Walter Benjamin, geboren am 15. Juli 1892 in Berlin, nahm sich am 26. September 1940 auf der Flucht vor der Gestapo in dem spanischen Grenzort Port Bou das Leben. Hauptwerke: Goethes ›Wahlverwandtschaften‹; Ursprung des deutschen Trauerspiels; Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit; Einbahnstraße; Berliner Kindheit um Neunzehnhundert und mehrere Aufsätze, die zu dem Komplex der Fragment gebliebenen Untersuchung Paris, Hauptstadt des 19. Jahrhunderts gehören.

Dieser Band vereinigt fünf Texte, die in einem inneren Zusammenhang stehen; sie zeigen die Entwicklung zentraler Motive von Benjamins Denken auf. Eingeleitet wird er durch eine sehr frühe Studie Über das Programm der kommenden Philosophie. Es folgen die Aufsätze Zur Kritik der Gewalt, wo Benjamins Schicksalsbegriff Gestalt gewinnt, und Schicksal und Charakter, eine Arbeit, die er selbst als ein Modell der ihm vorschwebenden philosophischen Theorie bezeichnet hat. In zwei Texten aus dem Nachlaß, den Geschichtsphilosophischen Thesen und dem Theologisch-politischen Fragment, kehren die Gedanken des frühen Benjamin wieder, auf einer anderen Stufe der Reflexion.

»Selten ist die Wahrheit der kritischen Theorie in einer so vorbildlichen Form ausgesprochen worden: der revolutionäre Kampf geht um die Stillstellung dessen, was geschieht und geschehen ist. Vor allen positiven Zielsetzungen ist diese Negation das erste Positive.« Herbert Marcuse

Walter Benjamin

Zur Kritik der Gewalt
und andere Aufsätze

Mit einem Nachwort versehen
von Herbert Marcuse

Suhrkamp

eBook Suhrkamp Verlag Berlin 2016

Der vorliegende Text folgt der 13. Auflage der Ausgabe

der edition suhrkamp 103.

© Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main 1965

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Umschlagkonzept: Willy Fleckhaus

eISBN 978-3-518-74395-9

www.suhrkamp.de

Inhalt

Über das Programm der kommenden Philosophie

Zur Kritik der Gewalt

Schicksal und Charakter

Geschichtsphilosophische Thesen

Theologisch-politisches Fragment

Nachwort von Herbert Marcuse

Über das Programm der kommenden Philosophie

Es ist die zentrale Aufgabe der kommenden Philosophie1 die tiefsten Ahnungen die sie aus der Zeit und dem Vorgefühle einer großen Zukunft schöpft durch die Beziehung auf das Kantische System zu Erkenntnis werden zu lassen. Die historische Kontinuität die durch den Anschluß an das Kantische System gewährleistet wird ist zugleich die einzige von entscheidender systematischer Tragweite. Denn Kant ist von denjenigen Philosophen denen es nicht unmittelbar um den Umfang und die Tiefe, sondern vor Allem, und zu allererst, um die Rechtfertigung der Erkenntnis ging der jüngste und nächst Platon auch wohl der Einzige. Diesen beiden Philosophen ist die Zuversicht gemeinsam, daß die Erkenntnis von der wir die reinste Rechenschaft haben zugleich die tiefste sein werde. Sie haben die Forderung der Tiefe aus der Philosophie nicht verbannt, sondern sie sind ihr in einziger Weise gerecht geworden indem sie sie mit der nach Rechtfertigung identifizierten. Je unabsehbarer und kühner die Entfaltung der kommenden Philosophie sich ankündigt, desto tiefer muß sie nach Gewißheit ringen deren Kriterium die systematische Einheit oder die Wahrheit ist.

Die bedeutendste Hemmung welche dem Anschluß einer wahrhaft zeit- und ewigkeitsbewußten Philosophie an Kant sich bietet ist jedoch in Folgendem zu finden: diejenige Wirklichkeit deren Erkenntnis und mit der er die Erkenntnis auf Gewißheit und Wahrheit gründen wollte, ist eine Wirklichkeit niedern, vielleicht niedersten Ranges. Das Problem der Kantischen wie jeder großen Erkenntnistheorie hat zwei Seiten und nur der einen Seite hat er eine gültige Erklärung zu geben vermocht. Es war erstens die Frage nach der Gewißheit der Erkenntnis die bleibend ist; und es war zweitens die Frage nach der Dignität einer Erfahrung die vergänglich war. Denn das universale philosophische Interesse ist stets zugleich auf die zeitlose Gültigkeit der Erkenntnis und auf die Gewißheit einer zeitlichen Erfahrung, die als deren nächster wenn nicht einziger Gegenstand betrachtet wird gerichtet. Nur ist den Philosophen diese Erfahrung in ihrer gesamten Struktur nicht als eine singulär zeitliche bewußt gewesen und sie war es auch Kant nicht. Hat Kant auch, vor allem in den Prolegomena, die Prinzipien der Erfahrung aus den Wissenschaften und besonders der mathematischen Physik abnehmen wollen, so war ihm doch zunächst und auch in der Kritik der reinen Vernunft die Erfahrung selbst und schlechthin nicht mit der Gegenstandswelt jener Wissenschaft identisch; und selbst wenn sie es ihm geworden wäre so wie sie es den neukantischen Denkern geworden ist, so bliebe doch der so identifizierte und bestimmte immer noch der alte Erfahrungsbegriff, dessen bezeichnendstes Merkmal seine Beziehung nicht nur auf das reine sondern zugleich auch auf das empirische Bewußtsein ist. Um eben das aber handelt es sich: um die Vorstellung von der nackten primitiven und selbstverständlichen Erfahrung die Kant als Menschen der irgendwie den Horizont seines Zeitalters geteilt hat die einzig gegebene ja die einzig mögliche schien. Diese Erfahrung jedoch war, wie es schon angedeutet ist, eine singuläre zeitlich beschränkte und über diese Form hinaus, die sie in gewisser Weise mit jeder Erfahrung teilt, war diese Erfahrung, die man auch im prägnanten Sinne Weltanschauung nennen könnte, die der Aufklärung. Sie unterschied sich in den hier wesentlichsten Zügen aber nicht allzusehr von der der übrigen Jahrhunderte der Neuzeit. Diese war eine der niedrigst stehenden Erfahrungen oder Anschauungen von der Welt. Daß Kant sein ungeheures Werk gerade unter der Konstellation der Aufklärung in Angriff nehmen konnte besagt, daß dieses an einer gleichsam auf den Nullpunkt, auf das Minimum von Bedeutung reduzierten Erfahrung vorgenommen wurde. Ja man darf sagen, daß eben die Größe seines Versuches, der ihm eigene Radikalismus eine solche Erfahrung zur Voraussetzung hatte deren Eigenwert sich der Null näherte und die eine (wir dürfen sagen: traurige) Bedeutung nur durch ihre Gewißheit hätte erlangen können. Kein vor-Kantischer Philosoph hat sich in diesem Sinne vor die erkenntnis-theoretische Aufgabe gestellt gesehen, keiner allerdings auch in dem Maße freie Hand in ihr gehabt, da eine Erfahrung deren Quintessenz deren Bestes gewisse Newton’sche Physik war [sic] derb und tyrannisch angefaßt werden durfte ohne zu leiden. Autoritäten, nicht in dem Sinne daß man sich ihnen kritiklos hätte unterordnen müssen sondern als geistige Mächte die der Erfahrung einen großen Inhalt zu geben vermocht hätten, gab es für die Aufklärung nicht. Was das Niedere und Tiefstehende der Erfahrung jener Zeit ausmacht, worin ihr erstaunlich geringes spezifisch metaphysisches Gewicht liegt wird sich nur andeuten lassen in der Wahrnehmung wie dieser niedere Erfahrungsbegriff auch das Kantische Denken beschränkend beeinflußt hat. Es handelt sich dabei selbstverständlich um denselben Tatbestand den man als die religiöse und historische Blindheit der Aufklärung oft hervorgehoben hat ohne zu erkennen in welchem Sinne diese Merkmale der Aufklärung der gesamten Neuzeit zukommen.

Es ist von der höchsten Wichtigkeit für die kommende Philosophie, zu erkennen und zu sondern welche Elemente des Kantischen Denkens aufgenommen und gepflegt welche umgebildet und welche verworfen werden müssen. Jede Forderung eines Anschließens an Kant beruht auf der Überzeugung, daß dieses System, welches eine Erfahrung vor sich fand deren metaphysischer Seite ein Mendelssohn und [Garve?] gerecht geworden sind, aus der bis zum Genialen gesteigerten Nachforschung nach Gewißheit und Rechtfertigung der Erkenntnis diejenige Tiefe geschöpft und entwickelt hat, die es einer noch kommenden neuen und höheren Art der Erfahrung wird adäquat erscheinen lassen. Damit ist die Hauptforderung an die gegenwärtige Philosophie aufgestellt und zugleich ihre Erfüllbarkeit behauptet: unter der Typik des Kantischen Denkens die erkenntnistheoretische Fundierung eines höheren Erfahrungsbegriffes vorzunehmen. Und das eben soll zum Thema der zu erwartenden Philosophie gemacht werden, daß eine gewisse Typik im Kantischen System aufzuzeigen und klar abzuheben ist die einer höhern Erfahrung gerecht zu werden vermag. Die Möglichkeit der Metaphysik hat Kant nirgends bestritten, nur die Kriterien will er aufgestellt haben an denen eine solche Möglichkeit im einzelnen Fall erwiesen werden könnte. Die Erfahrung des Kantischen Zeitalters bedurfte keiner Metaphysik; zu Kants Zeit war es historisch das einzig Mögliche ihre Ansprüche zu vernichten, denn der Anspruch seiner Mitgenossen auf sie war Schwäche und Heuchelei. Es handelt sich darum Prolegomena einer künftigen Metaphysik auf Grund der Kantischen Typik zu gewinnen und dabei diese künftige Metaphysik, diese höhere Erfahrung ins Auge zu fassen.

Allein nicht nur von der Seite der Erfahrung und Metaphysik muß der künftigen Philosophie die Revision Kants angelegen sein. Und methodisch, d. h. als eigentliche Philosophie überhaupt nicht von dieser Seite sondern von Seiten des Erkenntnisbegriffes her. Die entscheidenden Irrtümer der Kantischen Erkenntnislehre sind wie nicht zu bezweifeln ist auch auf die Hohlheit der ihm gegenwärtigen Erfahrung zurückzuführen, und so wird auch die Doppelaufgabe der Schaffung eines neuen Erkenntnisbegriffes und einer neuen Vorstellung von der Welt auf dem Boden der Philosophie zu einer einzigen werden. Die Schwäche des Kantischen Erkenntnisbegriffes ist oft gefühlt worden indem der mangelnde Radikalismus und die mangelnde Konsequenz seiner Lehre gefühlt worden ist. Kants Erkenntnistheorie erschließt das Gebiet der Metaphysik nicht weil sie selbst primitive Elemente einer unfruchtbaren Metaphysik in sich trägt welche jede andere ausschließt. In der Erkenntnistheorie ist jedes metaphysische Element ein Krankheitskeim der sich in der Abschließung der Erkenntnis von dem Gebiet der Erfahrung in seiner ganzen Freiheit und Tiefe äußert. Die Entwicklung der Philosophie ist dadurch zu erwarten daß jene Annihilierung dieser metaphysischen Elemente in der Erkenntnistheorie zugleich diese auf eine tiefere metaphysische erfüllte Erfahrung verweist. Es besteht, und hier ruht der historische Keim der kommenden Philosophie, die tiefste Beziehung zwischen jener Erfahrung deren tiefere Erforschung nie und nimmer auf die metaphysischen Wahrheiten führen konnte und jener Theorie der Erkenntnis welche den logischen Ort der metaphysischen Forschung noch nicht ausreichend zu bestimmen vermochte; immerhin scheint der Sinn in dem Kant etwa den Terminus »Metaphysik der Natur« braucht durchaus in der Richtung der Erforschung der Erfahrung auf Grund erkenntnistheoretisch gesicherter Prinzipien zu liegen. Die Unzulänglichkeiten in Hinsicht auf Erfahrung und Metaphysik äußern sich innerhalb der Erkenntnistheorie selbst als Elemente spekulativer (d. i. rudimentär gewordener) Metaphysik. Die wichtigsten dieser Elemente sind: erstens die bei Kant trotz aller Ansätze dazu nicht endgültig überwundene Auffassung der Erkenntnis als Beziehung zwischen irgendwelchen Subjekten und Objekten oder irgendwelchem Subjekt und Objekt; zweitens: die ebenfalls nur ganz ansatzweise überwundene Beziehung der Erkenntnis und der Erfahrung auf menschlich empirisches Bewußtsein. Diese beiden Probleme hängen eng miteinander zusammen und selbst soweit Kant und die Neukantianer die Objektnatur des Dinges an sich als der Ursache der Empfindungen überwunden haben bleibt immer noch die Subjekt-Natur des erkennenden Bewußtseins zu eliminieren. Diese Subjekt-Natur des erkennenden Bewußtseins rührt aber daher daß es in Analogie zum empirischen das dann freilich Objekte sich gegenüber hat gebildet ist. Das Ganze ist ein durchaus metaphysisches Rudiment in der Erkenntnistheorie; ein Stück eben jener flachen »Erfahrung« dieser Jahrhunderte welches sich in die Erkenntnistheorie einschlich. Es ist nämlich gar nicht zu bezweifeln daß in dem Kantischen Erkenntnisbegriff die wenn auch sublimierte Vorstellung eines individuellen leibgeistigen Ich welches mittelst der Sinne die Empfindungen empfängt und auf deren Grundlage sich seine Vorstellung bildet die größte Rolle spielt. Diese Vorstellung ist jedoch Mythologie und was ihren Wahrheitsgehalt angeht jeder andern Erkenntnismythologie gleichwertig. Wir wissen von Naturvölkern der sogenannten präanimistischen Stufe welche sich mit heiligen Tieren und Pflanzen identifizieren, sich wie sie benennen; wir wissen von Wahnsinnigen die ebenfalls sich zum Teil mit den Objekten ihrer Wahrnehmung identifizieren, die ihnen also nicht mehr Objecta, gegenüberstehend sind; wir wissen von Kranken die die Empfindung ihres Leibes nicht auf sich selbst sondern auf andere Wesen beziehen und von Hellsehern welche wenigstens behaupten die Wahrnehmungen anderer als ihre eigenen empfangen zu können. Die gemeinmenschliche Vorstellung von sinnlicher (und geistiger) Erkenntnis sowohl unserer als der Kantischen als auch der vor-kantischen Epoche ist nun durchaus eine Mythologie wie die genannten. Die Kantische »Erfahrung« ist in dieserGegenstand