{5}Für Vera Cooper, die Literatin

{7}1

Von ihrem Ruheplätzchen in der Besenkammer aus hörte Consuela die beiden amerikanischen Damen von 404 diskutieren. Die Kammer war so schmal wie der Weg zum Himmel und roch nach Möbelpolitur und Chlor und nach Consuela selbst. Aber es war nicht die Unbequemlichkeit, die ihre Siesta störte; es war die Anstrengung, die es sie kostete, zu verstehen, worüber die Amerikanerinnen diskutierten. Geld? Liebe? Was war da noch, fragte sich Consuela und wischte sich den Schweiß von Stirn und Nacken, mit einem der sauberen Handtücher, die sie genau um sechs Uhr in die Badezimmer hätte bringen sollen.

Es war jetzt sieben. Sie faltete das Handtuch wieder zusammen und legte es auf den Stapel zurück. Der Geschäftsführer war vielleicht ein wenig pingelig, was saubere Handtücher und genau eingehaltene Zeiten betraf, aber Consuela war es nicht. Ein paar Bazillen hatten noch niemandem geschadet, besonders wenn keiner wußte, daß sie da waren, und was war eine Stunde früher oder später angesichts der Ewigkeit?

Jeden Monat holte Señor Escamillo, der Geschäftsführer, die Hotelangestellten in einem der Bankettsäle zusammen und kläffte sie an wie ein nervöser Terrier.

»Jetzt hört mal her. Es hat Beschwerden gegeben. Ja, {8}Beschwerden. Also sind wir wieder einmal hier versammelt, und ich erkläre euch einmal mehr, daß die Amerikaner unsere besten Kunden sind. Wir müssen dafür sorgen, daß sie es bleiben. Gut. Was ist den Amerikanern am tiefsten verhaßt? Bazillen. Also gibt es bei uns keine Bazillen. Bei uns gibt es saubere Handtücher. Zweimal täglich saubere Handtücher, absolut bazillenfrei. Gut. Und jetzt das Wasser. Die Amerikaner werden nach dem Wasser fragen, und ihr werdet sagen, daß dieses Leitungswasser das reinste Wasser in ganz Mexico City ist. Gut. Irgendwelche Fragen?«

Consuela hatte eine Reihe von Fragen, etwa warum der Geschäftsführer in seinem Büro Wasser aus Flaschen benutzte, aber ihr Selbsterhaltungstrieb ließ sie schweigen. Sie brauchte den Job. Ihr Freund hatte ein Händchen dafür, auf der Rennbahn aufs falsche Pferd zu setzen, bei der Lotterie auf die falschen Nummern und in der quiniela auf den falschen Jai-alai-Spieler.

Die Diskussion zwischen den beiden Damen ging weiter. Sprachen sie über Liebe? Nicht sehr wahrscheinlich, entschied Consuela. Pedro, der Fahrstuhlführer und beste Spion im Hotel, sprach die beiden amerikanischen Damen mit Señora an, vermutlich hatten sie also irgendwo Ehemänner und machten Urlaub in Mexico City.

Geld? Auch nicht sehr wahrscheinlich. Beide Damen sahen wohlhabend aus. Die größere (ihre Freundin nannte sie Wilma) besaß einen langen, echten Nerzmantel, den sie ständig trug, sogar wenn sie zum Frühstück herunterkam, und wenn sie durch den Flur ging, klimperte sie wie ein Straßenbahnwagen, so viele Armbänder trug sie. Sie ließ nie etwas in ihrem Zimmer zurück außer einem verschlossenen Koffer. Consuela hatte rein {9}gewohnheitsmäßig die Kommodenschubladen durchsucht, aber sie waren alle so leer wie das Herz eines Sünders. Der verschlossene Koffer und die leeren Schubladen waren natürlich eine große Enttäuschung für Consuela, die ihre Garderobe beträchtlich erweitert hatte während der Monate, die sie im Hotel arbeitete. Hier und da gelegentlich ein Kleidungsstück verschwinden zu lassen war nicht wirklich Diebstahl. Es war mehr eine Sache des gesunden Menschenverstandes, sogar der Gerechtigkeit. Wenn einige Leute sehr reich waren und andere sehr arm, mußten die Dinge ein bißchen ausgeglichen werden, und Consuela trug ihren Teil dazu bei.

»Alles verschlossen«, murmelte Consuela zwischen den Besen. »Und all die Armbänder. Klimper, klimper, klimper.«

Sie nahm vier Badetücher vom Stapel, schwang sie sich über die linke Schulter und trat hinaus in den Korridor, eine gutaussehende junge Frau mit stolz zurückgeworfenem Kopf. Ihr selbstsicherer Gang und die lässige Art, die Handtücher zu tragen, ließen sie wie eine Sportlerin aussehen, die nach einem ausgefüllten Tag auf dem Tennis- oder Sportplatz auf dem Weg zu den Duschen ist.

Vor 404 machte sie eine kurze Pause, um zu lauschen, aber es war, selbst für jemanden mit den Ohren eines Fuchses, nichts anderes zu hören als der Verkehrslärm von der avenida weiter unten. Jedermann in der Stadt schien auf dem Weg irgendwohin zu sein, und Consuela hatte den drängenden Wunsch, die Hintertreppe hinunterzulaufen und sich ihnen anzuschließen. Ihre Füße, groß und flach in den espadrilles aus Stroh, sehnten sich danach zu laufen. Aber statt dessen standen sie still vor 404, bis die größere der Damen, Wilma, die Tür öffnete.

{10}Sie wollte zum Abendessen ausgehen und trug ein Kostüm aus roter Seide. Jede Locke, jeder Ring, jedes Armband befand sich am richtigen Platz, aber erst das halbe Make-up war aufgelegt, so daß das eine Auge stumpf und blaß wie das eines Fisches aussah, während das andere mit einem goldenen Lid und einer leuchtend schwarzen Umrandung unter einer auf heitere Art unmöglich gewölbten Braue strahlte. Wenn die Anmalerei beendet war, würde Wilma, das mußte Consuela zugeben, beeindruckend wirken, die Art von Frau, die sich nicht erst bemühen mußte, die Blicke eines Kellners zu erhaschen, weil sie bereits auf ihr ruhten.

Aber sie ist nicht hembra, dachte Consuela. Sie hat nicht mehr Busen als ein Stier. Soll sie doch ihre Unterwäsche einschließen. Sie würde mir sowieso nicht passen. Und Consuela, die bemerkenswert hembra war, um nicht zu sagen ausgesprochen dick, wölbte die Brust vor und schob die Hüften im Rumbatakt durch die Tür.

»Oh, Sie sind es«, sagte Wilma. »Schon wieder.« Verärgert drehte sie sich um und wandte sich an ihre Begleiterin. »Es kommt mir vor, als ob hier jedesmal, wenn ich Luft hole, jemand herumschleicht und Betten aufdeckt oder die Badetücher wechselt. Man hat hier etwa so viel Privatleben wie auf einer Krankenhausstation.«

Amy Kellogg, die am Fenster stand, gab einen Laut verlegenen Protestes von sich, eine Art Kombination zwischen Pst und O je. Das Geräusch war Amys eigene Erfindung, es gab ihre Persönlichkeit wieder, und ein Experte hätte in ihm ein Echo all der Dinge erkennen können, die sie ihr ganzes Leben lang nicht zu sagen gewagt hatte, zu ihren Eltern, zu ihrem Bruder Gill, ihrem Ehemann Rupert und ihrer alten Freundin Wilma. {11}Sie wurde nicht jünger, wie ihr Bruder Gill häufig betonte. Es wurde Zeit, daß sie einen festen Standpunkt einnahm, entschieden und sachlich auftrat. Laß die Leute nicht auf dir herumtrampeln, sagte er oft, während seine eigenen Stiefel trampelten, knirschten, zermalmten. Fälle deine eigenen Entscheidungen, sagte er, aber jedesmal wenn sie eine Entscheidung fällte, wurde sie ihr aus der Hand genommen und verworfen oder verbessert, als gehe es um ein Spielzeug, das ein Kind gemacht hatte, unfertig und grotesk.

Wilma sagte, während sie sich zu einem zweiten goldenen Lid verhalf: »Ich habe das Gefühl, jemand spioniert mir nach.«

»Sie versuchen nur, für guten Service zu sorgen.«

»Die Handtücher, die sie heute morgen reingelegt hat, stanken.«

»Das habe ich nicht bemerkt.«

»Du rauchst ja auch. Dein Geruchssinn ist beeinträchtigt. Meiner nicht. Sie stanken.«

»Ich wünschte, du würdest nicht … findest du es richtig, vor diesem Mädchen so zu reden?«

»Sie versteht es nicht.«

»Aber im Reisebüro haben sie gesagt, alle in dem Hotel sprechen Englisch.«

»Das Reisebüro ist in San Francisco. Wir sind hier.« Wilma ließ hier klingen wie ein Synonym für Hölle. »Wenn sie Englisch spricht, warum sagt sie dann nichts?«

Das würdest du wohl gern wissen, dachte Consuela und ließ nachlässig kaltes Wasser in das Waschbecken plätschern. Sie und nicht Englisch sprechen, ha! Sie, die schon in Los Angeles gelebt hatte, bis die Einwanderungsbehörde sie und ihren Vater erwischt und die ganze {12}Familie mit einer Busladung von illegalen Einwanderern zurückgeschickt hatte; sie, die einen echt amerikanischen Freund hatte und von der ganzen Nachbarschaft beneidet wurde, weil sie eines Tages, mit Hilfe der richtigen Pferde, Nummern und Jai-alai-Spieler, nach Los Angeles zurückkehren und sich zwischen den Filmschauspielern bewegen würde. Nicht Englisch sprechen! Haha, daß ich nicht lache, Wilma, mit nicht mehr Busen als ein Stier!

»Sie ist eigentlich sehr hübsch«, sagte Amy. »Findest du nicht?«

»Ist mir nicht aufgefallen.«

»Aber sie ist hübsch. Schrecklich hübsch«, wiederholte Amy, während sie Consuelas Bild forschend im Badezimmerspiegel betrachtete, nach einem Zeichen suchte, daß das Mädchen sie verstand, einem Erröten, einem Aufglitzern der Augen. Aber Consuela hatte mehr Erfahrung im Sichverstellen als Amy im Aufdecken von Verstellungen. Sie verließ das Badezimmer lächelnd, höflich, deckte nacheinander die beiden Einzelbetten auf und schüttelte die Kissen zurecht. Für Consuela war die Verstellung wie ein Spiel. Es konnte ein gefährliches Spiel werden, wenn die Amerikanerinnen sich bei dem Geschäftsführer beschwerten, der wußte, daß sie perfekt Englisch sprach. Aber sie konnte nicht widerstehen, ebensowenig wie sie dem Mitgehenlassen von einem hübschen Nylonslip, einem bunten Gürtel oder einem Paar Spitzenhöschen widerstehen konnte.

Amy, die sich in Spielen auch ein wenig auskannte, fragte: »Wie heißt du? Sprichst du Englisch?«

Consuela lächelte, zuckte mit den Schultern und breitete die Hände aus. Dann drehte sie sich so rasch um, daß ihre espadrilles protestierend quietschten, und Sekunden {13}später lief sie den Flur hinunter zu ihrer Besenkammer. Das Lächeln war von ihrem Gesicht gewichen, und ihre Kehle fühlte sich zusammengepreßt an wie ein Korken in einer Flasche. In der dunklen Enge bekreuzigte sie sich, ohne so recht zu wissen warum.

»Ich traue dem Mädchen nicht«, sagte Wilma.

»Wir könnten in ein anderes Hotel umziehen.«

»Sie sind alle so. Das ganze Land ist so. Korrupt.«

»Wir sind doch erst seit zwei Tagen hier. Denkst du nicht …«

»Ich brauche nicht zu denken. Ich kann riechen. Korruption riecht immer.«

Wilma hörte sich überzeugt an, wie sie es immer tat, wenn sie unrecht hatte oder sich ihrer selbst nicht sicher war. Sie beendete ihre Anmalerei mit einem Pünktchen Lippenstift im Innenwinkel eines jeden Auges, während Amy ihr zuschaute und hoffte, daß Wilmas »Nerven« nicht wieder ausbrechen würden. Alle Anzeichen waren da, wie die ersten Rauchwölkchen über einem Vulkan: die zitternden Hände, das laute, schnelle Atmen, die raschen Verdächtigungen.

Wilma hatte ein schlechtes Jahr hinter sich, eine Ehescheidung (ihre zweite), den Tod ihrer Eltern bei einem Flugzeugunglück und eine Lungenentzündung. Sie hatte den Urlaub in Mexiko geplant, um all dem zu entkommen. Statt dessen hatte sie es alles mitgebracht. Mich eingeschlossen, dachte Amy erbittert. Na ja, ich hätte nicht mitzukommen brauchen. Rupert hat gesagt, ich mache einen Fehler, und Gill nannte mich schwachsinnig. Aber Wilma hat außer mir niemanden mehr.

Wilma wandte sich ab vom Kommodenspiegel. »Ich sehe aus wie ein altes Weib.«

{14}Aus den Rauchwölkchen wurden Rauchwolken.

»Nein, tust du nicht«, sagte Amy. »Und es tut mir leid, daß ich dich einen Spielverderber genannt habe. Ich meine …«

»Dieses Kostüm hängt an mir wie ein Zelt.«

»Es ist ein wunderschönes Kostüm.«

»Natürlich ist es wunderschön. Es ist ein elegantes Kostüm. Es ist das alte Weib in dem Kostüm, das es verdirbt.«

»Sprich doch nicht so. Du bist erst dreiunddreißig.«

»Erst! Ich habe so abgenommen. Ich sehe aus wie ein Stock.« Wilma setzte sich unvermittelt auf die Kante eines der Betten. »Mir ist nicht gut.«

»Was ist es? Wieder dein Kopf?«

»Der Magen. Oh, Gott. Es ist als … als würde man vergiftet.«

»Vergiftet? Hör mal, Wilma, das darfst du nicht einmal denken

»Ich weiß. Ich weiß. Aber mir ist so schlecht.« Sie ließ sich seitlich auf das Bett rollen, die Hände auf den Bauch gepreßt.

»Ich werde einen Arzt rufen.«

»Nein, nein … ich habe kein Vertrauen zu … Ausländern …«

»Ich kann nicht hier herumsitzen und zusehen, wie du leidest.«

»O Gott. Ich sterbe … ich kann nicht atmen …«

Ihr Stöhnen drang in die Besenkammer, und Consuela drückte sich an die lauschende Wand, still und wachsam wie eine Eidechse auf einem besonnten Felsen.

{15}2

Vor acht Uhr traf ein Arzt ein, ein zierlicher, lebhafter Mann mit einer roten Kamelie im Knopfloch. Er schien zu wissen, was er zu erwarten hatte; seine Untersuchung war oberflächlich, seine Fragen waren kurz. Er gab Wilma eine kleine rote Kapsel und einen Teelöffel voll von einer klebrigen, pfirsichfarbenen Flüssigkeit. Die Packungen ließ er zur weiteren Verabreichung auf der Kommode zurück.

Dann sprach er im angrenzenden Wohnzimmer mit Amy. »Ihre Freundin, Mrs. Wyatt, ist sehr leicht erregbar.«

»Ja, ich weiß.«

»Sie behauptet, vergiftet worden zu sein.«

»Oh, das sind nur ihre Nerven.«

»Ich glaube nicht.«

»Niemand würde die arme Wilma vergiften.«

»Nein? Nun, das kann ich nicht beurteilen.« Der Arzt lächelte. Seine Augen waren freundlich und hatten den Schimmer und die Farbe von Günselblüten. »Aber sie ist wirklich vergiftet worden. Ihre Krankheit ist unter Besuchern sehr verbreitet – turista wird sie genannt, neben anderen, weniger achtbaren Bezeichnungen.«

»Das Wasser …?«

»Das auch, ja, aber auch die andere Ernährung, {16}unüberlegtes Essen, die Höhe. Das Medikament, das ich für sie dagelassen habe, ist ein neues Antibiotikum, das ihre Verdauungsprobleme in Ordnung bringen sollte. Die Höhe ist eine andere Sache. Selbst um den Touristen gefällig zu sein, können wir sie nicht ändern. Und so befinden Sie sich hier in etwa 2300 Meter Höhe, während Sie an Meeresspiegelhöhe gewöhnt sind. San Francisco, glaube ich, sagten Sie?«

»Ja.«

»Ihre Freundin trifft es besonders schwer, weil sie unter hohem Blutdruck leidet. Diese Menschen neigen von Natur aus dazu, besonders aktiv zu sein, und in dieser Höhe kann ein Übermaß an Aktivität sehr schaden. Mrs. Wyatt muß vorsichtiger sein. Schärfen Sie ihr das ein.«

Amy wies nicht darauf hin, daß es seit Jahren niemand fertiggebracht hatte, Wilma etwas einzuschärfen, aber sie seufzte, und der Arzt schien sie zu verstehen.

»Erklären Sie es ihr wenigstens ein bißchen«, sagte er. »Meine Landsleute halten ihre Siesta nicht aus reiner Faulheit, wie es die Comic strips einen glauben machen wollen. Die Siesta ist bei unseren Lebensbedingungen eine vernünftige gesundheitliche Vorsichtsmaßnahme. Sie müssen Ihre Freundin in diesem Sinn beraten.«

»Wilma legt sich tagsüber nicht gern hin. Sie sagt, es sei eine Verzögerung.«

»Das ist es auch. Eine kleine Verzögerung ist genau das, was sie braucht.«

»Na ja, ich werde mein Bestes tun«, sagte Amy, und es hörte sich an, als sei ihr Bestes nur wenig mehr als ihr Schlechtestes. Tatsächlich schien es Amy so, als gerieten die beiden manchmal durcheinander, und ihr Bestes {17}endete als Katastrophe, während ihr Schlechtestes gar nicht so übel war.

Die Augen des Arztes glitten über ihr Gesicht, als lese er aus den Linien. »Es gibt eine andere Möglichkeit«, sagte er, »wenn Sie es nicht eilig haben.«

»Was wäre das?«

»Sie könnten für ein paar Tage nach Cuernavaca hinunterziehen, damit Ihre Freundin die Möglichkeit hat, sich langsamer an das Klima zu gewöhnen.«

»Wie schreibt sich das?«

Er buchstabierte es, und sie notierte es auf einem kleinen Block mit Stahlrücken und Magnetschreiber. Rupert hatte ihr den Block geschenkt, weil sie jeden Kugelschreiber verlegte und Notizen immer mit Augenbrauenstiften oder sogar mit einem Lippenstift machen mußte. Die mit Lippenstift waren notwendigerweise Abkürzungen. R: G.G.m. M. B’d z’k. Nur Rupert hätte dem entnehmen können, daß Amy den Scotchterrier Mack zum Auslauf in den Golden Gate Park geführt hatte und bald zurück sein werde.

»Cuernavaca«, sagte der Arzt, »ist nur etwa eine Autostunde entfernt, aber es liegt dem Meeresspiegel an die tausend Meter näher. Hübsche Stadt, herrliches Klima.«

»Ich werde Mrs. Wyatt davon erzählen, wenn sie aufwacht.«

»Was wahrscheinlich nicht vor morgen früh geschieht.«

»Sie hat nichts zu Abend gegessen.«

»Ich glaube nicht, daß ihr das fehlen wird,« sagte der Arzt mit einem trockenen kleinen Lächeln. »Sie andererseits sehen so aus, als täte etwas zu essen Ihnen gut.« Es erschien Amy herzlos, zuzugeben, daß sie hungrig sei, {18}während Wilma krank war, und so schüttelte sie den Kopf. »Oh, ich habe eigentlich keinen Hunger.«

»Der Speiseraum bleibt bis Mitternacht offen. Meiden Sie ungekochtes Obst und Gemüse. Ein Steak würde Ihnen guttun, ohne Beilagen. Ein Whisky Soda, aber keine ausgefallenen Cocktails.«

»Ich kann Wilma nicht gut allein lassen.«

»Warum nicht?«

»Angenommen, sie wacht auf und braucht Hilfe.«

»Sie wird nicht aufwachen.« Der Arzt nahm seine Tasche auf, ging mit raschen Schritten zur Tür und öffnete sie. »Gute Nacht, Mrs. Kellogg.«

»Ich … wir haben Ihnen nichts gezahlt.«

»Meine Forderung wird Ihrer Hotelrechnung hinzugefügt.«

»Oh. Nun, vielen Dank, Herr Dr. …?«

»Lopez.« Er überreichte ihr seine Karte mit einer höflichen kleinen Verbeugung und schloß die Tür hinter sich laut und bestimmt, wie um seine Behauptung, daß Wilma nicht aufwachen werde, zu beweisen.

Auf der Karte stand Dr. Ernest Lopez, Paseo Reforma 510, Tel. 11 24 14.

Er ließ einen schwachen Geruch nach Desinfektionsmitteln zurück. Solange er sich hier aufgehalten hatte, hatte Amy den Geruch in gewisser Weise als beruhigend empfunden: Bazillen wurden getötet, Viren wurde der Garaus gemacht, böse kleine Bakterien taten ihren letzten Atemzug. Aber ohne die Anwesenheit des Arztes wurde der Geruch eher beunruhigend, als sei er hierhergebracht worden, um ältere, weniger aufdringliche Gerüche von Fäulnis zu verdecken, wie Gewürze auf verdorbenem Fleisch.

{19}Amy ging durch das Zimmer und öffnete die Gittertür zum Balkon. Der Lärm von der avenida war ohrenbetäubend, als sei jedermann in der Stadt, frisch und ausgeruht nach einer Siesta, plötzlich aufgeregt und geräuschvoll nach draußen gestürzt. Am Spätnachmittag hatte es geregnet, kurz aber heftig. Die Straßen glänzten noch, und die Luft war dünn und frisch und sauber. Es schien Amy eine sehr gesunde Luft zu sein, bis sie an Wilmas hohen Blutdruck dachte. Sie schloß die Tür rasch wieder, als sei sie halb überzeugt davon, daß das Zimmer druckfest war und sie die Höhe mit einer Glasscheibe und ein bißchen eisernem Gitterwerk ausschließen konnte.

»Arme Wilma«, sagte sie laut, aber die Worte kamen nicht so heraus, wie sie es beabsichtigt hatte. Sie drangen zwischen zusammengebissenen Zähnen verkniffen und armselig hervor.

Sie hörte ihre eigene Stimme ihre Freundschaft zu Wilma verraten und lief mit schuldbewußter Hast vor ihr davon, zum Schlafzimmer.

Wilma schlief. Sie trug immer noch das rotseidene Kostüm, die Armbänder und die goldenen Lider. Sie sah aus, als stehe sie mit einem Fuß am Rande des Grabes.

Amy schaltete die Lampe aus und ging ins Wohnzimmer zurück. Es war acht Uhr. Auf der anderen Seite der avenida begann eine Kirchenglocke zu schlagen, bemüht, das metallische Klirren der Straßenbahnwagen und die Hupen der Taxis zu übertönen. Zu Hause ist es jetzt erst sechs Uhr, dachte Amy. Rupert würde noch im Garten arbeiten, Mack in seiner Nähe hinter Schmetterlingen und Sandheuschrecken herjagen und sie natürlich wieder entkommen lassen, wenn er welche {20}erwischte, weil Scotties sehr zivilisierte Hunde sind. Oder, wenn von der Bucht Nebel aufgekommen war, würden die beiden im Haus sein, Rupert würde im Arbeitszimmer die Sonntagsausgaben lesen, Mack auf der Rückenlehne seines Sessels kauern und düster über Ruperts Schulter schauen, als betrachte er das, was in der Welt geschah, in einem sehr trüben Licht.

Der große Mann und der kleine Hund standen so lebendig, so deutlich vor ihr, daß sie, als es an die Tür klopfte, schockiert über das Eindringen in ihr Privatleben zusammenzuckte.

Sie öffnete die Tür und erwartete, wieder das Mädchen mit den Handtüchern zu sehen. Aber es war ein älterer Mexikaner, der einen lose in Zeitungspapier gehüllten Gegenstand trug.

»Hier ist der Kasten, den die Señora heute nachmittag bestellt hat.«

»Ich habe keinen Kasten bestellt.«

»Die andere Señora. Sie wollte Initialen drin haben. Ich bringe es selber, ich vertraue meinem nichtsnutzigen Schwiegersohn nicht.« Er entfernte das Zeitungspapier so vorsichtig, als enthülle er eine Statue. »Es ist ein schöner Kasten. Jeder stimmt mir zu?«

»Wunderschön«, sagte Amy.

»Das reinste Silber. Reineres gibt’s nicht. Fühlen Sie, wie schwer.«

Er reichte ihr den gehämmerten silbernen Kasten. Sie ließ ihn beinahe fallen; trotz der Warnung war er so unerwartet schwer.

Der Mexikaner grinste entzückt. »Sie sehen? Das allerreinste Silber. Die Señora sagte, es sieht aus wie das Meer. Ich habe nie gesehen das Meer. Ich mache einen Kasten, {21}der sieht aus wie das Meer, und ich habe nie gesehen das Meer. Wie ist das möglich?«

»Mrs. Wyatt – die Señora schläft jetzt. Ich werde ihr den Kasten geben, wenn sie aufwacht.« Amy zögerte. »Er ist bezahlt?«

»Der Kasten, ja. Meine Mühe, nein. Ich bin ein alter Mann. Ich lauf durch die Straßen wie der Blitz; ich vertraue meinem nichtsnutzigen Schwiegersohn nicht. Ich lauf den ganzen Weg hierher, damit die Señora ihren schönen Kasten heut abend hat. Sie hat gesagt: ›Señor, dieser Kasten ist von großer Schönheit, ich kann es nicht ertragen, eine Nacht ohne ihn zu sein.‹«

Das war so ungefähr das Letzte, was Wilma sagen würde, aber Amy hatte keine Lust, sich zu streiten.

»Für die Señoras«, fügte er bieder hinzu, »lauf ich überall. Auch wenn ich ein alter Mann bin, ich lauf.«

»Würden vier Pes …«

»Ein sehr alter Mann. Mit viel Sorgen in der Familie und einer kranken Niere.«

Trotz seines Alters und seiner Schwäche und seines Laufes schien er bereit für ein Gespräch von beträchtlicher Länge. Amy gab ihm sechs Pesos, um ihn loszuwerden, obwohl sie wußte, daß es zuviel war.

Sie stellte den Kasten auf den Couchtisch und fragte sich, warum Wilma, die immer einen großen Wirbel machte, wenn sie bei Flügen für zuviel Gepäck zahlen mußte, einen so schweren Gegenstand gekauft hatte und für wen er bestimmt war. Vermutlich für sie selbst, dachte Amy. Wilma verschwendete selten Geld an andere, wenn sie sich nicht gerade in gehobener Stimmung befand, und dafür gab es auf dieser Reise weiß Gott keine Anzeichen.

{22}Sie öffnete den Kasten. Die Initialen befanden sich auf der Innenseite des Deckels, so kunstvoll eingraviert, daß es ihr schwerfiel, sie zu entziffern: R.J.K.

»R.J.K.« Sie wiederholte die Buchstaben laut, als wolle sie sie deuten und ein Bild heraufbeschwören, das zu ihnen paßte. Aber der einzige R.J.K., der ihr einfiel, war Rupert, und es war nicht sehr wahrscheinlich, daß Wilma ein so teures Geschenk für Rupert kaufen würde. Im allgemeinen beschränkten Amys Ehemann und ihre beste Freundin sich auf ein Mindestmaß an Höflichkeit zueinander.

{23}3

Als Wilma aus ihrem langen Schlaf erwachte, war es Sonntag nachmittag. Sie fühlte sich schwach und war hungrig, aber ihr Verstand war ungewöhnlich klar, als ob während der Nacht ein Sturm durch sie gefegt sei und die Luft in ihrem Inneren frisch und sauber zurückgelassen habe.

Während sie duschte und sich ankleidete, erschien ihr das Leben zum erstenmal seit vielen Jahren sehr einfach und logisch. Sie wünschte, es wäre jemand in der Nähe, mit dem sie über diese plötzliche Offenbarung sprechen konnte. Aber Amy war ausgegangen und hatte eine Mitteilung hinterlassen, daß sie um vier zurück sein werde, und der junge Kellner, der ihr das Frühstückstablett brachte, grinste nur scheu, als sie versuchte, ihm klarzumachen, wie einfach das Leben sei.

»Wenn man müde ist, schläft man.«

»Si, Señora.«

»Wenn man hungrig ist, ißt man. Einfach, logisch, fundamental.«

»Si, Señora, aber ich bin nicht hungrig.«

»Ach, zum Teufel«, sagte Wilma. »Verschwinde.«

Der Kellner hätte ihr fast ihre Offenbarung verdorben, aber nicht völlig. Sie öffnete die Balkontüren und wandte sich an den warmen, sonnigen Nachmittag: »Ich werde {24}mich den ganzen Tag an die Grundlagen halten. Kein Getue, keine Wirbel, keine Aufregung. Ich muß mich ganz auf das Wesentliche konzentrieren.«

Das erste Wesentliche war offensichtlich Essen. Sie hatte Hunger, sie würde essen.

Sie nahm den Deckel von der Schüssel mit Eiern und Schinken. Sie waren schwarz vor Pfeffer, und der Tomatensaft schmeckte durchdringend nach Limetten. Warum um alles in der Welt mußten sie auf alles Limettensaft gießen? Es war schwer genug, sich an das Wesentliche zu halten, auch ohne daß Dummköpfe und Unfähige dir an jeder Ecke deine Pläne durchkreuzten.

›Ich bin hungrig, ich werde essen‹ verwandelte sich in ›Ich bin hungrig, ich muß essen‹ und schließlich in ›Ich eß jetzt, und wenn’s mich umbringt.‹ Zu dem Zeitpunkt war sie nicht mehr hungrig. Die Offenbarung geriet wie ihre vielen Vorgänger in Vergessenheit, und das Leben wurde wieder einmal, wie es das für Wilma immer gewesen war, kompliziert und verwirrend.

Später am Nachmittag kehrte Amy zurück, die Arme voller Päckchen. Sie traf Wilma im Wohnzimmer an; sie las die Mexico City News und trank einen Whisky Soda.

Wilma sah sie über die Gläser ihrer Brille hinweg an. »Etwas Interessantes gekauft?«

»Nur ein paar Kleinigkeiten für Gills Kinder. Die Geschäfte waren brechend voll. Es kommt einem komisch vor, daß alle am Sonntag einkaufen.« Sie legte ihre Päckchen auf den Couchtisch, neben den silbernen Kasten. »Wie fühlst du dich?«

»Gut. Ich muß ausgegangen sein wie eine Kerze, nachdem der Arzt mir das Zeug gegeben hatte.«

»Ja.«

{25}»Was hast du den ganzen Abend gemacht?«

»Nichts.«

Wilma sah ein wenig ärgerlich aus. »Du kannst unmöglich gar nichts getan haben. Niemand tut gar nichts.«

»Ich schon. Ich habe gar nichts getan.«

»Was war mit dem Essen?«

»Ich habe nichts gegessen.«

»Warum nicht?«

»Ich war … durcheinander.« Amy setzte sich steif auf den Rand eines grünen Ledersessels. »Der Kasten ist gekommen.«

»Das sehe ich.«

»Er sieht sehr teuer aus.«

»Das war er auch«, sagte Wilma. »Sie hätten ihn wenigstens verpacken können. Meine Einkäufe sind meine eigene Angelegenheit.«

»Dieser nicht.«

»Das ist offensichtlich.« Wilma warf die Zeitung auf den Boden und nahm die Brille ab. Sie war weitsichtig und konnte ohne Brille nicht lesen, doch durch das Zimmer konnte sie besser ohne sie sehen. Amys Gesicht wirkte blaß und starr. »Ich nehme an, du hast die Initialen gesehen?«

»Ja.«

»Und hast daraus natürlich geschlossen, daß Rupert und ich verrückt nacheinander sind; daß wir schon seit Jahren hinter deinem Rücken ein Verhältnis …«

»Halt den Mund«, sagte Amy. »Ich habe das Mädchen im Schlafzimmer gehört.«

Consuela hatte sich mit ihrem Hauptschlüssel selbst hereingelassen und machte jetzt die Betten. Ihre Schultern hingen herunter, und ihr Gang war schleppend vor {26}Müdigkeit, weil sie mit ihrem Freund einen Streit gehabt hatte, der bis tief in die Nacht gegangen war. Aus einem, wie Consuela fand, völlig lächerlichen Grund. Sie hatte lediglich einen schwarzen Nylonslip aus 411 mitgehen lassen, aber ihr Freund war sehr wütend geworden und hatte gesagt, sie würde ihren Job verlieren, und ihr vorgeworfen, sie würde einer Ziege den Gestank klauen, wenn sie eine Chance dazu hätte. Obendrein war der Slip ihr zu klein gewesen, und als sie versucht hatte, ihn über die Hüften zu zerren, waren die Nähte geplatzt.

Das Leben war ungerecht. Das Leben war so grausam wie das Horn eines Stiers. Consuela ächzte, während sie die Laken wechselte, und gab kleine Schmerzenslaute von sich, während sie mit etwas Wasser nachlässig das Waschbecken auswischte. Warum sollte ich einer Ziege den Gestank klauen?

»Du bist eifersüchtig«, sagte Wilma leise. »Ist es das?«

»Natürlich nicht. Ich finde nur, daß es sich einfach nicht schickt. Und wenn Gill es herausfindet, wird er einen großen Wirbel machen.«

»Dann erzähl es ihm nicht.«

»Ich erzähle ihm nie etwas. Aber irgendwie findet er immer alles heraus.«

»Warum machst du dir noch etwas daraus, was dein Bruder denkt – bei deinem Alter und deiner Stellung?«

»Er kann eine Menge Schwierigkeiten machen«, sagte Amy. »Er war ohnehin immer mißtrauisch gegenüber Rupert. Ich weiß nicht warum.«

»Ich könnte dir sagen warum, aber es würde dir nicht gefallen. Du würdest wahrscheinlich nicht einmal zuhören.«

»Dann mach dir doch nicht die Mühe.«

{27}»Ich habe nicht die Absicht.« Wilma leerte ihr Glas. »Es ist dir also egal, ob ich Rupert den Kasten schenke, solange nur Gill nichts davon erfährt. Das ist sehr komisch.«

»Nicht für mich. Und überhaupt, ich sehe nicht ein, warum du ein so teures Geschenk kaufen mußtest.«

»Weil ich es gern wollte. Du würdest das nicht verstehen. Du hast in deinem ganzen Leben noch nie etwas getan, weil du es gern tun wolltest. Ich habe es getan, und ich tu es. Ich habe diesen Kasten im Fenster eines kleinen Ladens gesehen, und er erinnerte mich an etwas, was Rupert einmal sagte, daß das Meer aussehe wie gehämmertes Silber. Ich habe nie richtig verstanden, was er meinte, bis ich diesen Kasten sah. Darum habe ich ihn gekauft. Ich bin einfach reingegangen und habe ihn gekauft, ohne einen einzigen Gedanken an Geld oder dich oder Gill oder all eure sonderbaren, komplizierten …«

»Nicht so laut. Das Mädchen …«

»Zum Teufel mit dem Mädchen. Zum Teufel auch mit dem Kasten. Nimm das verdammte Ding und wirf es über den Balkon!«

»Das können wir nicht gut machen«, sagte Amy ruhig. »Es sind zu viele Menschen auf der Straße. Jemand könnte sich verletzen.«

»Aber das würdest du gern tun, nicht wahr?«

»Ich weiß es nicht.«

»Oh, gib es doch zu. Gib zur Abwechslung mal etwas zu. Du möchtest den Kasten loswerden.«

»Ja, aber …«

»Dann tu es doch. Schmeiß ihn über das Geländer. Das wäre das Ende des Kastens. Und ich wäre wirklich froh, wenn wir ihn los wären.«

{28}Im Schlafzimmer gab Consuela einen kleinen Protestlaut von sich. Einen silbernen Kasten auf die Straße zu werfen wie Abfall wäre eine schreckliche Sünde. Angenommen, eine sehr reiche Person sähe ihn durch die Luft fallen und finge ihn auf und würde noch reicher – Consuela stöhnte bei dem Gedanken an eine solche Ungerechtigkeit und verwünschte sich selbst, weil sie so töricht gewesen war, den beiden Damen vorzutäuschen, daß sie nicht Englisch spreche. Jetzt konnte sie sich nicht vor sie hinstellen und ihren Fall schildern: Ich bin ein sehr armes und sehr bedürftiges Mädchen vom Lande. Manchmal gerate ich sogar in Versuchung zu stehlen …

Nein, das wäre nicht gut gewesen, ihnen einen Floh ins Ohr zu setzen wegen Stehlen. Vielleicht war es doch besser, daß sie vorgegeben hatte, kein Englisch zu sprechen. So konnte sie den Damen einfach gegenübertreten und sehr arm und bedürftig und ehrlich aussehen, und vielleicht würden sie ihr den Kasten anbieten.

Consuela schaute in den Spiegel über der Kommode. Wie stellte man es an, ehrlich auszusehen? Es war nicht leicht.

Sie nahm die Teppichkehrmaschine und machte sich auf den Weg ins Wohnzimmer, schon dabei, Pläne für den silbernen Kasten zu schmieden. Sie würde ihn verkaufen und Lotterielose für die morgige Ziehung erstehen. Wenn dann am Dienstagmorgen in den Zeitungen stand, daß ihre Nummer gewonnen hatte, würde sie ihrem Freund raten, sich zum Küssen eine Ziege zu suchen, dem Geschäftsführer des Hotels eine lange Nase machen und sofort nach Hollywood abreisen, wo sie sich das Haar bleichen lassen und sich unter Filmstars bewegen würde.

{29}Sie sprach spanisch und hörte sich sehr arm und demütig an. »Wenn die gnädigen Damen mich entschuldigen wollen – ich bin gekommen, um das Zimmer aufzuräumen.«

»Sag ihr, sie soll gehen und später wiederkommen«, sagte Wilma.

Amy schüttelte den Kopf. »Ich weiß nicht wie.«

»Ich dachte, du hättest Spanisch auf der High-School gehabt.«

»Das ist über fünfzehn Jahre her und war nur ein halbes Jahr lang.«

»Na ja, dann such den Sprachreiseführer für Touristen.«

»Wir … ich habe ihn im Flugzeug liegenlassen.«

»Du lieber Gott! Nun, sieh zu, daß du sie irgendwie loswirst.«

Consuela hatte den silbernen Kasten auf dem Couchtisch entdeckt und brach in entzückte Äußerungen über die Schönheit, die Kunstfertigkeit und die Anzahl von Lotterielosen aus, die der Kasten wert war.

»Sie spricht offenbar über den Kasten«, sagte Amy.

»Laß sie reden.«

»Wenn du ihn ohnehin wegwerfen willst, könntest du ihn statt dessen ihr geben.«

»Könnte ich«, sagte Wilma. »Will ich aber nicht. Und wer hat gesagt, ich hätte die Absicht, ihn wegzuwerfen?«

»Du selbst. Du hast es praktisch versprochen.«

»Keineswegs. Ich habe gesagt, wenn du ihn gern wegwerfen würdest, solltest du nur machen. Aber du hattest nicht den Mut, und so hast du die Chance verpaßt. Der Kasten gehört mir. Ich habe ihn für Rupert gekauft, und ich werde ihn Rupert schenken.«

{30}Consuela, betrogen um das blonde Haar und die Filmstars, quäkte protestierend und preßte sich die Hand ans Herz, als ob es breche.

Wilma warf ihr einen zornigen Blick zu. »Geh weg. Wir haben zu tun. Komm später.«

»Oh, du bist ein böses Weib«, jammerte Consuela auf spanisch. »Ein selbstsüchtiges, schlechtes Weib. Mögest du ewig in der Hölle schmoren.«

»Ich verstehe kein Wort von dem, was du da sagst.«

»Ich wollte, du könntest mich verstehen, du schwarze Hexe mit dem bösen Blick. Kinder werden bleich und krank, wenn du sie ansiehst. Hunde klemmen den Schwanz ein und schleichen davon …«

»Ich habe diesen Unsinn satt«, sagte Wilma, zu Amy gewandt. »Ich geh in die Bar.«

»Allein?«

»Du kannst gern mitkommen.«

»Es ist noch so früh, kaum fünf Uhr.«

»Dann bleib hier. Wenn du es schaffst, etwas von deinem High-School-Spanisch auszugraben, wirst du dich mit dem Mädchen sicher prächtig unterhalten.«

»Wilma, trink nicht zuviel, wenn du in dieser Stimmung bist. Es wird dich nur deprimieren.«

»Ich bin schon deprimiert«, sagte Wilma. »Du deprimierst mich.«

 

Um sieben machte Amy sich auf, um nach Wilma zu sehen.

Das Hotel verfügte über zwei Bars, eine aufwendig auf dem Dach angelegt, mit einer temperamentvollen Kapelle, und eine kleinere zwischen der Empfangshalle und dem Speiseraum für Leute, die ihre Martinis lieber ohne {31}Musik tranken. Amy gab dem Liftboy zwei Pesos Trinkgeld und fragte ihn, in welche Richtung Wilma gegangen sei.

»Ihre Freundin in dem Pelzmantel?«

»Ja.«

»Zuerst ist sie zum Dachgarten hinaufgefahren. Etwas später kam sie wieder runter. Sie sagte, bei der Marimbamusik könne man sich nicht unterhalten.«

»Unterhalten?« fragte Amy. »Mit wem?«

»Mit dem Amerikaner.«

»Welcher Amerikaner?«

»Er hängt in der Bar herum. Er hat Heimweh, wie Sie das nennen, nach New York. Er unterhält sich gern mit anderen Amerikanern. Er ist harmlos«, fügte der Junge mit einem Schulterzucken hinzu. »Ein Niemand.«

Sie saßen an einem Tisch in einer Ecke der überfüllten Bar, Wilma und der harmlose Amerikaner, ein dunkelhäutiger, blonder junger Mann in einem auffälligen, grün und braun gestreiften Sportsakko. Wilma redete, und der junge Mann hörte zu und lächelte, ein routiniertes professionelles Lächeln ohne Wärme oder Interesse. Er sah wirklich ziemlich harmlos aus, dachte Amy. Vermutlich war er es auch – außer für Wilma. Nach zwei Ehen und zwei Scheidungen wußte sie immer noch nichts über Männer; sie war gleichzeitig zu mißtrauisch und zu leichtgläubig, zu aggressiv und zu verletzbar.

Amy durchquerte zögernd den Raum. Sie wäre gern umgekehrt, noch wichtiger aber war es ihr, sich zu vergewissern, daß Wilma weder betrunken noch übererregt – daß mit ihr alles in Ordnung war. Dies ist nicht die richtige Umgebung für sie. Morgen fahren wir nach Cuernavaca, wie der Arzt vorgeschlagen hat. Es wird ruhiger sein, {32}und es wird dort keine heimwehkranken Amerikaner geben.

»Da bist du ja«, sagte Wilma, sehr laut und fröhlich. »Ich möchte dich mit einem Landsmann aus San Francisco bekannt machen. Joe O’Donnell, Amy Kellogg.«

Amy neigte den Kopf andeutungsweise und setzte sich. »Sie sind also aus San Francisco, Mr. O’Donnell?«

»Stimmt. Aber nennen Sie mich doch Joe. Alle nennen mich Joe.«

»Irgendwie hatte ich den Eindruck, daß Sie aus New York kommen.«

O’Donnell lachte und fragte ungezwungen: »Weibliche Intuition?«

»Teilweise.«

»Teilweise vielleicht auch mein Sakko. Ich habe es in New York anfertigen lassen. Brooks Brothers.«

Brooks Brothers, daß ich nicht lache, dachte Amy. »Tatsächlich? Wie interessant.«

»Bestellen wir uns einen Drink«, sagte Wilma. »Du hörst dich zu nüchtern an, Amy, Liebes. Nüchtern und wütend. Du wirst andauernd wütend, nur sieht man es dir nicht so an wie uns anderen.«

»Oh, hör doch auf, Wilma. Ich bin nicht wütend.«

»Doch bist du wütend.« Wilma wandte sich zu O’Donnell und legte die Hand auf seinen Ärmel. »Wollen Sie wissen, worüber sie wütend ist? Wollen Sie’s wissen?«