Über das Buch

Warum zeigt sich erst in der Badewanne, ob man mit einem Mann zusammenleben kann? Wie nehmen Mutter und Tochter Abschied von ihrem Hund? Und wie bleibt man am Leben, ohne dass es allzu sehr weh tut. Einfühlsam, elegant und Iakonisch erzählt Alissa Walser von Bedeutungsvollem und scheinbar Beiläufigem, von der zweifelnden Suche nach dem Glück, das ein scheues Tier ist. »Sie würde gerne weglaufen, hat aber keinen Grund. Natürlich könnte Sie auch ohne Grund weglaufen. Doch ohne Grund fürchtet sie, ihr Aufbruch würde im Sande verlaufen.« Mit wenigen Strichen entstehen Szenen von großer Dichte.

Dieses Buch ist wie ein Blick in den Spiegel, klar und aufrichtig und unergründbar wie jedes Leben.

Alissa Walser

EINDEUTIGER VERSUCH EINER VERFÜHRUNG

Carl Hanser Verlag

INHALT

Wie sie tickt

Nachtigall

Fluxus

Der verzweifelte Versuch, die Zeit totzuschlagen

Die langen Schatten der Wälder

U-Bahn

High Noon

Freunde von früher

Zwei Spinnen

Die Theodorus-Konstante

Ohne Grund

Kätzchen

Auftakt

Wie die Dinge liegen

Nur zum Beispiel

Insideralphabet

Klares Wasser

Einkaufen, kochen, essen, schlafen

Der Schlüssel zur Lösung

Online

Senden und trennen

Gebrauchsanweisung

Decke aus Yak-Haar

Federn

In der Zeitung

Abstillen

Keine Angst vor Schlangen

Als ich Andy Warhol traf

Natur und Kunst

Träume

Eindeutiger Versuch einer Verführung

Geld

Ihre Wirklichkeit

Zum x-ten Mal

plopp

Alias

Meine Zeit

Anders als all die anderen

Abstract

Unterwegs zuhause

Entweder oder

Uns beide

Begegnung

Aus der Schublade

PPS

Denken und sprechen

Zeitverzögerung

Demografie und Gefühl

Weiter nichts, nichts weiter

Intime Gesellschaften

Millionär

Little Miss Lucifer

Wer bin ich?

Ein- und Ausatmen

Heute aus Dallas

Nach der Lesung

Zu ein und demselben Ziel

JE MODERNER DIE MODERNE WELT WIRD, DESTO UNVERMEIDLICHER WIRD DIE ERZÄHLUNG.

Odo Marquard, »Philosophie des Stattdessen«

WIE SIE TICKT

Es hat lange gedauert, bis ich sie traf. So lange, dass ich inzwischen denke: Hätte ich sie früher getroffen und nicht erst jetzt, da ich, wie es heißt, im besten Alter bin und sie wahrscheinlich nur etwas jünger, ich wüsste nicht, wer ich bin. Aber wo, wenn nicht an dieser überlangen Theke und so kurz vor der Spätvorstellung eines Films, in den wir ja ursprünglich gar nicht gehen wollten, hätten wir uns sonst treffen sollen? Ich, weil ich eigentlich auf Die Nacht, der Tag eingestellt war, der im Rahmen einer Chantal-Akerman-Retrospektive im kleinen Saal gezeigt wurde und für den ich dann keine Karte mehr bekommen hatte, und sie, weil sie, denke ich, nur ins Kino gegangen war, um mich zu treffen – mich, die ich nicht einmal wusste, was ich von mir wissen wollte.

Als ich fünfzehn war, wollte ich alles wissen. Von mir und auch von meiner um drei Jahre älteren Cousine, die zeitweise bei uns wohnte. Um alles, was sie erlebt hatte, fühlte ich mich betrogen. Ich weiß nicht, ob es daran lag, wie sie erzählte, oder daran, was ich aus ihren Geschichten herauslas: Die drei Jahre Unterschied waren zu viel, zu lang wie ein zu langes Leben. Ich spürte, die drei Jahre, die sie mir voraushatte, waren nicht einzuholen. Aber mit der Zeit schrumpften sie schließlich doch, sie verflüchtigten sich, lösten sich auf. Was es zwischen uns aber auch nicht einfacher machte.

Als ich durch die Tür ins Foyer trat, fuhr der Nachtwind in das auf dem königsblauen Teppichboden verstreute Popcorn wie eine Sturmböe in eine verschlafene Wochenendsegelregatta. Die uniformierte Bedienung führte Selbstgespräche, die Popcornmaschine flackerte matt, ihre Lackierung erinnerte mich an die Londoner Telefonzellen des vergangenen Jahrhunderts. Und die zwei starken Arme der Miss-Cool-Eismaschine rührten und rührten so unermüdlich ihre cyanblauen und magentaroten Massen in zwei sich einander umkreisenden transparenten Containern, dass ich mir schon auf dem Weg zur Kasse hypnotisiert vorkam.

Die Frau stand direkt vor mir, orderte einen großen Becher salziges Popcorn mit Butter, und mein Blick schlich an ihren Beinen abwärts zu ihren nackten, breiten und sehr gepflegten Füßen in goldenen Plateausandalen. Kurze Zehen und schwarzviolett lackierte Nägel, dachte ich, und dass es sich auf solchen Füßen bestimmt bequem und gut gefedert durchs Leben gehen lässt. Genau solche Allgemeinplätze sind es, mit denen ich mich verbünde, wenn ich teuer und körperbetont gekleideten Menschen begegne. Sie wirken auf mich wie Miss Cool. Ich kann sie mir nicht vorstellen mit Rückenschmerzen oder den unzähligen Handicaps, die sonst bei jeder Gelegenheit thematisiert werden.

Zum Beispiel war ich mal auf eine Dachterrasse im Frankfurter Westend eingeladen, ich wusste nicht, wohin mit mir und mit meinen Händen, und nahm mir zwei Miniflaschen dänisches Bier vom Tablett. Der Einmeterneunzig-Junge vom Service, dem ich einen Bandscheibenvorfall prophezeite, flüsterte: »140 Euro pro 0,25.«

Ich war hin und weg und setzte mich möglichst unauffällig zu drei Frauen, die sich in Outfits, die sie in Lissabon gekauft hatten, darüber unterhielten, was sie am Tag in der Goethestraße gekauft hatten, um am Wochenende artgerecht beim Shoppen in Mailand aufzutreten.

Auch wenn mir das Alphabet der Kleidermarken nicht viel sagte, so konnte ich doch etwas anfangen mit Goethe oder mit Lissabon. Und sofort dachte ich an Heinrich von Kleist, die Geschichte hinter der Geschichte des Erdbebens in Chili.

Warum wollte ich ihr das erzählen? Weil es eben kein dunkles Loch in mich gerissen hatte, so wie ein Kinobesuch das tut, gleichgültig, zu welcher Tageszeit.

Auf jeden Fall, weil ich sie gern gefragt hätte, ob es ihr auch gehe wie mir, während sie den übervollen Becher Popcorn am ausgestreckten Arm über die Theke schwenkte und über mich hinweg, während sie mir in die Augen blickte, oder ich ihr, und ich mich spontan für eine kleine Flasche Wasser ohne alles entschieden hatte.

Außer uns war niemand da. Und als ahnte sie, dass wir ein Ticket für denselben Film in der Tasche hatten, sagte sie: »Definitiv zu viel für eine allein«, und ihr Lächeln war, auch wenn sie es bestreiten würde, nichts als eine Aufforderung, mir zuzuhören. Aber was sollte ich schon sagen. Vielleicht: Vorsicht, das Popcorn schwappt über.

Sie schaute auf das Plakat hinter mir, sagte, wegen dem sei sie hier, allein das habe sie hergelockt, das Plakat, nicht die Rezensionen im Internet. Ich sagte, bei mir sei es etwas komplizierter. Und sie, sie habe alle Versionen von Godzilla gesehen.

»Wieso Godzilla?«, fragte ich.

»Godzilla, so ein Quatsch«, sagte sie, »natürlich King Kong … peinlich.« Jetzt habe sie Godzilla mit King Kong verwechselt, wahrscheinlich weil sich Godzilla auf Gorilla reime. Das Original habe sie in den Neunzigern im Filmmuseum gesehen und nach und nach alle Remakes weltweit.

Ich sagte, im Gegensatz dazu sei ich schon lange nicht mehr im Kino gewesen. Nicht, dass es mich nicht interessiere, doch habe die Zeit gefehlt. Und wenn nicht, dann halte mich die Angst davor ab, der Film würde ein Loch in meine Zeit reißen, das ich nur noch schwer flicken könne.

»Hast du Planet der Affen gesehen?«, fragte sie.

»Nein«, sagte ich, »du?«

»Klar«, sagte sie. »Ich heiße übrigens Linda.« Und ja, sie verstehe schon, was ich da gerade gesagt hätte, aber andererseits könne man es auch weniger dramatisch betrachten, ihr komme es immer wie ein Geschenk vor, wie ein Stück vom anderen Ende der Zeit.

Ich sagte, mein letzter King Kong, von dem ich nicht mal wisse, aus welchem Jahr er stamme, sei so lange her, dass mir heute wahrscheinlich eine völlig andere Geschichte begegne.

»Sorry«, sagte das Mädchen hinter der Theke. »Sorry, aber es müssen wenigstens fünf Karten verkauft sein, damit es sich überhaupt lohnt, die Projektoren anzuwerfen.«

»Was soll’s«, sagte ich, während Linda ihr Handy hervorholte, sich entschuldigte, die Kopfhörer ins Ohr steckte und in Richtung Ausgang tänzelte.

Ich sah sie zuhören, gestikulieren, »Scheiße« sagen und »Kein Problem«. Zeit sei kein Problem, nie, und vor allem nicht einfach mal so von heute auf morgen zu lösen. Aber sie würde es sofort regeln. »Okay, bis gleich.« Und: »Okay, okay.« Dann tat sie das, was ich noch immer auflegen nenne, ließ das Handy in ihrer linken Hosentasche verschwinden und zog aus der rechten drei Geldscheine.

»Sind leider etwas spät dran, meine Freunde. Aber bis zum Ende der Werbung werden sie es sicher schaffen, glauben sie zumindest«, sagte sie und ließ drei Karten für die, die sie eben angerufen hatte, zurücklegen.

Wir setzten uns in die zehnte Reihe, Platz 12 und 13, die Mitte der Mitte. Ich kramte in meiner Tasche, riss ein Blatt von meinem Notizblock und schrieb ihr meine Telefonnummer auf, damit sie beim nächsten Mal auch mir Bescheid geben könnte.

»Erzähl, was dich erwartet«, sagte sie.

»Nein, du«, sagte ich, »fang du an, du bist die Jüngere.«

NACHTIGALL

Viele Jahre habe ich in der Innenstadt gelebt. Immer, wenn die Jahreszeiten wechselten, habe ich mir gesagt: Zeit, dass du rauskommst. Die Jahreszeiten, du willst mehr von ihnen, willst ihre ganze Wucht. Glutvolle Endsommer. Wild durcheinanderwehende Blätter im Oktober. Rauhreifweiße Nebel im November und dunkle, schneeschwangere Himmel. Tiefer, stiller Winter. Wo zeigt sich das, wenn nicht im Umland?

Eigenartiger Grund, eine Stadt zu verlassen. Vielleicht gibt’s ja noch andere Gründe, von denen ich nichts weiß. Das nicht Gewusste von heute sind die Gründe von morgen.

Alte Bekannte begrüßen mich neuerdings mit »Ach, hallo, ich hab gehört, du bist rausgezogen? Aufs Land«.

Land ist ein weites Feld. Ich gehe jeden Tag spazieren.

EDEKA, Gewerbegebiet, Flüsschen. Auen hinter dem Bahn-Viadukt. Ich wollte schon lange mal nachschauen, wer es wann gebaut hat.

Die anschließenden Wiesen sind nicht Naturschutz-, aber Vogelschutzgebiet. Ich wollte schon lange mal nachschauen, was den Unterschied ausmacht.

Auf dem Feld wächst eine Pflanze, die ich vom Sehen kenne. Die Blätter ähneln Kohlrabi, aber es ist kein Kohlrabi. Ich wollte schon lange mal nachschauen, wie die Pflanze heißt.

Unten am Fluss lebt eine Nachtigall. Ich habe sie nie gesehen, aber gehört. Ich wollte schon lange mal nachschauen, wie Nachtigallen aussehen. Die Stimme der Nachtigall im Vergleich zu den anderen Vögeln klingt ungefähr so, wie der New Yorker Sänger Ira Biegeleisen mir auf die Frage »What makes a good singer?« einmal geantwortet hat. »You can tell a good singer very easy. It’s like someone just took out your earplugs.« Die Nachtigall klingt voller als eine Amsel, kerniger als Taube und Kuckuck, größer als eine Feldlerche und lieblicher als ein Eichelhäher. Wenn die Nachtigall loslegt, gehen mir die Ohren auf.

Jenseits des Flüsschens liegt ein Wald. Der höchste Baum im Wald ist der Handymast. Ich möchte ihn immer links liegen lassen, doch der Handymast liegt immer rechts von mir. Ich übersehe ihn mit Absicht. Die Formulierung übersehen ist mir lieber als wegschauen. Beim Übersehen verschwindet das zu Sehende nicht vollkommen, es wird aber mit Absicht ausgeblendet. Wird eine Leerstelle, die auf ihren Namen zusammenschrumpft.

Komische Vorstellung, einen Funkmast als Leerstelle auszublenden.

Ich sage mir: Gegen Handymasten ist im Moment kein Kraut gewachsen.

In der Innenstadt, deren Türme vom Kamm des Waldes aus am Horizont zu sehen sind, werden Vogelstimmen digital eingespielt. Beschallung mit balzenden oder kriegerischen Vogelstimmen beeinflusst das Kaufverhalten. Positiv.

Wenn der Naturschutzbeauftragte des Landkreises bei jeder Gelegenheit sagt: »Sehen Sie, bei uns ist sogar die Nachtigall wieder heimisch«, schauen alle weg von den steigenden Immobilienpreisen, den morschen, unbewohnten Fachwerkhäusern an der Durchgangsstraße, den Umgehungsstraßen, die die Landschaft zersägen, von den rauschenden Keilen der Kraniche, die auf immer denselben Wegen hin und her durch die Jahreszeiten ziehen.

FLUXUS

Aus der Stadt kam eine Freundin, brachte drei Pflänzchen Goldlack mit, selbst auf der Fensterbank gezogen, die Wurzeln in feuchte Papierhandtücher gerollt. Wir legten sie auf die Terrasse in die Abendsonne und gingen in die Küche. Ich sagte: »Ich will einen geeigneten Platz für die Babys finden.« Sie sah sich um. »Schön habt ihr’s hier.« Sie stand zwischen Herd und Kühlschrank und schaute die Wand an, sagte: »Ach.« Lachte, suchte ihre Lesebrille. Ich wollte wissen, was sie so witzig fand. An der Wand hing nichts als eine Mottenfalle, auf der vereinzelt tote Motten klebten. Sie hielt inne, streckte, während sie sich nach ihrer Lesebrille abtastete, den Hals vor. Sie hielt die Falle für ein Kunstwerk.

Motten kleiner

DER VERZWEIFELTE VERSUCH, DIE ZEIT TOTZUSCHLAGEN

Gestern kamen Bekannte zum Kaffee. Ein Pärchen in unserem Alter (weit über vierzig). Sie hatten nichts mitgebracht.

Wir hatten Gott sei Dank Kuchen gekauft, und ein Stück selbstgebackener lag auch noch im Kühlschrank.

Sie traten ein und setzten sich sofort an den Tisch. Auf meine Frage wollten beide lieber Wein als Wasser, und der Mann, der einen Hut trug und aufbehielt, sagte: »Ich glaube, es zieht.«

Ich rannte, warf die Balkontür zu.

Zurück am Tisch fiel mir auf, dass die Frau sich, wenn sie sprach, ausschließlich an meinen Mann wandte. Sie lobte den Kuchen, den ich gebacken hatte, und blickte dabei ihn an. Ich fragte mich, ob ich etwas falsch gemacht hatte. Ich kam mir wie ausgeblendet vor. Ich fing an, lauter zu sprechen, und versuchte, ihr bei jedem Wort direkt in die Augen zu schauen. Doch ihr Blick hing fest, streifte mich allenfalls.

Sie hatten Bilder mitgebracht. Ausdrucke ihrer auf den Handys gespeicherten Urlaubsmomente. Der mit Hut erklärte zu jedem Bild, was darauf zu sehen war. Kleine Geschichten um sie und ihn. Text und Bild. Manche langweilig. Zusammen waren sie natürlich nie abgebildet. Eine Großaufnahme zeigte die Frau am Strand.

»Sie macht Schmuck«, sagte er. »Sie muss immer was tun. Sie hält es keine Sekunde lang aus, nichts zu tun.«

Das war der Moment, in dem sie zum ersten Mal ihren Blick auf mich richtete. Während sie mich ansah, als würde sie mich durchschauen, fasste sie sich an den Hals, nahm das schimmernde Ding, das dort hing, zwischen zwei Finger und hob es hoch.

Ich sah es baumeln und sagte reflexartig: »Wie schön.«

Sofort griff sie sich in den Nacken, öffnete ihre Kette, fädelte das kleine Teil ab und hielt es mir hin.

»Kette musst du selbst besorgen«, sagte sie, »aber den Anhänger schenk ich dir.«

Ich nahm das Ding aus Perlmutt und Plastik und Seegras und Sand, zusammengehalten von einem Kupferdraht und zwei Tropfen Klebstoff, die sie schwarz angemalt hatte und die wie Augen aussahen. Mir fiel Godzilla ein. Sein verzweifelter Versuch, endlich, endlich die Zeit totzuschlagen.

DIE LANGEN SCHATTEN DER WÄLDER

Am Automaten löst sie eine Tageskarte. Sie muss in die Stadt zu einem Termin, einem beruflichen, von dem einiges abhängt. Vor allem, wie viel sie im nächsten Jahr verdienen wird. Zuspätkommen wäre fatal.