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Dr. Beatrice Helmer saß zusammen mit ihren Kollegen der chirurgischen Abteilung in einem kleinen, mit dichten Vorhängen abgedunkelten Raum. Das milchig weiße Licht eines großen Leuchtkastens ergoss sich über die Köpfe der Ärzte. Es war still. So still, dass man einschlafen konnte, wenn man nicht aufpasste. Und selbst die unbequemen wackligen Plastikstühle, auf denen die Chirurgen so dicht nebeneinander saßen, dass sie sich beinahe an den Schultern berührten, konnten daran nichts ändern. Sie waren zur täglichen Besprechung der Röntgenbilder zusammengekommen. Röntgenvisite – allein das Wort provozierte ein Gähnen.

Beatrice streckte ihre Beine aus und versuchte eine bequemere Sitzposition zu finden. Es war bereits nach fünf Uhr. Offiziell hatte sie seit über einer halben Stunde Feierabend. Sie war müde, sie war erschöpft, ihre Beine taten weh, und Rückenschmerzen hatte sie auch. Auf der chirurgischen Notaufnahme war heute wieder einmal viel los gewesen. Seit sieben Uhr morgens war sie zwischen Betten, Liegen und Untersuchungsräumen hin und her gerannt, hatte Frakturen gerichtet, Bäuche abgetastet, Angehörige beruhigt und in unmöglichen Haltungen über Patienten gebeugt Platzwunden genäht. Solche Tage sind für jeden Arzt anstrengend. Aber sie war mittlerweile in der dreißigsten Woche schwanger. Obwohl sie es oft nicht zugeben wollte – nicht einmal vor sich selbst -, forderte die Schwangerschaft doch zunehmend ihren Tribut. Sie war einfach nicht mehr so belastbar. Kreuzschmerzen, dicke Füße. Und diese Fressattacken...

Beatrice unterdrückte ein Gähnen. Sie wollte endlich nach Hause, sich auf ihr Sofa setzen, ein bisschen fernsehen und dann ins Bett gehen. Stattdessen saß sie hier und sah sich Röntgenbilder an, die sie überhaupt nicht interessierten. Die Röntgenvisite verzögerte nicht nur den wohlverdienten Feierabend, auch für jene Kollegen, die anschließend noch ihren Nachtdienst antreten mussten, war sie ein Ärgernis, eine lähmende Unterbrechung des Tagesablaufs. Anschließend brauchte es mehr als eine Tasse starken Kaffee, um wieder wach zu werden und sich auf die Arbeit konzentrieren zu können.

Unter den fast zwei Dutzend anwesenden Ärzten gab es wohl nur einen, der diese Veranstaltung zu genießen schien – der Radiologe selbst. Der kleine rundliche Mann mit dem schütteren grauen Haarkranz und der großen Brille behandelte die Röntgenbilder, als wären es Kunstwerke von unschätzbarem Wert. Sorgfältig und behutsam hängte er eins nach dem anderen auf, wartete geduldig auf die dazugehörige Patientengeschichte, um dann eine detaillierte, langatmige Schilderung des Befunds zu liefern. Immer wieder hob er die Feinheiten und die Details der Aufnahmetechnik hervor. Und wenn eine Aufnahme besonders gelungen war oder er gar Bilder vom neuen Magnetresonanztomographen zeigen durfte, geriet der kleine Mann regelrecht in Ekstase. Dann begannen seine Augen hinter den dicken Brillengläsern zu funkeln, der Drehstuhl drehte sich ausgelassen von rechts nach links, und seine sonst eher träge Stimme überschlug sich vor Begeisterung über die Fortschritte der Medizin. Leider stand er mit dieser Begeisterung allein. Die Chirurgen hatten kein Interesse an den raffinierten technischen Details, und der Blick für die Ästhetik der Radiologie fehlte ihnen ganz. Sie waren mit einfachen, knappen Antworten zufrieden. Sie wollten Aussagen, die ihnen zum Beispiel die Entscheidung erleichtern konnten, ob ein Patient operiert werden sollte oder nicht. Für umständliche Erklärungen der »Fotografen« hatten sie keine Zeit. In den Augen der Radiologen waren Chirurgen dagegen nichts anderes als grobschlächtige, ungebildete Handwerker, Nachfahren der mittelalterlichen Bader, denen das Gefühl für die wesentlichen und wichtigen Inhalte der Medizin fehlte. Allerdings war die Meinung der Chirurgen über ihre Kollegen aus der radiologischen Abteilung ebenso wenig schmeichelhaft.

Doch selbst die längste Röntgenvisite hat irgendwann ein Ende. Der Radiologe war fertig und befreite die Chirurgen mit einem »Ich wünsche noch einen ruhigen Abend!« von dieser lästigen, ungeliebten Pflichtveranstaltung.

Schwerfällig erhob sich Beatrice. Sie hatte das Gefühl, als hätte ihr jemand Bleikugeln an die Beine gebunden.

»Endlich vorbei!«, sagte sie zu Frank, der neben ihr gesessen hatte. Er war Student im praktischen Jahr und arbeitete seit Anfang der Woche auf der Notaufnahme.

»Ach«, erwiderte er mit einer Stimme, die gut zu seinem langsamen Gang passte, »so schlimm war das nicht. Der MR-Befund vom Knie des Fußballspielers war doch sehr interessant.«

»Findest du?«, fragte Beatrice und strich sich müde das Haar aus dem Gesicht. »Ich kann mich nicht erinnern, dass überhaupt ein Befund erhoben wurde.«

»Doch, doch, da war eine leichte Signalanhebung im Bereich des rechten Meniskus-Vorderhorns und...«

»Schön und gut«, unterbrach Beatrice den Vortrag, bevor Frank zu weit ausholen konnte. Jeder PJler, wie die Studenten im praktischen Jahr genannt werden, musste vier Monate in der inneren Medizin, vier Monate in der Chirurgie und vier Monate in einer Fachrichtung seiner Wahl arbeiten, bevor er die letzte Prüfung, das dritte Staatsexamen, ablegen konnte. Beatrice wusste, dass Frank sich für die Radiologie entschieden hatte. Daher auch die Begeisterung für den Bilderreigen. Natürlich verteidigte er sein Wahlfach, und sicherlich wusste er mehr über alle Untersuchungsmethoden, als sie jemals wissen würde. Aber unter gar keinen Umständen konnte sie noch mehr radiologische Details vertragen; nicht jetzt, nicht so kurz nach der Röntgenvisite. »Aber hat uns die Kernspintomographie vom Knie wirklich einen Vorteil gebracht? Ich bin nicht der Ansicht. Um zu erfahren, ob ein Meniskusschaden vorliegt oder nicht, wird der junge Mann nun doch arthroskopiert werden müssen.«

»Aber es wäre ja möglich gewesen, dass sie einen eindeutigen Befund ergeben hätte«, widersprach Frank.

»Natürlich, möglich ist alles«, sagte Beatrice. »Meiner Erfahrung nach kann man jedoch nur dann einen eindeutigen Befund im Kernspin erwarten, wenn der Meniskus gerissen oder überhaupt kein Schaden da ist. Dann liegen aber auch entsprechende klinische Zeichen vor, die eigentlich jedem Dummkopf bei der körperlichen Untersuchung des Patienten auffallen müssten. Wenn alle Ärzte die körperliche Untersuchung und die ausführliche Anamnese richtig einsetzen würden, ließen sich viele kostspielige Untersuchungen vermeiden, und unser kollabierendes Gesundheitssystem wäre aus dem Schneider.«

»Aha. Stammt diese Weisheit von dir?«, fragte Frank und blinzelte träge. Für einen Moment glaubte Beatrice leichten Spott gehört zu haben.

»Nein, von Professor Linhardt. Leider ist er mittlerweile emeritiert. Er war...« Sie brach ab, schüttelte gereizt den Kopf und seufzte. Wozu redete sie überhaupt? Frank gehörte ohne Zweifel zu den Studenten, die sich nicht mehr vorstellen konnten, dass eine medizinische Versorgung ohne Apparate und Labor möglich war, dass ein Arzt allein mit seinen fünf Sinnen fast jede Krankheit diagnostizieren konnte. Und diese Einstellung, würde er vermutlich auch als Arzt nicht ablegen, es sei denn, es verschlug ihn aus unerfindlichen Gründen in den Dschungel oder in die Wüste – oder in das Mittelalter...

Beatrices Gedanken wanderten automatisch zu Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina, jenem berühmten arabischen Arzt aus dem Mittelalter, der später nur Avicenna genannt wurde. Sie hatte sich im Laufe der letzten Monate eingehend mit seinem Leben und Werk beschäftigt. Ali al-Hussein hatte zu seiner Zeit keine modernen diagnostischen Hilfen zur Verfügung gehabt. Dennoch war er ein exzellenter Arzt gewesen, der die medizinische Entwicklung im Mittelalter entscheidend beeinflusst hatte. Sie bewunderte und verehrte ihn dafür. Doch wenn sie an ihn dachte, sah sie ihn nicht als den älteren, erhabenen Mann vor sich, als der er auf zeitgenössischen Bildern dargestellt wurde. In ihrer Vorstellung war er jung, getrieben von dem Ehrgeiz, das zu erreichen, was er später auch tatsächlich geschafft hatte – der berühmteste Arzt des arabischen Raums zu werden. Ali al-Hussein... Die Gedanken an ihn taten weh. Beatrice schüttelte sich, um sein Bild aus ihrem Kopf zu vertreiben.

Es wird Zeit, dass ich nach Hause komme, dachte sie.

Doch als sie endlich auf der Notaufnahme war, standen schon Heinrich und vier Schwestern bereit, als ob sie auf etwas warten würden. Sie trugen Handschuhe und Schürzen aus dünner Plastikfolie über ihrer weißen Kleidung. Von einem Augenblick zum anderen löste sich Beatrices Vorfreude über den baldigen Feierabend in Nichts auf. Sie warf einen verzweifelten Blick auf das rote Telefon, das unübersehbar wie ein riesiger Blutfleck an der Wand klebte. Wenn dieser Apparat klingelte, wurden Notarztwagen angekündigt. Und die brachten meist Schwerverletzte – Unfallopfer, Schussverletzungen, lebensbedrohliche Stichwunden...

»Na endlich!«, rief Heinrich sichtlich erleichtert, als er Beatrice und Frank um die Ecke biegen sah. »Ich dachte schon, ihr kommt heute gar nicht mehr.«

»Was ist los?«, fragte Beatrice.

»Zehn Aufnahmen allein in der letzten halben Stunde, und vor fünf Minuten wurden noch zwei NRWs angekündigt«, erklärte Heinrich kurz. »Wäre schön, wenn ich auf euch zählen könnte.«

Beatrice stöhnte und schob den Gedanken an einen baldigen Feierabend weit von sich. Natürlich tobte immer dann das Chaos, wenn ohnehin nur ein Kollege auf der Station war.

Doch bevor sie etwas sagen konnte, meldete sich Frank zu Wort. »Es tut mir leid, Heinrich, aber ich habe noch einen dringenden Termin.« Er warf einen bedauernden Blick auf seine Armbanduhr. »Ich müsste eigentlich schon seit einer Viertelstunde weg sein. Um halb sieben werde ich in Altona erwartet.«

Er drehte sich um und ging fröhlich pfeifend so rasch Richtung Umkleideraum, wie man es seinem massigen, trägen Körper kaum zugetraut hätte. Plötzlich wusste Beatrice, weshalb sie Frank nicht mochte. Natürlich waren die ersten Tage immer etwas schwierig, es dauerte eben, bis man sich eingewöhnt hatte. Doch so lange Beatrice zurückdenken konnte, erinnerte sie sich an keinen Studenten, der so oft auf dem abgewetzten Ledersofa des Aufenthaltsraums gesessen, Kaffee getrunken und Kekse gegessen hatte wie Frank. Dabei verzichtete er jedoch keineswegs auf kluge Kommentare und Ratschläge. Vermutlich würde er die Zeit auf der Notaufnahme absitzen, ohne jemals wirklich zu arbeiten.

»Das ist doch die Höhe!«, stieß Heinrich aus und lief vor Zorn dunkelrot an. »Was bildet sich dieser Kerl ein? Den hole ich zurück. So leicht kommt der mir nicht davon.«

Doch Beatrice legte Heinrich eine Hand auf den Arm. »Lass ihn. Es ist die Sache nicht wert. Wir können jetzt wirklich niemanden gebrauchen, dessen Arbeit wir auch noch kontrollieren müssen. Hoffen wir, dass der Nachtdienst bald erscheint.«

»Zum Glück ist seine Zeit auf der Chirurgie bald um!«, zischte Heinrich wütend. »Nur schade, dass wir keine Beurteilung schreiben dürfen, die in die Abschlussnote einbezogen wird. Ich wüsste schon, was ich zu schreiben hätte.«

Beatrice unterdrückte ein Lächeln. Kein Wunder, dass Heinrich so wütend war. Er war das genaue Gegenteil von Frank. Niemals wäre es ihm in den Sinn gekommen, in einer solchen Situation einfach nach Hause zu gehen und die Kollegen mit ihrer Arbeit im Stich zu lassen. Sogar als er selbst noch Pjler war, war er oft länger geblieben oder freiwillig früher gekommen, um zu helfen – und zu lernen. Und jetzt als Arzt im Praktikum arbeitete er, als bekäme er ein doppeltes Oberarztgehalt und nicht den Hungerlohn von weniger als tausend Euro im Monat, mit dem alle AiPler abgespeist wurden. Heinrich war so fleißig, dass Beatrice sich manchmal schämte. Im Vergleich zu ihm war sie faul und träge.

»Vergiss es. Dann sind wir eben nur zu zweit«, sagte Beatrice achselzuckend und zog sich ebenfalls eine Plastikschürze und Handschuhe an. »Hast du schon die Anästhesisten verständigt?«

Heinrich nickte.

»Gut. Was liegt an? Was können wir erwarten?«

»Am Hauptbahnhof hat sich ein Mann vermutlich in suizidaler Absicht vor die U-Bahn geworfen. Einer der wartenden Fahrgäste wollte Erste Hilfe leisten. Leider kam er dabei mit der Hochspannungsleitung in Berührung, bevor die von der Hochbahn abgeschaltet werden konnte.«

»Großer Gott!« Beatrice strich sich das Haar aus dem Gesicht. »Ein Polytrauma und schwere Brandverletzungen. Warum kriegen wir denn beide? Es gibt doch noch andere Krankenhäuser außer uns.«

Heinrich zuckte mit den Schultern. »Vielleicht weil wir die nächsten sind und ein Verbrennungsbett haben. Außerdem sind andere Krankenhausleitungen schlauer. Bei Personalmangel schließen die ihre Aufnahmestationen rechtzeitig.«

Beatrice nickte. Ja, das war ein Problem, das sie untereinander immer wieder beklagten. Gern hätten sie es der Krankenhausleitung gegenüber angesprochen, aber die Chirurgen nahmen so gut wie nie an den Personalversammlungen teil. Ebenso wie den Internisten fehlte ihnen einfach die Zeit dafür. Auch im Betriebsrat waren sie nicht vertreten. Dort saßen von ärztlicher Seite nur Radiologen, Labormediziner und Pathologen.

»Du hast noch von zehn weiteren Aufnahmen gesprochen. Was ist mit denen?«

»Die sind alle stabil, keine lebensbedrohlichen Verletzungen – Schürfwunden, zwei Knochenbrüche, die noch auf das Röntgen warten, einen Verdacht auf Appendizitis, eine Nierenkolik. Lediglich ein Patient macht mir ein bisschen Sorgen. Es handelt sich um einen siebzigjährigen Mann mit Fraktur der sechsten Rippe rechts nach Sturz. Er ist ziemlich aufgeregt und klagt über Atemnot. Laut Röntgenbild kann das nicht von dem Bruch herrühren, wenn man mal von den Schmerzen absieht. Es liegt kein Pneumothorax vor, und die Fraktur ist nicht disloziert. Aber seine Frau sagte, er sei herzkrank -Angina pectoris. Schwester Susanne schreibt gerade ein EKG, und jeden Augenblick müsste ein Internist zum Konsil hier auftauchen. Ich hoffe, dass die ihn danach übernehmen. Ansonsten ...« Er zuckte mit den Schultern und schwieg.

Auch Beatrice sagte nichts mehr. Plötzlich herrschte eine seltsame Stille in der Notaufnahme. Es war eine Stille, die zwar vor Anspannung knisterte, gleichzeitig jedoch wurde es ruhig. Die Welt schien fast meditativ ihre Aufmerksamkeit auf zwei Funktionen zu richten – Herzschlag und Atmung. Es war eine Atmosphäre, der sich niemand entziehen konnte, und Beatrice genoss es jedes Mal. Sogar die anderen Patienten sagten nichts mehr, und auf dem breiten Flur wurde nur noch geflüstert. Jeder hier versuchte sich auf das vorzubereiten, was gleich auf sie alle zukommen würde – die Hektik, der Stress beim Kampf um ein Leben, der schreckliche Anblick von Schwerstverletzten.

Beatrice warf einen Blick auf die große Wanduhr, die direkt über dem roten Telefon hing. Der Weg vom Hamburger Hauptbahnhof zum Krankenhaus war nicht weit. Die beiden Notarztwagen müssten jeden Augenblick eintreffen. Und tatsächlich, genau in diesem Moment spiegelten sich in den Glastüren das blinkende Blaulicht eines heranfahrenden Notarztwagens und direkt dahinter noch ein zweites Licht. Die Schwestern öffneten die breiten Flügeltüren, um die Sanitäter und die Notärzte durchzulassen. Es regnete, und die feuchte Nachtluft wehte herein. In solchen Momenten war es nur schwer vorstellbar, dass es da draußen noch eine andere Welt gab. Eine normale Welt, in der Männer und Frauen in Restaurants oder ins Kino gingen, sich im Theater oder zu Hause mit der Familie vor dem Fernseher amüsierten. Normalität. Für Notfallärzte und Unfallchirurgen war dies gleichbedeutend mit der Suche nach dem Heiligen Gral. Viele hatten die Suche schon lange aufgegeben. Und für die anderen blieb er unerreichbar. Normal waren da eher Scheidungen, Alkohol, Einsamkeit. Beatrice schloss die Augen und atmete tief durch. Dann wurde die erste Trage hereingeschoben.

Eine Stunde später war es vorbei. Beatrice sank auf das abgewetzte Ledersofa im Aufenthaltsraum und nahm dankbar den Becher mit Kaffee entgegen, den Heinrich ihr reichte. Seit ihrer Schwangerschaft verzichtete sie zwar weitgehend darauf, dem Kind zuliebe, aber manchmal brauchte sie es, dieses schwarze Lebenselixier, um weiterexistieren zu können. Das Adrenalin hatte ihren Körper und Geist in Funktion gehalten und sie zu Hochleistung angetrieben. Jetzt, da der Spiegel des Stresshormons in ihrem Blutkreislauf zu sinken begann, blieben nur noch Erschöpfung und Müdigkeit. Eine Leere breitete sich im Innersten aus, keine Zufriedenheit, kein Stolz. Man hatte einfach seinen Job getan. Trotzdem beschäftigte sich ihr Geist immer noch mit dem Verletzten, ging jeden einzelnen Handgriff, jede Maßnahme der vergangenen Stunde durch. Hatte sie alles richtig gemacht? Hätte sie irgendetwas anders, vielleicht sogar besser machen können, um die Chancen des Patienten zu erhöhen? Beatrice sah die blutige Kleidung vor sich, die sie von dem Schwerverletzten heruntergeschnitten hatte, die zertrümmerten Knochen und zerquetschten Muskeln. Sie hatten zeitweise nicht gewusst, welche Gewebeteile wohin gehörten. Schließlich hatten sie die Knochenstücke in acht beschriftete sterile Plastiktütchen getan, damit man sie im OP wiederfand. Immer neue Blutkonserven hatten sie anhängen müssen, und schließlich war es Beatrice und dem Anästhesisten gemeinsam gelungen, den Mann zu stabilisieren. Jetzt wurde er operiert. Ein Bein musste amputiert werden. Ob das andere noch zu retten war, würde sich in den nächsten Tagen herausstellen – wenn er es denn überlebte.

Der andere Mann, sein unglücklicher Helfer, lag bereits auf der Intensivstation. Auf den ersten Blick schien er wenig verletzt. Die Brandwunden an den Eintritts-und Austrittsstellen des Stromflusses machten höchstens zehn Prozent der Körperfläche aus. Aber seine inneren Organe waren stark betroffen. Auf seinem Weg durch den Körper hatte der Strom eine Schneise ultrahocherhitzten Gewebebreis hinterlassen. Herzinfarkt, Lungenödem, Schock. Dreimal hatte er reanimiert werden müssen, da die elektrische Hochspannung sein Herz stark in Mitleidenschaft gezogen hatte. Auch hier hatte das eingespielte Team aus Ärzten und Schwestern, Chirurgen und Anästhesisten exzellente Arbeit geleistet. Und auch hier war der Ausgang unklar.

Heinrich ließ sich in die andere Ecke des Sofas fallen und zündete sich eine Zigarette an. Er inhalierte tief und blies den Rauch zur Decke. Der AiPler war nicht einmal dreißig Jahre alt, doch im Augenblick sah er aus wie sein eigener Vater.

»Bist du okay?«, fragte Beatrice mitfühlend. Sie arbeitete schon seit sechs Jahren in der Chirurgie. Und obwohl ihr Situationen wie heute vertraut waren, hatte sie sich immer noch nicht daran gewöhnt. Diese Bilder verfolgten sie in ihren Träumen oder ließen sie gar nicht erst einschlafen. Richtig gewöhnen könnte man sich wohl daran nicht. Es war eine Gratwanderung zwischen Mitfühlen und Mitleiden. Und es war ein verdammt schmaler Grat. Heinrich hingegen war noch nicht so lange »im Geschäft«.

»Es geht schon«, antwortete er leise. »Aber ich weiß nicht, ob ich mich jemals...«

»Hallo, Leute! Was für ein interessanter Abend! Das bietet Stoff für mindestens drei Drehbücher.« Dr. Thomas Breitenreiter, der heute Nachtdienst hatte, ließ sich auf den Bürostuhl fallen. »Was machst du denn noch hier, Bea? Solltest du nicht schon längst zu Hause sein und deine venengestauten Beine hochlegen?«

Beatrice verdrehte die Augen. Das hatte ihr gerade noch gefehlt. Thomas war ein erstklassiger Chirurg – kompetent, begabt, manche hielten ihn sogar für begnadet. Er war so sehr mit der Chirurgie verwachsen, dass er niemals einen Dienst verschob, jederzeit für andere Kollegen einsprang und sogar seinen Urlaub in Krisengebieten und an Kriegsschauplätzen verbrachte. Während Heinrich und Beatrice die beiden Schwerverletzten behandelt hatten, hatte sich Thomas um alle anderen Patienten gekümmert und sich vermutlich dabei sogar wohlgefühlt. Je mehr Stress, umso mehr war er in seinem Element. Thomas hatte nur einen schwerwiegenden Fehler. Er konnte es einfach nicht lassen, zu lästern und andere mit seinen Sticheleien aufzuziehen. Und seit ihre Schwangerschaft unter den Kollegen bekannt geworden war, wurde Beatrice besonders häufig das Ziel seiner Spötteleien. Normalerweise gab sie ihm schlagfertige Antworten, aber jetzt hatte sie nicht mehr die Kraft dazu. Sie war viel zu müde.

»Würde es dir etwas ausmachen, wenigstens heute deine Kommentare für dich zu behalten?«

Thomas hob überrascht die Augenbrauen.

»Aber ich mache mir doch nur Sorgen um dich und dein Baby. Schließlich war das ein anstrengender Tag, der dich vielleicht überfordert hat. Außerdem müssen wir doch an den Mutterschutz denken.«

Beatrice hätte ihm eine runterhauen können. Seit Beginn ihrer Schwangerschaft hatte sie ohnehin ein schlechtes Gewissen, da sie laut Gesetz nicht mehr an den Nachtdiensten teilnehmen durfte und andere Kollegen deshalb umso mehr Dienste schieben mussten. Aber warum musste er auch noch darauf herumtrampeln?

»Thomas hat recht«, warf Heinrich ein, bevor Beatrice etwas entgegnen konnte. »Du hast schon längst Feierabend. Du bist schwanger. Im Eifer des Gefechts vergessen wir das manchmal. Du solltest jetzt wirklich nach Hause gehen.«

Beatrice lächelte müde. Heinrich war wenigstens ehrlich besorgt.

»Hör auf den Kollegen, Bea«, sagte Thomas. »Und hab keine Angst, wir kommen schon ohne dich zurecht. Wir müssen uns sowieso daran gewöhnen, dass du die nächsten drei Jahre ausfällst.«

Beatrice verzog das Gesicht. Thomas konnte es einfach nicht lassen. Dabei lechzte er wahrscheinlich bereits nach den zusätzlichen Diensten, die er machen konnte.

»Gut, wenn ihr mich los sein wollt, habt ihr selbst Schuld«, sagte sie, erhob sich und stellte ihre Tasse in die Spüle. Dort stapelte sich bereits das schmutzige Geschirr. Irgendjemand würde sich in dieser Nacht erbarmen müssen, damit die Notaufnahme nicht wegen Seuchengefahr geschlossen werden musste. »Angenehmen Dienst!«

Und ohne ein weiteres Wort verschwand sie im Umkleideraum.

Es war kurz nach halb acht, als Beatrice ihren Wagen parkte. Sie hatte eine geräumige Eigentumswohnung im dritten Stock eines Jugendstilbaus im Hamburger Stadtteil Winterhude. Die Straßen hier in diesem alten, nahe der Alster gelegenen Stadtteil waren schmal, die Häuser stammten zum größten Teil aus dem 19. Jahrhundert. Damals hatte noch niemand an Autos oder den Bau von Garagen gedacht, und Parkplätze waren eine Rarität, um die jeder Anwohner verbissen kämpfte. Wenn sie abends vom Dienst kam, musste Beatrice meistens ein paar Mal um den Block fahren, bevor sie ein oder zwei Straßen weiter endlich eine freie Parklücke entdeckte. Doch heute hatte sie nicht lange suchen müssen -direkt vor ihrem Hauseingang war ein freier Parkplatz, als wäre er extra für sie reserviert worden.

Vielleicht ist heute mein Glückstag und mir ist es nur noch nicht aufgefallen, dachte sie, nahm ihre Tasche vom Beifahrersitz und stieg aus.

Doch noch während sie den Wagen abschloss, fiel ihr Blick auf den beleuchteten Hauseingang. Dort oben auf dem Treppenabsatz stand ein Mann. Sie konnte zwar sein Gesicht nicht deutlich sehen, aber sie erkannte ihn an seiner Haltung.

Markus!, dachte sie panisch und überlegte, ob sie sich nicht einfach wieder in ihren Wagen setzen sollte. Vielleicht hatte er sie ja noch nicht gesehen... Doch es war zu spät. Er winkte ihr bereits zu.

Zögernd ging sie um ihr Auto herum, überquerte den schmalen Bürgersteig und stieg langsam die Stufen zum Hauseingang hinauf.

»Guten Abend, Beatrice!« Markus nahm ihre Hand und küsste sie auf beide Wangen. Er hatte oft geschäftlich in Frankreich zu tun und sich dort diese Begrüßung unter Freunden angewöhnt – eine Eigenart, die Beatrice nicht sonderlich schätzte. Es kam ihr oberflächlich und verlogen vor.

»Guten Abend. Waren wir etwa verabredet?« Beatrice runzelte die Stirn. Sie konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern. Dabei hatte sie eigentlich ein gutes Gedächtnis.

»Du brauchst kein schlechtes Gewissen zu haben. Ich warte noch nicht lange. Außerdem komme ich nur vorbei, um nach dem Rechten zu sehen. Ich wollte wissen, wie es dir geht.« Er fuhr sich durch sein helles, bereits schütteres Haar und trat verlegen von einem Bein aufs andere. »Doch wenn es dir nicht passt...«

»Aber nicht doch. Komm mit hinauf. Ich freue mich über deinen Besuch«, erwiderte Beatrice und ärgerte sich im gleichen Augenblick über sich selbst. Weshalb konnte sie nicht einfach die Wahrheit sagen? Sie war müde, sie wollte jetzt keinen Besuch haben. Markus wäre ihr vermutlich noch nicht einmal böse gewesen. Er konnte nicht erwarten, dass er zu jeder Tages- und Nachtzeit bei ihr willkommen war.

»Du kommst sehr spät«, sagte Markus, während er hinter ihr die Treppen in den dritten Stock hinaufstieg. »Hast du nicht um halb fünf Feierabend?«

»Eigentlich schon«, antwortete Beatrice. Noch fielen ihr die steilen Treppen nicht schwer. In ein paar Wochen würde das sicherlich anders werden. »Aber die Röntgenvisite hat heute lange gedauert, und anschließend kamen noch zwei NRWs in die Aufnahme. Ich konnte die Kollegen nicht im Stich lassen.«

Sie schloss die Wohnungstür auf, streifte sich die Schuhe von den Füßen und warf ihren Mantel achtlos über eine Stuhllehne. Hinter ihr trat Markus ein. Sorgfältig faltete er seinen Trenchcoat zusammen, legte ihn über Beatrices Mantel und zog ebenfalls seine Schuhe aus. Wie immer trug er teure italienische Slipper, die so sauber waren, als wären sie noch nie in Kontakt mit Hamburgs Gehwegen und Straßen gekommen. Ein Trugschluss, wie Beatrice wusste. Er pflegte einfach seine Schuhe sehr gründlich zu putzen. Jeden Abend.

Beatrice ging in die Küche.

»Hast du schon etwas gegessen?«, rief sie Markus über die Schulter zu und versuchte zu übersehen, dass er ihre Schuhe in Reih und Glied neben seine stellte. Er räumte immer hinter ihr her. Einer der Gründe, weshalb sie vor einem Jahr die Beziehung mit ihm beendet hatte. Natürlich in aller Freundschaft. Markus war ein Perfektionist vom Scheitel bis zur Sohle. Mit ihm konnte man nicht streiten.

»Nein, noch nicht«, antwortete er und kam ihr nach.

Die Küche war nicht besonders aufgeräumt; das Frühstücksgeschirr stand noch auf dem Esstisch, schmutzige Gläser und Töpfe vom Vortag stapelten sich neben dem Toaster und einem offenen Paket Knäckebrot auf der Arbeitsplatte. Am Ende eines Tages fehlte manchmal die Kraft selbst für die notwendigsten Handgriffe. Doch Beatrice wusste, dass Markus einen solchen Anblick kaum ertragen konnte. Ein Kommentar würde sicher nicht lange auf sich warten lassen.

»Ich komme direkt von einem Termin«, sagte er, und Beatrice versuchte jetzt die kleine steile Falte zu übersehen, die sich zwischen seinen Augenbrauen bildete.

Sie warf einen Blick in ihren Kühlschrank und dachte angestrengt nach. Was konnte sie jemandem anbieten, der als Snack ofenfrische Crostini mit Trüffelcreme bevorzugte und in seinem Penthouse sogar einen temperierten Weinschrank hatte, um seine sündhaft teuren Rotweine zu lagern? Käsebrot, Joghurt und eine Dose Cherry-Coke, ihr eigenes Abendessen, würden Markus’ Ansprüchen wohl kaum genügen. Sollte sie einen Nudelsalat machen? Sie hatte noch Tomaten, ein paar Oliven und gekochten Schinken. Oder sollte sie lieber einen Lieferservice anrufen?

»Mach dir keine Umstände, Bea. Ich habe mir erlaubt, eine Kleinigkeit mitzubringen.« Lächelnd holte Markus aus einer stabilen Tüte zwei große abgedeckte Plastikschalen und zwei Thermobecher mit dem Zeichen einer der besten Sushi-Bars der Hansestadt heraus. »Miso-Suppe, Maki-Röllchen mit Garnelen und Kaviar, Nigiri-Sushi vom Lachs und Sashimi. Du brauchst jetzt viel Eiweiß.«

Beatrice schluckte ihre Wut hinunter, die einen Augenblick lang in ihr Oberhand zu gewinnen drohte. Vermutlich war Markus nur besorgt, wollte nett sein, ihr etwas Gutes tun. So wie er es immer getan hatte. Vielleicht hatte er darüber sogar vergessen, dass sie rohen Fisch verabscheute.

»Danke«, erwiderte Beatrice und versuchte den Gedanken an leckeres Schweinefleisch süßsauer oder würziges indonesisches Curryhuhn zu verdrängen. »Sei so lieb und stell alles auf den Esstisch, ich hole die Stäbchen.«

»Aber dort steht noch Geschirr.«

»Dann schieb es eben zur Seite oder tu’s in die Spüle, wenn es dir nichts ausmacht«, fauchte Beatrice ihn an. »Meine Putzfrau hat heute frei.«

Markus hob eine Augenbraue, sagte aber nichts.

»Entschuldige, tut mir leid.« Beatrice seufzte und strich sich müde das Haar aus dem Gesicht. »War nicht so gemeint. Ich bin einfach fix und fertig. Dieser Tag heute war die Hölle.«

Markus nickte verständnisvoll. »Schon vergessen. Komm, iss was, danach wird es dir besser gehen.« Er schob ihr den Stuhl zurecht, wartete, bis sie bequem saß, und setzte sich mit einem »guten Appetit« neben sie.

Nach einer Weile fragte er: »Wie geht es dir?«

»Gut«, antwortete Beatrice und fischte sich mit den Stäbchen ein Tofustück aus der Miso-Suppe. »Meine Gynäkologin ist zufrieden, ich bin zufrieden, das Kind wächst und gedeiht, bislang gab es keine Komplikationen. Was will ich mehr?«

»Tatsächlich?« Markus tupfte sich mit einer Serviette den Mund ab. »Du arbeitest zu viel, du überforderst dich. In deinem Zustand solltest du vernünftiger sein und pünktlich Feierabend machen.«

»Glaube mir, es geht mir gut. Ich liebe meine Arbeit, vermutlich könnte ich ohne gar nicht leben. Okay, manchmal bleibe ich etwas länger. Aber ich kann doch die Kollegen nicht ausgerechnet dann im Stich lassen, wenn das Chaos tobt und die Patienten in den Fluren Schlange stehen.« Beatrice seufzte, als ihr einfiel, dass Markus sie vermutlich trotzdem nicht verstand. »Sieh mal, wenn du an einem Projekt arbeitest, verlässt du dein Büro auch nicht mit dem Gongschlag, sondern arbeitest, bis das Thema abgeschlossen ist. Ich tue nichts anderes. Abgesehen davon, dass es in meinem Job um mehr als Werbekampagnen geht.«

Markus runzelte missbilligend die Stirn. »Darauf antworte ich jetzt besser nicht.«

»Was meinst du damit?«

Er legte seine Stäbchen zur Seite. Zu ihrem Erstaunen stellte Beatrice fest, dass er beleidigt war.

»Vermutlich merkst du es selbst nicht, aber seit ich hier bin, reagierst du aggressiv auf alles, was ich sage oder mache.«

»Es tut mir leid. Es tut mir wirklich leid. Aber ich bin müde. Wahrscheinlich würde mich heute sogar ein so friedfertiger Mensch wie der Dalai Lama reizen. Also nimm es bitte nicht persönlich.«

Im gleichen Moment wurde Beatrice klar, dass sie nicht die Wahrheit sagte. Ihre Aggressivität hatte sehr wohl mit Markus zu tun und war ausschließlich gegen ihn gerichtet – gegen sein unerwartetes Auftauchen, gegen seine fanatische Ordnungsliebe, seinen Perfektionismus und gegen das Sushi. Plötzlich merkte sie, dass er sie vom ersten Augenblick an zur Weißglut getrieben hatte. Allerdings war es ihr irgendwie gelungen, diese Gefühle fast drei Jahre lang zu unterdrücken und zu verleugnen.

»Sieh dich nur einmal um, Beatrice«, fuhr Markus unterdessen fort und deutete mit einer Geste auf die Küche. »Dieser Anblick... Siehst du denn nicht diese Unordnung und diesen Schmutz überall? Das bist nicht du. Ich kenne dich. Du kannst unmöglich in so einem Chaos zufrieden und glücklich sein.« Er schüttelte wieder den Kopf. »Ich glaube nicht, dass du allein zurechtkommst.«

Beatrice spürte, wie sich ihre Nackenhaare sträubten.

»Ich komme sehr gut allein zurecht. Natürlich ist dies hier nicht mit den sterilen Bedingungen deiner Wohnung zu vergleichen. Aber ich will hier auch keine Operationen durchführen, ich lebe hier.«

Markus seufzte und tauchte ein Stück rohen Fisch in das Wasabi, diese grüne Paste aus japanischem Meerrettich, die trotz ihres unschuldigen Aussehens ohne Weiteres in der Lage ist, einem bei unvorsichtigem Gebrauch die Nasen- und Rachenschleimhäute wegzuätzen.

»Gut, lassen wir das. Offenbar hast du zurzeit kein Ohr für konstruktive Anmerkungen. Kümmert sich denn wenigstens der Vater des Kindes um dich?«, fragte er. »Ich meine, unterstützt er dich finanziell oder kommt manchmal vorbei, um nach dem Rechten zu sehen?«

Beatrice runzelte irritiert die Stirn. Was ging das Markus an?

»Nein, wie könnte er auch. Außerdem...«

»Du weißt aber doch wenigstens, wer es ist?«

Für einen Moment schnappte Beatrice nach Luft. »Na hör mal! Für was hältst du mich eigentlich! Glaubst du allen Ernstes, dass ich...«

»Schon gut, Beatrice«, lenkte Markus ein und legte ihr beschwichtigend eine Hand auf den Arm. »Ich wollte dich nicht kränken. Aber du brauchst offensichtlich Hilfe. Und da der Vater des Kindes scheinbar nicht bereit ist...«

»Das hat damit überhaupt nichts zu tun, Markus«, unterbrach ihn Beatrice und entzog ihm ihre Hand. Einen Augenblick lang kam sie in Versuchung, Markus alles zu erzählen, ihn in die ganze seltsame Geschichte einzuweihen, ihm von Ali al-Hussein zu berichten. Die Verlockung war groß, sich endlich einem Menschen anzuvertrauen. Doch war Markus der Richtige? Er, der weniger Fantasie besaß als die Macher der Tagesschau? So schnell, wie der Gedanke gekommen war, so schnell verwarf Beatrice ihn auch wieder. Stattdessen entschied sie sich für die kurze Variante. »Der Vater meines Kindes kann mich nicht besuchen. Er ist nämlich tot.«

Markus lief dunkelrot an und schwieg. Beatrice genoss diesen denkwürdigen Augenblick. Dieser Mann, der einmal von sich behauptet hatte, niemals in eine peinliche Situation zu geraten, war in den größten Fettnapf getappt, den es gab. Und dort steckte er jetzt bis zum Hals.

»Nun...« Er räusperte sich und versuchte mühsam, seine Selbstsicherheit wiederzugewinnen. »Umso leichter wird es dir fallen, den Vorschlag, den ich dir unterbreiten möchte, anzunehmen. Was hältst du davon, wenn wir heiraten?«

Beatrice, die gerade den Becher mit der Miso-Suppe an die Lippen gesetzt hatte, verschluckte sich und hustete heftig.

»Sicher kommt dieses Angebot ein wenig überraschend. Dennoch solltest du es dir ernsthaft durch den Kopf gehen lassen. Sieh mal«, Markus verschränkte die Hände und beugte sich über den Tisch, als ginge es darum, einen Geschäftspartner von einer neuen Werbestrategie zu überzeugen. »Du brauchst einen Mann, der für dich sorgt, und das Kind braucht einen Vater, der ihm einen Namen gibt.«

»Reicht meiner etwa nicht?«, fuhr Beatrice auf. »Ich weiß nicht, in welcher Welt du lebst, Markus, aber es ist nicht mehr anrüchig, wenn Kinder den Namen ihrer Mutter tragen.«

»In gewissen Kreisen mag das vielleicht gelten«, entgegnete Markus, und seine Lippen umspielte ein Lächeln, das Beatrice auf die Palme brachte. Es wirkte arrogant und mitleidig. »Aber du willst doch auch, dass dein Spross in geregelten Verhältnissen aufwächst und ihm später alle Türen offen stehen. Wenn du meine Frau wirst, bietest du deinem Kind einen guten Start ins Leben. Außerdem seid ihr finanziell abgesichert. Du brauchst nicht mehr zu arbeiten und kannst dich voll und ganz der Erziehung widmen.«

»Wie kommst du nur auf so eine verrückte Idee?«

»In Anbetracht unserer langjährigen Freundschaft, meine Liebe. Ich halte es für meine Pflicht. Und ehrlich gesagt wundert es mich, dass du über dieses ehrenhafte Angebot so abfällig sprichst. Es ist nicht verrückt, es ist sehr vernünftig.«

Beatrice schüttelte fassungslos den Kopf. Träumte sie? War sie etwa schon wieder im Mittelalter gelandet? Es konnte doch nicht sein, dass im Jahre 2002 ein Mann, der eine Werbeagentur leitete und sich selbst als fortschrittlich und liberal bezeichnete, ihr wirklich so einen Vorschlag machte.

Es muss ein Scherz sein, dachte Beatrice. Es ist zwar ungewöhnlich für Markus, aber ich glaube, er macht einen Scherz.

»Ich habe bereits mit Papa und Mama gesprochen. Mama war sofort begeistert. Du weißt ja, dass sie dich immer sehr gemocht hat. Und Papa wird sich mit dem Anwalt unserer Familie in Verbindung setzen und die erforderlichen Papiere vorbereiten lassen, sodass das Kind vom Tag der Geburt an meinen Namen tragen darf.« Er lächelte. »Stell dir vor, Papa ist sogar bereit, das Kind als seinen Enkel zu betrachten und ihm den entsprechenden Teil des Familienvermögens als Erbe zu übertragen. Wenn dein Spross volljährig ist, wird er oder sie finanziell weitgehend unabhängig sein. Und Tante Sylvia hat sich bereit erklärt, Taufpatin zu werden. Was sagst du dazu?«

Gar nichts!, dachte Beatrice. Dazu fällt mir wirklich nichts mehr ein.

Doch dann setzte sich ein Teufelchen in ihren Nacken und flüsterte ihr etwas ins Ohr.

»Ali al-Hussein Weber«, sagte sie laut vor sich hin. »Das klingt nicht schlecht. Aber das mit der Taufe wird nicht gehen.«

Markus war bleich geworden. »Was meinst du damit? Und was soll dieser Name?«

»Ich werde das Kind, sofern es ein Junge ist, nach seinem Vater benennen. Und da der Vater ein Moslem war, werde ich das Kind auch im muslimischen Glauben großziehen.« Dass dies nicht ganz der Wahrheit entsprach, brauchte Markus nicht zu wissen.

»Ein Moslem?«

Für einen kurzen Moment genoss Beatrice ihren Triumph. Sie hatte die kleine Welt des Markus Weber mit ein paar Andeutungen zum Wanken gebracht. Dann besann sie sich und legte ihre Stäbchen zur Seite, stützte ihre Ellbogen auf den Tisch und sah Markus aus schmalen Augen an.

Mit ruhiger Stimme fuhr sie fort: »Vielleicht solltet ihr, du und deine Familie, noch etwas mehr über den Vater wissen, bevor ihr die Hochzeitsgäste einladet. Er war ein Araber.«

»Großer Gott! Hoffentlich kein...«

Er kam nicht dazu, den Satz zu beenden, denn Beatrice zischte ihn an: »Sprich besser nicht weiter!«

Markus murmelte etwas Unverständliches und starrte auf seine Hände. Dann gab er sich einen Ruck.

»Nun, solange es sich nicht um einen Schwarzen handelt, werde ich Papa sicherlich überzeugen können...«

»Danke, das reicht.«

»Ich denke, dass ich meine Aufgabe trotzdem erfüllen werde. Es wird natürlich nicht ganz so einfach werden, aber...«

»Markus, es reicht«, wiederholte Beatrice mit Nachdruck. »Ich verzichte auf dein großmütiges Opfer. Ich habe mich bereits vor einiger Zeit entschieden, das Kind allein großzuziehen, und ich werde das auch tun. Ich werde dich nicht heiraten.«

Markus schluckte. »Du solltest es dir noch einmal überlegen.«

Beatrice schüttelte den Kopf. »Was gibt es da zu überlegen? Sehe ich etwa aus wie eine Frau, die sich freiwillig in die Klauen deiner ach so hoch angesehenen Familie begeben würde?«

»Was fällt dir ein, so über meine Eltern zu sprechen!«

»Sag ich etwa nicht die Wahrheit? Deine Mutter würde doch so lange an mir herumnörgeln, bis sie mich zu dem erzogen hätte, was sie ›eine Frau aus gutem Hause‹ nennt. Vermutlich erzählt sie sogar in ganz Hamburg herum, welch gutes Werk sie doch an mir und meinem armen Sprössling getan hat. Und dein Vater würde mich jeden Tag spüren lassen, dass ich es allein seiner Großmütigkeit zu verdanken habe, dass ich nicht in der Gosse gelandet bin. Dass er es war, der mich in den Olymp der vornehmen hanseatischen Reeder-Familien aufgenommen hat.« Beatrice machte eine kurze Pause, um Luft zu holen. »Nein danke, darauf verzichte ich.«

»Beatrice, du solltest...«

»Nein! Und du, Markus, du bist nicht anders. Du würdest von früh bis spät wissen, was für mich das Beste ist. Du würdest alles für mich planen, jeden Schritt, den ich gehe, jeden Bissen, den ich zu mir nehme. Ich würde ersticken.«

»Nun«, entgegnete Markus spitz, »immerhin hast du es drei Jahre lang mit mir ausgehalten. Und so wie ich es sehe, sind dir diese drei Jahre nicht schlecht bekommen. Außerdem habe nicht ich dich in Verlegenheit gebracht.«

Beatrice schüttelte den Kopf. Ihr war übel vor Zorn.

»Was fällt dir eigentlich ein! Ich bin nicht ›in Verlegenheit‹. Vermutlich fehlt dir dafür das Verständnis, aber ich habe den Vater meines Kindes geliebt. Und dass uns nicht mehr gemeinsame Zeit vergönnt war, ist das Einzige, was ich bedaure.«

»Ich bin enttäuscht von dir, Beatrice«, sagte Markus sichtlich beleidigt. »Dass ausgerechnet du es mit einem Kamel...«

»Halt!«, unterbrach ihn Beatrice und stand auf. »Ich glaube, du solltest jetzt gehen, bevor Worte fallen, die den letzten Rest Freundschaft zerstören, den es vielleicht noch zwischen uns geben mag.«

»Vermutlich hast du recht«, sagte Markus und erhob sich ebenfalls. »Fass es bitte nicht als Kritik auf, Beatrice, aber du hast dich sehr verändert.«

Sie gingen in den Flur, und Markus zog seinen Mantel an. Dann nahm er seine Schuhe und fuhr mit der Hand ein paarmal über das Leder, als müsste er sie von dem Schmutz in Beatrices Wohnung befreien.

»Besitzt du wenigstens einen Schuhlöffel, damit ich meine Slipper beim Anziehen nicht ruiniere?«

Diese Bemerkung und Markus’ vorwurfsvoll nachsichtige Stimme brachten Beatrice endgültig aus der Fassung. Mit einer heftigen Bewegung ergriff sie die Slipper, diese handgearbeiteten Schuhe, von denen einer mehr kostete als ein einwöchiger Urlaub in der Türkei; sie nahm die Schuhe, riss die Haustür auf und warf beide nacheinander die Treppe hinunter.

»So. Jetzt kannst du sie dir draußen anziehen. Verschwinde. Ich will dich nie wiedersehen.«

Einen Augenblick starrte Markus sie entgeistert an. Dann kehrte das Leben in ihn zurück.

»Schlampe!«, schrie er und rannte auf Socken die Stufen hinunter, als gälte es, ein Leben zu retten und nicht ein Paar Schuhe einzusammeln.

Beatrice warf die Tür hinter ihm zu und ging in die Küche zurück. Der penetrante Geruch von Markus’ exklusivem Rasierwasser schlug ihr entgegen und raubte ihr fast den Atem. Es roch nach feuchtem grünen Schimmel.

Wenn ich dieses Aftershave noch eine Sekunde länger einatmen muss, ersticke ich, dachte Beatrice und riss das Fenster auf.

Dann räumte sie den Küchentisch ab und schmiss die Reste des Sushis in den Mülleimer. Es war ihr egal, dass sie vermutlich Lebensmittel im Wert von fünfzig Euro vernichtete. Sie wollte jede Erinnerung an Markus Weber aus ihrer Wohnung verbannen. Sofort. Als sie endlich mit ihrer Aufräumaktion fertig war, ging Beatrice den langen Flur entlang zu ihrem Wohnzimmer. Dort ließ sie sich auf das Sofa fallen und zog die Beine an. Noch war ihr Zorn nicht verraucht. Sie zitterte, ihre Wangen brannten, und am liebsten hätte sie irgendeinen Gegenstand genommen und ihn kurz und klein gehauen. Aber gleichzeitig fühlte sie sich erschöpft und müde. Ihr war übel. Und dann begann es in ihrem Bauch unangenehm zu ziehen.

Beatrice schloss die Augen und legte ihre Hände auf den Bauch. Das Kind strampelte und trat um sich. Natürlich war die Aufregung nicht spurlos an dem kleinen Wesen vorübergegangen. Sie streichelte über ihre Bauchdecke und hoffte, das Kind würde es spüren und sich wieder beruhigen. Doch da war erneut dieses unangenehme Ziehen, und gleichzeitig wurde die Bauchdecke hart wie ein Brett.

»Eine Wehe?«, schoss es Beatrice durch den Kopf. Aber das konnte doch nicht sein. Dafür war es viel zu früh. Sie war doch erst in der dreißigsten Woche schwanger.

Ich sollte ein Bad nehmen, dachte sie. Wenn ich mich entspanne, wird auch dieses Ziehen nachlassen.

Schwerfällig erhob sie sich und ging langsam ins Badezimmer. Ihre Muskeln taten weh, als hätte sie an einem Boxkampf teilgenommen. Jeder einzelne. Während das warme Wasser in die Badewanne einlief, entkleidete sie sich und gab ein paar Tropfen ätherische Öle hinzu – Melisse, Orangenblüten und Jasmin. Die Wirksamkeit von Kräutern und ätherischen Ölen hatte sie in Buchara kennengelernt. Buchara... Doch das war ein anderes Leben, eine andere Zeit.

Beatrice stieg in die Wanne und ließ sich zurücksinken in die wohltuende Wärme des Wassers. Tief atmete sie die Dämpfe ein. Und mit den Düften kehrten auch die Erinnerungen zurück. Erinnerungen an eine seltsame Reise, eine Reise, die sie nicht nur in ein anderes Land, sondern sogar in eine andere Zeit und eine andere Welt geführt hatte. Erinnerungen an Buchara, an die Düfte auf den Bazaren und im Bad des Emirs, an die Stimme des Muezzins. Erinnerungen an die herrlichen Häuser der Kaufleute, an erlesenes Kupfer- und Messinggeschirr, an kostbare Teppiche, aber auch an Armut, Schmutz und Elend. Und Erinnerungen an die Menschen, die sie während ihres Aufenthalts in Buchara begleitet hatten -Sekireh, diese unbeugsame, starke Frau, die ihre Freundin geworden war; Saddin, der Nomade, den sie gehasst, geliebt und dem sie schließlich das Leben gerettet hatte; und natürlich Ali al-Hussein, den Vater ihres Kindes.

Beatrice vermochte sich nicht zu erklären, wie sie auch nur den Bruchteil einer Sekunde daran hatte denken können, Markus die ganze Wahrheit zu erzählen. Ausgerechnet Markus! Wie sollte ein fantasieloser, rationaler Mann wie er glauben, was sie zu erzählen hatte? Sie selbst hatte ja Schwierigkeiten, die Wahrheit zu akzeptieren. Immer noch fiel es ihr schwer zu begreifen, dass das alles wirklich passiert war. War sie verrückt? Vielleicht. Oder war es etwa normal, das Bewusstsein zu verlieren und dann wieder aufzuwachen – an einem anderen Ort, in einer anderen Zeit. Seit jener Nacht, in der eine alte arabische Patientin ihr einen Stein geschenkt hatte, einen Saphir, der »Stein der Fatima« genannt wurde, wachte sie immer wieder morgens auf und dachte, dass alles doch nur ein Traum gewesen war. Dass sie niemals von den geheimnisvollen Kräften dieses Steins in das arabische Mittelalter entführt worden war und dort im Harem des Emirs von Buchara gelebt hatte. Dass sie niemals Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina kennengelernt hatte, jenen berühmten arabischen Arzt, der in den folgenden Jahrhunderten nur noch Avicenna genannt wurde. Aber da war das Kind, das sie erwartete.

Ein Kind, dessen Existenz sich nicht erklären ließ, es sei denn, Ali wäre der Vater. Ali al-Hussein ibn Abdallah ibn Sina, ein Mann, der bereits vor etwa tausend Jahren gestorben war! Allein der Gedanke daran konnte einen schon in den Wahnsinn treiben.

Erneut zog sich die Bauchdecke schmerzhaft zusammen. Ali al-Hussein! Wie sehr vermisste sie ihn, diesen intelligenten, humorvollen, aber auch ein wenig arroganten Mann, mit dem sie nächtelang diskutiert, gestritten und gelacht hatte. Manchmal träumte sie von ihm. Sie träumte, dass er neben ihr lag, dass sie nur die Hand auszustrecken brauchte, um ihn zu berühren und ihm über sein dichtes schwarzes Haar streicheln zu können. Genau wie damals in Buchara. Manchmal glaubte sie sogar seinen Duft wahrzunehmen, diesen intensiven, eigentümlichen Duft von Weihrauch, Ysop, Myrrhe, Melisse und Orangenblüten, eine Mischung jener Kräuter, die er am häufigsten zur Behandlung seiner Patienten einsetzte.

Dieser Geruch hing an ihm. Er klebte förmlich in seiner Kleidung, seinen Haaren und auf seiner Haut wie der Geruch von Desinfektionsmitteln an einem Chirurgen.

Vielleicht hatte sie sich deshalb so zu ihm hingezogen gefühlt. Sie waren verwandte Seelen, trotz der Zeitalter, die sie trennten. Warum hatte sie nicht einfach bei ihm bleiben können?

Beatrice seufzte und streckte sich in der Wanne. Wenn der Stein der Fatima wirklich das war, was man ihr erzählt hatte, hätte er vermutlich alle ihre Fragen beantworten und sie in seine Geheimnisse einweihen können. Aber der Saphir lag in einem Frotteehandtuch eingewickelt in der hintersten Ecke im oberen Regal ihres Kleiderschranks. Seit jener Nacht, in der sie Frau Alizadeh nach ihrer Rückkehr ins 21. Jahrhundert im Krankenhaus aufgesucht hatte, hatte sie ihn nicht mehr angerührt.

Manchmal fühlte sie das Verlangen, ihn wieder anzusehen, diesen Stein wieder in die Hand zu nehmen, doch sie fürchtete sich zu sehr. Sie befürchtete, dass der Stein sie nicht ihrem Wunsch gemäß zu Ali zurückbringen, sondern sie stattdessen erneut in eine fremde Umgebung, in ein anderes Zeitalter entführen würde.

Beatrice streichelte zärtlich durch die Bauchdecke hindurch das ungeborene Kind. Manchmal ging es ihr durch den Kopf, was sie ihrem Kind erzählen sollte, wenn es eines Tages alt genug war, um Fragen nach seinem Vater zu stellen.

Die Wahrheit, dachte Beatrice. Dir werde ich die Wahrheit sagen.

In diesem Augenblick spannte sich die Bauchdecke so stark an, dass Beatrice sich in das Handgelenk biss, um nicht vor Schmerz zu schreien. Was war nur mit ihr los? Offensichtlich hatte das Bad nicht die entspannende Wirkung gehabt, die sie sich erhofft hatte. Vielleicht sollte sie lieber aus der Wanne steigen und in ihrer Wohnung auf und ab gehen?

Doch auch das half nicht. Beatrice befiel Angst. Die Schmerzen wurden immer stärker und kamen in immer kürzeren Abständen. Und je stärker sie wurden, umso mehr fürchtete sie sich, und je mehr Angst sie hatte, umso öfter kam der Schmerz. Ein Teufelskreis, aus dem es kein Entrinnen gab. Schließlich hielt Beatrice es nicht mehr aus und griff zum Telefon.

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