraten war. Sein Sohn beobachtete ihn und tat ihm alles genau nach.

»Was sagst du zu diesem Geruch, figlio?«

»Es riecht …«, Carl Joseph bohrte mit einem Finger in der Nase, während er nach der passenden Beschreibung suchte, »… gut«, sagte er schließlich lahm. »Sehr gut, mein Vater.«

»Das kannst du besser.«

»Wirklich sehr gut! Dieses letzte Öl hat gefehlt. Die vornehmen Damen werden es gerne kaufen.«