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Über dieses Buch:

Zwei Jahre hat Dan Kaspersen unschuldig im Gefängnis gesessen. Jetzt kehrt er in sein Heimatdorf in Nordnorwegen zurück. Sein geliebter Bruder hat Selbstmord begangen. Dan kann Jakobs Tod nicht akzeptieren. Inmitten der rauen Winterlandschaft übermannen ihn Trauer, Wut und Einsamkeit. Da lernt er Mona kennen, eine junge Frau, die ihm Trost und Wärme schenkt. Als Dan gerade anfängt, auf ein friedvolleres Leben zu hoffen, wird er des Mordes an einem alten Mann beschuldigt. Dan, der Ex-Häftling, soll erneut als Sündenbock herhalten. Doch er wird sich nicht noch einmal kampflos in dieses Schicksal ergeben …

Über den Autor:

Levi Henriksen wurde 1964 in Kongsvinger/Norwegen geboren. Er ist Autor, Journalist und Musiker. Sein Debütroman »Bleich wie der Schnee« wurde von Norwegens Buchhändlern zum Lieblingsbuch des Jahres 2004 gewählt.

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eBook-Neuausgabe November 2016

Copyright © der norwegischen Originalausgabe 2004 Gyldendal Norsk Forlag AS

Die norwegische Originalausgabe erschien 2004 unter dem Titel »Snø vil falle over snø som har fallet« bei Gyldendal, Oslo.

Copyright © der deutschen Ausgabe 2005 Droemer Verlag. Ein Unternehmen der Droemerschen Verlagsanstalt, Th. Knaur Nachf. GmbH & Co. KG, München

Copyright © der Neuausgabe 2016 dotbooks GmbH, München

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Titelbildgestaltung: Maria Seidel unter Verwendung eines Bildmotivs von Thinkstockphoto/musseln

eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH

ISBN 978-3-95824-682-9

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Levi Henriksen

Bleich wie der Schnee

Kriminalroman

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

dotbooks.

Dank an Knut für Abendmahl und gute Wegbeschreibungen, an Mama – die Mutter aller Geschichten –, und damit ist genug gesagt, und an Elisabeth natürlich, die am wärmsten ist, wenn es am dunkelsten ist.

Nicht zuletzt großer Dank an Uno Ellingsen, der mir half, den Anfang zu erträumen, und an Stein-Robin Bergh für Hilfe bei den taktischen Ermittlungen

I keep my distance as best I can

living out my time here in Never Never Land

I can’t grow up ’cause I’m too old now

I guess I really did it this time mom.

James McMurtry, »Peter Pan«

Kapitel 1

Dan Kaspersen ging, ehe die Gemeinde auch nur die Hälfte von »Ich weiß mir einen Garten auf immergrüner Au« gesungen hatte. Draußen lag Schnee in der Luft. Über der Festung hatten die Wolken sich zusammengeballt. Vor einem der Grabsteine gleich beim Tor hatte jemand eine Rose in den Schnee gesteckt. Ihm fiel ein, wie es hier zu Heiligabend immer gewesen war. Dieses schwindelerregende Gefühl an einem sternklaren Abend, wenn die Lichter der Stadt mit Gottes totem Blinken da oben über der gewaltigen Dunkelheit um die Wette funkelten. Für einen Moment sah er Jakob vor sich. Die flackernde Flamme ließ sein Gesicht engelsbleich aussehen, als er sich bückte und die beiden Kerzen in die Tannenzweige auf dem Grab der Eltern steckte.

Rasch fuhr er sich mit dem Handrücken über die Augen. Die Hand, die aus dem aufgekrempelten, steifen Mantelärmel hervorlugte, kam ihm fremd vor, schien gar nicht ihm zu gehören. Er hatte schon so lange so weiße Hände, so weiche Hände. Es würde seine Zeit dauern, bis sie sich wieder an das viele Licht im freien Fall gewöhnt hätten. Er kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen, als er über den Parkplatz ging, aber es machte ihm keine Probleme, den alten Amazon seines Vaters zu finden. Vor der Kirchenmauer stand ohnehin nur eine Hand voll Autos, und es gab wirklich nicht mehr so viele kornblumenblaue Bauernkutschen Marke Volvo. Nicht einmal in einer Stadt wie Kongsvinger, wo das Gelände vor dem Bahnhof noch immer von altmodischen Knabenseelen wimmelte, die den Asphalt als ihren Erlöser verehrten.

Der Schneepflug hatte einige braune Streifen aus Sand hinterlassen, die sich zur Stadt hinunterzogen und die er nun anzusteuern versuchte. Der Amazon war wie immer schwer zu bewegen, und die Sommerreifen erschwerten das Manövrieren noch weiter. Er hätte Jakobs Hiace mit den fast neuen Winterreifen nehmen können, aber das hatte er nicht über sich gebracht. Er hatte den Amazon zu neuem Leben erweckt, und nun fuhr er langsam in Richtung Stadt, während die Schlange der ungeduldigen Fahrer, die ihre behandschuhten Fäuste ballten, hinter ihm immer länger wurde. Es war noch keine drei Uhr, als er durch die Storgate glitt, in der Richtung, die aus dem Ort hinausführte.

Dann erreichte er den vorletzten Kreisverkehr vor der Stadtgrenze. Früher war die Straße einfach gerade weitergegangen, und Jakob und er waren mit den Rädern von Skogli in die Stadt gefahren, um am Fußballtraining teilzunehmen oder Schulkameraden zu besuchen. Dan immer vorweg, und wenn sie ein seltenes Mal nebeneinander fuhren, dann immer er auf der zur Fahrbahn gelegenen Seite. Manchmal kamen große Lastwagen ein wenig zu dicht vorbei, und an windstillen, sonnengleißenden Tagen nahmen die Jungen den Luftdruck wie ein Zittern wahr, das drohte, sie aus den Schatten zu reißen und sie für einen Moment schwerelos zu machen. Jakob hatte behauptet, wenn sie ruhig am Straßenrand stehen blieben und dann eine ganze Lkw-Kolonne vorüberführe, dann würden sie am Ende schweben können. Dan hob wieder den Handrücken. Sie waren niemals zusammen geschwebt.

Er bog aus dem letzten Kreisverkehr ab, oben rechts auf dem Hügelkamm thronte der Sendemast, der irgendwann in den 70er Jahren aufgestellt worden war. Danach waren die Leute an den Wochenenden hingepilgert. Mit Thermosflaschen und Eibroten hatten sie dort oben gesessen und auf die Stadt hinabgeblickt. Väter mit Söhnen auf dem Schoß. Mütter in ihren Ausgehpullovern, die den Töchtern befahlen, Kaffeetassen herumzureichen. Plastiktassen in grellen Farben, die normalerweise nur auf Campingfahrten in andere Gegenden benutzt wurden.

Jetzt pilgerte niemand mehr zum Sendemast. Aber einmal, im vergangenen Sommer, hatte Jakob ihm einen Zeitungsausschnitt geschickt, über einen Jungen, der mit dem Fallschirm von der Mastspitze gesprungen war. Dan hatte verstanden, was Jakob mit diesem Bild zu sagen versuchte, und hatte es an seine Tür gehängt. Am nächsten Tag war es abgerissen worden, da er keine Erlaubnis eingeholt hatte. Die Erinnerung an den Geruch in dem kleinen Raum machte ihm eine Gänsehaut. Auch im Wagen fühlte er sich eingeschlossen, aber nicht auf dieselbe Weise. Er zog den Geruch von Schimmel und verbranntem Motoröl tief in seine Lunge und hielt ihn dort fest. Seine Schläfen begannen zu dröhnen, das alte angetörnte Gefühl von Helium in den Adern. Er verschlang die Straße mit den Augen, genoss das Vibrieren des Lenkrades, sah zu, wie die Tachonadel auf 60 zukroch – und dann war Jakob wieder da. Dan warf einen letzten Blick zum Mast hinüber, er glaubte, ein schwaches Flackern zu ahnen, ein Wehen, Flügelschläge, Seidenstoff, der sich über den Himmel breitet, aber was da wehte, waren nur einige Tannenwipfel. Er musste gegen den Impuls ankämpfen, das Lenkrad zum Straßengraben hinüberzureißen, das Licht zu löschen, den Dezember wie einen geplatzten Ballon über sich zusammensinken zu lassen. An diesem Tag, ja, genau an diesem Tag müssten die Waghälse in Scharen auf den Mast klettern, für einen Moment mit gesenkten, bloßen Häuptern auf der Spitze verharren, um dann loszuschweben, weder tot noch lebendig, sondern schwerelos wie die Engel über den Feldern bei Bethlehem. Etwas hätte anders sein müssen. Alles war wie früher.

Er hielt an der Kreuzung, die zum Zentrum von Skogli führte, am Ende des weiten Feldes, das sich nach Overaas hinaufzog, dem größten Hof des Ortes. Gleich unterhalb des Gedenksteins, der an die fast zweihundert Jahre zurückliegende Schlacht zwischen Norwegen und Schweden erinnern sollte, bahnte er sich einen Weg durch den lockeren Schnee, in Richtung des für Landmaschinen angelegten Tunnels, der unter der Straße hindurchführte.

Im Halbdunkel ließ er die Hand über die Kratzer im Metall gleiten und zündete sein Feuerzeug an, um zu sehen, was sein Bruder und er vor fast einem Vierteljahrhundert dort eingeritzt hatten. Sie waren damals von einem Wolkenbruch überrascht worden und hatten ihre Räder in den Tunnel schieben und dort über eine halbe Stunde warten müssen. Mit einem rostigen Nagel hatten sie ihre Lieblingsspieler von Leeds, die besten Platten der Ramones, die Namen Ace Frehley und Paul Stanley und Ähnliches eingekratzt. Dinge, die für einen Zwölf- und einen Vierzehnjährigen wichtig waren. Dans Buchstaben waren groß und eckig, Jakobs Schrift klein und unscheinbar. Über ihren Initialen und der Jahreszahl 80 hatte Jakob eine weitere Zahl angebracht: 48.

48. Jakob hatte nicht verraten wollen, was das bedeutete, nur, dass es ein Mädchenname war. Natürlich war es ein Mädchenname. Mia, Marit oder Mette, eines der Mädchen aus der Klasse. Die Buchstaben ihres Namens waren in Ziffern verwandelt und zu einer Zahl addiert worden. A, B, C, 1,2,3, ich liebe dich. Erst zwölf Jahre alt, aber J. K. hatte bereits genug Buchstaben und Ziffern gesammelt, um sein Herz zum Flimmern zu bringen. Zwölf Jahre. Rost und Regen, 48. Dan hatte nie erfahren, was diese Zahl bedeutete, und die Erkenntnis, dass er es nun niemals wissen würde, ließ seine Augen brennen. Er stolperte aus dem Tunnel, fiel in den lockeren Schnee, kam wieder auf die Beine, stürzte ein weiteres Mal und kroch zum Auto zurück. Trat das Gaspedal bis unten durch und schrie sich zusammen mit dem Brummen des Motors die Kehle aus dem Hals, ehe die Räder endlich Halt fanden und der Wagen einen Sprung nach vorn machte. Er bog in Richtung Straße ab, die Räder verloren immer wieder den Halt, und er konnte sich gerade noch an einem ihm entgegenkommenden Lkw vorbeizwängen. Der Fahrer drückte wütend auf die Hupe und hämmerte mit dem Zeigefinger an die Windschutzscheibe, aber das machte nichts. Dan hatte an diesem Tag eine ganze Hand voller Zeigefinger. Er hatte eine Hand, die ebenso von Nichts erfüllt war wie er selbst. In der Gegend von Sætermoen ließ er den rechten Fuß mit seinem vollen Gewicht auf dem Gas stehen, der Wagen kam ins Schlingern, und er fegte beinahe quer in die Kurve oben am Hang. Beim Wegweiser an der Abzweigung nach Skogli drehte er sich einmal um sich selbst, konnte das Auto unter Kontrolle bringen und fuhr weiter hinunter ins Tal. Achtete nicht auf die Autos, die ihm dabei begegneten, die Gesichter, die aussahen wie sich ans Glas pressende Aquariumsfische. Es schneite jetzt. Große Flocken trieben der Windschutzscheibe entgegen. Er schaltete die Scheibenwischer ein. Klapp, klapp, klapp, altmodischer Winter mitten im Weihnachtsmonat. Manche hätten hier von Idylle gesprochen. Schneehäuschen, in denen Kerzen brennen, Rodelbretter und Türchen im Kalender. Teufel auch. Er bog von der Hauptstraße ab, hielt nicht am Briefkasten, sondern versuchte, Tempo genug zu gewinnen, um die leichte Steigung zum Hof, nach Bergaust, zu bezwingen. In den Reifenspuren lag Schnee. Der Amazon geriet ins Schlingern wie bei einer Reifenpanne. Dan versuchte, einen niedrigeren Gang einzulegen, aber das Lenkrad ließ sich nicht mehr kontrollieren. Der Wagen stellte sich quer, und die Vorderräder rutschten in den Graben. Dan schaffte es nicht, den Rückwärtsgang einzulegen, deshalb öffnete er mit einem Tritt die Tür und ließ den Amazon einfach so stehen. Die guten Schuhe seines Bruders hatten eine glatte Sohle, und noch ehe er zwei Schritte gegangen war, lag er auf den Knien. Er schleppte sich mit müden Greisenschritten zum Haus hoch und fiel dreimal, ehe er die Treppe erreicht hatte. Dort setzte er sich auf die oberste Stufe, streifte die Schuhe ab und warf sie zur leeren Hundehütte hinüber. Und da hörte er es, ein Geräusch, das das Gurgeln in seiner eigenen Brust, das Dröhnen des Motors im Leerlauf und das Klappern der Scheibenwischer übertönte. Die Schweine, er hatte die Schweine vergessen. Die letzten Tiere auf Bergaust. Kartoffelschalen, Essensreste und in den Läden eingesammeltes altes Brot. Zwei, drei Wanderungen über den Hofplatz jeden Tag, durch die Jakob sich noch immer unabhängig gefühlt hatte, auch wenn Schweinefleisch in Schweden billiger war, als er es in Skogli produzieren konnte.

Gott mochte wissen, wann die Schweine zuletzt gefüttert worden waren, jedenfalls nicht während der letzten vierundzwanzig Stunden, nicht, seit er hergekommen war. Er fand den Schlüssel in seiner Hosentasche, schloss die Tür auf und stolperte hinein. Trampelte in ein Paar Gummistiefel, das gleich hinter der Tür stand, fand an der Wohnzimmerwand die Krag-Jørgensen und an der alten Stelle oben im Küchenschrank die Schachtel mit den Patronen. Schnappte sich ein Messer aus der Schublade, schob es in die Manteltasche und lief hinaus.

Der Wind riss die Haustür auf, und der Schnee trieb seitwärts über den Hofplatz. Das Schweinehaus stand neben dem leeren Kuhstall, und als er die Tür öffnete, verwandelten die Geräusche sich aus einer Serie von kurzen Rufen in ein zusammenhängendes Gekreisch, bei dem sich seine Kiefermuskeln bis zu seinen Ohren hin verkrampften. Die beiden Schweine wurden hysterisch, als sie ihn sahen, und versuchten, aus ihrem Koben zu springen. Dan riss ein Seil von der Wand, band eine Schlinge und versuchte, sie um den Hals des nächststehenden Schweines zu legen. Das war unmöglich. Es ging nicht. Die Schweine schnappten nach seinen Händen, dann bissen sie sich gegenseitig. Hungrige Bisse in Ohren und Hälse. Er fand die Kelle für das Kraftfutter und warf zwei Ladungen in den Trog. Die plötzliche Stille ließ seine Ohren sausen, und er fühlte sich wie betäubt. Er musste sich dazu zwingen, die Tür des Kobens zu öffnen und die Schlinge um den Hals des größeren Schweines zu legen. Das Tier sprang zurück und hätte ihn fast zu Boden gerissen, aber er konnte seinen Kopf zu Boden pressen. Er stemmte sich gegen die Kobenwand und setzte all seine Kräfte ein, um dann Zoll für Zoll das Schwein zu sich zu ziehen. Es trat ein Loch in das untere Brett in der Tür, aber sein Widerstand wurde nun schwächer, und als Dan es aus dem Koben gezerrt hatte, quollen seine Augen wie zwei wässrige Pflaumen hervor. Draußen im Schnee machte es einen einzigen Versuch, sich loszureißen, aber seine Hinterbeine glitten auseinander. Dan band das Seil an der Anhängerkupplung von Jakobs weißem Hiace fest und packte das Gewehr. Das Schwein war wieder auf alle viere gekommen und versuchte, seinen Kopf zu befreien. Im trüben Dezemberlicht hätte Dan schwören können, dass das Auto sich ganz langsam rückwärts bewegte. Der Schnee fiel, und er richtete den Gewehrlauf auf die Stirn des Tieres. Er überlegte kurz, ob Jakob ihm wohl einen Namen gegeben hatte, zählte bis drei und drückte ab. Das Schwein sank lautlos in die Knie und blieb so liegen. Es blieb liegen, bis Dan sich schon fragte, ob er nicht richtig getroffen habe, dann wälzte es sich auf die Seite und schließlich auf den Rücken. Seine Beine zappelten, als ob es glaubte, es könne den Himmel als Fußboden benutzen und einfach loslaufen. Dan drückte sein Knie gegen den Hals des Schweins, zog das Messer aus der Tasche, bohrte dem Tier die Klinge in die Kehle, während der Schnee fiel. Das Blut sah aus wie frisch gekochtes Johannisbeergelee, als es heiß und dampfend auf den Boden floss. Als Junge hatte Dan immer den Eimer, in den das Blut lief, umrühren müssen. Rühren, rühren, rühren. Er hatte es schrecklich gefunden. Der süße Blutgeruch und der Dampf des heißen Wassers gaben ihm das Gefühl, weniger wert zu sein. Keiner seiner Freunde musste aus Blut gekochte Mahlzeiten zu sich nehmen, und ihre Eltern kauften ihr Fleisch zumeist im Supermarkt. Rühren, rühren, rühren, während der kleine Bruder ein Stück weit entfernt stand und die Fäuste in die Hosentaschen bohrte.

Das Schwein unter ihm wurde schlaff, während der Schnee fiel. Der Schnee fiel, legte sich in die Haare und wie ein dünner Film über das schweißnasse Gesicht, Dan Kaspersen wäre gern so stehen geblieben. Ganz still, bis er schließlich verschwunden wäre. Bis er zu einem kleinen Hügel auf dem Hofplatz geworden wäre, mitten in dem Ort, den er so oft zum letzten Mal verlassen hatte. Die Geräusche des anderen Schweins rissen seine Stiefel vom Boden los. O verdammt, er hatte vergessen, Wasser zu kochen. Dan rannte in den Keller und suchte sich den großen Kessel. Füllte ihn mit dem wärmsten Wasser, das der Hahn überhaupt hergab, und trug ihn dann zu dem kleinen Holzofen, den Jakob in den Windschatten des Aufgangs zur Scheune gestellt hatte. Dan fand dort noch etwas Holz und ließ die Scheite in den Ofen fallen. Holte den Benzinkanister, der neben der Motorsäge stand, und kippte dessen Inhalt über das Holz aus. Bald knallte es im Ofen wie in einem Topf mit Popcorn, und der scharfe Geruch, der gute Geruch von Rauch schwebte über den Hofplatz. Dan bugsierte das Schwein auf den Schlachtblock, und als das Wasser kochte, gab es für ihn nur noch Bewegungen. Schrapp, schrapp, schrapp. Hin und her. Mehr Wasser. Rasieren mit stumpfem Messer. Haha. Die Haut wurde babyweich, papierweiß, sie legte sich über den Rippen in Falten wie die Knitter in einer Seidenbluse. Er dachte an seine Mutter. Sonntagskleider, Kirchgangshut, der aussah wie ein Napfkuchen, Reden in Zungen und Kollekte zu Nutz und Frommen der Mission hinter dem Eisernen Vorhang. Halleluja. Dan durchtrennte die Sehnen und die Haut an jedem Hinterbein, schob eine Holzstange durch die Haut, zog das Schwein unter dem Aufgang zur Scheune hoch, und der Schnee fiel. Er bohrte das Messer gleich oberhalb der Analöffnung hinein und schlitzte den Bauch auf. Der Schnitt klappte auf wie Schaumgummi. Nun kam der Gestank des Magens: altes Blumenwasser und Kartoffeln, die den Winter über im Keller gelegen hatten, Gummi und Essig, lockend und abstoßend zugleich. Magen und Gedärm in der Schlachterwanne erinnerten ihn an ein Bild der vom Mond aus gesehenen Erde. Meere, Flüsse, Landzungen, Inseln und Bergketten, und der Schnee fiel. Der Schnee fiel so dicht, dass er erst, als er den Magen aus dem zweiten Schwein holte, bemerkte, dass jemand hinter ihm stand. Nur einer in Skogli konnte so dastehen, betont locker wie ein Katzentier, aber nie weiter als einen langen Sprung vom Genick des Gegenübers entfernt. Der Lensmann Markus Grude ging nicht auf dieselbe elegante Weise. Ein Leben als Polizei- und Vollstreckungsbeamter, in dem er viel sitzen und fahren musste, hatte ihm einen Gänsegang verpasst, bei dem er die Fußsohlen zur Seite drehte. »Lensmann«, sagte Dan, schob mit dem Fuß die Wanne mit den Eingeweiden weg, fischte eine Camel aus der Manteltasche und brach den Filter ab.

»Daniel«, sagte Markus Grude, fuhr sich mit der Hand über das Gesicht und versuchte, sich den Schnee aus den Haaren zu schütteln.

Dan schützte die Flamme mit der hohlen Hand; er verbrauchte zwei Streichhölzer, ehe die Zigarette Feuer fing. »Mich hat jemand angerufen, der vorhin fast mit dir zusammengestoßen wäre«, sagte Markus Grude.

Dan sagte nichts, er versuchte, die erste Zigarette dieses Tages zu genießen.

»Ich habe noch nie jemanden in Anzug und Mantel schlachten sehen«, sagte Grade jetzt.

Dan blickte an sich hinunter, seine Hose war von Flecken übersät, die Mantelärmel schleimig. Während der vergangenen Stunde war er nur Hände gewesen, Arbeit, er hatte nicht gedacht, nicht gefühlt. Jetzt befand er sich wieder in Skogli, in den Gummistiefeln seines Bruders, mit den Schweinen seines Bruders, auf dem Hofplatz, den der Bruder nie wieder überqueren würde. Zum ersten Mal, seit der Anruf ihn geweckt hatte, fühlte er sich wirklich wach, wirklich anwesend, Herz und Füße am selben Fleck.

»Das sind nicht meine Kleider«, sagte er.

»Ich habe gesehen, dass du gegangen bist, ehe die Beerdigung vorüber war.«

Dan zuckte mit den Schultern.

»Ich finde, du hättest deinen Bruder unter die Erde bringen müssen.«

Dan machte einen tiefen Zug und schnippte die Zigarette dann in die Schlachterwanne. Ein Meteorit, der auf die Erde zustürzte. Verbrannte. Erlosch. Versuchte, durch Räuspern den Kloß in seinem Hals zu lösen. Erinnerte sich daran, dass er seine Stimme an diesem Tag kaum benutzt hatte.

»Das hätte Jakob auch nicht weniger tot gemacht. Hätte nichts weniger sinnlos werden lassen. Den letzten Respekt und so erweisen, das ist doch ein verdammter Unsinn. Ich habe genug von gefrorener Erde und frisch gegrabenen Löchern.«

»Wie lange ist es jetzt her, dass deine Eltern gestorben sind?«

»Am 19. zwanzig Jahre.«

Grude nickte und trat mit den Schuhspitzen gegeneinander, als friere er an den Füßen.

»Eigentlich bin ich ja zum Kondolieren gekommen«, sagte er und streckte die Hand aus.

Sein Händedruck war so fest wie immer, und Dan hätte gern gewusst, ob Grude noch immer überall im Ort zum Armdrücken antrat. Obwohl er sich dem Rentenalter näherte, gab es sicher nicht viele, die den Lensmann bezwingen konnten, davon ging Dan aus.

»Ein guter Mann ist immer ein Mann, der von der Liebe hart getroffen wird«, sagt Grude.

»Was soll das heißen?«, fragte Dan und zog seine Hand zurück.

»Jakob war immer schon sensibel«, sagte der Lensmann, verstummte und schien zu hoffen, dass Dan seinen Satz vollenden werde.

»Und?«

»Na ja, es hat Gerüchte über Jakob und eine Frau gegeben.«

»Gerüchte?«, fragte Dan. »Soll das heißen, dass an allem Gerüchte schuld sind? Jakob hat mir nie etwas von einer Frau gesagt.«

»Eine Zeit lang sah er fast glücklich aus, aber vor ein paar Monaten fing er an, sich vor die Hunde gehen zu lassen. Aber dein Bruder hat ja nie andere an sich rangelassen.«

»Von welcher Frau wollten die Gerüchte denn etwas wissen?«

»Die Leute hier im Ort reden viel – und ich habe ja keine Ahnung, ob es stimmt und ob es überhaupt noch von Bedeutung ist. Aber weißt du, was mein dringlichster Wunsch wäre, Dan?«

Dan schüttelte den Kopf.

»Dass ich dieses Gespräch hier nicht mit dir zu führen brauchte, dass ich nicht noch einen Kaspersen-Namen in Marmor eingeritzt sehen müsste.«

Dan klopfte sich auf die Taschen. Die Sehnsucht nach noch mehr Nikotin ließ ihm schwindlig werden. Die Sehnsucht nach etwas Stärkerem, nach Betäubung, die Sehnsucht, langsam aus diesem Tag hinauszugleiten und neben sich selbst stehen zu bleiben. Für einen Moment konnte er sich und den Lensmann sehen, die Köpfe bedeckt von Engelsstaub, die Kragen gegen den Wind hochgeklappt. Zwei Männer, die über Winterholz, Eisangeln und über den frühen Schneefall in diesem Jahr hätten sprechen sollen. Zwei Männer, die über Jakob sprachen – der tot war.

»Ich bin vor acht Tagen rausgekommen, ein wenig früher als erwartet«, sagte Dan, fand seine Zigaretten und steckte sich eine weitere Camel an. »Wollte erst auf die Beine kommen, ehe ich anrief, wollte nicht nach Hause kommen und hier gleich auf den Bauch fallen.«

»Ich glaube nicht, dass Jakob das so gesehen hätte.« »Nein«, sagte Dan. »Jakob nicht.«

»Hat er gewusst, wann du entlassen werden solltest?« »Nein, ich wollte ihn damit überraschen, dass es früher passierte.«

»Und was hast du jetzt vor?«

»Das Fleisch zerteilen.«

»Jepp, alles klar, dann mach’s mal gut«, sagte der Lensmann und drehte sich um.

»He, Moment mal.« Dan versuchte, sich den Hals freizuschlucken. »Wer hat ihn überhaupt gefunden?«

»Der Briefträger. Nachts hatte es geschneit, aber als er morgens auf den Hofplatz fuhr, sah er, dass die Lampen des Hiace noch brannten. Die Fenster waren beschlagen, und er glaubte eigentlich nicht, dass irgendwer im Auto saß. Als er die Tür öffnete, war dein Bruder wohl schon seit einigen Stunden tot. Wir nehmen an, dass er es mitten in der Nacht gemacht hat.«

Dan nickte nur. Sah vor sich die gewaltigen Pranken um die von Pulverdampf schwarze Pistole, den Sheriffstern auf der Brust, den schwarzen Filzhut. Geburtstagsfest, Wackelpeter, Jolly Cola und Würstchen aus Schweden. Peng, peng, du bist tot, zähl bis hundert. Meine Damen und Herren, kein Grund zur Panik, die Gebrüder Kaspersen haben soeben das Gebäude verlassen.

»Noch etwas«, sagte Dan. »Habt ihr wirklich keinen Brief gefunden, gar nichts?«

Markus Grude sah plötzlich aus wie ein Mann, der eine Wand braucht, an die er sich lehnen kann.

»Nein«, sagte er. »Nichts.«

Wieder dieser Wunsch zu schweben, etwas zu haben, wogegen er sich fallen lassen könnte. Dan setzte sich auf die Kante des Schlachterblocks, wäre fast in den Schnee gekippt und musste weiter zur Mitte rutschen. Er merkte, dass seine Hände feucht und klebrig waren.

»Das hier ist ein schlichtes kleines Dorf … oder … es war immer ein schlichtes kleines Dorf. Und wenn es einen gibt, dem ich lieber keine Handschellen angelegt hätte, dann bist du das. Ich hätte unter Umständen auch mal fünf gerade sein lassen, du weißt, dass ich das getan hätte, aber du hast ja nicht einfach nur ins Förmchen geschissen, du hast gleich einen riesigen Haufen Scheiße hingelegt.«

»Die Strafe für die Schmuggelei war schon in Ordnung. Das andere war alles total gelogen. Aber weißt du, was mich im Knast besonders beschäftigt hat?«

Grude schüttelte den Kopf.

»Dass ich fast zwei Jahre bekommen habe, während der, der meine Eltern umgefahren und umgebracht hat, ungeschoren davongekommen ist.«

»Dieser Fahrer wurde in einen Unfall verwickelt, im Gegensatz zu dir«, sagte Grude mit müder Stimme.

»Ja, okay, reg dich ab. Ich bin jetzt mit allem hier fertig, und ich bin nur hergekommen, um wieder wegzugehen.«

»Wirklich?«

»Wirklich«, sagte Dan.

»Jepp, dann bis dann«, sagte der Lensmann, setzte sich in Bewegung, blieb beim Schweinehaus aber stehen.

»Ich hab den Motor des Amazon ausgemacht, aber du brauchst Hilfe, um aus dem Graben zu kommen. Komm mit, dann zieh ich dich auf die Straße.«

»Danke«, sagte Dan.

Nachdem der Lensmann den Amazon auf die Straße gezogen hatte, wurde es dämmerig, und Dan wetzte in aller Eile die Schlachtermesser. Wie fast alle Besitztümer seines Bruders schienen sie fast nicht genutzt worden zu sein, der Stahl der Klingen glänzte wie eine frisch geprägte Krone. Dan gab sich wirklich Mühe. Er versuchte, die feinen Schnitte perfekt zu setzen. Das Messer sozusagen unter die Haut schleichen zu lassen, vorbei an den Sehnen, über Hüftkamm und Rippen – aber das hier war etwas anderes, als ein Schwein zu töten, als Magen und Innereien herauszuziehen. Dan fehlte es an Training. In den letzten zehn Jahren hatte Jakob die Schweine zerlegt. Er hatte den richtigen Griff gehabt und mit wenigen einfachen Bewegungen Schnitzel und Koteletts zurechtschneiden können. Das Messer lag nicht richtig in Dans Hand, es kam ihm klobig und stumpf vor wie ein Stein. Ein Höhlenmensch, der versuchte, ein neues Werkzeug zu meistern, das war er. Nur grobe Kraft und schwerfällige Bewegungen, keinerlei Technik oder Verständnis für die eigentliche Arbeit. Das Messer glitt einmal aus und rutschte über die Spitze von Mittelfinger und Zeigefinger der linken Hand.

Dan wischte sich Hände und Messer an seiner Jacke ab, machte noch einen Versuch. Traf auf Knochen, und seine Hand glitt am Messerschaft nach unten. Er konnte diese Bewegung nicht stoppen, und das Messer durchschnitt die Haut zwischen Daumen und Zeigefinger der rechten Hand.

»Verdammt«, er sprang zurück und warf das Messer weg, das zitternd wie ein Pfeil in der Scheunenwand stecken blieb.

»Verdammte, miese Scheißhölle.« Dan schrie so laut, dass seine Ohren sausten. Er stieß den Schlachterblock mit den verstümmelten Fleischstücken des ersten Schweins mit einem Tritt um und ließ das andere Schwein vom Haken. Zog das, was noch vor wenigen Stunden zwei lebendige Schweine gewesen waren, hinter sich her auf die Mitte des Hofplatzes, rannte in die Scheune und holte alles, was er dort an Diesel, Motoröl, Benzin und Terpentin fand – alles, was vermutlich brennen könnte.

Der Tag hatte nun endgültig den Vorhang sinken lassen, und die Dunkelheit schob die Wolken beiseite. Sein rechter Fuß knallte gegen einen Eisbuckel, er verlor das Gleichgewicht, und die Plastikflaschen rutschten über den Schnee wie Bowlingkegel. Er hatte vergessen, wie rasch es hier draußen dunkel wurde, wie finster es werden konnte, wie kompakt die Nacht alles wirken ließ. Als er sich aufgerappelt hatte, hatte er dasselbe Gefühl wie früher, wenn er auf Baustellen in der Stadt herumgekraxelt war und sich plötzlich aufrichtete und das Dach sich gewissermaßen über ihn senkte; das Gewicht seines eigenen Körpers, das ihn zu Boden presste, das Gefühl, sich nicht strecken zu können.

Einige Sekunden lang blieb er so stehen, gebannt in einer Art Gewissheit, dass dieses viele Schwarz etwas sei, was in ihm seinen Anfang nahm, etwas, das von Bergaust aufstieg, von Skogli, doch dann schlugen die Sterne wie gelbe Hundezähne Löcher in die Dunkelheit, und er sah, dass es nicht mehr schneite. Das frisch geschliffene Funkeln legte eine bleiche Glut über die Hügel. In der Nacht würde es noch kälter werden, und die Luft fühlte sich auf seiner Gesichtshaut bereits anders an. Er dachte daran, wie sein Bruder und er nach Schneefällen hier gestanden und auf einen Wetterumschwung gehofft hatten, auf einen Wetterumschwung, der ihnen für viele Tage gute Skiverhältnisse schenken würde. Jakob und er zusammen auf Skiern. Dan, der eifrig die Stöcke betätigte, um als Erster unten am Hang zu sein, und der meistens schon in der ersten Kurve auf die Nase fiel. Der Bruder, der immer in seinem eigenen Tempo lief. Dan hatte nie gesehen, dass Jakob gestürzt wäre.

Was war er doch für ein verdammter Blödmann, wenn er doch bloß gleich nach seiner Entlassung in einen Zug gestolpert wäre! Wenn er nach Hause gefahren wäre, um mit seinem Bruder zu sprechen.

Und jetzt das: Jakobs Schweine misshandelt, zerstückelt, Himmel, er konnte sich nicht einmal um Fleisch kümmern. Respektlos. Respektlos war das. Er war unbrauchbar. No good. Aber er konnte einfach kein schlechteres Gewissen bekommen, als er bereits hatte. Sein Bruder – sein Brüderchen – der kleine Goliath – war nicht mehr da. Scheiß auf die Schweine, Dan hätte sie ja doch nicht füttern können, in dem Wissen, dass sie ihn für seinen Bruder hielten.

Er fand die Liedertexte, die ihm in der Kirche in die Hand gedrückt worden waren, und knipste Leben in sein Feuerzeug. Erst als sein Magen sich beim Gestank verbrannten Fleischs umstülpte und ihn in die Knie zwang, fand er genug Tränen für seinen Bruder. Während die flackernden Flammen über das Scheunendach stiegen und sich wie zwei Arme gen Himmel reckten, riss er sich ein Kleidungsstück nach dem anderen vom Leib und warf alles ins Feuer, bis er in der Unterhose dastand. So blieb er stehen, bis er in der Ferne Sirenen hörte.

Blaues Nordlicht schien über den bei der Hauptstraße gelegenen Hügel zu zittern. Sicher war ein Unfall passiert. Nach den ersten Schneefällen passierten auf der Hauptstraße immer Unfälle.

Seine Haut sah aus wie die eines frisch gerupften Truthahns, als er ins Badezimmer stolperte. Er drehte die Dusche auf und wickelte sich Mullbinden um die Hände. Wusch sich das Blut von Wangen und Kinn und musterte zum ersten Mal seit seiner Entlassung sorgfältig sein Gesicht. Sein Kinnbart endete in Pfeilspitzen unterhalb seiner Ohren. Sogar im Gefängnis, wo das Aussehen keine Rolle spielte, hatte er jeden Tag zum Rasierer gegriffen und sich nicht verkommen lassen. Nie hatte er Trainingshosen getragen. Dan suchte in seinem Gesicht nach Ähnlichkeit mit seinem Bruder, nach den Dingen, die nur Brüder gemeinsam haben können, aber während Jakob zu einer großen Ausgabe der Mutter herangewachsen war, hatte Dan seine Züge vor allem der väterlichen Familie zu verdanken. Jakob hatte die blonden Locken geerbt, bei Dan klebten zigeunerschwarze Haare am Schädel. Immer hatten sie ausgesehen, als seien sie so unterschiedlich wie Tag und Nacht.

Er zog saubere Jeans und einen dicken Pullover an. Warf durch die Eisblumen auf dem Fenster in der Haustür einen Blick auf das Thermometer und ertappte sich dabei, dass er am Tisch vor dem Küchenfenster Ausschau nach dem Hinterkopf des Bruders hielt. Fragte sich, wie die Küche mit einer anderen Farbe aussehen würde, einem modernen Gelb vielleicht, mit neuer Bank statt der alten, durchgesessenen, die vergilbten Schwarzweißfotos des Bruders ersetzt durch Kunstdrucke und Bilder mit richtigen Rahmen. Versuchte, sich in dieser Küche eine Familie mit kleinen Kindern vorzustellen, vielleicht Leute aus Oslo, die mit einer romantischen Vorstellung vom Leben auf dem Lande nach Skogli gekommen waren. Leute, die seinen Bruder nie gekannt hatten. Leute, die sich nicht vorstellen konnten, wie es früher hier gewesen war, Nähmaschine und Sonntagsbibel, Bibelsprüche und Unterfaden, Atlas und Schulbücher, der Große Sklavensee und der Yukon. Dan hätte gern gewusst, wie lange – oder kurze – Zeit es dauerte, bis ein Mensch anfing, von allen vergessen zu werden, außer von den Nächststehenden, dem Nächststehenden?

Kapitel 2

Seit fast zwei Jahren wachte Dan zum ersten Mal wieder in seinem Elternhaus auf. Er dachte an dieses Haus immer als an sein Elternhaus, obwohl er und auf jeden Fall Jakob dort länger allein gewohnt hatte als zusammen mit den Eltern. Die Schlafzimmer der Brüder lagen im ersten Stock, aber Dan verbrachte die erste Nacht unten im Wohnzimmer, er wollte Platz genug haben. Die Koskenkorva-Flasche stand vor ihm auf dem Tisch, aber er brachte es nicht über sich, den Verschluss abzudrehen. Er hatte ferngesehen, bis das Gesicht seines Bruders undeutlich wurde, und dann hatte er sich auf dem Sofa unter einer Decke zusammengerollt.

Zuerst durchsuchte er das ganze Haus. Die offensichtlichen Stellen, aber auch Stellen, die er und der Bruder benutzt hatten, wenn etwas vor den Eltern versteckt werden sollte. Die Nachttischschublade, die Kasse im Besenschrank, das lose Brett unter der Treppe und das Cover der ersten Ramones-LP. Er fand nichts, was ihm hätte erzählen können, warum sein Bruder in einer ganz normalen Dienstagnacht in den Keller gegangen war, um einen Trichter in den Gartenschlauch zu stecken und dann fast eine ganze Rolle Klebeband zu verbrauchen, bis der selbstgebastelte Schnorchel am Auspuffrohr festsaß.

Dan hätte gern gewusst, ob Jakob unten im Keller in Eile gewesen oder auf seine langsame, methodische Weise vorgegangen war, die Dan bei gemeinsamen Unternehmungen so geärgert hatte. Der Keller, ja, feucht und dunkel. Ein Ort, an dem der Bruder als Kind nicht gern gewesen war, er hatte geglaubt, es gebe dort einen Eingang, der zu Herodes, Saulus, Judas Ischariot und allen anderen bösen Männern aus der Bibel führte. Den bösen Männern, die die Mutter jeden Sonntag am Flanellgraph befestigte. Manchmal, unter dem Vorwand, dass er Limonade oder Schokolade bekommen sollte, konnte er den Bruder trotzdem nach unten locken. Er wusste nicht, warum, aber seine Brust schien überzulaufen, wenn er das Licht ausschaltete und Jakob losschrie. Er hatte dann das Gefühl, mutig zu sein, unüberwindlich, alles unter Kontrolle zu haben. Als Dan sich jetzt vom Sofa erhob, fragte er sich, ob Jakob jemals so weit gekommen war – mehrmals oder nur dieses eine Mal –, dass er das Licht gelöscht hatte, so dass er der Herr der Lage war.

Es war kalt im Haus, in der Küche nur dreizehn Grad, und er machte Feuer in zwei der Holzöfen im ersten Stock. Er hatte erbärmlich geschlafen, aber trotzdem hatte er die Tür zum Gang nicht geschlossen. Dan brachte es nicht über sich, sich in einem Raum mit geschlossenen Türen aufzuhalten.

Er stand in die Decke gewickelt da und rauchte, und dabei ließ er Leitungswasser in ein Glas laufen. Im Thermometer vor dem Fenster kroch das Quecksilber abwärts auf die Fünfzehn zu, und noch immer qualmten die Reste des Feuers auf dem Hofplatz. Dan wünschte sich, er hätte seine Taschen bereits gepackt, stünde mit der Fahrkarte in der Hand da. Wohin, spielte keine Rolle, nur weg, nur warm. In all den Monaten im Gefängnis hatte er von einem Fenster geträumt, aus dem er schauen könnte, einem Ort, an dem sein Blick haftete. Jetzt zogen die Felder sich unterhalb des Hauses dahin, aber die Aussicht wurde überschätzt. Was sollte er jetzt damit?

Er konnte kaum auf den Hofplatz hinausschauen, ohne dass ihm schwindlig wurde. Wenn er nun den Bruder am Tag seiner Entlassung noch angerufen hätte und hergekommen wäre? Zufälle und Schicksal machten immer einen Teil des Lebens aus, aber er konnte sich nicht vorstellen, dass Jakob sich in den Hiace gesetzt hätte, während er selbst im Haus schlief. Er konnte einfach nicht glauben, dass der Bruder auch dann den Schlauch ins Auto gezogen, das Fenster geschlossen und den Zündschlüssel umgedreht hätte. Nicht der Bruder, den er gekannt hatte, nicht der Bruder, der niemals schlafen ging, ohne gute Nacht zu wünschen.

Dan griff nach dem Telefon und rief die Lokalzeitung an. Trug den Anzeigentext vor, den er sich ausgedacht hatte. Er konnte den Hiace nicht mehr draußen auf dem Hofplatz stehen sehen, und er hatte soeben eine dreimalige Wiederholung der Anzeige in Auftrag gegeben, als an die Tür geklopft wurde. Das Transistorradio auf der Fensterbank sonderte schnarrend alte schwedische Popnostalgie ab, und er hatte niemanden kommen sehen, hatte kein Auto gehört. Jetzt sah er jedoch einen weißen Volvo, der fast mit den Schneewehen auf dem Hofplatz verschwamm. Der Wagen stand so, dass er für Hiace und Amazon die Ausfahrt versperrte. Dan glaubte nicht, jemanden mit einem solchen Wagen zu kennen.

Er öffnete die Tür und wich unwillkürlich zwei Schritte zurück, als er Rasmussen vor sich sah. Hinter ihm stand ein uniformierter Polizist, den Dan noch nie gesehen hatte. »Jan Kaspersen?«, fragte Rasmussen mit seiner üblichen belegten Stimme, die er besaß, seit ein widerstrebender angehender Häftling in Kongsvinger ihn mit einem Schraubenschlüssel am Adamsapfel getroffen hatte.

Dan schaute kurz zum Waldrand hinüber. Über den Hügeln starrten die weißen Himmelsränder blind zurück. Im Laufe des Tages würde es noch einige Grad kälter werden.

»Ja, fast – genau wie damals, als du mich zuletzt gefragt hast, heiße ich Dan, nicht Jan. Und die Fahrt hättest du dir sparen können. Der Lensmann war schon hier, um seine Ermahnungen loszuwerden.«

Dan trat hinaus auf die Treppe und zog die Haustür hinter sich zu. Wieder fielen ihm Rasmussens Augen auf. Sie hatten die gleiche Farbe wie die eines sibirischen Husky, und immer waren sie leicht aufgerissen, als mache es dem Kommissar Probleme, seinen Blick zu fixieren.

»Wir möchten dich bitten, mit zur Wache zu kommen«, sagte Rasmussen, und der Polizist hinter ihm trat einen Schritt vor, so dass sie nebeneinander auf der Treppe standen.

Dan zog den neuen Tag tief in die Lunge, behielt ihn dort und sehnte sich plötzlich danach, lange am Küchentisch zu sitzen, nach tausend Orten, die er aufsuchen könnte, ohne es damit jedoch eilig zu haben.

»Muss das wirklich sein, kannst du nicht einfach sagen, was du von mir willst?«, sagte er und ließ pfeifend die Luft aus seinem Mund entweichen. Der eine Eckzahn jaulte auf, und er versuchte sich zu erinnern, wann er zuletzt beim Zahnarzt gewesen war.

»Es wäre uns lieber, du kommst mit«, sagte Rasmussen, und diesmal klang es nicht mehr wie eine Bitte.

Dan zuckte mit den Schultern. Er fragte sich, ob er sich weigern sollte – ob das überhaupt möglich wäre. Aber er kannte Rasmussen, wusste, dass das einer war, den es glücklich machte, wenn er seinen Fuß in einen Türspalt schieben konnte, oder wenn andere springen mussten, wenn er »Spring« sagte.

Er öffnete wieder die Tür und nahm seine Jacke vom Haken auf dem Flur. Am Türrahmen hatte der Vater früher markiert, wie groß Jakob und Dan gerade waren. Der Bruder links, er auf der anderen Seite. Jakob hatte vor einigen Jahren neu gestrichen, aber wenn Dan mit dem Gesicht ganz dicht ans Holz ging, dann konnte er noch immer die Vertiefungen ahnen, die der Zimmermannsbleistift hinterlassen hatte wie horizontale Jahresringe. Irgendwo hatte er gelesen, dass Fledermäuse immer nach links abbiegen, wenn sie aus ihren Höhlen fliegen, und ähnlich war es mit Jakob und Dan gewesen. Immer flatterte jeder zu seiner Seite, wenn sie nach Hause gerannt kamen. Jeder hatte seine Seite im Flur, die er mit Turnbeuteln, Schultaschen, Fußballschuhen und Schlittschuhen füllte. Jetzt standen dort nur Gummistiefel, Pantoffeln und ein Paar Cowboyboots, in denen Dan seinen Bruder niemals gesehen hatte.

»Na gut, bringen wir es hinter uns«, sagte er, zog eine Jacke an und knallte mit der Tür. Er wollte die Ermahnungen hinter sich wissen und den Rest des Tages für sich haben.

»Du hast vergessen abzuschließen«, sagte Rasmussen. »Nein, hab ich nicht. Aber in den letzten Tagen waren hier so viele Bullen, dass ich mich sicher fühle«, sagte er, zwängte sich zwischen den beiden Polizisten durch und ging auf den Amazon zu.

»Amen. Setz dich lieber zu uns«, rief Rasmussen.

Dan ballte in der Jackentasche die Fäuste so hart, dass das Zittern sich durch seinen ganzen Körper fortpflanzte. In Skogli würde es wohl nie anders werden, oder? Wann immer ein Auto verschwand, eine Brieftasche fehlte oder ein junger Dörfling mitten in der Woche im Straßengraben aufwachte, würden sie an seine Tür klopfen.

Dan blieb neben dem weißen Volvo stehen und wartete, und dabei fragte er sich, wie viel der Hof wohl wert sein mochte.

»Willst du das Versäumte nachholen?«, fragte Rasmussen und öffnete die eine Hintertür, ehe er sich auf den Beifahrersitz setzte.

»Hä?«, fragte Dan.

»Bisschen früh, um die Grillsaison zu eröffnen, oder was?«, fragte Rasmussen und zeigte auf die schwarz versengten Brustknochen der Schweine, die wie zwei verrostete Sensen mitten auf dem Hofplatz lagen. Der Rauch war jetzt fast nicht mehr zu sehen, aber Dan nahm den leichten Geruch von verbranntem Speck wahr.

»Schreibst du deine Witze selbst?«, fragte er und bereute das sofort, als er Rasmussens Blick sah.

»Reg dich ab, ich hab nur zwei Schweinekadaver verbrannt.«

Rasmussen nickte dem Uniformierten zu, und der schrieb etwas in ein Notizbuch, ehe er den Zündschlüssel umdrehte.

Schweigend fuhren sie nach Kongsvinger. Über den Straßen des Zentrums waren bereits Girlanden und Lichter befestigt worden, und vor dem neuen Einkaufszentrum dirigierten Männer in hellgrünen Reflexwesten die Autos hin und her.

Dan schaute auf die Uhr. Zehn vor elf. Er schüttelte den Kopf. Bis zum Heiligen Abend waren es noch vierzehn Tage.

Er schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen, zündete sie aber nicht an, als er im Rückspiegel den Blick des Polizisten sah. Erst als sie ihr Ziel erreicht hatten und er durch die halbe Wache geführt worden war, durfte er sich in einem kleinen fensterlosen Raum im Erdgeschoss Feuer geben. Dort war er auch beim letzten Mal verhört worden. Rasmussen beorderte ihn mit einem Nicken an einen länglichen Eisentisch und ließ ihn dann mit dem Uniformierten allein. Als er zurückkam, hatte er einen birnenförmigen Mann bei sich, den Dan noch nie gesehen hatte, einen Typen mit ungepflegtem Bart, fettigen dichten Haaren und einer schmalen Brille. Der Mann schob einen Stuhl vor sich her in eine Zimmerecke, Rasmussen setzte sich Dan gegenüber an die andere Seite des Tisches. Der Kommissar zündete sich mit Dans Feuerzeug eine Zigarette an, hustete ein wenig, zog den Rauch in seine Lunge und räusperte sich.

»Wo warst du gestern zwischen eins und drei?«

»Hä?«, fragte Dan.

»Du hast mich doch gehört.«

»Warum willst du das wissen, und wer ist der da?« Dan nickte zum Mann in der Ecke hinüber.

»Verzeihung«, sagte Rasmussen und breitete die Arme aus. »Das ist P. O. Hultgren.«

»P. O. Hultgren?«

»P. O. Hultgren, der neue Kommissar.«

»Hat das etwas mit Jakob zu tun?«, fragte Dan und versuchte, sich die Runzeln aus der Stirn zu streichen. »Kannst du endlich die Frage beantworten«, sagte Rasmussen.

»Zwischen eins und drei war ich auf Jakobs Beerdigung – der meines Bruders.«

»Ganz sicher?«

»Ganz sicher.«

»Aber du bist frühzeitig gegangen. Du hast nicht einmal geholfen, den Sarg zu tragen.«

»Nein«, sagte Dan.

»Dann warst du nicht zwei Stunden bei dieser Beerdigung«, sagte Rasmussen und drückte seine halb gerauchte Zigarette aus.

»Na, dann war ich wohl auf dem Weg nach Hause.« »Allein?«

»Ja, ganz allein.«

»Du hast ein seltenes Auto.«

»Selten? Ich hab gar kein Auto – meinst du den Amazon?« »Was glaubst du, wie viel davon es in Kongsvinger gibt?« »Keine Ahnung, viele sicher nicht«, sagt Dan und umklammerte das Feuerzeug, bis seine Fingerknöchel weiß wurden. Hunger und sein dröhnender Schädel sorgten dafür, dass er sich hohl fühlte. Er wünschte, er läge noch immer im Bett und wartete auf den Beginn des Tages. Er wünschte, dieses Gefühl der Übelkeit wäre einfach der Rest eines Traums und würde nach und nach verschwinden, wenn er erst richtig wach wäre.

»Amen. Was hast du mit deinen Händen gemacht?«, fragte Rasmussen.

»Ich hab mich geschnitten.«

»Wann?«

»Gestern.«

»Nach der Beerdigung?«

»Ja«, sagte Dan.

»Wie denn?«

Er versuchte, sich von dem hohlen Gefühl zu befreien, kannte es noch aus seiner Schulzeit, es war die Sehnsucht in der letzten Stunde, danach, endlich nach Hause zu dürfen.

»Ich hab mich beim Schweineschlachten geschnitten.« »Beim Schweineschlachten?« Im Licht der surrenden Leuchtröhren unter der Decke hatte Rasmussens Gesicht die gleiche Farbe wie Milch, die bald sauer wird.

»Es waren Jakobs Schweine.«

»Deren Reste haben wir also vorhin bei dir auf dem Hofplatz gesehen?«

Dan nickte.

»Das waren also die Kadaver, von denen du geredet hast?« Dan nickte wieder.

»Es ist nicht gerade üblich, nach einer Beerdigung Schweine zu schlachten – nicht einmal in Skogli, oder?«, fragte jetzt Rasmussen.

»Gestern war nichts üblich«, sagte Dan.

»Du bist zum Schlachten geradewegs nach Hause gefahren?«

»Ich hatte das nicht geplant, aber ich hatte einfach vergessen, dass Jakob Schweine hatte. Als ich nach Hause kam, waren sie vollständig ausgehungert. Und dann gab sozusagen eins das andere.«

Dan machte eine vage Handbewegung, er wusste nicht, was er sonst noch sagen sollte.

»Wieso konnte dein Auto um drei Uhr bei der Sætermokreuzung stehen, wenn du gleich nach der Beerdigung nach Hause gefahren bist?«

Er kam sich blutarm vor, seine Ohren sausten, und er musste sich dazu zwingen, gerade zu sitzen. Das hier war mehr als ein mahnender Zeigefinger, mehr als eine Verlängerung des Gesprächs, das er am Vortag mit Markus Grude geführt hatte.

»Was ist eigentlich los, stehe ich unter irgendeinem Verdacht?«, fragte er.

»Beantworte meine Frage«, sagte Rasmussen.

»Ja, das war sicher Va… mein Wagen. Ich habe nach der Beerdigung kurz bei dem Gedenkstein gehalten.«

»Warum hast du das nicht sofort gesagt?«

»Ich hab nicht sofort daran gedacht. Es waren nur ein paar Minuten«, sagte Dan. Seine Zunge wollte ihm nicht gehorchen, und sein Hemd klebte schon unter seinen Armen, obwohl es kühl in diesem Raum war.

»Ist es nicht seltsam, dass du keine Zeit hattest, um deinen Bruder unter die Erde zu bringen, aber Zeit genug, um auf der Heimfahrt anzuhalten?«

»Das hatte nichts mit Zeit zu tun. Ich konnte es nicht ertragen zu sehen, wie dieses Loch für Jakob den Rachen aufriss.«

»Und dann musstest du dir bei der Sætermokreuzung plötzlich die Beine vertreten?«

»Als ich auf dem Weg nach Skogli war, fiel mir ein, dass Jakob und ich unsere Namen in die Tunnelwand unter der Straße geritzt haben, als wir einmal vom Regen überrascht wurden. Ich wollte sehen, ob die Namen noch dort standen.«

»Und?«

»Ja«, sagte Dan, und Rasmussen und Hultgren wechselten zum ersten Mal während dieses Gesprächs einen Blick. »Hat irgendwer dich in den Tunnel gehen sehen?«

»Keine Ahnung. Sicher jemand in einem von den Autos, die da vorübergefahren sind.«

»Und dann?«

»Dann bin ich nach Hause gefahren.«

»Du hast also nicht bei Oscar Thrane vorbeigeschaut?« »Hä?«, flüsterte Dan mit einer Stimme, die er viele Jahre nicht benutzt hatte.

»Oscar Thrane ist gestern in seinem Haus fast totgeschlagen worden. Er liegt im Krankenhaus im Koma.«