Der kleine Fürst 4 – Staffel

Der kleine Fürst –4–

Staffel

Roman von Viola Maybach

Impressum:

Epub-Version © 2016 KELTER DIGITAL GmbH & Co. KG, Sonninstraße 24 - 28, 20097 Hamburg. Geschäftsführer: Patrick Melchert, Oliver Melchert, Mario Melchert

Originalausgabe: © KELTER DIGITAL GmbH & Co.KG, Hamburg.

Internet: http://www.kelterdigital.de

E-mail: info@kelter.de

Dargestellte Personen auf den Titelbildern stehen mit dem Roman in keinem Zusammenhang.

ISBN: 978-3-74091-140-9

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Der kleine Fürst 4 – Staffel

Im Schatten der schönen Schwester

Roman von Viola Maybach

Prinzessin Desiree von Lenau nippte an ihrem Champagner, während sie den Tanzenden zusah. Es war ein schönes Bild, das sich ihren Augen bot: Festlich gekleidete Paare bewegten sich zu einem langsamen Walzer elegant über das spiegelblanke Parkett des alten Ballsaals von Schloss Valsheim. Wenn sie die Augen ein wenig zusammenkniff, sah sie ein Gemälde mit lauter verwischten Konturen vor sich. Wirklich sehr schön. Es wurde der achtzigste Geburtstag der Fürstin Tatjana von Valsheim gefeiert, Desiree gehörte mit ihrer Schwester Ludmila und ihren Eltern zu den handverlesenen Gästen.

Eine leise Stimme riss sie aus ihren Gedanken. »Du hast überhaupt noch nicht getanzt, Desiree, so lange ich hier bin. Ich übrigens auch nicht. Wollen wir es beim nächsten Walzer zusammen versuchen?«

Mit einem Lächeln auf den Lippen drehte sie sich zu Graf Philipp zu Rothleben um, denn er war es, der sie angesprochen hatte. »Hallo, Phil«, sagte sie. »Ich habe dich schon gesucht, bist du später gekommen?«

Er nickte. Seine Stimme wurde noch leiser, als er hinzusetzte: »Eigentlich hätte ich mich gern gedrückt, du weißt ja, dass Tanzveranstaltungen nicht gerade zu meinen Lieblingsbeschäftigungen ge­hören, aber meine Eltern meinten, die alte Fürstin wäre tödlich beleidigt, wenn ich ohne triftigen Grund ihrem Geburtstagsball fernbliebe – und ein triftiger Grund ist mir leider nicht eingefallen.«

»Ich tanze gern mit dir«, erwiderte sie mit liebevollem Lächeln. Philipp war ihr bester Freund und Vertrauter. Mit ihm konnte sie über alles reden, so wie er ihr anvertraute, was ihn bewegte. Deshalb wuss­te sie auch, warum er »Tanzveranstaltungen« nicht liebte: Philipp hatte vor einigen Jahren Kinderlähmung bekommen. Der Kunst der Ärzte war es zu verdanken, dass davon nichts zurückgeblieben war außer einer Schwächung und leichten Verkürzung seines rechten Beins, die man, wenn es ihm gut ging, überhaupt nicht bemerkte. War er jedoch müde, dann hinkte er leicht. Tanzen ermüdete ihn besonders schnell. Einmal hatte er ihr gestanden, dass er seine Behinderung nirgends so deutlich spürte wie in einem Tanzsaal. Kein Wunder also, dass er Bälle seit seiner Krankheit mied, wo es nur möglich war. Dabei war er vorher ein sehr guter Sportler gewesen und obwohl er weiterhin ritt, schwamm und sich beim Krafttraining quälte, konnte er an seine früheren Leis­tungen natürlich nicht mehr anknüpfen.

Die Musik endete. Philipp verbeugte sich leicht vor Desiree, bevor er ihr seinen Arm reichte. »Dann wollen wir mal«, sagte er.

Er war ein gut aussehender Mann mit den dichten blonden Haaren, den klugen grauen Augen und seinem etwas kantigen, sehr einprägsamen Gesicht, aber seine Behinderung hatte Falten um seinen Mund gegraben, und sein früheres übermütiges Temperament hatte er verloren. Er war ruhig geworden, wirkte oft in sich gekehrt und traurig und hatte den Anschluss an seinen früheren Freundeskreis verloren. Desiree wusste, dass das mehr an Philipp als an seinen Freunden lag: Er hatte panische Angst davor, dass jemand ihn bemitleiden könnte, und bevor das passierte, zog er sich lieber gleich ganz zurück.

Nur mit ihr traf er sich regelmäßig, und dann konnte es passieren, dass der alte Philipp zum Vorschein kam: der junge, temperamentvolle Mann, der Geschichten erzählen konnte wie kein Zweiter, der immer Ideen hatte, was sie unternehmen sollten und der manchmal, trotz seiner fünfundzwanzig Jahre, anderen auch gern noch einen Streich spielte. Aber es war selten geworden, dass sie diesen Philipp zu Gesicht bekam, und nichts bedauerte sie mehr als das.

»Bist du mit Absicht später gekommen?«, fragte sie, als die Musik wieder einsetzte. Sie tanzten gut zusammen, das war schon immer so gewesen. Wenn sie merkte, dass Philipp müde wurde und Schwierigkeiten mit seinem Bein bekam, stützte sie ihn, so dass er sich weniger anstrengen musste. Sie hoffte immer, dass er es nicht merkte.

»Ja, natürlich. Je kürzer ich hier bin, desto weniger muss ich tanzen«, erklärte er. »Aber ein paar Pflichttänze muss ich natürlich absolvieren, das lässt sich ja nicht ändern.«

»Deine Eltern habe ich auch noch nicht gesehen«, wunderte sich Desiree.

»Die sind auch gar nicht da – deshalb musste ich doch die Einladung annehmen, sozusagen als Repräsentant der Familie«, erklärte er. »Basti hat sich rechtzeitig gedrückt, da blieb nur noch ich übrig.« Philipp hatte einen jüngeren Bruder, Sebastian, mit dem er zusammenwohnte. »Da vorn ist übrigens deine Schwester. Mit wem tanzt sie denn da?«

»Keine Ahnung«, antwortete Desiree. »Ich glaube, sie hat bisher keinen Tanz ausgelassen, wie üblich. Die Männer reißen sich um sie, du kennst das doch.«

Er betrachtete sie nachdenklich. »Ja, allerdings«, bestätigte er. »Ich mag deine Schwester ja auch, obwohl sie mir ein bisschen zu aufgedreht und eingenommen von sich selbst ist. Aber eins werde ich nie begreifen: Warum hat sie solchen Erfolg bei Männern? Ich finde dich viel schöner als sie.«

Desiree errötete. »Unsinn«, wies sie ihn zurecht. »Ich bin in unserer Familie die graue Maus, wie du weißt.«

»Du bist nicht grau!«, protestierte er. »Nur weil du dich nicht so in den Vordergrund spielst wie Ludmila, heißt das ja noch lange nicht …«

»Nicht so laut!«, bat sie. »Es muss doch nicht jeder hören, worüber wir uns unterhalten.«

»Entschuldigung«, murmelte er, »aber das Thema bringt mich wirklich auf die Palme, Desiree.«

Sie lächelte. »Ja, ich weiß«, sagte sie heiter. »Mich nicht. Mir ist es ganz lieb so, weil es mir nämlich nicht liegt, im Mittelpunkt zu stehen. Ich fühle mich sehr wohl in meiner Haut, Philipp, und ich brauche es für mein Selbstbewusstsein auch nicht, dass ich an jedem Finger zehn Verehrer habe.«

»Ja, in dem Punkt bist du anders als ich«, erwiderte er, und plötzlich waren seine Augen wieder traurig. »Ich fände nichts schöner, als wenn mir die Frauen wieder nachliefen wie damals, als ich noch …, noch nicht krank gewesen war. Manchmal denke ich, ich werde nie da­rüber hinwegkommen.«

»Das ist ja auch schwer«, erwiderte sie ruhig. »Aber ich weiß, dass du dich eines Tages zurücklehnen und feststellen wirst: So wie es ist, ist es gut. Das weiß ich so sicher, als wäre es schon passiert.«

»Du magst ja sehr klug sein, Desiree, aber allwissend bist du nicht. In diesem Punkt jedenfalls irrst du dich, fürchte ich.«

»Lass uns nicht streiten«, sagte sie sanft. »Der Tag wird kommen, glaub mir das. Schon jetzt ist es nämlich so, dass du nicht nur etwas verloren, sondern auch etwas gewonnen hast – auch wenn du selbst das natürlich nicht so siehst.«

»Gewonnen?« Er ließ ein kurzes unfrohes Lachen hören. »Und was sollte das sein?«

»Du warst immer sehr charmant und attraktiv«, antwortete Desiree, »aber zugleich auch unreif und ein bisschen oberflächlich. Das bist du jetzt nicht mehr. Du weißt, wie gern ich dich habe, und ich liebe es, mit dir herumzualbern, was du ja in letzter Zeit nicht mehr so oft tust. Das fehlt mir manchmal, weil ich gerne mit dir zusammen lache. Aber im Großen und Ganzen finde ich die Gespräche, die wir jetzt führen, schöner als unsere früheren, weil es um wirklich wichtige Themen geht. Dein Horizont hat sich erweitert, Philipp, das musst du doch gemerkt haben!«

Ihre Ausführungen hatten ihn so unvorbereitet getroffen, dass er ihr die Erwiderung schuldig blieb. Aber sie merkte daran, wie heftig er sie plötzlich herumschwenkte, dass ihre Worte bei ihm angekommen waren, und das war das Wichtigste. Sie hatte ihm das schon vor längerer Zeit sagen wollen, doch war ihr die Gelegenheit dazu nie günstig erschienen.

Er hatte sich verausgabt, das merkte sie wenig später, und so schlug sie von sich aus vor: »Wollen wir eine Pause machen? Mir ist schrecklich warm, und Durst habe ich auch.«

Er nickte dankbar und als er sie von der Tanzfläche führte, sagte er leise: »Danke, Desiree – ich würde gern bei Gelegenheit noch einmal darüber reden.«

Sie strahlte ihn an. »Mit Vergnügen!«

Er blieb noch eine Weile bei ihr, dann murmelte er, er müsse nun wohl endlich seine Pflichttänze hinter sich bringen. Kurz darauf sah sie ihn mit dem achtzigjährigen Geburtstagskind tanzen – und dann kam ein groß gewachsener Mann mit braunen Haaren auf sie zu und fragte: »Darf ich Sie um den nächs­ten Tanz bitten?«

Sie kannte ihn nicht, fand ihn aber auf Anhieb sympathisch. Er war um einiges älter als sie, und sie erinnerte sich, dass sie ihn zuvor mit einer blonden Frau hatte reden sehen. »Gern«, antwortete sie.

»Ich sollte mich vielleicht vorstellen«, sagte er und nannte ihr dann seinen Namen: »Friedrich von Kant.«

»Ach«, rief Desiree, nachdem sie sich ebenfalls vorgestellt hatte, »Sie sind Baron von Kant? Das heißt, Sie wohnen auf Schloss Sternberg?«

»So ist es«, lächelte Baron Friedrich. »Und ich wusste schon vorher, wer Sie sind, weil meine Frau und ich nämlich mit Ihren Eltern gesprochen haben. Wir kennen uns ja von früher, haben uns dann aber aus den Augen verloren.«

»Trotzdem haben sie öfter von Ihnen gesprochen«, berichtete Desiree. »Besonders …« Sie stockte und fuhr dann leiser fort: »Besonders nach dem tragischen Unglücksfall des Fürstenpaares. Das ganze Land hat Anteil genommen, als Fürstin Elisabeth und Fürst Leopold ums Leben gekommen sind.«

»Ja, es war eine schwere Zeit – und natürlich wirken diese beiden Todesfälle nach und werden es noch lange tun«, erklärte der Baron. »Elisabeth war die Lieblingsschwester meiner Frau, sie fehlt ihr unendlich. Und was unseren Neffen Christian angeht, Lisas und Leos Sohn – für ihn war der Verlust seiner Eltern eine Tragödie, die man kaum beschreiben kann.«

»Er lebt jetzt in Ihrer Familie, nicht wahr?«

Der Baron nickte. »Wir wohnen ja schon lange auf Sternberg, Chris und unsere beiden Kinder sind ohnehin wie Geschwister aufgewachsen. So konnte er wenigstens an dem Ort bleiben, der ihm von Kindesbeinen an vertraut ist. Das hat ihm geholfen, auch wenn dieser Ort voller Erinnerungen ist, die ihn auf Schritt und Tritt verfolgen. Aber er ist ein großartiger Junge, der sein Schicksal mit viel Würde und Reife trägt.«

»Wie alt ist er jetzt?«

»Fünfzehn.«

»Und Ihre Kinder?«

»Anna ist dreizehn, Konrad drei Jahre älter. Neuerdings vertragen sie sich sogar, weil Konrad sich zum Glück verliebt hat. Diese Liebe übt einen beruhigenden Einfluss auf sein aufbrausendes Temperament aus.«

»Wird Christian immer noch ›der kleine Fürst‹ genannt?«, erkundigte sich Desiree.

»Aber ja!« Baron Friedrich lächelte. »Es ist ein Kosename, den die Bevölkerung ihm gegeben hat, und ich glaube, er hört ihn nicht ungern. Wenn er volljährig ist, wird er ihn sicher verlieren, dann wird er ja der nächste Fürst von Sternberg sein.«

»Ich kenne von Sternberg nur Bilder«, stellte Desiree fest, »dabei gilt es als eines der schönsten Schlösser des Landes.«

»Oh, das ist es ganz sicher! Wir haben Ihre Eltern schon gefragt, ob sie nicht Lust hätten, uns zu besuchen – zusammen mit Ihnen und Ihrer Schwester. Am nächsten Wochenende werden wir ohnehin einige Gäste haben, es würde uns freuen, wenn Sie ebenfalls kommen könnten. Ich glaube, Ihre Eltern sind nicht abgeneigt, unsere Einladung anzunehmen.«

»Ach, das wäre schön!«, rief Desiree. Ihre Augen strahlten. Sie ahnte nicht, wie sehr sie sich dadurch veränderte. Baron Friedrich je­denfalls stellte erstaunt fest, dass die junge Frau, mit der er über

die Tanzfläche glitt, ausnehmend

hübsch war. Er hatte sie zunächst zwar außerordentlich sympathisch, aber ein wenig unscheinbar gefunden, doch davon konnte jetzt keine Rede mehr sein. Sieh mal einer an, dachte er, sie muss nur ein bisschen aus sich herausgehen, dann kommt eine ganz andere Desiree zum Vorschein.

»Haben Sie nicht eben mit Philipp zu Rothleben getanzt?«, erkundigte er sich.

»Ja«, sagte sie erstaunt. »Sie kennen ihn?«

»Gut sogar.«

»Er ist mein bester Freund«, erklärte Desiree. »Ich mag ihn schrecklich gern.«

»Dann bringen Sie ihn doch mit«, sagte Friedrich. »Oder nein, warten Sie, ich werde ihn selbst einladen. Sobald er hört, dass Sie auch kommen, wird er sicherlich nicht absagen, was meinen Sie?«

»Wenn er es versucht, werde ich ihm aber was erzählen!«, sagte Desiree mit blitzenden Augen.

»Bisher ist er nie gekommen, wenn wir ihn eingeladen haben«, berichtete der Baron. »Und ich kann wohl sagen, dass wir das schon oft getan haben.«

Desiree reckte sich ein wenig in die Höhe. »Dieses Mal kommt er!«, versicherte sie.

Friedrich von Kant zweifelte keine Sekunde, dass sie mit ihrer Vorhersage Recht behalten würde.

*

»Du kommst spät, Max!«, sagte Fürstin Tatjana von Valsheim mit mildem Tadel in der Stimme, als sich ein groß gewachsener Mann

zu ihr hinunterbeugte, sie liebevoll auf beide Wangen küsste und ihr herzlich zum Geburtstag gratulierte. Graf Maximilian von Stellenburg hatte dichte schwarze Haare, ebensolche Augen und ein scharf geschnittenes Gesicht mit hohen Wangenknochen und einer ziemlich großen, sehr geraden Nase.

»Ich weiß, Oma«, erwiderte er, gab sich aber nicht einmal die Mühe, Bedauern zu heucheln. »Aber es ließ sich nicht ändern. Außerdem kennst du mich doch, ich kann diese Art von Feiern nicht ausstehen. Freu dich also lieber, dass ich überhaupt gekommen bin.«

»Du bist unverbesserlich!«, lächelte sie, weit davon entfernt, ihm böse zu sein. Er war ihr Lieblingsenkel, er hatte sich ihr gegenüber schon immer mehr herausnehmen dürfen als andere, was in der Familie gelegentlich für heftige Verstimmung sorgte. »Immer zieht sie Max vor«, war eine viel gehörte Klage.

»Bin ich«, gab er zu. »Immerhin scheinen sich deine Gäste zu amüsieren. Gelangweilt sehen sie jedenfalls nicht aus.«

»Na, hör mal!«, sagte sie mit gespielter Entrüstung. »Auf meinen Festen langweilt sich niemand!«

»Bist du sicher?«, neckte er. »Möchtest du übrigens mit mir tanzen?«

»Auf jeden Fall!«, erklärte sie. »Aber nur langsamen Walzer, ich bin schon ein bisschen müde.«

»Kein Problem«, sagte er und ging lässig hinüber zu dem Tanzorchester, das seine Großmutter engagiert hatte. Wenig später erklang ein langsamer Walzer, und er führte sie zur Tanzfläche. Er war ein hervorragender Tänzer, und Tatjana hatte in ihrer Jugend eine Zeitlang sogar in einem Verein getanzt und an einigen Wettbewerben teilgenommen. Noch immer war ihre Haltung königlich, sie hatte nichts vergessen oder verlernt, und so dauerte es nicht lange, bis sich die übrigen Paare an den Rand stellten und den beiden zusahen. Für die alte Fürstin war dies, wie Maximilian wusste, der Höhepunkt des Abends: Alle sahen zu, wie ihr Lieblingsenkel und sie in perfekter Harmonie einen langsamen Walzer tanzten. Erst in diesem Moment war sie richtig glücklich.

Die anderen Gäste klatschten begeistert Beifall, als die Musik verklang, und die Fürstin strahlte vor Stolz. Als Maximilian sie zu ihrem Tisch zurückbrachte, sagte sie leise: »Danke, Max, du hast mir eine große Freude bereitet.«

»Das war der Sinn der Sache«, erklärte er und setzte sich zu ihr. »Sag mal, wer ist denn die junge Frau, die da drüben allein an der Säule lehnt und so verträumt die Gäste beobachtet?«

»Prinzessin Desiree von Lenau«, antwortete sie erstaunt. »Kennst du sie denn nicht?«

»Nein«, erklärte Maximilian, »ich sehe sie heute zum ersten Mal. Wieso tanzt sie nicht?«

»Ja, das frage ich mich auch. Siehst du die junge Frau in dem nachtblauen Kleid, die gerade mit dem Grafen Solms tanzt?«

»Sie ist kaum zu übersehen, Oma«, bemerkte Maximilian mit einem Lächeln.

»Das ist Desirees Schwester Ludmila, sie hat noch nicht einen Tanz ausgelassen. So ist es immer. Bei ihr stehen die Verehrer Schlange, während Desiree sich am Rande aufhält und zuschaut.«

»Unglücklich scheint sie das aber nicht zu machen. Sie sieht ziemlich zufrieden aus.«

»Ich habe sie sehr gern«, sagte Tatjana zum nicht geringen Erstaunen ihres Enkels. »Und ich werde nie verstehen, wieso die Männer alle hinter ihrer etwas oberflächlichen Schwester her sind statt hinter Desiree. Ludmila kann auch nett sein, wenn es ihr gerade passt, aber mir ist ihre Schwester viel lieber. Sieh sie dir doch an, wie anmutig sie da steht …«

Maximilian konnte ihr nur zustimmen, ihm war Desiree schließlich sofort aufgefallen. Er hätte nicht einmal sagen können, warum, denn auf den ersten Blick wirkte sie ziemlich unauffällig. Aber etwas an ihrer Haltung hatte ihn aufmerksam werden lassen.

»Ihr werdet euch bald treffen«, fuhr die alte Fürstin fort, die ihren Enkel verstohlen aus den Augenwinkeln beobachtete.

»Wer wird sich treffen?«, fragte er verwundert.

»Du bist doch nach Sternberg eingeladen, oder?«

»Wer hat dir das denn nun schon wieder erzählt?«

»Sofia von Kant. Nun, jedenfalls sind die Lenaus auch eingeladen, und es sieht so aus, als würden sie die Einladung annehmen.«

»Interessant«, murmelte Maximilian.

»Dann kannst du dir selbst ein Bild von den Schwestern machen«, schloss die Fürstin.

An dieser Stelle mussten sie ihr Gespräch abbrechen, da noch andere Gäste mit der Jubilarin sprechen wollten. Maximilian erhob sich also, um den Platz an der Seite seiner Großmutter zu räumen. Vielleicht konnte er einmal mit dieser Desiree tanzen? Er war richtig neugierig auf sie geworden – es kam selten genug vor, dass die alte Fürs­tin so warme Worte für jemanden fand. Tatjana von Valsheim war ein kritischer Geist, ihre Zuneigung und ihre Achtung musste man sich erst erwerben.

Doch als Maximilian Ausschau nach Desiree von Lenau hielt, stand sie nicht mehr an ihrer Säule, und er konnte sie auch sonst nirgends entdecken. Schade, dachte er. Aber aufgeschoben ist ja nicht aufgehoben – dann sehe ich sie mir eben auf Sternberg genauer an!

*

»Natürlich kommst du mit!«, sagte Desiree ungeduldig zu Philipp. »Es gibt überhaupt keinen Grund, diese Einladung abzulehnen – außerdem tust du mir einen Gefallen, weil dann nämlich wenigs­tens ein Mensch dort ist, mit dem ich reden kann.«

»Auf Sternberg leben mehrere Menschen, mit denen du reden kannst«, entgegnete Philipp. »Sofia und Friedrich von Kant sind ausgesprochen sympathische Leute.«

»Den Baron habe ich ja nun kennengelernt, ich fand ihn auch sofort sehr nett«, bestätigte Desiree. »Das ist aber noch lange kein Grund für dich, wieder zu kneifen, Philipp.«

»Wieso wieder?«

»Er hat mir erzählt, dass du noch nie nach Sternberg gekommen bist, obwohl sie dich schon oft eingeladen haben.«

»Früher war ich schon dort«, erklärte Philipp düster. »Aber eben nicht mehr, seit …, seit ich behindert bin.«

»Umso wichtiger ist es, dass du nächstes Wochenende kommst. Wenn du nämlich das Schloss kennst, kannst du mir alles zeigen, und wir können zusammen ausreiten. Denn dass Sternberg tolle Pferde hat, weiß sogar ich, obwohl ich noch nie dort war.«

»Du kannst einen wirklich nerven mit deiner Hartnäckigkeit«, brummte Philipp. »Also gut, ich komme mit. Aber dafür schuldest du mir einen Gefallen.«

»Einverstanden«, rief sie strahlend und hielt ihm die Hand hin.

»Schlag ein!«

Er tat es, brummte noch etwas Unverständliches und ging dann davon. Sie sah, dass er das Bein nachzog und wusste, dass er sich einen stillen Platz suchen würde, um sich auszuruhen. Es schmerzte sie, ihn so zu sehen, und einmal mehr wünschte sie sich, ihm helfen zu können, sich endlich mit seinem Schicksal auszusöhnen und wieder glücklich zu werden.

»Entschuldigung«, sagte eine helle Stimme hinter ihr, »darf ich Sie mal was fragen?«

Desiree drehte sich um. Die Stimme gehörte einer noch sehr jungen Frau mit einem hübschen dunklen Lockenkopf und leuchtend blauen Augen. Wie alt mochte sie sein? Höchstens zwanzig, dachte Desiree. »Ja, natürlich«, antwortete sie lächelnd, »wenn ich die Frage beantworten kann. Übrigens können wir uns gern duzen. Ich bin Desiree von Lenau.«

»Ich weiß, wir waren zusammen auf einer Schule«, erklärte die Andere zu Desirees Überraschung. »Ich bin Caroline von Corda.«

»Nein!«, rief Desiree. »Ich hätte dich nie im Leben wiedererkannt.«

»Ich war schließlich auch drei Klassen unter dir, deshalb hatten wir ja sowieso nicht viel miteinander zu tun«, erwiderte Caroline.

»Drei Klassen bloß? Ich habe dich auf zwanzig geschätzt.«

»Zwei Jahre zu jung«, erklärte Caroline. »Ich werde sogar bald dreiundzwanzig.« Sie biss sich kurz auf die Lippen und fuhr dann fort: »Ich habe dich immer bewundert, heimlich, aus der Ferne. Das wusstest du natürlich nicht, oder?«

»Mich?«, fragte Desiree ungläubig. »Du meinst nicht zufällig meine Schwester Ludmila?«

»Nein, ich kenne Ludmila, ich meine ganz bestimmt dich. Du warst immer so ruhig und souve­rän, hast dich nicht um diese ganze Cliquenwirtschaft auf der Schule gekümmert, sondern bist deinen Weg gegangen. Ich habe mir damals geschworen, so zu werden wie du.«

Desiree musste lachen. »Ehrlich, das hat mir bisher noch niemand gesagt. Wenn ich gewusst hätte, dass sich ein Mädchen wünscht, so zu werden wie ich, hätte ich mich sehr geehrt gefühlt.«

»Es gab noch etwas, weshalb ich dich bewundert und … beneidet habe«, fuhr Caroline fort.

»Was denn?«

Die junge Frau errötete heftig. »Du warst – und bist – mit Philipp befreundet«, sagte sie leise. »Mit Philipp zu Rothleben.«

»Das stimmt«, gab Desiree zu. »Und das wärst du auch gern gewesen?«

»Ich war schon in ihn verliebt, als ich vierzehn war«, gestand Caroline. »Damals war das mehr Schwärmerei, mit vierzehn ist man ja dauernd verliebt. Ich habe mich dann auch eine Zeitlang von ihm abgewandt – er hat das alles natürlich überhaupt nicht mitbekommen – und habe für alle möglichen Jungen und junge Männer geschwärmt, mich einige Male auch wirklich verliebt. Und dann …, dann hörte ich von Philipps Krankheit.«

Desiree hörte ihr jetzt mit gespannter Aufmerksamkeit zu. Diese aparte junge Frau redete anders als ihre Altersgenossinnen, Desiree spürte in ihren Worten einen tiefen Ernst.

»Die hat ihn ziemlich aus der Bahn geworfen, oder?«, fragte Caroline jetzt.

Desiree zögerte. Sie konnte natürlich nicht mit jemandem, den sie kaum kannte, über Philipps Innerstes sprechen.

Caroline begriff sofort, was in ihr vorging. »Du sollst mir keine Geheimnisse erzählen«, versicherte sie hastig. »Es ist nur so …« Sie stockte, wusste nicht weiter, setzte erneut an. »Ich habe ihn heute zum ersten Mal seit langer Zeit wieder gesehen, und ich habe euch beobachtet, wie ihr miteinander redet. Ich war genauso neidisch auf dich wie mit vierzehn. Er ist, nachdem ich in den letzten Jahren einige Freunde hatte, immer noch der einzige Mann, der mich interessiert, Desiree. Aber es ist unmöglich, sich ihm zu nähern. Ich habe es vorhin versucht, aber er hat mich nicht erkannt – oder nicht erkennen wollen. Na ja, ich habe mich seit damals auch ziemlich verändert.«

»Du willst, dass ich euch irgendwie zusammenbringe?«, fragte Desiree.

»Geht das?«, fragte Caroline. »Ich meine, ich habe ihn früher immer nur aus der Distanz angehimmelt, er hatte ja ständig eine neue Freundin, und manchmal war eine von meinen Freundinnen seine Freundin, so dass ich ihm ein wenig näher kam. Aber …«

»Und warum warst du nie seine Freundin?«, fragte Desiree. »Du bist doch ausgesprochen hübsch, und damals hatte Philipp immer sehr hübsche Freundinnen.«

»Ich war überhaupt nicht

hübsch«, erklärte Caroline. Sie lächelte jetzt, ohne jede Koketterie. »Lang und dünn war ich, ohne Kurven, überall flach wie ein Brett. Meine Zähne standen schief im Mund, ich hatte eine überdimensional große Zahnspange, und Pickel hatte ich auch, dazu noch abstehende Ohren. Viel schlimmer ging es wirklich nicht. In meiner Klasse hieß ich nur ›Bohnenstange‹, und ich übertreibe bestimmt nicht, wenn ich sage, dass ich als Teenager ein ziemlich unglücklicher Mensch war.«

»Kaum zu glauben, wenn man dich heute ansieht«, stellte Desiree fest.

»Danke für das Kompliment«, sagte Caroline schüchtern. »Es hat mich übrigens ziemliche Überwindung gekostet, dich heute anzusprechen, aber jetzt bin ich froh, dass ich es getan habe. Ich kann sonst mit niemandem über Philipp reden. Ich meine, es versteht einfach kein Mensch, dass er für mich so wichtig ist, wo ich ihn doch praktisch kaum kenne.«

»Ich bin auch froh«, erklärte Desiree, »dass du mich angesprochen hast. Und er hat dich heute wirklich nicht erkannt?«

»Nein, aber mich erkennen die meisten nicht, wenn sie mich ein paar Jahre nicht gesehen haben. Offenbar habe ich mich stärker verändert als andere Menschen in dieser Zeit.« Caroline unterbrach sich und fragte dann mit ängstlichem Unterton: »Hilfst du mir?«

Desiree hatte ihre Entscheidung längst gefällt. »Klar, was dachtest du denn?« Sie umarmte Caroline und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Du hörst von mir!« Mit diesen Worten drehte sie sich um und ging. Sie hatte sogar schon einen Plan, aber das brauchte Caroline nicht zu wissen.

Und Philipp erst recht nicht.

*

Meine Güte, dachte Baronin Sofia von Kant leicht entnervt, muss sie sich so in den Vordergrund spielen? Sie hat doch nun den ganzen Abend lang wahrhaftig genug Aufmerksamkeit erfahren, aber offenbar reicht es ihr noch immer nicht.

Ihre Gedanken galten Ludmila von Lenau, die nur einige Meter von ihr entfernt stand und mit gleich drei jungen Männern flirtete, ohne Rücksicht auf deren Partnerinnen, die sie nicht einmal zu sehen schien, obwohl sie direkt neben ihr standen. Entsprechend säuerlich blicken diese drein, bis einer von ihnen der Kragen platzte. Sie nahm den Arm ihres Freundes und zerrte ihn, mehr oder weniger gewaltsam, mit sich. Wenig später folgte die andere ihrem Beispiel, was Ludmila jedoch nicht daran hinderte, kurz darauf das gleiche Spiel mit anderer Besetzung zu spielen.

»Ist ihre Schwester auch so?«, raunte sie ihrem Mann zu. »Du hast doch mit ihr getanzt!«

»Desiree ist völlig anders«, versicherte Baron Friedrich. »Ehrlich gesagt, wäre sie auch wie Ludmila gewesen, hätte ich meine Einladung an die Familie vielleicht doch noch bereut. Aber du brauchst keine Angst zu haben – außer dieser etwas aufgedrehten jungen Dame hat die Familie nur angenehme Mitglieder.«

»Sie ist ja wahrscheinlich ganz nett, aber ich mag es einfach nicht, wenn sich jemand pausenlos so aufspielt«, erklärte die Baronin. »Ich beobachte sie jetzt schon eine Weile, und das geht die ganze Zeit so, Fritz.«

Er beugte sich zu ihr hinüber und gab ihr einen Kuss auf die Wange. »Vergiss sie jetzt sofort!«, befahl er. »Guck mal, da kommt ja Desiree, dann kann ich euch gleich miteinander bekannt machen.«

Sofia konnte ihrem Mann nur Recht geben, als sich Desiree gleich darauf zu ihnen setzte. Was für eine angenehm zurückhaltende junge Frau war sie doch – unglaublich, dass die exaltierte Ludmila ihre Schwester war. Die beiden schienen überhaupt keine Gemeinsamkeiten zu haben.

»Ich habe eine Bitte an Sie beide«, sagte Desiree in diesem Augenblick, und Sofia wandte ihr sofort wieder ihre volle Aufmerksamkeit zu.

»Schon erfüllt«, meinte sie lächelnd.

»Warten Sie lieber«, bat Desiree. »Es ist eine etwas delikate Geschichte, und eigentlich dürfte ich Sie nicht einweihen, aber wenn ich es nicht tue, kann ich Sie auch nicht um den Gefallen bitten. Also …«

Baron Friedrich fing an zu lachen, auch Sofia konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. »Das war jetzt aber eine wirklich lange Vorrede, Desiree. Heraus mit der Sprache.«

Desiree rückte ein wenig näher und vertraute ihnen ihren Wunsch an.

Sofia und Friedrich genügte ein Blick, um sich zu verständigen. »Wie ich schon sagte«, meinte die Baronin daraufhin: »Der Wunsch ist schon erfüllt.«

Desiree errötete vor Freude. »Wirklich? Ich weiß gar nicht, wie ich Ihnen danken soll. Und Sie behalten das auch ganz bestimmt für sich?«

»Ganz bestimmt«, versicherte der Baron.

Als sie sich von ihnen verabschiedet hatte, sagte Sofia: »Sie ist bezaubernd, Fritz.«

»Habe ich etwas anderes behauptet?«, fragte er.

Nun war sie es, die ihm einen Kuss gab. »Nein, hast du nicht. Wollen wir noch einmal tanzen?«

»Mit dem allergrößten Vergnügen«, erwiderte Friedrich.

*

Es war Zufall, dass Ludmila und Maximilian einander vorgestellt wurden. Er hatte das Fest eigentlich längst wieder verlassen wollen, war aber seiner Großmutter zuliebe doch noch geblieben. Und dann, als er sich endlich auf dem Weg zum Ausgang befand, hatte ihn ein alter Freund aufgehalten und ihm Ludmila vorgestellt.

Seine Großmutter hatte sie recht zutreffend beschrieben, stellte er fest. Sie fing sofort an, mit ihm zu flirten, und er merkte, dass ihr der Gedanke, er könnte an diesem Flirt nicht interessiert sein, nicht einmal kam. Verwöhnt und oberflächlich, dachte er, und vor allem steht sie offenbar immer und überall im Mittelpunkt. Das ist der Platz, an den sie ihrer Ansicht nach hingehört. Wenn man ihr den jemals streitig macht, wird sie ausgesprochen ungnädig werden.

Sie war unbestreitbar attraktiv, aber er interessierte sich nun einmal nicht für selbstverliebte Frauen. Von seinen Gedanken ließ er sich natürlich nichts anmerken. Routiniert, aber ohne eine gewisse Distanz aufzugeben, ging er auf ihren Flirt ein, verabschiedete sich aber, sobald sich die erste Gelegenheit dazu bot. Er hielt noch einmal Ausschau nach Ludmilas Schwester Desiree, konnte sie jedoch auch jetzt nicht entdecken – bis er sie dann doch noch sah: in ein offenbar ernsthaftes Gespräch mit einem ihm unbekannten jungen Mann vertieft. Dieses Gespräch zu unterbrechen wäre unhöflich gewesen, und so ließ er seinen Wagen vorfahren und bat den Chauffeur, ihn nach Hause zu bringen. »Aber lassen Sie sich ruhig Zeit, Herr Arning, ich bin nicht sonderlich müde.«

»Wie Sie wünschen, Herr Graf. Hatten Sie einen angenehmen Abend?«

»Ich weiß nicht recht. Wenn nicht meine Großmutter achtzig Jahre alt geworden wäre, hätte ich mich sicherlich nicht herbegeben.«

»Dabei sind Sie ein so guter Tänzer«, stellte der Chauffeur fest. »Jedenfalls höre ich immer, dass die Damen das sagen.«

»Ach ja? Interessant, was Sie alles hören. Immerhin habe ich eine junge Frau gesehen, die mir anders zu sein schien als die anderen.«

»Haben Sie mit ihr getanzt?«

»Nicht einmal gesprochen habe ich mit ihr, ich habe sie nur eine Weile beobachtet. Meine Großmutter hat regelrecht von ihr geschwärmt. Sie wissen, das kommt selten vor.«

»Dann sollten Sie die junge Dame vermutlich kennenlernen, Herr Graf.«

»Ja, das habe ich mir selbst auch schon gesagt, Herr Arning.«

Maximilian musste nicht befürchten, dass etwas von dieser Unterhaltung nach außen drang. Andreas Arning hatte im letzten Jahr seinen siebenundsechzigsten Geburtstag gefeiert, den größten Teil seines Arbeitslebens hatte er in den Diensten der Grafen von Stellenburg gestanden. Er war durch und durch loyal, Maximilian hielt es für möglich, dass er nicht einmal mit seiner Frau über die Gespräche redete, die er mit seinem Arbeitgeber führte. Auch Frau Arning war bei Maximilian angestellt, sie war seine Haushälterin. Er konnte sich keine bessere wünschen. Manchmal kam ihm der verrückte Gedanke, dass diese beiden Menschen sein Familienersatz waren. Jedenfalls führte er mit ihnen persönlichere Gespräche als mit seinen tatsächlichen Verwandten – seine Großmutter vielleicht ausgenommen.

»Kann ich noch etwas für Sie tun, Herr Graf?«, fragte Andreas Arning, als sie die Auffahrt zu der Villa erreicht hatten, in der sie alle wohnten.

»Nein, vielen Dank, Herr Arning. Ihre Frau wird schon auf Sie warten. Und wollte nicht auch einer Ihrer Söhne zu Besuch kommen?«

Über das Gesicht des Chauffeurs huschte ein Lächeln. »Unser Jüngs­ter, ja. Meine Frau wird ihn wieder schrecklich verwöhnen. Aber ich habe ihm schon gesagt, dass er mir morgen bei der Autowäsche helfen muss.«

»Der Ärmste. Gönnen Sie ihm doch ein bisschen Freizeit.«

»Tu ich ja, aber er muss allmählich auch erwachsen werden. Wir haben ihn natürlich verwöhnt, weil er ein Nachkömmling war. Meine Frau war ja schon Mitte Vierzig, als sie ihn bekommen hat.«

»Ich wünsche Ihnen jedenfalls einen schönen Abend«, sagte Maximilian.

»Danke, Herr Graf, Ihnen auch.«

Maximilian zog sich gleich in sein Schlafzimmer zurück, obwohl er nicht müde war. Aber er wollte noch ein wenig Musik hören und nachdenken – unter anderem über die anmutig an eine Säule gelehnte Desiree.

Da hatte ihm seine Großmutter ja eine hübsche Idee in den Kopf gesetzt!

*

»Willst du mir nicht endlich sagen, was mit dir los ist?«, fragte Prinz Christian von Sternberg am Sonntagmorgen, als seine Cousine Anna von Kant und er allein beim Frühstück saßen. Annas Bruder Konrad würde erst viel später aufstehen – ebenso wie Annas Eltern, die am Abend zuvor auf einem Ball gewesen und erst spät in der Nacht zurückgekehrt waren.

»Nein«, nuschelte Anna, ohne den Blick zu heben. Sie biss lustlos von ihrem Brötchen ab, bisher hatte sie kaum etwas gegessen.

Anna war nicht nur Christians Cousine, sondern zugleich seine beste Freundin. Sie hatten keine Geheimnisse voreinander – und manchmal, wenn er glaubte, über etwas nicht sprechen zu können, stellte sich heraus, dass es nicht nötig war, weil sie es ohnehin schon erraten hatte. Nun jedoch verhielt sie sich bereits seit Tagen äußerst seltsam, sie wich ihm aus und hatte das Lachen offenbar verlernt. Er wusste nicht mehr, was er davon halten sollte. So kannte er sie nicht, und allmählich fragte er sich besorgt, ob sie vielleicht krank war.

»Ich will es aber wissen«, beharrte er jetzt. »Und ich finde es blöd von dir, mich dauernd anzuschweigen. Vielleicht kann ich dir ja helfen.«

»Kannst du nicht«, teilte sie ihm nach längerem Zögern mit.

»Woher willst du das wissen? Jedenfalls dachte ich immer, dass wir über alles reden können – und jetzt sitzt du hier und schweigst mich an. Das geht jetzt schon ewig so, Anna.«

»Ich weiß«, erwiderte sie trübselig.

Zu seinem nicht geringen Schrecken entdeckte er, dass sie feuchte Augen hatte. Anna weinte höchst selten – und wenn sie es doch tat, konnte man sicher sein, dass es einen ernsthaften Grund dafür gab. »Bist du krank?«, fragte er.

»Irgendwie schon«, murmelte sie und hob endlich die Augen. »Ich bin verliebt, Chris.« So wie sie es sagte, klang es nach der schlimmsten aller denkbaren Katastrophen.

Das war eine überraschende Neuigkeit, und Christian gestand sich ein, dass er auf diese Idee allein nicht gekommen wäre. Nicht einmal einen Verdacht hatte er gehabt. »In wen denn?«, fragte er so sachlich wie möglich.

Nun liefen ihr tatsächlich ein paar Tränen die Wangen hinunter. »In meinen neuen Englischlehrer«, schluchzte sie. »Das ist doch wirklich zu albern, oder? Ich meine, ich bin erst dreizehn und weiß ganz genau, dass er in mir nichts anderes sieht, als eine gute Schülerin – aber wenn er mich anlächelt und sagt: ›Sehr gut, Anna‹, dann …, dann …«

»Ich weiß, was du meinst«, erklärte Christian. Schließlich war er in Annas beste Freundin Sabrina von Erbach verliebt, und obwohl sie schon länger heimlich zusammen waren, brachte ihn ein Blick von Sabrina noch immer zum Schmelzen. Er wusste also tatsächlich ganz genau, wovon die Rede war.

»Die Sache ist jedenfalls aussichtslos«, stellte Anna fest.

Es beruhigte Christian ein wenig, dass sie ihren Verstand offenbar noch nicht verloren hatte, sondern die Situation realistisch einschätzte. »Ja«, bestätigte er, »das ist sie ganz bestimmt. Aber ist das wirklich so schlimm? Ich meine, du bist dreizehn, du willst dich ja wohl noch nicht verheiraten, oder? Du könntest von ihm träumen und …«

Anna sprang auf, warf ihr angebissenes Brötchen auf den Teller und rief: »Du verstehst aber auch gar nichts!« Mit diesen Worten stürmte sie aus dem Raum und knallte die Tür so heftig hinter sich zu, dass die Teller auf dem Tisch leise klirrten.

Der kleine Fürst starrte trübsinnig vor sich hin. Offenbar hatte er die falschen Worte gewählt, um Anna zu trösten.

*

»Du musst ihn doch gesehen haben!«, rief Ludmila aufgebracht. »Graf Maximilian von Stellenburg, ein Enkel von Fürstin Tatjana. Er sieht fantastisch aus, sage ich dir. Er war mir gleich aufgefallen – er kam erst ziemlich spät, und dann hat er leider ewig bei seiner Großmutter gesessen. Aber zum Schluss bin ich doch noch mit ihm ins Gespräch gekommen …«

»Ich habe ihn bestimmt nicht gesehen«, beharrte Desiree. Sie hätte hinzusetzen können, dass sie mit anderen Dingen beschäftigt gewesen war während des Balls, doch das behielt sie für sich. Ludmila verstand ohnehin nicht, wieso sie mit Philipp so eng befreundet war – und von Caroline würde sie ihrer Schwester garantiert nichts erzählen.

»Verstehe ich nicht.« Ludmilas Stimme klang jetzt leicht gereizt. »Du hast doch kaum getanzt. Was hast du denn dann gemacht, wenn du nicht einmal die interessanten Gäste gesehen hast?«

»Ich habe mich unterhalten«, erklärte Desiree friedlich. »Und, hast du dich gleich mit dem Grafen verabredet?«

Es war eine ganz harmlose Frage gewesen, auf die sie ganz selbstverständlich ein »Ja« als Antwort erwartet hatte, da sich immer alle Männer mit ihrer Schwester verabreden wollten, doch zu ihrer größten Überraschung färbten sich Ludmilas Wangen dunkelrot, und sie erwiderte mit kaum verhohlenem Ärger: »Nein, noch nicht. Wenn man den Männern zu sehr entgegenkommt, verlieren sie schnell das Interesse.«

In letzter Sekunde konnte Desiree die Bemerkung, die ihr auf der Zunge lag, hinunterschlucken. Sie war jetzt sicher, dass Graf von Stellenburg gar nicht versucht hatte, sich mit Ludmila zu verabreden – schließlich kannte sie ihre Schwes­ter gut. Ludmila war bei diesem Mann offenbar nicht so erfolgreich gewesen wie sonst. Nun bedauerte sie es doch, dass sie den Grafen nicht einmal bemerkt hatte, aber vermutlich würde sich das bei Gelegenheit nachholen lassen. Wen Ludmila haben wollte, den bekam sie auch – und den Grafen Stellenburg wollte sie offenbar haben.

»Na schön, du kannst ihn mir ja irgendwann mal vorstellen«, sagte sie, und damit war der Fall für sie erledigt.

Für Ludmila offenbar nicht, denn sie hatte den ganzen restlichen Tag schlechte Laune.

*

Philipp lag am Sonntag nach dem Ball bei Fürstin Tatjana gegen Mittag noch im Bett. Sein Bein schmerzte, wie immer, wenn er sich überanstrengt hatte, aber er versuchte, dem keine Beachtung zu schenken. Seiner Erfahrung nach war das die beste Methode. Wenn man den Schmerz vergaß, verschwand er schließlich. Und es fiel ihm sogar relativ leicht, sich abzulenken, weil er über Desirees Aussage nachdenken musste, dass er nicht nur etwas verloren hatte – nämlich die Unversehrtheit seines Körpers – sondern auch etwas gewonnen. War er wirklich reifer geworden? Hatte sich sein Horizont erweitert?

Er musste sich eingestehen, dass er seine Behinderung von dieser Seite noch nie gesehen hatte. Sie war ihm bisher stets nur eine Last gewesen, eine meist unerträgliche Last. Er trauerte seinem früheren Leben nach, wollte es wiederhaben und wusste doch, dass das unmöglich war.

Die Tür wurde aufgerissen, sein jüngerer Bruder Sebastian kam herein. Sie wohnten seit einem Jahr zusammen und kamen gut miteinander aus. »Du liegst noch im Bett?«, rief er entgeistert. »Mann, sogar ich bin schon seit einer Stunde auf.« Sebastian war bekennender Langschläfer.

»Gratuliere«, murmelte Philipp. »Du warst ja auch auf keinem Ball gestern.«

Sebastian ließ sich auf das Bett seines Bruders fallen. »Wie war’s denn?«, fragte er.

»Ganz nett«, antwortete Philipp. »Desiree war ja da, sonst wäre es natürlich vollkommen unerträglich gewesen.«

»Du und deine Desiree«, meinte Sebastian kopfschüttelnd. »Warum seid ihr eigentlich kein Paar, ihr beiden? Ihr versteht euch doch blind!«

»Vielleicht deshalb«, versuchte Philipp zu erklären. »Es knistert nicht. Wir mögen uns einfach und können uns alles erzählen. Aber wir sind nicht verliebt ineinander.«

»Bist du sicher?«, erkundigte sich Sebastian. »Manchmal habe ich nämlich schon den Eindruck, dass du mehr von ihr willst als reine Freundschaft.«

Philipp dachte darüber nach, schüttelte aber schließlich den Kopf. »Nein, du irrst dich«, erklärte er.

»Okay, wenn du meinst. Wollen wir ein bisschen raus?«

»Wohin denn?«

»Keine Ahnung. Einfach ein biss­chen Spaß haben.«