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Birgitta S. Messmer

AMIGIRL

Ein deutsches Mädchen und ihr

American Dream

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Umschlag, Illustration:

Kornelia Erlewein grafik+design

Lektorat, Korrektorat:

Anna Erlewein, Matthias Krieg

Übersetzung aus dem englischen Originaltext:

Birgitta S. Messmer

Verlag: tredition GmbH, Hamburg

ISBN

Paperback:978-3-7345-6913-5
Hardcover:978-3-7345-6914-2
e-Book:978-3-7345-6915-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Die Abreise

Papa

Der Brief

Hildegard

Ankunft in Abilene

Diego

Ein neues Leben in Mangum

Bella

Selma

Rachel

Margarethe und Arthur – eine Liebe von 52 Jahren

Diana

Melinda

Steve

Abby

Nick

Robert

Wieder zuhause

David und ein neuer Anfang

Ein Roman über Liebe, Schmerz, Vergebung und
Durchhaltevermögen,

über ein Leben voller Enttäuschungen,

aber auch Belohnungen

und einen überraschenden Neuanfang.

Für Matthias

Du hast mir gezeigt, was Liebe wirklich ist. Ich kann und will mir das Leben ohne Dich nicht vorstellen.

Danke für Deine Unterstützung und unermüdliche Arbeit, um dieses Buch zu ermöglichen.

Und für Andreas, mein liebster Bruder

Ich bin Dir unendlich dankbar für Deine Mühe, mir meinen größten Wunsch zu erfüllen. Ich bedaure die vielen Jahre, die uns entgangen sind, aber freue mich auf jede Minute, die uns noch bleibt.

Die Abreise

Es war ein typischer Sommertag in Stuttgart am 26. Juni 1977. Die Luft war nach einem leichten Regen am frühen Morgen noch frisch und klar; die Temperatur stieg langsam an. Für die 16-jährige Laura war es der schönste Tag ihres Lebens, denn sie, ihre Mutter Hildegard und ihr Stiefvater Kurt waren auf dem Weg zum Flughafen.

Laura war so nervös und voller Aufregung, dass es ihr vorkam, als wäre alles nur ein Traum. Schon seit einigen Wochen hatte sie die Stunden bis zu diesem Tag gezählt, denn heute würde sie nach Amerika reisen, um ihre Tante Barbara, Kurts Schwester, zu besuchen.

Vor ein paar Monaten war Tante Barbara nach Stuttgart gekommen, um ihre Familie zum ersten Mal zu besuchen, seit sie vor 18 Jahren nach Abilene in Texas ausgewandert war. Laura war gerade 15, als sie Tante Barbara kennenlernte, die den liebenswerten, aber zurückhaltenden Teenager sofort in ihr Herz schloss. Laura war so interessiert und begeistert von Barbaras Erzählungen über Amerika und wich ihr nicht von der Seite, während diese eine Geschichte nach der anderen über ihr Leben in Texas erzählte.

Während ihres Aufenthalts blieb es Barbara nicht verborgen, dass ihre Schwägerin Hildegard ständig neue, willkürliche und scheinbar unwichtige Aufgaben für den Teenager fand; als ob es sie ärgere, dass sich eine so nette Verbindung zwischen Barbara und dem Mädchen entwickelte. Die Tante war fasziniert von dem großen Mädchen mit hellbraunem, vollem Haar, das sehr einfache, sogar fast altmodische Kleider trug, nicht wie die meisten Teenager in der Mitte der 70-er Jahre.

In Lauras tiefblauen Augen spiegelte sich eine mysteriöse Traurigkeit wider. Barbara fragte sich, welche Art von Schmerz sich in der Tiefe dieser Augen versteckt hielt. Als sich ihr Besuch dem Ende neigte, bat Barbara ihren Bruder und ihre Schwägerin um Erlaubnis, dass Laura sie und ihren Mann Wayne im kommenden Jahr in Amerika besuchen dürfe. Nachdem alle Details besprochen waren, einigten sich die Erwachsenen darauf, dass Laura einen Monat nach ihrem Realschul-Abschluss nach Abilene zu ihrer Tante reisen würde.

Papa

Alles begann am 29. November 1974.

Laura war nach der großen Pause gerade wieder im Klassenzimmer angelangt. Die Schüler der 8. Klasse der Realschule Sillenbuch liefen hektisch hin und her, um wieder auf ihre Stühle zu kommen, bevor ihr Mathematiklehrer Herr Kautter ins Klassenzimmer zurückkommen würde. Anstatt Herr Kautter betrat aber überraschenderweise der Rektor das Zimmer und forderte Laura auf, ihn ins Rektorat zu begleiten. Alle Schüler erstarrten und es herrschte plötzlich Totenstille. Was hatte ihre Klassenkameradin getan, um ins Rektorat gerufen zu werden? Das war ganz bestimmt keine gute Nachricht.

Der Rektor forderte Laura auf, ihren Ranzen gleich mitzunehmen. Laura war über den Grund seines Erscheinens verwundert. Als sie das Rektorat betrat, konnte sie kaum atmen, da sie ein unheimliches Gefühl verspürte, dass etwas fürchterlich Schlimmes passiert sei. Mit sehr ernstem Blick und Falten auf der Stirn wies der Rektor Laura an, unverzüglich nachhause zu gehen, da es in ihrer Familie einen Notfall gebe. Sofort erinnerte sie sich an das laute, fast tierische Stöhnen ihres Papas, das sie in den frühen Morgenstunden aufgeweckt hatte. Sie war dann aber irgendwann einfach wieder eingeschlafen. Als sie sich für die Schule vorbereitete, erzählte ihre Mutter von den furchtbaren Kopfschmerzen, unter denen ihr Papa während der Nacht gelitten hatte und dass er deswegen nicht zur Arbeit gegangen war.

Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass er sich jemals vorher krankgemeldet hatte und dachte sich, die Schmerzen mussten daher sehr heftig gewesen sein. Irgendwie hatte sie jetzt das Gefühl, dass genau diese Schmerzen etwas mit dem Notfall zu tun hatten, von dem der Rektor sprach. Sie wartete an der U-Bahn-Haltestelle auf die U5, die sie nach Heumaden bringen würde, wo sie mit ihrer Familie seit vier Jahren wohnte. Es regnete die ganze Zeit während ihres Heimwegs. Die Fahrt mit der U-Bahn und der Fußweg zu ihrem Wohnhaus schien ewig zu dauern.

Was konnte Papa nur passiert sein? Als sie im dritten Stock ihres Hauses ankam, läutete sie an der Türklingel. Sie stand mit ihrem Ranzen in einer und ihrem Schirm in der anderen Hand und konnte kaum atmen, bis sich die Türe öffnete und ihre Oma vor ihr stand. Warum war Oma hier? Und nicht nur das, sondern warum zeigte sich auf Omas blassem Gesicht ein entsetzter, schmerzerfüllter Blick und rote, geschwollene Augen? Bevor sie etwas fragen konnte, verkündete ihre Oma „Dein Papa ist gestorben.“

Die Worte erreichten sie, als wären sie durch eine Wand aus Nebel gesprochen worden. Da sie nicht wahrhaben wollte, was sie gerade hörte, schrie Laura zurück „Was?“

Ihre Oma wiederholte noch einmal „Dein Papa ist gestorben.“

Sie hatte das Gefühl, durch diese Worte ohnmächtig zu werden, lies ihren Ranzen und Schirm fallen und sank mit einem herzzerbrechenden Schrei auf ihre Knie. Sie konnte einfach nicht aus diesem Albtraum erwachen, in dem sie sich scheinbar befand, und hoffte, dass ihr Schreien sie wachrütteln und sie in ihre intakte, heile Welt zurückholen würde. Dann kamen ihre Mutter und ihr Großvater in den Flur beiden war der Schmerz tief ins Gesicht geschrieben. Auch ihre Augen waren rot und geschwollenen, genau wie die ihrer Oma.

Ein bedrohliches, unheimliches Gefühl überkam die 13-jährige, als sie die Wohnung betrat und Oma sie in die Arme nahm und wieder bitterlich zu weinen begann. Mutter und Opa waren währenddessen wieder ins Wohnzimmer gegangen. Sie waren nicht in der Lage, das Mädchen zu trösten, das immer wieder schrie „Nein... Warum... Nein Papa... Verlasse mich nicht!“

Endlich gelang es ihrer Großmutter, mit herzzerbrechenden Worten zu erklären, dass ihr einziges Kind Eugen, Lauras Papa, langsam vom Schlaf in den Tod übergegangen war, während seine Frau dachte, er sei nur endlich vor Erschöpfung eingeschlafen. Ihre Mutter forderte sie auf, ins Schlafzimmer zu gehen, wo ihr Vater noch in seinem Bett lag. Laura kniete sich langsam neben ihn nieder; es brach ihr das Herz, als sie seine leblose Hand nahm. Sein Gesicht hatte einen friedlichen Ausdruck; seine Haut war noch warm, als sie seine geliebte Hand hielt, von der sie ihr ganzes Leben so liebevoll berührt worden war.

Als kurz danach der Hausarzt kam, teilte er der Familie mit, dass der junge Mann mit gerade mal 45 Jahren einen massiven Schlaganfall erlitten hatte und gestorben war, nachdem er wahrscheinlich zuerst ohnmächtig wurde. „Wenigstens musste er nicht leiden“, versuchte er die Familie zu trösten.

In diesem Moment fiel Lauras ganze Welt zusammen. Die grauen Regenwolken kamen ihr jetzt noch dunkler vor.

Ihr Vater war derjenige, der sie wirklich liebte, ganz anders als ihre Mutter, die schon immer eine Vorliebe für Lauras Bruder zeigte. Solange sie sich zurückerinnern konnte, hatte sie sich nach derselben Zuneigung von ihrer Mutter gesehnt, die ihr Bruder genoss und konnte nicht verstehen, warum diese sie nicht genauso liebte.

Bis zum Alter von 10 Jahren hatte Laura bei ihren Großeltern gelebt, da die 2-Zimmer Wohnung ihrer Eltern zu klein war, vor allem nachdem ihr 3 1/2 Jahre jüngerer Bruder geboren wurde. Sie sah ihren Bruder immer nur freitags, wenn sie mit ihren Großeltern zum Kaffee trinken kam. Oma brachte jedes Mal selbstgebackenen Käsekuchen mit. Daher war Laura sehr glücklich, als die Eltern die Möglichkeit bekamen, eine 4-Zimmer Wohnung zu mieten und sie zu ihrer Familie ziehen konnte. Nicht sehr lange nachdem Laura erstmals bei ihren Eltern lebte, bemerkte sie aber, wie unterschiedlich die Gefühle und das Verhalten ihrer Mutter gegenüber ihr im Vergleich zu ihrem Bruder waren. Laura litt sehr darunter, dass ihre Mutter ihr keine Zuneigung schenkte. Sie versuchte alles, um ihrer Mutter gefällig zu sein und um genauso geliebt zu werden wie ihr Bruder. Wenn ihr Vater liebevoll mit Laura umging, wurde ihre Mutter meistens auf die enge Verbundenheit zwischen Tochter und Vater eifersüchtig, was oft in einem Streit zwischen den Eltern endete. Nach diesen Momenten spürte Laura die Rache ihrer Mutter, die diese auf sie richtete. Einmal hatten sich ihre Eltern gestritten und ihr Vater stürmte davon, wusste aber nicht, dass Lauras Mutter ihm direkt hinterherlief. Er schlug die Tür hinter sich zu; sie streckte ihre Hand aus, um sie noch zu ergreifen, aber die Tür erwischte ihre Hand und brach ihr den mittleren Finger. Laura fühlte sich so schrecklich und unmittelbar für die Verletzung ihrer Mutter verantwortlich. Aus Reue versuchte sie alles für ihre Mutter zu tun, um ihr zu helfen. Diese aber schaffte es, dem Mädchen auf gemeine Art und Weise die Schuld dafür zu geben, dass sie den Streit ausgelöst hatte. Sie bestrafte Laura auf raffinierte Weise dafür, die Zuneigung ihres Vaters zu erhalten.

Drei Jahre später kam Lauras Schwester Becky auf die Welt. Sie schien das Lieblingskind ihrer Mutter zu sein und Laura bemerkte nun einen noch größeren Unterschied im Vergleich zu ihren Geschwistern, in der Art wie sie behandelt wurde. Häufig, wenn Laura an ihren Hausaufgaben arbeitete, schien ihre Mutter ungeduldig und frustriert über Lauras Fehler in Mathematik oder über die Rechtschreibung und Grammatik in ihren Aufsätzen. Lauras dicker, langer Pferdeschwanz war der Lieblingsangriffspunkt ihrer Mutter, den diese festhielt, um Lauras Kopf zu schütteln und sie damit vom Stuhl auf den Boden zu ziehen. Während Laura unter Tränen noch die richtige Antwort zu geben versuchte, wurde sie am Pferdeschwanz auf dem Boden entlang gezerrt. Ihre Mutter hatte am Ende mehrere Haarsträhnen in der Hand, die sie Laura ausgerissen hatte und ihre Haarspangen gingen meistens zu Bruch. Sie musste ihre Aufsätze mehrfach neu schreiben, bis sie endlich akzeptabel waren. Die Mathematik war schon damals nicht ihr Freund und wurde es auch nie. Laura versuchte alles, um es ihrer Mutter recht zu machen, vor allem da sie sehr gerne Aufsätze schrieb. Vielleicht war es gerade diese kalte, herzlose Behandlung, die sie später dazu brachte, eine Liebe fürs Schreiben zu entwickeln.

Eugen kannte seine älteste Tochter sehr gut und spürte daher manchmal eine Traurigkeit in ihrem Herzen und fragte dann, ob alles zwischen ihr und ihrer Mutter in Ordnung sei. Laura, die die Missgunst ihrer Mutter spürte, verleugnete jegliche Probleme aus Angst, dass er seine Frau zur Rede stellen und sie dann noch mehr Vergeltung ausüben würde. Laura konnte ihn nie von den Misshandlungen wissen lassen, unter denen sie litt. Sie spürte einfach schon immer, dass ihre Mutter sie nicht liebte.

Jetzt war er tot; der einzige Mensch, bei dem sie Trost fand. Ihre Welt zerfiel in tausend Scherben, als sie um ihren Papa trauerte und sich in dieser Familie wie eine Fremde vorkam, die nicht dazu gehörte.

Der Brief

Laura saß in ihrem Zimmer an jenem Samstagmorgen im Frühling 1975, einige Monate nachdem ihr geliebter Papa gestorben war. Das Leben zuhause war traurig und leer geworden. Laura wünschte sich häufig, dass dieser Albtraum enden und sie einfach in ihrer früheren, heilen Welt aufwachen würde. Stattdessen erwachte sie jeden Tag mit der schmerzhaften Erkenntnis, welch große Leere der Tod ihres Vaters hinterlassen hatte. Ihr zehnjähriger Bruder Philipp und ihre dreijährige Schwester Becky schienen zu jung, um völlig erfassen zu können, welche gravierenden Veränderungen sich gerade in ihrem Leben abspielten. Sie passten sich irgendwie der neuen Situation an. Lauras Herz allerdings war erfüllt von großer Leere. Auch ihre Oma und ihr Opa schienen den Sinn in ihrem Leben verloren zu haben, seitdem ihr einziges Kind gestorben war. Der Glanz in ihren Augen war erloschen.

Plötzlich öffnete sich die Tür und ihre Mutter betrat den Raum. Mit dem seltsamen Versuch eines ungewohnten, freundlichen Lächelns übergab sie Laura einen mit Schreibmaschine geschriebenen Brief: „Du musst das lesen. Nimm dir Zeit, denk darüber nach und dann reden wir darüber.“

Das Mädchen nahm den Brief von ihrer Mutter, verwirrt von dessen offensichtlicher Wichtigkeit. Nachdem ihre Mutter das Zimmer verlassen hatte, öffnete sie den Brief langsam und las die getippten Zeilen.

Laura,

es ist schwierig, dir das Folgende zu erzählen, denn dein Vater und ich hatten geplant, damit bis zu deinem 18. Geburtstag zu warten. Da er uns nun verlassen hat, hat das Jugendamt mich gedrängt, dir zu erklären, dass ich nicht deine leibliche Mutter bin. Ich konnte den Mut nicht aufbringen, es dir persönlich zu sagen, daher dieser Brief. Dein Vater war bereits einmal verheiratet. Deine Eltern trennten sich, als du ein Jahr alt warst und ihr beide seid bei deinen Großeltern eingezogen. Er kämpfte erfolgreich um das Sorgerecht, als die beiden geschieden wurden. Damals warst du vier. Dein Vater und ich heirateten 1964, im gleichen Jahr als dein Bruder geboren wurde. Deshalb erinnerst du dich wohl nicht an deine leibliche Mutter, zu der du seit damals keinen Kontakt mehr hattest. Du weißt bestimmt noch, dass deine Großeltern sich weigerten, dich bei uns wohnen zu lassen, bis du zehn Jahre alt warst. Es war das Ergebnis des beständigen Drängens deines Vaters, der sich eine intakte Familie wünschte. Deine Großeltern, dein Vater und ich dachten, es wäre das Beste, wenn du davon nichts erfahren würdest, bis jetzt. Da ich dich niemals offiziell adoptiert habe, bin ich gezwungen, deiner leiblichen Mutter zum ersten Mal seit zehn Jahren zu erlauben, Kontakt mit dir aufzunehmen. Es ist deine Entscheidung, ob du weiterhin bei deinem Bruder, deiner Schwester und mir leben möchtest oder ob du zu deiner Mutter und ihrer neuen Familie ziehen willst. Deine Mutter ist verheiratet und hat einen Sohn, Michael, der sechs Jahre alt ist. Du musst dich nicht sofort entscheiden.

Ingrid

Die Zeilen verschwammen vor ihren Augen, als das Mädchen versuchte, die Nachricht, die ihr gerade offenbart worden war, zu verarbeiten. Zwei Gefühle kamen gleichzeitig in ihr auf: Verrat und Erleichterung.

Verrat, weil alle sie in ihrem Glauben gelassen hatten, diese Frau wäre ihre Mutter. Sie hatte so viele Jahre gelitten, weil sie nicht verstehen konnte, warum diese Frau sie nicht liebte. Erleichterung, weil sie endlich eine Erklärung dafür hatte, warum ihre Mutter sie nicht liebte und vermutlich niemals lieben konnte: Sie war ja nicht ihr eigen Fleisch und Blut. Plötzlich fiel ihr eine gewaltige Last von den Schultern; die, die sie immer weiter versuchen lies, die Liebe und Anerkennung einer Frau zu erlangen, die ihr niemals wirklich ihr Herz geöffnet hatte. Jetzt wusste sie endlich: Es war nicht ihre Schuld, dass ihre Stiefmutter sie nicht liebte.

Eine brennende Frage verdrängte jedoch ihre ersten Gedanken: Wer war diese Mutter, an die sie keinerlei Erinnerung hatte? Angestrengt durchforstete sie in Gedanken ihre Kindheit, doch sie fand nur liebevolle Erinnerungen an ihre Großeltern. In ihrem Kopf analysierte sie die Liste der ihr bekannten Verwandten und ordnete sie in verschiedene Kategorien ein. Plötzlich erinnerte sie sich an einen Vorfall: Sie war im Vorschulalter und spazierte mit ihrer Großmutter in der Nähe ihrer Wohnung im südlichen Teil von Stuttgart. Ihre Großmutter hatte sie an der Hand genommen und sie gingen den Bürgersteig entlang, als sie plötzlich zwei junge Frauen auf der anderen Straßenseite sahen, die in die entgegengesetzte Richtung liefen. Das Mädchen erkannte sie begeistert; es waren Tante Gerda und Tante Hildegard. Freudig wollte sie über die Straße laufen, wo Tante Hildegard schon ihre Arme ausstreckte und nach ihr rief. Doch sofort verstärkte sich der Griff ihrer Großmutter um ihre Hand. Sie hielt sie fest, beschleunigte ihre Schritte und zog sie barsch weiter. „Nein, da gehst du nicht hin.“

Als sie zurückschaute, nahm Laura die Enttäuschung und Empörung der beiden Tanten wahr, als sie niedergeschlagen weiterliefen.

War diese blonde Tante Hildegard ihre Mutter? Sie sah ihr im Gesicht sehr ähnlich und hatte dieselbe Haarfarbe, nicht so wie ihre schwarzhaarige Tante Gerda. Nachdem sie ihre Gedanken, Gefühle und Erinnerungen ein paar Minuten sortiert hatte, beschloss sie zu Ingrid zu gehen, um mehr Antworten auf all ihre Fragen zu bekommen. Als sie ihrer Stiefmutter gegenüberstand, war ihre erste Frage „Ist Tante Hildegard meine Mutter? Sie ist die einzige, die ich schon seit vielen Jahren nicht mehr gesehen habe.“

Ingrid antwortete „Ja, sie ist es. Du erinnerst dich an sie?“

Laura erzählte von ihrer kurzen und einzigen Erinnerung an ihre Mutter.

Wie Ingrid im Brief angekündigt hatte, schlugen Sozialarbeiter des Jugendamts ein Treffen zwischen dem Mädchen und ihrer leiblichen Mutter vor. Laura war aufgeregt und nervös, während sie auf den Tag wartete, an dem sie ihre Mutter kennen lernen würde.

Hildegard

Hildegard, ihr Mann Kurt und ihr Sohn Michael kamen zu einem Besuch, den alle als sehr unangenehm empfanden. Unangenehm, weil sich Ingrid nicht gerade von ihrer besten Gastgeber-Seite zeigte, da beide Frauen sichtlich noch Groll gegen einander aus der Vergangenheit empfanden. Laura wusste nicht, wie sie das übertrieben dramatische Verhalten ihrer Mutter Hildegard interpretieren sollte, die zum Ausdruck brachte, wie sehr sie die ganzen Jahre darunter gelitten hatte, keinen Kontakt mit ihrem Kind haben zu dürfen. Deshalb kam Laura der Gedanke, dass diese leibliche Mutter sie lieben musste – nicht so wie ihre Stiefmutter. Sie wünschte sich, die neue Familie besser kennen zu lernen, da sie sich immer nur nach einem sehnte: geliebt zu werden. Ingrid stimmte zu, Laura ihre Sommerferien mit Hildegard, Kurt und ihrem Bruder Michael verbringen zu lassen.

Während der Sommerferien war ihre neue Familie nett zu ihr und Laura fühlte sich als neues Familienmitglied willkommen. Als es Zeit war, wieder zu ihrer anderen Familie zurückzukehren, schlugen Hildegard und Kurt vor, dass sie vielleicht alle Ferien mit ihnen verbringen sollte und eventuell nach ihrem Realschulabschluss für immer zu ihnen kommen könnte. Um die freudige Nachricht mitzuteilen, rief sie ihre Stiefmutter an. Noch bevor Laura ihren Vorschlag machen konnte, wurde sie von Ingrid energisch unterbrochen.

„Ich weiß, was du sagen wirst. Du möchtest dortbleiben. Das ist mir auch recht. Jetzt will ich dich auch nicht mehr. Du kannst dortbleiben. Ihr könnt nächstes Wochenende kommen und deine Sachen abholen. Ich werde alles gepackt haben.“

Laura war schockiert. Diese Reaktion hatte sie auf jeden Fall nicht erwartet und sie wusste nicht, was sie sagen sollte. „Nein, deshalb habe ich nicht angerufen“ sagte sie vorsichtig.

Wieder wurde sie von ihrer Stiefmutter unterbrochen, die nur wiederholte, was sie gerade gesagt hatte. Immer noch sprachlos, gab sie Hildegard das Telefon, die neben ihr stand und alles mitbekommen hatte. Das Gespräch endete plötzlich mit Ingrids Anweisungen, wann die Sachen des Mädchens abgeholt werden sollten. Sie gab ihnen keine Chance zu verhandeln.

Am nächsten Samstag fuhren sie zu Ingrids Wohnung, wo ihnen Lauras Habseligkeiten in einem großen Müllbeutel übergeben wurden. Laura durfte nicht einmal mehr in die Wohnung gehen, um sich von ihren Geschwistern zu verabschieden. „Es ist alles da“, wurde ihnen mitgeteilt. Sprachlos trugen sie den Sack zum Auto und machten sich auf den Heimweg. So begann Lauras neues Leben mit ihrer neuen Familie.

Bald wurde Laura jedoch klar, warum ihre Großeltern den Kontakt zu ihrer Mutter unbedingt verhindern wollten, nachdem sich ihr Vater von ihr hatte scheiden lassen. Obwohl Hildegard anfangs übertrieben nett war, schien sie nur ihren eigenen Geschwistern und Lauras Großeltern beweisen zu wollen, dass sie es doch nach all den Jahren verdiente, Mutter zu sein. Nach ein paar Monaten kritisierte sie ihre Tochter mehr und mehr und zeigte sich unfähig, Laura die Liebe zu geben, nach der sie sich so gesehnt hatte. Es schien, als ob sie das Mädchen für alle Ungerechtigkeiten büßen lassen wollte, die ihr das Leben ausgeteilt hatte; vor allem in ihrer Ehe mit dem Vater des Mädchens, der ihr das Sorgerecht weggenommen hatte. Je mehr sie die Ähnlichkeit des Mädchens mit ihrem Vater erkannte, desto mehr Geschichten erzählte sie von schlimmen Dingen, die er ihr damals angeblich angetan hatte. Es kam Laura so vor, als ob ihre Mutter die ihr so traute Erinnerung an ihren Vater zerstören wollte. Dauernd demütigte und würdigte sie ihre Tochter herab. Auch begrenzte sie ihren Ausgang und ihre Freiheit als Teenager sehr. Sie gab ihr zahlreiche Aufgaben und behandelte sie fast wie ein Hausmädchen. Hildegard schien es weder wahrzunehmen, wie sehr sich das Mädchen Mühe machte, ihr gefällig zu sein, noch erhielt Laura jemals ein Lob für ihre Anstrengungen. Sie warf ihr oft vor zu lügen. Generell vertraute sie ihr nicht, ohne ihr überhaupt eine Chance zu geben, sich als vertrauenswürdig beweisen zu können. Oft gelang es ihr, im Wege zu stehen, wenn Verwandte dem Mädchen Zuneigung zeigten, als ob sie eifersüchtig darauf wäre, dass andere das Mädchen liebhatten. Verzweifelt suchte Laura die Bestätigung ihrer Mutter, aber immer ohne Erfolg. Ähnlich wie bei ihrer Stiefmutter wurde ihr die Liebe verweigert, die ihrem Bruder zuteilwurde. Bald war ihre Seele verwundet und die Traurigkeit, die ihre Tante Barbara später erkannte, zeigte sich in ihren blauen Augen. Die Mutterliebe, die sie so verzweifelt suchte, blieb ihr verweigert.

Nachdem Laura ungefähr ein Jahr bei ihrer neuen Familie wohnte, wurde Hildegard sehr krank. Sie litt an einer Nierenentzündung, die sehr hohes Fieber verursachte und sie so schwächte, dass sie mehr als eine Woche bettlägerig war. Laura kümmerte sich während dieser Zeit sehr liebevoll um sie. Sie badete sie, fütterte sie, kleidete sie und gab ihr ihre Medikamente. Sie versorgte den Haushalt genauso, wie es ihre Mutter getan hätte. Zusätzlich kümmerte sie sich auch um ihren Bruder. Kurt war dankbar, als er die Hingabe sah, mit der das junge Mädchen den Platz ihrer Mutter zuhause einnahm. Wie es die Gewohnheit ihrer Mutter war, jeden Freitag einen Kuchen zu backen, so backte Laura auch einen Kuchen, damit die Familie weiter ihre normale Routine behalten konnte. Kurt war sehr zufrieden mit seiner Stieftochter und das Mädchen genoss seine Anerkennung.

Solange Hildegard an ihr Bett gebunden war, war der siebenjährige Michael nicht sonderlich um seine Mutter besorgt. Obwohl er wusste, dass sie krank war, fragte er nie nach ihr und besuchte sie auch nicht an ihrem Krankenbett. Sie fragte oft im Delirium ihres Fiebers nach Michael und jammerte, wie sehr sie es vermisste, ihren kleinen Jungen zu sehen. Sie rief nach ihm, dass er zu ihr ans Bett kommen solle, aber er zeigte kein Interesse. Stattdessen war es Laura, die ständig an ihrem Bett war, um sich um alle ihre Bedürfnisse zu kümmern. Ihre Mutter widmete dem Mädchen jedoch keine Aufmerksamkeit.

Als Hildegard wieder gesund wurde und ihr Zimmer verlassen konnte, ging sie sofort zu ihrem Sohn, um ihn zu liebkosen und ihm wiederholt zu beteuern, wie sehr sie ihn vermisst hatte. Sie fragte ihn, warum er sie nicht besuchte, als sie krank war, weil sie deswegen sehr verletzt sei. Wie man es von einem siebenjährigen Kind erwarten würde, konnte er es nicht erklären. Ihre Mutter erwähnte aber nichts von dem Kuchen, den Laura so liebevoll gebacken hatte oder von der hingebungsvollen Pflege, die sie von ihrer Tochter erhalten hatte. Wieder wartete Laura auf eine Bestätigung, die jedoch nie erfolgte. Obwohl es ihr damals das Herz brach, wurde vielleicht der Grundstein gelegt, aus dem sich eines Tages eine Betreuerin entwickeln würde, eine liebevolle Krankenpflegerin, die es sich zur Aufgabe macht, für den Rest ihres Lebens Kranke zu pflegen. Ihr Beruf würde ihr Anerkennung und die Dankbarkeit ihrer Patienten geben, die sie von ihrer Mutter nie erhalten hatte.

Während ihres letzten Halbjahres in der Realschule war sie schon ganz aufgeregt über die Amerikareise, die sie nach dem Ende ihrer Schulzeit antreten würde. Dadurch könnte sie endlich der seelischen Misshandlung ihrer Mutter entkommen.

Laura schloss die Realschule mit einem recht zufriedenstellenden Zeugnis ab; vorwiegend 2-er und nur wenige 3-er. Ihr größter Stolz war die 2, die sie in Biologie bekam, denn dies war eines ihrer schwierigsten Fächer. Voller Aufregung brachte sie am letzten Schultag ihr Zeugnis nachhause. „Schau Mama, mein Zeugnis! Und ich habe sogar eine 2 in Biologie!“ Sie hoffte, ihre Mutter würde zufrieden sein. Die Antwort ihrer Mutter enttäuschte sie aber maßlos! “Wirklich? Bist du sicher, dass du nicht geschummelt hast, um diese Note zu bekommen?“

Völlig niedergeschlagen und mit Tränen in den Augen drehte sie sich um und ging in ihr Zimmer. Sie war eben nie gut genug für ihre Mutter.

Hildegard hatte eine vorübergehende Arbeitsstelle im neuen örtlichen Hallenbad angenommen, welches bald eröffnet werden sollte. Sie würde zu einer Gruppe von Frauen gehören, die das Hallenbad nach Vollendung des Baus putzen würden. Obwohl Laura eigentlich noch zu jung war, um offiziell angestellt und bezahlt zu werden, musste sie doch jeden Tag mitkommen, da ihre Mutter ihr nicht vertraute und sie nicht alleine zu Hause lassen wollte. Das Mädchen arbeitete genauso fleißig wie ihre Mutter, bekam aber nicht einmal einen kleinen Teil vom Lohn ihrer Mutter als Taschengeld.

Dort lernten Laura einen jungen Elektriker namens Markus kennen, der Stromleitungen im Hallenbad verlegte. Hildegard und auch Laura war der junge Mann sofort sympathisch. Sie plauderten jeden Tag mit ihm, wenn es die Arbeit zuließ. Laura gefiel seine ehrliche, nette Art und die aufrichtigen blauen Augen des 20-jährigen Mannes. Als ihre Arbeit beendet war und die Eröffnung bald stattfinden sollte, fragte Markus die Mutter, ob er Laura irgendwann auf ein Eis oder etwas Ähnliches ausführen dürfe. Da Hildegard dem jungen Mann schon längst ihr Vertrauen geschenkt hatte, stimmte sie zu und sie tauschten Telefonnummern aus.

Nicht lange danach rief Markus an und verabredete sich mit Laura. Sie war aufgeregt. Ihre Mutter hatte ihr noch nie erlaubt, mit ihren Freunden außerhalb der Schulzeit weg zu gehen und schon gar nicht mit Jungs. Laura war sehr überrascht über die Großzügigkeit, die ihre Mutter Markus gegenüber zeigte. Das Pärchen ging in eine Pizzeria im naheliegenden Schwieberdingen, wo Markus noch bei seinen Eltern wohnte. Diese mochten das junge Mädchen sofort und waren sehr freundlich zu ihr. An jedem Wochenende, das sie zusammen verbrachten, blühte sie in seiner und der Gesellschaft seiner Eltern und Freunde richtig auf. Bald lebte sie nur noch für die Wochenenden, an denen sie Markus treffen konnte und weg von Zuhause war, wo sie sich nicht mehr als anerkanntes Familienmitglied fühlte. Jedes Mal, wenn ihre Eltern ohne sie das Haus verließen, wurden alle Türen in der Wohnung abgeschlossen. Für Laura bestätigte das nur, für wie unehrlich sie gehalten wurde.

Markus und Laura kannten sich nun über ein Jahr und Markus hatte sich schon längst in sie verliebt. Als Zeichen dafür schenkte er ihr einen silbernen Freundschaftsring und trug selbst einen dazu passenden Ring. Laura trug ihren nur, wenn sie zusammen waren, um ihn vor ihrer Mutter zu verstecken, die ihn ihr bestimmt weggenommen hätte. Laura hatte strenge Ausgangszeiten. Obwohl sie 16 war und schon im letzten Jahr die Realschule besuchte, musste sie samstags um 22 Uhr und sonntags um 19 Uhr zuhause sein. Manchmal, wenn sie mit Markus zu einem Tanz oder einer anderen Veranstaltung ging, fragte sie ihre Mutter, ob sie ein bisschen länger bleiben dürfe. Gelegentlich erlaubte es ihre Mutter. Eines Sonntags verweigerte sie prompt Lauras Bitte und befahl ihr stattdessen, sofort heim zu kommen. Als sie Zuhause ankam, wurde sie von ihrer Mutter mit Schreien und Brüllen empfangen. „Was fällt dir eigentlich ein, noch länger wegbleiben zu wollen? Warst du jetzt dieses Wochenende nicht lange genug fort? Was hast du denn gemacht, wozu du noch mehr Zeit brauchst? Hast du denn noch nicht genug? Schämst du dich nicht, dich Gott weiß wo herum zu treiben?“

Sie schubste Laura herum, packte sie an ihrem Pullover und stieß sie in ihr Zimmer. „Was hast du und Markus überhaupt getrieben? Bist du immer noch sauber?“

Laura verstand nicht, was ihre Mutter damit meinte. Was sollte „sauber“ bedeuten?

„Bist du noch sauber und unberührt?“ fragte ihr Mutter weiter.

Laura war entsetzt. Anscheinend redete ihre Mutter von ihrer Unschuld. Sie hatte bisher viel zu sehr Angst gehabt, um sexuelle Abenteuer einzugehen. Es war ihr fernster Gedanke und hatte bisher noch keine Bedeutung in ihrer Beziehung mit Markus. Außerdem hatte sie sich nicht herumgetrieben, sondern einfach Zeit mit anderen anständigen jungen Leuten verbracht, die ihre gemeinsamen Freunde waren. Offenbar hielt ihre Mutter sie für unehrenhaft. Eine Tochter, für die sie sich schämte.

„Ja natürlich bin ich noch sauber!“ antwortete sie, und verstand auf einmal, dass ihre Mutter die Intimität zwischen einer Frau und einem Mann als etwas Schmutziges empfand.