{5}Erstes Kapitel

Das letzte Mal, als Ron Galloway von seiner Frau gesehen wurde, war an einem Samstagabend Mitte April.

»Er schien guter Stimmung zu sein«, sagte Esther Galloway später. »Beinahe so, als ob er etwas vorhätte, etwas plante. Mehr als einen Ausflug zur Hütte, meine ich. Angeln hatte ihm auch nie wirklich Spaß gemacht, er hatte eine krankhafte Furcht vor dem Wasser.«

Das war nur allzu wahr, obwohl Galloway es nie zugegeben hätte. Er war verzweifelt bemüht, sportlich zu sein. Er angelte, spielte Golf und Kricket im Sommer und beteiligte sich am Eiskegeln im Granite Club während des Winters, trug einen Bürstenschnitt und fuhr seinen Cadillac mit aufgeklapptem Verdeck, selbst wenn er die Heizung auf Volldampf schalten mußte, um nicht zu erfrieren. Und nun, da er gegen Vierzig war, wirkte er trotz allen Trainings noch immer irgendwie ungelenk, und auf seinem runden Gesicht mit den Restspuren von Pubertätsakne lag ein Ausdruck jugendlicher Unsicherheit.

Er packte eben seine Tasche, als seine Frau Esther in sein Schlafzimmer trat. Sie wollte zum Dinner ausgehen und trug ein neues Kleid aus rosa Taft, mit Zuchtperlen besetzt, und eine weiße Nerzstola. Galloway bemerkte das Kleid, und es fand seinen Beifall, aber er sagte nichts. Man brauchte Frauen nicht mit Komplimenten verwöhnen.

»Ach, hier bist du, Ron«, sagte seine Frau, als handle es sich um einen ebenso überraschenden wie interessanten Zufall, daß ein Mann sich in seinem Schlafzimmer aufhielt.

Galloway antwortete nicht.

»Ron?«

»Esther, mein Engel, ich bin hier, wie du ganz richtig {6}bemerkt hast, und wenn du etwas zu sagen hast, dann heraus damit.«

»Wohin gehst du?« Esther wußte, wohin er ging, aber sie gehörte zu der Sorte Frauen, die gern Fragen stellt, deren Antwort sie schon kennt. Das verlieh ihr ein Gefühl von Sicherheit.

»Ich hab es dir letzte Woche schon erzählt. Ich hole Harry Bream in Weston ab, und wir fahren zur Hütte, um mit ein paar Leuten zu angeln.«

»Ich mag Harry Breams Frau nicht.«

»Harry Breams Frau kommt nicht mit.«

»Ich weiß. Ich meine nur so. Sie ist so merkwürdig. Sie rief mich letzte Woche an und fragte, ob es irgendeinen Toten gäbe, mit dem ich in Verbindung treten wollte. Mir fiel auf Anhieb nur Onkel John ein, und ich bin nicht sicher, ob er auf eine Verbindung Wert legen würde. Findest du das nicht seltsam – diesen Anruf, meine ich?«

»Harry ist viel weg. Thelma muß etwas gegen ihre Langeweile tun.«

»Warum hat sie keine Kinder?«

»Ich weiß es nicht. Ich habe sie nicht gefragt«, sagte Galloway ungeduldig.

»Du und Harry, ihr seid doch gute Freunde – du könntest doch gelegentlich einmal das Gespräch darauf bringen.«

»Vielleicht könnte ich das. Aber ich hab’s nicht vor.«

»Wenn Thelma Kinder hätte, hätte sie keine Zeit, sensibel zu sein, und könnte andere Leute nicht nervös machen. Ich habe keine Zeit dafür.«

»Danke Gott und sei zufrieden.«

Galloway befestigte die Riemen seiner Tasche und stellte sie neben die Tür. Dies bedeutete für Esther eine {7}endgültige Aufforderung, auf Wiedersehen zu sagen und zu verschwinden, aber sie ignorierte sie. Statt dessen rauschte sie in ihrem Taftkleid elegant durchs Zimmer und blieb vor dem Spiegel stehen, um über ihr dunkles Haar zu streichen. Über ihre Schulter weg konnte sie Galloway sehen, der sie mit verdrießlichem Stirnrunzeln beobachtete. Er sah sehr komisch aus.

»Mir hängt mein Haar, so wie es ist, zum Hals heraus«, sagte sie. »Ich glaube, ich werde es blond färben lassen. Ich werde eine interessante und hypersensible Blondine wie Thelma sein.«

»Du bist hypersensibel genug. Und ich kann unechte Blondinen nicht ausstehen.«

»Und wie steht’s mit den echten, wie Thelma?«

»Ich mag Thelma gern«, sagte er bockig. »Sie ist die Frau meines besten Freundes. Ich muß sie gern haben.«

»Nur deshalb?«

»Um Himmels willen, Esther, sie ist ein fettes kleines Hausmütterchen, das nicht ganz zurechnungsfähig ist. Nicht einmal deine blühende Phantasie kann eine femme fatale aus ihr machen.«

»Vermutlich nicht.«

»Wann wirst du endlich über dieses idiotische Mißtrauen hinwegkommen?«

»Dorothy –« Sie schluckte, als sie den Namen aussprach, so daß er nicht wußte, was er bedeuten sollte, bis sie ihn wiederholte. »Dorothy hat keinen Verdacht gehegt.«

»Wieso kommst du jetzt auf Dorothy?«

»Sie hegte nicht den geringsten Verdacht. Und wir beide haben hinter ihrem Rücken die ganze Zeit –«

»Sei still.« Sein Gesicht war weiß vor Zorn und Widerwillen. »Wenn du erst jetzt Gewissensbisse bekommst, {8}ist das dein Pech. Aber laß mich in Ruhe damit. Und mach um Himmels willen keine Szene.«

Esther neigte neuerdings dazu, Szenen zu machen, indem sie auf der Vergangenheit herumhackte wie ein Vogel auf einem harten Brotlaib und hier und dort eine Krume verstreute. Er hoffte, es handle sich nur um eine bald vorübergehende Phase. Die Vergangenheit berührte Galloway nicht sonderlich. Wenn er an seine erste Frau, Dorothy, dachte, so geschah dies ohne Mitleid oder Reue. Selbst das Gefühl der Rachsucht ihr gegenüber war verblaßt. Scheidungen sind in Kanada weder üblich noch einfach zu erreichen. Es hatte damals einen erheblichen Skandal gegeben, der viel Aufsehen erregt hatte.

Esther ließ die Hände seitlich herabsinken und wandte sich vom Spiegel ab. »Ich habe gehört, daß sie im Sterben liegt.«

»Sie liegt seit Jahren im Sterben«, sagte Galloway schroff. »Wer hat dir das übrigens erzählt?«

»Harry.«

»Harry ist ein Tablettenvertreter. Er liebt die Vorstellung, daß jedermann im Sterben liegt.«

»Ron!«

»Ich will nicht grob sein, aber wenn ich mich jetzt nicht aufmache, müssen die anderen vor der Hütte warten.«

»Der Hausmeister kann sie hineinlassen.«

»Trotzdem, ich als Gastgeber sollte als erster dort sein.«

»Sie werden viel zu blau sein, um sich darum zu kümmern.«

»Willst du schon wieder einen Streit vom Zaun brechen?«

»Nein, wirklich nicht. Ich glaube nur, ich würde gern mitkommen.«

»Du machst dir nichts aus Angeln. Alles, was du tust, ist herumzusitzen und zu jammern, wie leid dir die armen {9}kleinen Fische tun, die den Angelhaken im Hals nicht verdienen.«

»Schon gut, Ron, schon gut.« Sie näherte sich ihm fast schüchtern, legte ihm die Hände auf die Schultern und küßte ihn auf die Wange. »Viel Vergnügen. Vergiß nicht, den Kindern auf Wiedersehen zu sagen. Vielleicht können wir nächstesmal alle mitfahren.«

»Vielleicht.«

Aber sie sah ein wenig traurig aus, als sie das Zimmer verließ, so, als habe sie sich etwas von Thelmas medialen Fähigkeiten geborgt und gespürt, daß es kein nächstes Mal geben würde.

Galloway blieb einen Augenblick lang an der Türschwelle stehen und lauschte auf das Rascheln ihres Kleides und das durch den Teppich gedämpfte Klicken ihrer Absätze. Plötzlich, ohne zu wissen warum, schrie er laut und eindringlich: »Esther! Esther!«

Aber die Haustür hatte sich schon hinter ihr geschlossen. Galloway fühlte sich etwas erleichtert, weil sie ihn nicht mehr gehört hatte, denn er hatte gar nicht vorgehabt, ihr irgend etwas zu sagen. Der Schrei war aus einer ihm unzugänglichen Schicht seines Bewußtseins gekommen, und Galloway wußte nicht, was er zu bedeuten habe. Er lehnte sich gegen den Türrahmen, schwindlig und schwer atmend, als sei er eben aus einem Alptraum erwacht, dessen Inhalt er zwar vergessen, dessen körperliche Nachwirkung aber geblieben war.

Ich bin krank, dachte er. Sie hätte mich nicht so im Stich lassen sollen. Ich bin krank. Vielleicht sollte ich zu Hause bleiben und einen Arzt rufen.

Aber als sein Atem wieder normal ging und das Schwindelgefühl sich gelegt hatte, fiel ihm ein, daß er keinen Doktor brauchte, solange Harry da war. Harry arbeitete für {10}eine pharmazeutische Firma, und seine Taschen waren immer von Tablettenschachteln ausgebeult, und seine Brieftasche war voll von Reklameschriften über die neuesten pharmazeutischen Errungenschaften, von denen selbst einige der Ärzte noch nichts wußten, bis Harry sie aufklärte oder ihnen die Broschüren zu lesen gab. Harry war überaus freigebig mit Ärztemustern, Diagnosen und guten Ratschlägen. Gelegentlich hatte er mehr Erfolg als ein richtiger Arzt, da er von Routine, ärztlicher Ethik und Vorsicht unbelastet war, und einige seiner Kuren hatten eine verblüffend rasche Wirkung. Das waren diejenigen, die in der Erinnerung seiner Freunde hafteten.

»Ich werde mir von Harry einige Tabletten geben lassen«, sagte Galloway, und dieser Einfall beruhigte ihn. Harry hatte Tabletten gegen alles, sogar gegen plötzliche und unerklärliche Schreie nach einer weggehenden Ehefrau. Es sind deine Nerven, alter Freund. Aber meine Firma hat eben eine vortreffliche kleine Nachricht herausgebracht …

Galloway warf seinen Trenchcoat über den Arm, hob die Tasche auf und ging den Korridor entlang, um den beiden Jungen auf Wiedersehen zu sagen. Anscheinend lagen sie im Bett: das heißt, die Schlafzimmertür stand offen, und das Nachtlicht war angeschaltet. Aber sie schliefen nicht. Ihre leisen, wütenden Stimmen schwirrten durch das Zimmer:

»Mama hat gesagt, der Hund darf heute nacht auf meinem Bett schlafen. Laß ihn los!«

»Darf er nicht, darf er nicht, darf er nicht.«

»Ich schrei nach Annie.«

»Ich werd ihr sagen, daß du mich gekniffen hast. Ich werd’s Annie sagen und Mrs. Browning und dem alten Rudolph und Mama und meinem Sonntagsschullehrer –«

{11}»Und warum nicht mir?« sagte Galloway und machte Licht.

Die beiden Jungen schwiegen vor Erstaunen und sahen ihn an. Sie sahen Galloway selten, und als sie die Tasche erblickten, wußten sie nicht, ob er kam oder ging.

Greg, der mit seinen sieben Jahren ein ausgesprochener Opportunist war, faßte sich schnell. »Daddy ist da«, schrie er. »Fein, fein. Daddy ist da! Hast du mir was mitgebracht, Daddy? Was hast du mir mitgebracht?«

Galloway trat einen Schritt zurück, als hätte ihn jemand in die Brust gestoßen. »Ich – ich bin nicht weggewesen.«

»Dann gehst du jetzt weg?«

»Ja.«

»Wenn du jetzt weggehst, kommst du doch wieder zurück?«

»Ja, vermutlich.«

»Und wenn du wiederkommst, bringst du mir dann was mit?«

Galloways Gesicht war gerötet, und einer seiner Mundwinkel zuckte nervös. Das ist es, was ich für sie bin. Und für Esther. Ich bin der Bursche, der was mitbringt.

»Du könntest allen was mitbringen«, sagte Marvin, der Fünfeinhalb war. »Annie und Mrs. Browning und dem alten Rudolph und meinem Sonntagsschullehrer.«

»Vielleicht. Was, glaubst du, hätten sie gern?«

»Hunde. Alle Leute möchten gern Hunde.«

»Alle? Bist du sicher?«

»Ich habe sie gefragt«, log Marvin mit Nachdruck. »Ich habe sie gefragt, was sie gern geschenkt bekommen würden, und alle sagten: Hunde.« Um seine Behauptung zu beweisen, rannte er zum Bett seines Bruders hinüber und schlang beide Arme um den kleinen Dackel. Der Hund {12}war an solche Zärtlichkeitsausbrüche gewöhnt und kaute seelenruhig weiter an einem Zipfel der Decke.

»Alle könnten Nacht für Nacht einen Hund wie Petey in ihrem Bett haben, sogar der alte Rudolph.«

»Rudolph sagt, Hunde graben Löcher in die Blumenbeete.«

»Petey gräbt nie Löcher. Ich grabe Löcher. Ich grab eine Million Löcher in der Woche.«

Galloway lächelte bedrückt. »Das ist aber eine Menge Arbeit für einen kleinen Mann wie dich. Du mußt ganz schön stark sein.«

»Fühl mal meine Muskeln.«

»Meine auch«, sagte Greg. »Ich kann auch eine Million Löcher graben, wenn ich will.«

Während die Muskeln gehorsam geprüft wurden, erschien Annie, das Kindermädchen, unter der Tür. Tagsüber, solange sie ihre blauweiße Tracht trug, war Annie spröde, verschlossen und respektabel. Jetzt, umgezogen und für ihren freien Abend zurechtgemacht, war sie kaum wiederzuerkennen – der Mund war mit Lippenstift vergrößert, die Augenbrauen schwarz nachgezogen, und die Augen wirkten wie Höhlen hinter einer Schicht von Schminke.

»Oh, Sie sind’s, Mr. Galloway. Ich dachte, die Jungen wären allein und stritten sich wieder um diesen Hund.«

»Sie werden sich nicht mehr länger um Petey streiten. Ich habe den Auftrag, ihnen noch einen Hund mitzubringen, wenn ich wiederkomme.«

»Wirklich?«

»Sicher soll ich Ihnen auch etwas mitbringen, Annie? Alle wollen etwas.«

Sie sah ein wenig verblüfft und mißbilligend drein. »Ich habe mein Gehalt, Sir. Vielen Dank.«

{13}»Ich bin sicher, daß Ihnen etwas einfällt, Annie. Vielleicht eine Halskette? Oder eine Flasche Parfüm, um die Burschen im Ort zu betören?«

»Bring Annie einen Hund mit«, schrie Marvin. »Annie möchte einen Hund!«

»Ich will keinen Hund«, sagte das Mädchen scharf. »Und auch sonst nichts. Ihr beide legt euch jetzt hin und schlaft und laßt den Unsinn. Mein Freund wartet draußen auf mich, aber ich gehe nicht aus dem Haus, bis ihr beide still seid.« Und flüsternd setzte sie zu Galloway gewandt hinzu: »Sie sind manchmal richtig überdreht.«

»Sie wollen, daß ich jetzt gehe, wie?«

»Ich würde es für besser halten, Sir. Sie sind schon vor einer Stunde zu Bett gebracht worden.«

Er blickte über Annies Kopf weg auf die beiden Jungen. Vor einer Minute noch hatte er sich ihnen ganz nahe gefühlt, hatte sie für nette, lebhafte Kinder gehalten. Nun waren sie wieder Fremde für ihn – zwei kleine Barbaren, die nichts weiter von ihm wollten als Geschenke, die ihn gern weggehen sahen, weil sie wußten, er würde ihnen etwas mitbringen, wenn er wiederkam.

Das Schwindelgefühl kehrte zurück und mit ihm ein scharfer, saurer Geschmack in seinem Mund. »Gute Nacht, ihr zwei«, sagte er schnell, trat in den Korridor hinaus und ging unsicher auf die Treppe zu. Die Tasche war wie Blei in seiner Hand. Er ging wie ein alter Mann.

Ich muß mir von Harry Tabletten geben lassen. Harry hat alle Arten von Tabletten.

Esthers rosa- und cremefarbener de Soto stand nicht mehr in der Garage, aber Galloways Cadillac war an seinem Platz, das Verdeck unten, frisch gewaschen und gepflegt, wie es der Art des alten Rudolph entsprach, der ihn wie ein unersetzliches Erbstück behandelte und nicht {14}wie etwas, das innerhalb eines Jahres wieder verkauft werden würde.

Selbst für April war es kalt. Aber Galloway ließ das Verdeck unten und stieg fröstelnd ein.

Oben im Kinderzimmer setzten die beiden Jungen ihren Streit fort, aber das Thema hatte gewechselt.

»Wenn er nun die Hunde vergißt?«

»Er kann sie nicht vergessen.«

»Oder wenn er nie mehr zurückkommt wie die Frau vom alten Rudolph?«

»Ach, halt den Mund«, sagte Gregory hitzig. »Wenn man weggeht, kommt man auch zurück. Sonst kann man doch nirgendwo hingehen, man muß zurückkommen.«

Für Gregory war das so einfach.

{15}Zweites Kapitel

Wenn Galloway seine Freunde in ihrer Gesamtheit erwähnte, bezeichnete er sie immer als ›die Burschen‹. Zwei der ›Burschen‹, Bill Winslow und Joe Hepburn, fuhren zusammen von Toronto hinauf und kamen gegen zehn Uhr bei der Hütte an, die ein paar Kilometer hinter Wiarton an der Georgian Bay lag. Ein dritter, Ralph Turee, traf ein paar Minuten später ein.

Sie wurden vom Hausmeister eingelassen, und jeder widmete sich sofort einer bestimmten Aufgabe. Turee trug das Gepäck nach oben, Hepburn entzündete ein Feuer in dem riesigen Kamin, Winslow öffnete gewaltsam das Schloß des Barschränkchens, und alle begannen sich, wie Esther vorausgesagt hatte, zu betrinken.

Es waren Galloways spezielle Freunde, ungefähr in seinem Alter und mit der gemeinsamen Absicht, es sich so gut wie möglich gehen zu lassen, wenn sie sich dem Druck der Geschäfte und der Familie entzogen hatten: Bill Winslow, Geschäftsführer in den Mühlenwerken seines Vaters, Joe Hepburn, Leiter einer Plastikspielzeug-Fabrik, und Ralph Turee, Professor für Volkswirtschaft an der Universität Toronto. Von Turee abgesehen, waren sie Männer von durchschnittlicher Intelligenz und überdurchschnittlichem Einkommen. Turee ließ sie das nie vergessen. Chronisch in finanziellen Schwierigkeiten, machte er sich über ihr Geld lustig und lieh es von ihnen; selbst von überlegener Bildung, lachte er über ihre Unwissenheit und benutzte sie zu seinem eigenen Vorteil. Aber im großen und ganzen harmonierte die Gruppe, besonders, wenn sich die kleinen Differenzen in Alkohol aufgelöst hatten.

Turee war der erste, dem auffiel, daß die Zeit vergangen {16}war, ohne daß Harry Bream und Galloway aufgetaucht waren. »Seltsam, daß Galloway noch nicht da ist. Er ist doch sonst so betont pünktlich.«

»Ich hasse Pünktlichkeit«, erklärte Winslow. »Sie ist das Idol beschränkter Gemüter. Habe ich nicht recht, Freunde?«

Hepburn sagte, die Keuschheit sei das Idol beschränkter Gemüter, aber Turee korrigierte – wie gewöhnlich – beide und meinte, daß dies die Beharrlichkeit sei, aber schließlich kamen sie wieder auf Galloway zu sprechen.

»Galloway hat mich gestern abend angerufen«, sagte Turee, »und mir mitgeteilt, daß er Harry in Weston abholen und gegen neun Uhr dreißig hier sein werde.«

»Da haben wir’s ja«, sagte Winslow.

»Was haben wir?«

»Den Grund. Harry. Harry kommt immer und überall zu spät.«

Dies war eine ebenso logische wie annehmbare Theorie, und sie tranken alle auf das Wohl von Harry, als dieser unbeabsichtigt den ganzen Spaß verdarb, indem er um elf Uhr dreißig hereinkam. Er trug einen Regenmantel und eine Jagdmütze und hielt sein Angelgerät in der Hand.

»Tut mir leid, daß ich so spät komme«, sagte er munter. »Hinter Owen Sound war irgendwas mit der Benzinpumpe nicht in Ordnung.«

Sie starrten ihn alle auf eine eigentümlich unzufriedene Art an. Dies fiel selbst Harry, der nicht besonders feinfühlend war, auf.

»Was ist los mit euch, Freunde? Habe ich euch etwa gestört?«

»Wo ist Galloway?« fragte Turee.

»Ich dachte, der wäre hier.«

»Wolltet ihr nicht zusammen kommen?«

{17}»Ursprünglich ja, aber ich wurde dringend in ein Krankenhaus drunten in Mimico gerufen und hinterließ bei Thelma die Nachricht, daß Galloway ohne mich fahren sollte. Ich weiß, daß er es haßt, zu spät zu kommen. Ihr glaubt doch nicht, daß Thelma übergeschnappt ist?«

Die anderen waren sich darüber einig, daß Thelma von Geburt an übergeschnappt war, aber niemand wollte Harry verletzen. Harry betete seine Frau an. Ihre kleinen Überspanntheiten waren eine Quelle der Faszination für ihn, und er pflegte seine Freunde mit eingehenden Berichten über ihre Ansichten und Erfahrungen zu unterhalten.

Harry, einziger Sprößling seiner Eltern, hatte erst geheiratet, als diese tot waren. Danach hatte er aber keine Zeit verloren. Seine Heirat – er war inzwischen Fünfunddreißig geworden – mit einer Frau, die als Praxishilfe bei einem Arzt gearbeitet hatte, war ein Schock für seine Freunde gewesen, vor allem für Galloway, der sich daran gewöhnt hatte, daß Harry immer zu seiner Verfügung stand.

Der heitere Junggeselle Harry war plötzlich dem hoffnungslos verheirateten Harry gewichen, der Regeln und Beschränkungen unterworfen und Launen und Sorgen preisgegeben war. Obwohl Thelma und Esther nicht sehr gut miteinander auskamen, blieben die beiden Männer die besten Freunde, teils, weil Thelma Galloway zu mögen schien und Harry ermutigte, sich mit ihm zu treffen, teils, weil sich die beiden seit frühester Jugend kannten. In der letzten Klasse der Oberschule war Harry Klassensprecher gewesen, und er besaß noch immer das Jahrbuch mit der Inschrift: Henry Ellsworth Bream. Wir sagen unserem Harry, dem wir immer einen warmen Platz in unserem Herzen bewahren werden, eine große Zukunft voraus.

Der warme Platz war ihm in vielen Herzen erhalten {18}geblieben, aber mit der Zukunft haperte es. Er hatte eine Reihe von Gelegenheiten verpaßt – um Meter oder Minuten, durch Launen des Schicksals wie einen Reifenschaden, eine Verkehrsstockung, eine falsche Wendung, einen verlegten Schlüssel, einen plötzlichen Schneesturm, eine falsche Telefonnummer.

»Armer Harry«, pflegte seine Umgebung zu sagen. »Er hat einfach Pech.«

Als seine Eltern starben, erwartete man allgemein, daß das Schicksal für Harry nun eine Glückssträhne bereithielte, um ihn für all sein Pech zu entschädigen. Und für Harrys Verhältnisse tat es das auch. Das Glück war Thelma.

»Wahrscheinlich hat sie es ihm nicht ausgerichtet«, sagte Turee. »Vielleicht beschloß sie plötzlich, ins Kino oder sonstwohin zu gehen, und Galloway sitzt noch immer dort und wartet auf dich.«

Harry schüttelte den Kopf. »So was würde Thelma nie tun.«

»Natürlich nicht absichtlich.«

»Auch nicht aus Versehen. Thelma hat ein wunderbares Gedächtnis.«

»Ja?«

»Sie hat in ihrem Leben noch nichts vergessen.«

»Ist gut. Es wäre jedenfalls eine Erklärung gewesen.«

Inzwischen war es Mitternacht geworden, und Bill Winslow, der keinen Alkohol vertrug, gab das Übermaß an Flüssigkeit, das er zu sich genommen hatte, in Form von Tränen wieder von sich:

»Armer alter Galloway, nun sitzt er da auf seinem Hintern – seinem armen, alten, einsamen Hintern, während wir hier seinen Bourbon trinken und es uns gut gehen lassen. Das ist nicht fair. Freunde, ich frage euch, ist das fair?«

{19}Turee warf ihm einen finsteren Blick zu. »Um Himmels willen, hör mit dem Gejammer auf, ja! Ich versuche nachzudenken.«

»Armer alter Galloway. Nicht fair. Wir lassen es uns hier gut gehen, und er sitzt dort auf seinem armen, alten –«

»Hepburn, sieh zu, ob du ihn nicht ins Bett befördern kannst.«

Hepburn schob die Hände unter Winslows Achseln und stellte ihn auf die Füße. »Komm schon, Billy, mein Junge. In die Heia.«

»Möcht nicht ins Bett. Möcht hierbleiben und es mir gut gehen lassen mit euch.«

»Hör zu, Billy, wir lassen es uns nicht gut gehen.«

»Nicht?«

»Nein. Komm schon. Wo hast du deinen Koffer?«

»Weiß nicht.«

»Ich habe ihn mit meinem zusammen hinaufgetragen, ins Zimmer neben dem Galloways«, sagte Turee.

»Ich möcht nicht ins Bett. Ich bin traurig.«

»Das sehe ich.« Winslow versuchte, mit dem Unterarm die Feuchtigkeit von seinen Wangen wegzustreichen. »Ich muß immer an den armen alten Galloway denken und die kleine Prinzessin Margaret.«

»Was hat Prinzessin Margaret damit zu tun?«

»Soll Townsend heiraten, Kinder haben, glücklich sein. Alle sollen glücklich sein.«

»Na sicher.«

»Ich bin glücklich.«

»Na sicher.«

Während die Tränen noch aus seinen Augen quollen, stolperte Winslow durchs Zimmer und begann, die Treppe auf allen vieren hinaufzuklettern wie ein dressierter Hund {20}die Leiter. Auf halbem Weg klappte er zusammen, und Hepburn mußte ihn vollends hinaufzerren.

Turee legte einen neuen Klotz in das Feuer und stieß ungeduldig mit dem Fuß dagegen. »Was tun wir jetzt?«

»Weiß nicht«, sagte Harry düster. »Es sieht Ron gar nicht ähnlich, die Leute warten zu lassen.«

»Vielleicht hat er einen Unfall gehabt.«

»Er ist ein guter Fahrer. Und er schwört auf Sicherheit, Sitzgurte und alles mögliche.«

»Auch gute Fahrer haben gelegentlich Unfälle. Der springende Punkt ist, daß wir, wenn ihm was passiert sein sollte, nichts davon erfahren, es sei denn, Esther schickt uns ein Telegramm nach Wiarton, das hierhergebracht wird.«

»Esther würde viel zu aufgeregt sein, um an so etwas zu denken.«

»Na schön, dann gibt’s noch eine andere Möglichkeit: vielleicht hatte er Bauchweh und beschloß, gar nicht zu kommen.«

»Das ist schon eher möglich«, sagte Harry voller Enthusiasmus. »Das letztemal, als ich ihn sah, klagte er über seinen Magen. Ich gab ihm ein paar von diesen neuen Ulcus-Tabletten, die meine Firma herausgebracht hat.«

»Galloway hat kein Magengeschwür.«

»Vielleicht doch. Die Tabletten haben Wunder gewirkt.«

Turee wandte sich mit dem Ausdruck des Abscheus ab. Er war der einzige aus dem Kreis, der sich weigerte, persönlich etwas mit Harrys Diagnosen oder Harrys Tabletten zu tun zu haben.

»Schon gut. Galloways Magengeschwür hat sich bemerkbar gemacht, und er ist ins Krankenhaus gegangen. Wie klingt das?«

»Großartig«, sagte Harry strahlend.

Als Hepburn zurückkehrte, wurde eine Konferenz {21}abgehalten und entschieden, daß Turee, der intelligenteste, und Harry, der nüchternste, nach Wiarton zurückfahren und bei Galloway anrufen sollten.

 

Die Straße schlängelte sich den Klippen über der Bay entlang. Turee mußte sich auf das Fahren konzentrieren, währenddessen Harry – für den Fall, daß die Theorie mit den Magengeschwüren falsch sein sollte – nach einem Cadillac Ausschau hielt. Sie begegneten nur zwei Autos, keines davon war ein Cadillac. Als sie Wiarton erreichten, waren fast alle Lichter aus, aber schließlich fanden sie eine Telefonzelle in der Halle eines kleinen Touristenhotels, das soeben für die Saison geöffnet hatte. Da die beiden ihre Anglerkleidung anhatten, hielt sie der Direktor des Hotels für Stammgäste und behandelte sie sehr freundlich, bis er merkte, daß sie nur das Telefon benützen wollten. Da er ihnen zu allem Überdruß noch fünf Dollar wechseln mußte, erbitterte ihn die ganze Angelegenheit sehr, und erbost setzte er sich hinter seinen Schreibtisch, als Turee die Telefonzelle betrat.

Es dauerte zehn Minuten oder mehr, bis sie Verbindung mit Galloways Haus in Toronto bekamen, und auch dann war die Verbindung schlecht.

»Esther?«

»Ron?«

»Nein, nicht Ron. Bist du’s, Esther?«

»Wer ist denn am Apparat, bitte?«

»Ralph. Ralph Turee. Bist du’s, Esther?«

»Ja«, antwortete Esther mit Kälte, denn sie war aus tiefem Schlaf geweckt worden, und selbst unter den günstigsten Umständen machte sie sich weder aus Turee, Turees Frau oder einem der kleinen Turees etwas. »Ist es nicht schon ziemlich spät

{22}»Ich kann dich nicht hören. Würdest du lauter sprechen?«

»Ich schreie beinahe schon.«

»Hör zu, Esther – was, zum Teufel, ist das für ein Lärm? Esther – bist du noch da? Hör mal – geht es Ron gut?«

»Natürlich geht’s ihm gut.«

»Keine Verdauungsstörungen oder so was?«

»Bist du vielleicht betrunken?« Das war eine von Esthers Lieblingsfragen, und sie hatte bereits eine gewisse Fertigkeit erworben, sie wirkungsvoll vorzubringen.

»Ich bin nicht betrunken«, schrie Turee. »Warum sollte ich betrunken sein?«

»Du wirst sicher deine Gründe haben. Was ist mit Ron?«

»Nun, es ist so – Harry ist mit dem Rest von uns in der Hütte.«

»So?«

»Ron ist nicht angekommen. Harry ist in seinem eigenen Wagen allein hinaufgefahren. Er hatte eine geschäftliche Verabredung in Mimico und ließ Ron durch Thelma ausrichten, daß Ron nicht auf ihn warten, sondern allein zur Hütte hinauffahren solle, und Harry nachkäme, sobald er könnte. Nun, Harry ist hier angekommen, aber Ron nicht. Die anderen fangen an, sich Sorgen zu machen, und so dachten wir, wir riefen besser mal an.«

Esther litt unter ständiger Eifersucht. Ihre erste Vorstellung war daher keineswegs die eines tot unter dem zertrümmerten Wagen, sondern behaglich neben Thelma im Bett liegenden Galloway.

»Vielleicht ist Ron aufgehalten worden«, sagte sie.

»Wo?«

»In Weston.«

»Aber wodurch?«

»Wodurch? Frag Harry. Er ist mit der Frau verheiratet.«

{23}»Laß die dumme Bemerkung«, sagte Turee gereizt. »Was ist denn in dich gefahren, Esther?«

»Es war nur so ein Gedanke.«

»Allen Ernstes, ich hätte dich für intelligenter gehalten. Mehr kann ich im Augenblick nicht sagen, weil Harry kaum ein paar Meter entfernt steht. Verstehst du?«

»Natürlich.«

»Hör zu, Esther –«

In diesem Augenblick meldete sich die Vermittlungsbeamtin und verlangte weitere neunzig Cent. Turee warf das Geld ein und fluchte laut. »Bist du noch da, Esther?«

»Ja.«

»Ich glaube, du solltest die Polizei benachrichtigen.«

»Warum? Es könnte den armen Ron in Verlegenheit bringen. Er ist sehr empfindlich dagegen, daß ihn die Polizei erwischt, wenn er mit der Frau eines anderen Mannes im Bett liegt.«

»Um Himmels willen, Esther, schlag dir diese Schnapsidee aus dem Kopf! Es kann sich um etwas Ernsthaftes handeln. Ron kann ebensogut in einem Hospital oder sogar in einem Leichenhaus liegen.«

»Er hat alle möglichen Ausweise bei sich. Wenn er einen Unfall gehabt hätte, wäre ich benachrichtigt worden.«

»Dann bist du also nicht besorgt?«

»Besorgt? Doch, ich bin besorgt, aber es ist nicht die Art Sorge, die ich mit der Polizei teilen möchte.«

»Ich bin über deine Haltung erstaunt, Esther – sehr erstaunt.«

»Dann sei erstaunt. Ich kann dich nicht daran hindern.«

»Aber was ist mit Ron?«

»Ron«, sagte sie trocken, »wird in angemessener Zeit zu Hause auftauchen, und zwar mit einer völlig glaubwürdigen Geschichte, die ich ihm vielleicht sogar für eine gewisse {24}Zeit abnehmen werde. Du brauchst dir über Ron keine Gedanken zu machen. Wo immer er ist und was immer er tut, er macht sich keinerlei Gedanken über dich, mich, Harry oder sonst jemand, das versichere ich dir.«

»Das kann auch bedeuten, daß er tot ist.«

»Das Unangenehme an dir und den anderen ist, daß ihr alle rührselig werdet, wenn ihr getrunken habt.«

Diese Feststellung traf weitgehend ins Schwarze, so daß Turee keinen Versuch unternahm, sie zu widerlegen. »Ich muß schon sagen, das war keine sehr liebenswürdige Bemerkung.«

»Mir ist im Augenblick nicht nach Liebenswürdigkeit zumute. Nun hör zu. Ihr seid zur Hütte gefahren, um am Wochenende zu angeln. Oder was immer. Wenn Ron hier auftaucht, werde ich ihm sagen, ihr machtet euch Sorgen, und bitte ihn, euch ein Telegramm zu schicken. Wenn er bei euch aufkreuzt, tut ihr dasselbe für mich. Einverstanden?«

»Einverstanden«, stimmte Turee zu, obwohl er eigentlich ganz und gar nicht einverstanden war.

Die ganze Angelegenheit war unverständlich. Galloways Abwesenheit, Esthers Benehmen, Winslows sinnloses Geschluchze. Was für ein Wochenende wird das werden, dachte er. Ich sollte eigentlich umkehren und nach Hause fahren.

Die Luft in der Telefonzelle war heiß und dumpf geworden, und als Turee die Tür öffnete und in die Halle hinaustrat, hatte er rote Augen, war schlecht gelaunt und schwitzte.

Harry stand neben dem Fenster und blickte angestrengt auf die Bucht hinaus, als ob es dort viele interessante Dinge zu sehen gäbe. Aber die Bucht war dunkel, es gab nichts zu sehen, und Turee wußte, daß Harry gelauscht hatte – gelauscht und wahrscheinlich auch alles mit angehört.

{25}»Na ja«, sagte Turee und versuchte, herzlich zu wirken. »Es scheint, daß wir uns wegen nichts und wieder nichts aufgeregt haben.«

»Dann ist Ron also zu Hause?«

»Nicht gerade. Aber ich kann dir verraten, daß Esther sich nicht die geringste Sorge um sein Wohlbefinden macht.«

»Das klingt, als ob sie sich wegen etwas anderem sorgte.«

»Oh, du kennst doch Esther. Sie hat sich in die Idee verrannt, daß Ron irgendwohin bummeln gegangen ist. Wer weiß, vielleicht hat sie recht.«

»Vielleicht.« Harry drehte sich wieder dem Fenster zu und sagte mit zusammengebissenen Zähnen, so daß seine Stimme wie die eines Bauchredners klang: »Ich dachte, ich hätte gehört, daß du etwas über mich sagtest.«

»Über dich? Ja, natürlich. Ich erklärte ihr die Sache mit deiner geschäftlichen Verabredung und –«

»Das meine ich nicht.«

»Na schön«, sagte Turee ruhig. »Was hast du sonst noch gehört?«

»Du sagtest zu Esther, du könntest nicht mehr sagen, weil ich nur ein paar Meter weit entfernt stünde.«

»Das stimmt.«

»Worauf bezog sich das?«

»Nun ja, das war so –« Turee war ein unerfahrener Lügner, und die Umstände – das Sinken seines Alkoholspiegels, die späte Stunde, die Anwesenheit des Hoteldirektors, der aufmerksam hinter seinem Schreibtisch saß – trugen noch zu seiner Ungeschicklichkeit bei. »Tatsache ist, daß Esther den Verdacht hegt, du und Ron, ihr seid miteinander bummeln gegangen.«

»Esther sollte mich besser kennen. Früher, nun, vielleicht hätte sie da Anlaß gehabt, aber jetzt bin ich ein verheirateter Mann.«

{26}»Ja.«

»Und Esther kennt mich auch besser.«

»Was Esther weiß und was sie empfindet, liegt oft meilenweit auseinander.«

»Sagst du mir die Wahrheit?«

»Worüber?«

»Hör auf damit, Ralph. Wir sind doch Freunde.«

»Nun, von Freund zu Freund würde ich vorschlagen, daß wir zur Hütte zurückfahren und uns aufs Ohr legen.« Turee machte bereits versuchsweise ein paar Schritte auf die Tür zu, aber als er bemerkte, daß Harry keine Anstalten traf, ihm zu folgen, kam er zurück. »Wir können schließlich nicht die ganze Nacht hierbleiben, alter Junge.«

»Nein?«

»Hör zu, Esthers idiotische Verdächtigungen sollten doch überhaupt keine Rolle spielen. Nun komm schon, laß uns zur Hütte zurückfahren. Hier können wir nichts mehr tun.«

»Doch«, sagte Harry. »Ich werde Thelma anrufen.«

»Warum?«

»Man braucht keinen Grund, um seine eigene Frau anzurufen. Außerdem will ich wissen, ob Ron überhaupt bei ihr aufgetaucht ist.«

»Aber es ist spät. Thelma schläft sicher. Sie hört das Telefon vielleicht gar nicht.«

»Es steht direkt neben unserem Bett.«

»Dann ruf sie eben an. Aber sag bloß nicht, ich hätte dich nicht gewarnt.«

»Mich gewarnt

»Was ich damit sagen will – wenn ich meine Frau um diese Zeit anriefe, hielte sie mich für betrunken und machte einen Heidenkrach, wenn ich nächstesmal mit euch zur Hütte fahren wollte.«

{27}»Thelma ist da anders. Sie gönnt mir mein Vergnügen. Sie ist eine ausgesprochen selbstlose Frau.«

Turee widersprach nicht. Es gehörte zu Harrys liebenswertesten Eigenschaften, daß er anderen Leuten Tugenden zuschrieb, die er selbst besaß.

Als Harry in die Telefonzelle trat und die Tür hinter sich schloß, beobachtete ihn Turee besorgt. Um Himmels willen, dachte er, angenommen, Esther hätte ausnahmsweise recht und Ron ist bei Thelma … Nein, das ist unmöglich. Thelma ist genauso verrückt nach Harry wie er nach ihr. Er begann fast lautlos zu pfeifen. Ich ärgere mich eben über Harry.

{28}Drittes Kapitel

Thelma schlief nicht, wie Turee vorhergesagt hatte. Sie kam beim zweiten Rufzeichen an den Apparat, und ihre Stimme klang so munter, als hätte sie diesen Anruf erwartet. Oder einen anderen.

»Hier Bream.«

Harry lachte. »Das weiß ich, Schätzchen.«

»Oh, du bist’s, Harry.«

»Niemand anderer. Hoffentlich habe ich dich nicht aufgeweckt.«

»Nein.«

»Freust du dich über meinen Anruf?«

»Natürlich.«

»Hand aufs Herz?«

»Hand aufs Herz«, sagte sie matt. »Wie gern du diese Spielchen hast, Harry. Du bist wie ein Kind. Aber ist es nicht schon zu spät zum Spielen? Sollten Kinder nicht längst im Bett sein? Ich glaube schon. Morgen«, setzte sie hinzu, »kannst du spielen, soviel du willst.«

In den drei Jahren ihrer Ehe hatte sie ihn noch nie in einer so müde-gönnerhaften Weise angesprochen. Harry wurde rot, als ob er einen Schlag ins Gesicht erhalten hätte.

»Thelma, was ist los?«

»Nichts.«

»Das ist nicht wahr. Ich weiß, daß es nicht wahr ist. Sag, was los ist. Sag’s Harry.«

Ihre einzige Antwort war ein Seufzer. Er konnte ihn ganz deutlich hören; er war lang und tief und ernst.

»Thelma, hör zu. Wenn du willst, daß ich heimkomme, fahre ich jetzt sofort weg.«

»Nein! Ich will nicht, daß du heimkommst.«

{29}»Was ist los, Thelma? Fühlst du dich nicht wohl?«

Wieder antwortete sie nicht. Harry fühlte sich durch ihr Schweigen wie erstickt. Er stieß die Tür der Zelle ein paar Zentimeter weit auf und atmete tief und gleichmäßig die frische Luft ein. Turee konnte jetzt alles verstehen, aber Harry war es egal. Er war nicht zu schüchtern, um seine Sorgen mit seinen Freunden zu teilen, denn er selbst hatte oft an den ihren Anteil genommen.

»Ich bin krank«, sagte Thelma schließlich. »Ich bin schon den ganzen Abend über krank gewesen.«

»Laß den Doktor kommen. Laß sofort den Doktor kommen.«

»Ich brauche keinen Doktor. Ich weiß, was los ist.«

»Was denn, Liebling?«

»Ich kann es dir nicht sagen. Es ist weder die Zeit noch der Ort dazu.«

»Hör, Thel, leg dich hin und ruh dich aus. Ich komme jetzt sofort zu dir.«

»Wenn du das tust, bin ich nicht mehr da.«

»Um Himmels willen –«

»Es ist mein Ernst, Harry. Ich werde weglaufen. Ich muß eine Weile allein sein, um nachdenken zu können. Komm nicht heim, Harry. Versprich es mir.«

»Aber ich –«

»Versprich es mir.«

»Schön, ich versprech es. Ich komme nicht nach Hause, jedenfalls nicht heute nacht.«

Sie schien erleichtert, und als sie wieder sprach, klang ihre Stimme wieder freundlich. »Woher rufst du an?«

»Aus einem Hotel in Wiarton.«

»Bist du noch nicht auf der Hütte gewesen?«

»Doch, aber Turee und ich fuhren zurück, um bei Ron anzurufen.«

{30}»Warum, um alles in der Welt, wollt ihr um diese Zeit Ron anrufen?«

»Um herauszufinden, warum er nicht angekommen ist.«

»Warum er nicht angekommen ist«, wiederholte sie matt. »Hast du das gesagt? Ron ist nicht bei euch?«

»Bis jetzt nicht.«

»Aber er ist hier vor Stunden weggefahren. Er kam vor acht, und ich richtete ihm aus, was du gesagt hast, und wir tranken noch einen Schluck miteinander. Und dann –«

Sie hielt inne, und Harry mußte sie drängen, weiterzureden. »Was dann, Thelma?«

»Ich – ich bat ihn – ich bat ihn, nicht zur Hütte hinaufzufahren.«

»Warum?«

»Weil ich dieses Gefühl hatte, als er hereinkam – es war so stark, daß ich beinahe ohnmächtig wurde – ich hatte dieses Gefühl.« Sie begann zu weinen, und ihre nächsten Worte wurden von fortwährendem Schluchzen unterbrochen. »O Gott – gewarnt – meine Schuld – Ron ist tot – Ron – Ron –«

»Was sagst du da, Thelma?«

»Ron –« Sie wiederholte den Namen ein halbes dutzendmal. Harrys Herz begann zu schmerzen, und sein Gesicht wurde starr, während er ihr zuhörte.

Turee kam zu der Telefonzelle herüber und öffnete die Tür. »Ist was los?«

»Ja. Aber ich weiß nicht was.«

»Vielleicht kann ich helfen?«

»Ich glaube nicht.«

»Laß es mich wenigstens versuchen. Geh und setz dich irgendwohin, Harry, du siehst gräßlich aus.«

Turee ergriff den Hörer und sagte lebhaft: »Hallo, Thelma. Hier ist Ralph.«

{31}»Geh weg.«

»Hör zu, Thelma, ich weiß nicht, was los ist, aber beruhige dich für einen Augenblick, ja?«

»Ich kann nicht.«

»Warum trinkst du nicht mal einen Schluck? Ich hänge für eine Minute ein, während du dir ein Glas einschenkst –«

»Ich möchte nichts trinken.«

»Schön, schön. Es war ja nur ein Vorschlag.«

»Es würde sowieso nichts nützen. Ich bin krank. Ich habe mich übergeben.«

»Vielleicht hast du eine leichte Grippe.«

»Ich habe keine Grippe.« Sie zögerte einen Augenblick. »Ist Harry in deiner Nähe?«

»Nein, er ist hinausgegangen.«

»Bist du sicher?«

»Ich sehe ihn auf der Veranda auf und ab gehen.«

»Ich bekomme ein Kind.«

»Wie? Was hast du gesagt?«

»Ich bekomme ein Baby.«

»Oh – na, so was! Aber das ist doch großartig, Thelma!«

»Findest du?«

»Hast du’s Harry schon erzählt?«

»Noch nicht.«

»Lieber Himmel, er wird ganz aus dem Häuschen sein, wenn er es erfährt.«

»Vielleicht. Am Anfang.«

»Was meinst du mit ›am Anfang‹?«

»Wenn er nachzudenken beginnt, wird er nicht mehr so erfreut sein.«

»Das begreife ich nicht.«

»Harry und ich haben in dieser Beziehung seit über einem Jahr kein Risiko auf uns genommen«, sagte sie {32}langsam. »Harry wollte nicht, daß ich ein Kind bekäme. Er fürchtete, es könnten Komplikationen auftreten, weil ich beinahe Fünfunddreißig bin.«

»Keine Methode ist da ganz sicher. Es kann trotzdem passiert sein.«