Friedrich Hebbel

WELTGERICHT MIT PAUSEN

Aus den Tagebüchern

Auswahl und Nachwort

von Alfred Brendel

 

 

 

 

 

 

 

Carl Hanser Verlag

 

Zitiert nach der Ausgabe in den Hanser Klassikern

Friedrich Hebbel: Werke in 5 Bänden

herausgegeben von Werner Keller und Karl Pörnbacher

Band 4 und 5

 

 

 

 

eBook ISBN 978-3-446-23351-5

Alle Rechte vorbehalten

© 2008 Carl Hanser Verlag, München

Satz: Greiner & Reichel, Köln

Datenkonvertierung eBook:

Kreutzfeldt Electronic Publishing GmbH, Hamburg

www.hanser.de

INHALT

 

 

7Einleitung

 

 

11Jeder Charakter ist ein Irrtum

Aphorismen, Meinungen, Behauptungen

 

43Ein fetter Bettler

Kuriosa, Grotesken, Beobachtungen

 

93Napoleons Kammerdiener

Träume

 

103Ein böses, unheilgebärendes Feuer

Persönliches

 

117Dichten heißt, sich ermorden

Zu Literatur und Theater

 

 

153Nachwort

 

171Personenregister

EINLEITUNG

Unter den schönen, wichtigen, kuriosen und überflüssigen Büchern, die meine Bibliothek beherbergt, sind Hebbels Tagebücher etwas Einzigartiges: Sie sind dies alles auf einmal. Es entfaltet sich darin das Panorama einer genialen Persönlichkeit, die vom Großartigen bis ins Fragwürdige reicht, ein Gesamtbild, das in solcher Vielschichtigkeit und Widersprüchlichkeit seinesgleichen sucht. Von Tagebüchern des üblichen Zuschnitts ist hier kaum mehr zu reden: Peter von Matt hält Hebbels Version dieser Gattung geradezu für eine eigene Kunstform, und zwar jene, in der er seiner Zeit am weitesten vorauseilte. Dass sie auch Überflüssiges, Überholtes, allzu Zeitgebundenes mit einschließt, schmälert nicht die erstaunliche Originalität eines Unternehmens, das den Rahmen eines Dokuments nach allen Richtungen sprengt.

Als mir vor Jahrzehnten Hebbels Tagebücher in einem Wiener Antiquariat in die Hände fielen, hatte ich von ihm die Vorstellung eines etwas verkrampften Grüblers, eines Bühnendichters, dem die Welt als unrettbar tragisch galt, eines eher zerebralen Lyrikers und ästhetischen Dogmatikers – eine Vorstellung, die mir, dem Shakespeare- und Nestroy-Verehrer, den Umgang mit Hebbel nicht gerade aufdrängte. Mit seinen Tagebüchern entdeckte ich einen ganz neuen Autor, der mein Herz und Hirn im Nu elektrisierte. Ich hatte bereits Lichtenberg mit Entzücken gelesen und das Theater Becketts und Ionescos als etwas Ersehntes und Erwartetes begrüßt. Zumal in den kürzeren, fragmentarischen Eintragungen erschien mir Hebbel nun wie ein Brückenschlag vom Göttingen des 18. Jahrhunderts in meine eigene absurde Gegenwart. Ich erlebte das »Gefühl, als ob Dinge emportauchten, die im Chaos steckengeblieben sind« [Tagebücher 5906]. Was hier zum Vorschein kommt, sind Momente schärfster Klarheit, aber auch solche, die sich traumhaft ihren Weg aus dem Unbewussten gebahnt haben.

Wenn Lina, die Haushälterin meines Lehrers Edwin Fischer, nach dem Besuch eines meiner Konzerte bei mir im Künstlerzimmer erschien, freute ich mich schon darauf, dass sie sagen würde: »Schön haben sie gespielt, Herr Brendel – auch die schönen Stellen!« Nun hat das, was von Frau Gerlieb als »schöne Stellen« wahrgenommen wurde, innerhalb der musikalischen Architektur eines Beethoven-Konzerts einen anderen Stellenwert als die schönen (kuriosen, verrückten, besonderen) Stellen im Konglomerat von Hebbels Diarium. Sie aus dieser zufälligen Anhäufung herauszugreifen, schien mir legitim und wünschenswert. Die Anordnung in Aphoristisches, Kurioses, Träume, Privates und Literarisches ergab sich gleichsam von selbst. Die Reihenfolge ist jeweils chronologisch.

Ich bitte den Leser nun, sich auf Hebbels »beschneites Feuerwerk« einzulassen. Die Begegnung soll so unmittelbar wie möglich ausfallen. Weitere Auskünfte und Hinweise gibt dann das Nachwort.

Im Zusammenhang mit dieser Arbeit danke ich drei guten Geistern: Peter von Matt, Klaus Reichert und Michael Krüger.

A. B.

JEDER CHARAKTER
IST EIN IRRTUM

Aphorismen, Meinungen, Behauptungen

Die Linie des Schönen ist haarscharf und kann nur um 1000 Meilen überschritten werden. Das Geringste ist alles.

[19]

 

»Er übertrifft sich selbst!« Was freilich in den meisten Fällen sehr leicht ist.

[1]

 

Die Unbehaglichkeit des Menschen während geistiger Revolutionen ist, wie die Kränklichkeit seines Körpers beim Wachsen. Zunehmen, wie Abnehmen, ist Tod (des Bestehenden).

[55]

 

Ich kann mir keinen Gott denken, der spricht.

[66]

 

Religion ist die höchste Eitelkeit.

[79]

 

Das Komische ist die beständige Negation der Natur.

[99]

 

Die Gefahr versteinert Hasen und erzeugt Löwen.

[100]

 

Götter zu entzücken, mag gelingen,

Schweine wirst du nicht zum Weinen bringen.

[128]

 

Schwerer, als dankbar zu sein, ist es, die Ansprüche auf Dank nicht zu übertreiben.

[222]

 

Der Humor ist die einzige absolute Geburt des Lebens.

[329]

 

Des Menschen Glück ist nicht an seine Kraft, sondern an seine Laune geknüpft.

[331]

 

Es hat sein Angenehmes, dass man nicht aus der Welt heraus kann.

[332]

 

Uns freut selten so sehr das einer Natur Gemäße, als das ihr nicht Gemäße. Dass Quecksilber flüchtig ist, finden wir zu alltäglich, aber wenn Eisen zu tanzen anfinge, würden wir klatschen.

[379]

 

In die Hölle des Lebens kommt nur der hohe Adel der Menschheit; die andern stehen davor und wärmen sich.

[498]

 

Ein Philosoph ist, wie ein toller Hund, der nicht links, noch rechts sieht und nur nach dem schnappt, was ihm gerade entgegenkommt.

[723]

 

Große Menschen sind Inhalts-Verzeichnisse der Menschheit.

[733]

 

Für meinen Nächsten würde oft dabei wenig herauskommen, wenn ich ihn liebte, wie mich selbst.

[742]

 

Wer die Menschen kennenlernen will, der studiere ihre Entschuldigungsgründe.

[787]

 

Das Anscheinend-Gute beziehen wir immer auf überirdische Zustände; warum nicht auch das Anscheinend-Böse?

[806]

 

Die Welt hat sogar Mitleid mit den Märtyrern des Schlechten.

[945]

 

Zur Wahrheit wollte ich schon kommen, hätte ich nur Zeit, zu irren.

[952]

 

Das Spiel enträtselt nicht den Zufall, aber wohl einen Mitspieler dem andern.

[987]

 

Diejenigen Menschen, die sich auf demselben Wege befinden, aber in verschiedenen Stadien, sind am weitesten auseinander.

[1001]

 

Aller Irrtum ist maskierte Wahrheit.

[1020]

 

Unschuld ist erwachende Sinnlichkeit, die sich selbst nicht versteht.

[1091]

 

Eigensinn ist das wohlfeilste Surrogat für Charakter.

[1074]

 

Es gibt Menschen, die nur das anbeten, was sie vernichten können.

[1082]

 

Am Ende existiert der Mensch nur durch seine Bedürfnisse.

[1103]

 

Oft ist es, als ob im Menschen ein hohes geistiges Bedürfnis erwachte, indem er ein körperliches befriedigt. Gewiss ist die Sinnlichkeit die Klaviatur des Geistes.

[1110]

 

Es ist am Ende an der Religion das Beste, dass sie Ketzer hervorruft.

[1167]

 

Die Philosophie ist eine höhere Pathologie.

[1170]

 

Bis an seinen Tod kann jeder ohne Speis und Trank leben; man nennt das aber verhungern.

[1194]

 

Die Masse macht keine Fortschritte.

[1206]

 

Wer die Schlange sieht, der sieht das Paradies nicht mehr.

[1214]

 

Sitzen bleiben schützt allerdings gegen die Gefahr, zu fallen.

[1230]

 

Die tugendhaften Leute bringen die Tugend herunter.

[1302]

 

Dass die Schmerzen miteinander abwechseln, macht das Leben erträglich.

[1314]

 

Ich glaube, eine Weltordnung, die der Mensch begriffe, würde ihm unerträglicher sein, als diese, die er nicht begreift. Das Geheimnis ist seine eigentliche Lebensquelle, mit seinen Augen will er etwas sehen, aber nicht alles; sieht er alles, so meint er, er sieht nichts.

[1339]

 

Es gibt einen Zustand, worin man des Wahnsinns nicht mehr fähig ist. – Nur das Elend ist liebenswürdig.

[1359 Anm.]

 

Der Mensch ist ein Blinder, der vom Sehen träumt.

[1421]

 

Künstlerische Tätigkeit: höchster Genuss, weil zugleich Gegenteil von Genuss.

[1432]

 

Es gibt Persönlichkeiten, deren Ich mehr ihrer Ansprüche befriedigt, denen es mehr bietet, als die ganze übrige Welt.

[1461]

 

Wie andere ihn betrachten und wofür sie ihn halten: das ist die Atmosphäre, worin der Mensch lebt und der beste kann in der schlechtesten ersticken.

[1505]

 

Der Glaube ist der beste, bei welchem der Mensch am meisten gewinnt und Gott am meisten verliert.

[1508c]

 

Nur, weil die Sonne keinem gehört, gehört sie allen.

[1531]

 

Man muss nicht vom Maler verlangen, dass er neue Farben erfinden soll.

[1581]

 

Das Göttliche lehnt sich gegen Gott auf, weil es seinesgleichen ist.

[1698]

 

Das Leben ist vielleicht auch nur ein höchster Begriff, wie Raum und Zeit; es ist die Kategorie der Möglichkeit.

[1759]

 

Der letzte Zustand ist immer eine Satire auf die vorhergehenden.

[1800]

 

Lieben heißt, in dem anderen sich selbst erobern.

[1876]

 

Der Mensch dachte sich sein eignes Gegenteil; da hatte er seinen Gott.

[1883]

 

Das Leben ist eine Plünderung des inneren Menschen.

[1920]

 

Es müsste eigentlich im Leben nichts Besitz sein, nicht einmal das eigene Selbst müsste einem angerechnet werden; es müsste so sein, als ob man in jeder Minute zugleich geboren würde und stürbe. Immer neu; das wär Leben, jetzt zehrt ein Tag vom andern und am andern.

[1929]

 

Genie ist Intelligenz der Begeisterung.

[1952]

 

Der förmliche Abschluss der ehelichen Verbindung ist entweder überflüssig oder frevelhaft.

[1967]

 

Das Weib im Mann zieht ihn zum Weibe; der Mann im Weibe trotzt dem Mann.

[1981]

 

»Der Wolf und das Lamm, wer ist besser?« Der Wolf fraß das Lamm und sprach: nun bin ich Wolf und Lamm zugleich!

[1983]

 

Das Leben ist ein ewiges Werden. Sich für geworden halten, heißt sich töten.

[2005]

 

Auch mit Taten kann man sich schminken. Wenn der wahre Mensch manches Einzelne durch die Totalität seines Lebens und Wesens zu entschuldigen glaubt, so wähnt der falsche umgekehrt, durch ein löbliches Einzelnes die Schlechtigkeit des Ganzen zu rechtfertigen.

[2009]

 

Es gibt kein Perpetuum mobile, aber auch nicht sein Gegenteil. Wir sehen überhaupt nur Mitteldinge.

[2018]