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Engel, Hexen, Wiedertäufer

Evelyn Barenbrügge (Hrsg.)

Engel, Hexen, Wiedertäufer

Historische Geschichten aus dem Münsterland

 

 

 

 

 

Waxmann

Münster / New York / München / Berlin

ISBN 978-3-8309-5076-9

 

© Waxmann Verlag GmbH, Münster 2013

www.waxmann.com

info@waxmann.com

 

Umschlaggestaltung und Satz: Inna Ponomareva, Münster

Umschlagabbildung: „Blick auf Billerbeck vom Windmühlenberg“ (1830)
von A.H. Chr. Esselbrügge, Privatbesitz Max Elpers

Druck: cpibooks, Ulm

 

 

Printed in Germany

 

Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck, auch auszugsweise, verboten.
Kein Teil dieses Werkes darf ohne schriftliche Genehmigung
des Verlages in irgendeiner Form reproduziert oder unter Verwendung
elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Inhalt

Vorwort

 

R. Kölpin Preis der Freiheit

E. Theiss Das Hurenkind

B. Lorenz Der Schatz des Müllers

J. Stadler Drei Kerben und ein Königspfenning

O. Baumfels Der Glöckner von Billerbeck

E. Weigel Wenn Weiber über ihre Sphäre steigen

Ch. Hanewinkel Der Richthof zu Bilrebecke

K. Rogge Die englische Zange

E. Skulds Stupor Mundi

A. S. Meyer Kopflos

C. J. Gundt In Stein gehauen

R. Behr Der Werwolf von Ahlen

A. Lay Agnes und der Engel

G. Frake Wolfsmilch

U. Dittmar In falschen Kleidern

U. W. Schulz Silberstein

T. Hohn Wolfsauge

G. Uhde Judiths Schuhe

G. Veit Die Nacht der Tochter

H. J. Niehues Links und rechts vom Mühlenbach

 

Autorinnen und Autoren

Vorwort

 

 

Die Geschichte des Münsterlandes ist so bunt wie ein Kaleidoskop, und oft lässt erst der zweite Blick erkennen, wie groß der geschichtliche Hintergrund einer kleinen Begebenheit sein kann. Geprägt durch kriegerische Handlungen, den Westfälischen Frieden, die Verwurzelung in Glaube, Heimat und Kultur, einen besonderen Humor und die Nachbarschaft zu den Niederlanden entstand hier über Jahrhunderte ein besonderer Menschenschlag.

 

Alle Beiträge in dieser Anthologie wurden über einen Kurzgeschichtenwettbewerb unter dem Titel „Glanz und Schatten – Geschichten aus Billerbeck und dem Münsterland zwischen 800 und 1900“ ermittelt. Die Geschichten wurden als beste aus den Einsendungen ausgewählt. Für diese Vorleistung bedankt sich die Herausgeberin bei den Jurymitgliedern und Quo-Vadis-Autoren Angeline Bauer, Claudia Schmid und Alf Leue. Den Kurzgeschichtenwettbewerb hatte der Autorenkreis im Januar 2013 ausgeschrieben. Im November 2013 kommen die Mitglieder von Quo Vadis zur ‚Historica‘ zusammen, ihrem traditionellen Treffen, bei dem auch die drei Siegertexte vorgestellt werden.

In diesem Jahr ist Billerbeck Tagungsort und so darf die Textsammlung „Engel, Hexen, Wiedertäufer – historische Geschichten aus dem Münsterland“ als Anthologie zum Literaturfestival ‚Historica 2013‘ verstanden werden.

 

Billerbeck im Oktober 2013

Evelyn Barenbrügge

Regine Kölpin

 

Preis der Freiheit

 

 

Münster, 1535

Das Letzte, was Hinrich Krechting sah, war der Sternenhimmel über Münster. Das Letzte, was er roch, war Feuer. Dann wurde ihm schwarz vor Augen.

Er erwachte in einem dunklen Raum. Nur durch die Ritzen
eines kleinen, mit Brettern vernagelten Fensters fiel etwas Mondlicht. Krechting lag mit dröhnendem Kopf auf dem Rücken, Füße und Hände waren gefesselt. Dafür, dass in den Straßen vorhin heftige Kämpfe getobt hatten, war es nun außergewöhnlich still. Nur vereinzelt drangen noch Schreie durch die Nacht, galoppierten Reiter durch die Gassen. Weshalb hatte man ihn aus der Wagenburg am Prinzipalmarkt hierher verschleppt?

Beabsichtigte man, ihn hier enden und mitsamt der Vision des Neuen Jerusalems untergehen zu lassen? Wollte man ihm wie seinen Glaubensbrüdern den Kopf von den Schultern säbeln? Oder drohte ihm gar das Schicksal seiner engsten Freunde? Der Täuferkönig Jan van Leiden, Bürgermeister Knipperdolling und Stadtschreiber Bernd Krechting, Hinrichs Bruder, saßen längst im Kerker gefangen und warteten darauf, den Raben zum Fraß vorgeworfen zu werden. Bei diesem Gedanken drohte Krechting innerlich zu zerreißen. Er, der immer glaubte, das Wort Furcht käme in seinem Wortschatz nicht vor, erzitterte nun wie ein räudiger Hund vor der Macht des Bischofs von Waldeck. Seit dieser im September 1532 die Ritterschaft nach Billerbeck eingeladen hatte, um seine Strategie gegen die Täufer auszuhandeln, war selbst Jan van Leiden klar geworden, dass ihre Vorstellung von
einer neuen Welt auf sehr wackeligen Füßen stand. Obwohl er es nie zugegeben hätte: Jan van Leiden, der König der Täufer, glaubte fest daran. Bis zum letzten Atemzug.

Krechting biss die Zähne zusammen. Es konnte und durfte nicht sein, dass er hier verreckte. Er hatte von Gott eine Aufgabe erhalten, hatte dafür sein ganzes Leben verändert, mit Freunden und alten Wertvorstellungen gebrochen. Seine einzige und wahre Lebensaufgabe lautete: Errichte ein Täuferreich, sammle die Gläubigen um dich und kämpfe!

Hinrich zerrte an den Fesseln, doch je heftiger er sich zu befreien versuchte, desto fester zogen sie sich. Er hielt inne, als die Tür aufgestoßen wurde und sich jemand in den Raum schob. Kalte Luft umspülte
seinen Kopf und belebte ihn auf angenehme Weise.

„Wer seid Ihr?“, stieß Hinrich aus.

Der Fremde verharrte einen Augenblick, kehrte dann um und kam kurz darauf mit einer Fackel zurück. Als der Lichtschein das Gesicht des Mannes erhellte, erkannte Krechting, wer da vor ihm stand. „Ihr steckt also dahinter“, quetschte er heraus. „Ihr also!“

Der Mann löste die Fesseln. „Mein Wächter steht draußen, also versucht gar nicht erst, mich zu überwältigen. Es wäre ohnehin sinnlos, Münster ist soeben gefallen.“

Hinrich Krechting rieb sich den Oberarm, der von der einseitigen Haltung schmerzte. „Mein alter Weggefährte Johann von Raesfeld. Wie komme ich zu dieser Ehre?“ Er versuchte so viel Spott in seine Stimme zu legen, wie ihm angesichts seiner Lage möglich war.

Der Oberst musterte Krechting, ohne auf seine Frage einzugehen. „Ihr seid es wirklich. Ich habe mich also nicht getäuscht, als ich euch zu erkennen glaubte. Mein Wächter hat Euch hierher gebracht.“

Krechting hatte sich mittlerweile aufgesetzt und lehnte mit dem Rücken an der Wand. Für mehr fehlte ihm die Kraft. „Was wollt Ihr von mir? Ich wüsste nicht, was uns noch verbindet.“

„Ihr habt Euch auf die falsche Seite geschlagen, Krechting. Wie konntet ihr Euch dieser Sache bloß anschließen? Ein neues Jerusalem!“, stieß von Raesfeld verächtlich aus.

Krechting schwieg. Es war sinnlos, mit dem Oberst zu diskutieren. Ihre alte Freundschaft galt nichts mehr. Sie waren jetzt Feinde, egal, was sie einst miteinander verbunden hatte.

Johann von Raesfeld verzog die Brauen. „Eigentlich müsste ich Euch töten, das wisst Ihr.“

„Und warum habt Ihr es nicht längst getan?“, hielt Krechting entgegen. „Es wäre Euch ein Leichtes gewesen.“

Johann von Raesfeld nickte. „Ich habe Euch am Leben gelassen, obwohl Ihr auf der falschen Seite steht, obwohl es mich meinen Kopf kosten kann, dass Ihr nicht in der Hölle schmort.“ Er lachte bitter auf. „Verzeihung, das Fegefeuer existiert für dich ja nicht … Hinrich.“

Krechting hob die Brauen, weil der Oberst plötzlich zur vertraulichen Anrede übergegangen war, so als versuche er, die alte Verbundenheit wiederherzustellen. Aber sie befanden sich im Krieg, da galten weder persönliche Verstrickungen noch längst verblasste Freundschaften. Welch alte Schuld von Raesfeld auch dazu veranlasst hatte, Hinrich Krechting am Leben zu lassen, es würde an eine Bedingung gekoppelt sein. Krechting würde seine Überzeugungen nicht an einen Papisten verraten. Niemals!

„Du hast mir einst das Leben gerettet“, begann von Raesfeld.

„Damals standen wir beide auf derselben Seite, damals verfolgten wir dieselben Ziele. Jetzt aber …“

„Ich schulde dir ein Leben“, fiel der Oberst ihm ins Wort. „Ein verdammtes Täuferleben.“

Hass tanzte über sein Gesicht. Nach kurzer Zeit hatte von Raesfeld sich jedoch wieder in der Gewalt. „Zehn Goldgulden und zwei Dutzend Mitkämpfer sind mein Angebot. Außerdem kannst du deine Familie und deinen Neffen Wolter Schemering mitnehmen, diesen Mundschenk. Ihr alle erhaltet mit einem bischöflichen Begleitschein freies Geleit aus der Stadt.“

Krechting musterte seinen alten Freund abschätzend. „Um mir ein solches Angebot zu unterbreiten, lasst Ihr mich zusammenschlagen und durch die Stadt schleifen?“ Er spuckte aus. „Ich als Täufer lasse mir bestimmt nicht von einem Mannen des Bischofs zur Flucht verhelfen! Da verrecke ich lieber!“ Krechting war versucht, aufzustehen und dem Oberst mit letzter Kraft die Faust in sein selbstgefällig grinsendes Gesicht zu hämmern.

„Johann von Raesfeld“, hob Krechting an, als die Stille unerträglich zu werden schien. Seine Stimme war eine Spur zu laut, sie klang, als spräche er in ein leeres Fass. „Ihr steht vor dem Kanzler Jan van Leidens. Ihr habt meine Glaubensbrüder abschlachten lassen, Ihr habt den Mann, den wir als unseren König erachten, gefangen genommen und werdet ihn töten. Euer Anliegen ist respektlos.“

„Es ist die einzige Möglichkeit für Euch, Münster zu verlassen. Die wirklich einzige“, entgegnete der Oberst.

Krechting schluckte. Johann von Raesfeld hatte recht, ob es ihm gefiel oder nicht. „Wie hoch ist der Preis? Was ich einst für Euch getan habe, kann Euch nicht reichen“, flüsterte er. „Solchen Edelmut habt Ihr nicht.“

Johann von Raesfeld zerrte kommentarlos eine Schriftrolle aus der Weite seines Ärmels, an dem noch das Blut von Krechtings Glaubensbrüdern klebte. Angewidert wandte Krechting sich ab, als der Oberst ihm das Papier vors Gesicht hielt. „Das ist die Bedingung. Diese Epistel musst du in Billerbeck auf der Wasserburg Hameren meiner Familie übergeben.“

Krechting griff hastig nach dem Papier, während von Raesfeld weitersprach. „Ich brauche Verstärkung, denn wir werden weiter auf Widerstand stoßen. Wir sind am Ende unserer Kräfte.“

Hinrichs Stimme zitterte, die Papierrolle in seiner Hand vibrierte. „Wenn ich das tue, verrate ich meine Brüder und Schwestern, die das Gemetzel Eurer Truppen überlebt haben.“

„Du rettest Weib und Kind“, erwiderte von Raesfeld. „Und zwei Dutzend weitere Menschen. Deine Flucht ermöglicht dir viel. Von Billerbeck aus kannst du weiter ins Emsland reisen oder gar ins sichere Ostfriesland. Wolter Schemering hat Verbindungen in die Herrlichkeit Gödens.“

Krechting warf das Schriftstück auf den Boden, schlug die Hände vors Gesicht und krallte die Fingerkuppen in den Haaransatz. „Nein!“ Er reckte von Raesfeld den Hals entgegen. „Los, schlag mir den Kopf ab! Ich verrate meine Brüder nicht! Niemals!“

Johann von Raesfeld bückte sich, hob das Papier auf und rollte es wieder ein. „Hinrich, das Schicksal Münsters und das deiner Brüder und Schwestern ist bereits besiegelt. Egal, was du tust.“ Er stieß die Tür auf. Wieder ergoss sich ein Schwall kalter Luft in den Raum. Draußen war es beängstigend still geworden. „Die Schlacht ist entschieden. Sieh zu, dass du die Stadt verlässt! Hier kann dir und deiner Familie niemand mehr helfen!“

Krechtings Haltung hatte sich nicht verändert. Er hielt die Augen geschlossen, dachte an das Blut, das den Prinzipalmarkt rot gefärbt hatte. Er erinnerte sich an die Schreie seiner Glaubensbrüder, die nun vollends verstummt waren. Die Stille im Raum war fast unerträglich. Hinrich Krechting, der Kanzler des Täuferkönigs, war der Willkür seines alten Freundes ausgeliefert.

„Ihr habt gewusst, dass ich nicht ablehnen kann“, stieß Krechting schließlich hervor. Er schob die Schriftrolle in seinen Ärmel, als von Raesfeld sie ihm zum zweiten Mal reichte. Sie schien sich in seine Haut zu brennen. „Wann können wir die Stadt verlassen?“, fragte er mit gesenktem Kopf und hasste sich für diese demütigende Geste.

„Morgen früh, sobald die Sonne aufgeht. Sollte das Papier bis zur Dämmerung nicht in Billerbeck angekommen sein, werden wir euch finden, dessen sei gewiss.“ Damit empfahl sich von Raesfeld.

 

Als Krechting mit seinem kleinen Tross die Stadt verließ, war es ihm, als verliere er alles, was ihm bislang wichtig gewesen war. Er verließ die Menschen, die ihm am nächsten gestanden hatten und die Stadt, in der er kürzlich noch hatte sterben wollen. Erst gegen Morgen war ihm die befreiende Erkenntnis gekommen, dass sein Entschluss keine feige Flucht, sondern die Möglichkeit zu einem Neubeginn war. Er würde sich nicht in Ostfriesland verstecken, sondern mithilfe des Grafen Anton von Oldenburg den Traum vom Neuen Jerusalem endlich in die Tat umsetzen. Johann von Raesfeld glaubte gewonnen zu haben, hatte aber in Wahrheit bloß eine neue Schlacht angezettelt. Eine Schlacht, die Hinrich Krechting dieses Mal gewinnen wollte.

Als sie sich Billerbeck näherten, beschloss Krechting, die auf dem östlichen Teil einer Insel gelegene Wasserburg derer von Raesfeld allein aufzusuchen. Sein Neffe Wolter hatte deutlich gemacht, dass er sofort in Richtung Emden und dann nach Gödens reisen würde.

Bei Einbruch der Dunkelheit machte sich Hinrich Krechting auf den Weg. Ihm wurde kalt, als er die Feuer des kleinen Lagers nicht mehr im Rücken wusste. Der Schrei eines Kauzes ließ ihn zusammenzucken, ebenso wie das Knacken der Bäume, wenn der Wind hindurchstrich.

Als er aus dem kleinen Wäldchen trat, baute sich der Rundturm der Wasserburg Hameren fast bedrohlich vor ihm auf, seine Ziegel wurden hell vom Mondlicht angestrahlt. Nur noch kurze Zeit und er würde frei sein für neue Ziele, Münster sollte nicht umsonst gefallen sein. Es hatte ihn verschont, damit er Gottes Willen umsetzen konnte. Er würde eine andere Luft als die des Münsterlandes atmen, er würde fremde Menschen in sein Leben lassen und viele von ihnen davon überzeugen müssen, dass sein Weg der richtige war. Und er musste lernen zu verdrängen, welche Opfer bisher von ihm verlangt worden waren.

Vom Burghof schallte der Klang einer Schalmei. Eine trügerische Harmonie in einer Zeit, die alles andere als friedlich war und auch zukünftig nicht friedlich sein würde. Ihm schlug der Duft von Gebratenem entgegen. Aber jetzt war nicht die Zeit, sich den Magen zu füllen. Jetzt galt es, sich die Freiheit für das neue Täuferreich, das Neue Jerusalem, zu erkaufen. Nur noch wenige Schritte trennten ihn vom großen Ziel. Krechting sprang vom Pferd und begehrte Einlass.

Ella Theiss

 

Das Hurenkind