Über das Buch

Wir stecken in einer Krise der liberalen Demokratie. Sie wird von innen attackiert und von außen herau gefordert. Die Furcht vor sozialem Abstieg, vor gl baler Konkurrenz und unkontrollierter Zuwanderung schürt eine aggressive Grundstimmung. Das Vertrauen in Regierungen und Parteien sinkt, die politische Mitte erodiert. Populistische Demagogen haben Aufwind. Was liegt dieser Revolte gegen die liberale Moderne zugrunde und wie können wir ihr begegnen? Dieser Frage geht Ralf Fücks in seinem zukunftsweisenden Buch nach. Er zeigt auf, dass die Moderne von jeher antimoderne Gegenbewegungen provozierte. Doch der Rückzug in die nationale Wagenburg und die Abkehr von der offenen Gesellschaft führen in Teufels Küche. Dagegen setzt Fücks die Erneuerung der demokratischen Republik: Freiheit braucht starke öffentliche Institutionen, die Sicherheit in einer Welt des Wandels stiften. Und sie braucht Bürgerinnen und Bürger, die ihre Freiheit lieben und für die gleiche Freiheit aller eintreten.

Ralf Fücks

Freiheit verteidigen

Wie wir den Kampf um die offene Gesellschaft gewinnen

Carl Hanser Verlag

Inhalt

I Statt einer Einleitung: Vermessung der Landschaft

Antiliberale Querfront

Der neue Radical Chic

Angst essen Seele auf

Eurasische Gemeinschaft versus atlantisches Europa

Antiliberale Zeitenwende

II Moderne und Antimoderne

Flucht in die Gemeinschaft

Alexander Dugins Kreuzzug gegen die Moderne

III Die langen Linien der Demokratie

Glanz und Elend des Liberalismus

Die liberale Leerstelle

Die Krise der linken Mitte

Carl Schmitt und der Mythos der Homogenität

Mehrheitsherrschaft ist noch keine Demokratie

Parlamentarismus erneuern

Die Demokratie ist das Gehäuse der Freiheit

Wehrhafte Demokratie

IV Die Linke und die Demokratie

Von der antiautoritären Revolte zur Verachtung der Demokratie

Das Erbe des Marxismus

Revolution versus Demokratie

Das Gerede von der »Scheindemokratie«

V Aufmarsch der Antiliberalen

Lechts und Rinks

Republic of Fear: Der Aufstieg des Donald Trump

VI Kampffeld Migration

Keine Abschottung – keine offenen Grenzen

Fluchtursachen statt Flüchtlinge bekämpfen

Einwanderung und Integration

VII Vom Umgang mit dem Islam

Houellebecq: Die Unterwerfung

Vorauseilender Gehorsam

Der Streit um die Mohammed-Karikaturen

Was hat das mit dem Islam zu tun?

Religionsfreiheit und Menschenrechte

Das syrische Menetekel

Ein Marshallplan für den Nahen Osten

VIII Keine Empathie für die Freiheit – die Deutschen und die Ukraine

Die Ukraine stört

IX Der Russland-Komplex

Geschichte als Politik

Die Kleptokratie, über die niemand spricht

Doppelte Standards in der Außenpolitik

Ziele russischer Deutschlandpolitik

Vom Elend der »Russland-Versteher«

X Das Unbehagen an der Moderne

Frankensteins Monster

Goethes Faust: Auf Vernichtung läuft’s hinaus

Malthus und die Grenzen des Wachstums

Marx und die Moderne

Sloterdijk: Moderne als Verhängnis

Endzeitstimmung

Soziale Entropie

Erlösung und Barbarei

XI Ökologie und Freiheit

Autoritarismus in Grün

Primat der Natur?

Grüner Ordoliberalismus

Die grüne Revolution

Grenzen des Verzichts: Die Grünen und das Fliegen

Das magische Dreieck: Technik, Kultur, Politik

XII Die Zivilisierung des Kapitalismus

Eigentum für alle

Werte und Wertschöpfung

Triebkräfte des Neuen

Politik und Ökonomie

Wider den Utopismus

Institutionen als Gegengewicht zur Macht des Kapitals

XIII Globalisierung gestalten

Globaler Fortschritt

Hat der Nationalstaat ausgedient?

Global Governance

XIV Wie wir die EU wieder flottmachen können

Einheit in der Vielfalt

XV Was auf dem Spiel steht

Sicherheit im Wandel

Der Staat sind wir!

Exkurs: Bürgergeld und Bürgerarbeit

Republikanische Institutionen

Das ist unser Land

Freiheit verteidigen – den Westen zusammenhalten

Was jede(r) tun kann

Anmerkungen

Stichwortverzeichnis

Die größte Bedrohung kommt immer aus dem Westen selbst, von einem Westen, der seine Werte verleugnet, und das hat er oft genug getan.

Heinrich August Winkler

Wenn wir Menschen bleiben wollen, dann gibt es nur einen Weg, den Weg in die offene Gesellschaft. Wir müssen ins Unbekannte, ins Ungewisse und ins Unsichere weiterschreiten; wir müssen die Vernunft benutzen, die uns gegeben ist, um für beides zu planen: für Sicherheit und für Freiheit.

Karl Popper

I
Statt einer Einleitung: Vermessung der Landschaft

Ein Gespenst geht um in den Ländern des Westens: eine Revolte gegen die offene Gesellschaft. Sie hat mannigfache Gesichter und Erscheinungsformen. In den USA eroberte ein krasser Außenseiter mit aggressiver Rhetorik das Weiße Haus. Seine Kampagne lebte vom Spiel mit Ressentiments: gegen Migranten und Freihandel, Feministinnen und Muslime, gegen »Washington« und die linksliberalen Eliten der Ostküste und Kaliforniens. Donald Trumps Triumph stellte alles auf den Kopf. Ein egozentrischer New Yorker Milliardär wurde zur Stimme des verunsicherten und wütenden Amerikas, zum Helden der weißen Arbeiterklasse und der amerikanischen Provinz. Er siegte über einen Großteil des republikanischen Establishments, über den Aufschrei der kulturellen Eliten, über alle konventionelle Weisheit, dass Wahlen in der Mitte gewonnen werden. Er polarisierte ohne Rücksicht auf die Wunden, die er schlug. Er brauchte keine perfekt orchestrierte Wahlkampagne, weil er die Emotionen von Millionen Amerikanern traf, die sich in der Regenbogenkoalition aus linksliberalen Eliten und Minderheiten nicht wiederfanden. Was bleibt, ist die bittere Erkenntnis, dass Trump trotz oder sogar wegen seiner Hetze gegen Migranten, seiner frauenverachtenden Sprüche, seines außenpolitischen Abenteurertums und seiner eitlen Selbstverliebtheit zum Präsidenten des immer noch mächtigsten Landes der Welt aufsteigen konnte: ein Mann, der mit Amerika als Bastion von Freiheit und Freihandel so wenig am Hut hat wie mit dem Westen als Wertegemeinschaft.

Für uns Europäer gibt es keinen Anlass, mit dem Finger auf Amerika zu zeigen. Die Krise der liberalen Demokratie hat längst auch Europa erfasst. Von Skandinavien bis zu den Alpen, von Frankreich bis Polen machen antiliberale Parteien und Bewegungen Furore. Sie verschieben den öffentlichen Diskurs und treiben die etablierten Parteien vor sich her. Auch in Deutschland ist der Damm nach ganz rechts gebrochen. Ein Grundgefühl von Unsicherheit, Wut und Zukunftsangst macht sich breit. Es ist der Resonanzboden für radikale Bewegungen, politische Demagogen und für den Ruf nach dem starken Mann respektive der starken Frau – Marine Le Pen lässt grüßen.

So verschieden sie in ihrer spezifischen Ausprägung sein mögen, haben Donald Trump, Marine Le Pen, Geert Wilders, Viktor Orbán e tutti quanti einige fundamentale Gemeinsamkeiten. Sie treten als Stimme des Volkes gegen die abgehobenen Eliten auf; sie appellieren an starke Gefühle und Leidenschaften – Patriotismus, Identität, Furcht, Neid, Hass –, und sie ziehen eine klare Trennungslinie zwischen »uns« und den Fremden, Freund und Feind. Genau das sind zentrale Kennzeichen populistischer Politik. Gefährlich sind nicht nur ihre politischen Ideen. Zur Gefahr werden sie vor allem, weil sie das Institutionengefüge angreifen, auf dem die demokratische Republik aufbaut: die Unabhängigkeit der Justiz, die Pressefreiheit, die Unparteilichkeit der öffentlichen Verwaltung, der Schutz von Minderheiten. Sie denken Politik als latenten Bürgerkrieg, in dem der Sieger die ganze Macht an sich reißt.

Ideologisch handelt es sich um einen Verschnitt aus nationalistischen, konservativen, völkischen und sozialistischen Elementen. Sie beschwören die nationale Souveränität und propagieren direkte Demokratie als Sturmgeschütz gegen das politische Establishment. Die Neue Rechte macht unverhohlene Anleihen bei der traditionellen Linken – sie bringt sich als Schutzmacht der »kleinen Leute« in Stellung, verspricht Schutz der einheimischen Arbeit vor den Stürmen der Globalisierung und fordert den Vorrang der Politik über die Märkte. Und sie trifft sich mit einer national gesinnten Linken im Ressentiment gegen die USA, in der Anklage gegen das »internationale Finanzkapital« und im Ruf nach Rückgewinnung nationaler Souveränität. Die alten Fronten geraten durcheinander, wenn es um die Mobilisierung gegen das transatlantische Handelsabkommen (TTIP), den Schutz der bäuerlichen Landwirtschaft, den Generalverdacht gegen die NATO oder die Sympathie für die Politik Wladimir Putins geht.

Im Frühjahr 2016 verfehlte der Kandidat der nationalen Rechten in Österreich nur haarscharf die Mehrheit bei der Bundespräsidentenwahl. Das war das Vorspiel für den großen Donnerschlag, der am 23. Juni 2016 ganz Europa erschütterte. An diesem denkwürdigen Tag stimmten 51,9 Prozent der britischen Wähler für den Austritt aus der Europäischen Union. Was die einen als »Unabhängigkeitstag« feierten, war für die anderen der Einsturz ihrer Hoffnungen. Plötzlich gingen Zehntausende junger Leute für Europa auf die Straße. Man wollte ihnen zurufen: Weshalb so spät? Viele, die sich jetzt um ihre Zukunft betrogen sahen, waren erst gar nicht zur Wahl gegangen. Wie schon in Österreich revoltierte eine deutliche Mehrheit der Älteren, der Arbeiterschaft, der Provinz gegen das Votum der liberalen Eliten.

Die Brexit-Allianz zog sich quer durch die politische Landschaft, von ultrarechts bis ganz links. Ihr Treibstoff war ein Gemisch aus britischer Nostalgie, Furcht vor ungesteuerter Massenzuwanderung und dem Ruf nach Rückgewinnung nationaler Souveränität, gepaart mit einer grotesken Überzeichnung der Macht Brüsseler Bürokraten. Dazu kam die Illusion, Großbritannien könne auf sich allein gestellt besser durch die Wogen der Globalisierung segeln. Wie üblich mischten sich in das Verdikt gegen die EU starke hausgemachte Motive. Insbesondere in den ehemaligen Industriehochburgen Englands, die zu den Verlierern der neoliberalen Revolution Margaret Thatchers zählen, war das Referendum willkommenes Ventil für die lange angestaute Erbitterung über »die da oben«. Die direkte Demokratie, einst ein Ideal der Linken, wird jetzt zur Waffe der zu kurz Gekommenen, Verunsicherten und Beleidigten gegen die kosmopolitischen Eliten. In den Hochburgen des Westens ist ein neuer Kulturkampf ausgebrochen. Was ausgemachte Sache zu sein schien – multikulturelle Gesellschaft, religiöser Pluralismus, Abschied vom Patriarchat, sexuelles Kunterbunt, Einbindung nationaler Politik in multilaterale Institutionen –, ist wieder umkämpft.

Wenn hier vom Westen die Rede ist, geht es um mehr als eine geografische Bezeichnung. Als politische Kategorie steht der Westen für das Projekt der liberalen Moderne. Er umfasst jenen Raum, der von der Reformation, der Aufklärung und der Idee der Menschenrechte geprägt ist. Die Bill of Rights (1689), die amerikanische Unabhängigkeitserklärung (1776) und die Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte (1789) sind Urschriften der modernen Demokratie. Freiheit und Gleichheit sind ihre Leitidee, Gewaltenteilung, Herrschaft des Rechts, Trennung von Staat und Religion, verbriefte Bürgerrechte ihre konstitutiven Elemente. Die Zeit, in der Weltpolitik und Weltwirtschaft durch den Westen dominiert wurden, geht unwiderruflich zu Ende. Was jetzt auf dem Spiel steht, ist das Überleben des Westens als demokratische Wertegemeinschaft.

Antiliberale Querfront

Quer durch Europa gibt es auffällige Berührungspunkte zwischen der nationalen Rechten und der souveränistischen Linken. Die Europäische Union gilt ihnen als Trojanisches Pferd der »neoliberalen Globalisierung«. Man gibt sich europäisch, aber auf der Basis eines »Europas der Völker« und der nationalen Selbstbestimmung. Der Ablehnung der NATO als Gehäuse amerikanischer Hegemonie entspricht die Sympathie für Wladimir Putin und seine antiwestliche Politik. Tatsächlich ist Moskau heute das neue Rom eines europaweiten Netzwerks antiliberaler Parteien, Vereinigungen und Medien. Die Idee universeller Werte lehnen sie ab. Dass Menschenrechte und Demokratie global gelten sollen, halten sie für bloße Tarnung der Weltherrschaftsambitionen Amerikas.

In den westlichen Gesellschaften ist die Stimmung nach den missglückten Interventionen in Afghanistan und im Irak von Risikoscheu und Konfliktvermeidung geprägt. Dagegen setzt Russland auf den kalkulierten Einsatz von Gewalt als Mittel der Politik. Die groß angelegten, auf Angriff ausgelegten Militärmanöver, die provokativen Aktionen russischer Kampfbomber und Kriegsschiffe, die Drohung mit dem Einsatz taktischer Atomwaffen zielen darauf ab, Furcht vor dem großen Krieg zu verbreiten und die Europäer einzuschüchtern: bloß kein Konflikt mit Russland! Gleichzeitig baut der Kreml seine Propagandanetzwerke aus. Er investiert massiv in fremdsprachige Fernseh- und Radioprogramme und unterhält eine ganze Armee von Trollen und Hackern als Partisanen im Informationskrieg. Dazu kommt ein weitverzweigtes Netzwerk von Stiftungen, Instituten und Thinktanks in Europa, teils in direkter Regie Moskaus, teils in Kooperation mit einheimischen Putin-Freunden. Ehemalige europäische Spitzenpolitiker werden mit lukrativen Positionen in Aufsichtsräten und Stiftungen geködert, vorneweg ein ehemaliger deutscher Bundeskanzler, der nicht müde wird, als Fürsprecher Putins aufzutreten. Russische Staatsfirmen erwerben Schlüsselpositionen in der europäischen Energiewirtschaft; eine Legion von Finanzhäusern, Anwaltskanzleien, Immobilienfirmen und PR-Agenturen sind in Geschäfte mit russischem Geld verwickelt. Es gibt enge Verflechtungen zwischen dem Kreml und rechten wie linken Parteien in Europa.

So buntscheckig die Querfront antiwestlicher Gruppen ist, gemeinsam ist ihnen der Kampf gegen Liberalismus und Globalisierung. Mögen sie auch unterschiedlichen Gesellschaftsideen anhängen, so haben sie doch einen gemeinsamen Hauptfeind: den großen Satan Amerika. In ihren Augen sind die USA die Macht der Finsternis – eine vom Geld beherrschte, konsumsüchtige und gewalttätige Gesellschaft, die dem Rest der Welt ihr Modell aufzwingen will. Hollywood, die Wall Street und das Silicon Valley sind subtile Waffen in diesem Weltkrieg um ökonomische, politische und kulturelle Hegemonie.

Gegen den liberalen Universalismus setzen sie das Konzept einer multipolaren Weltordnung. Sie wird geprägt von Großräumen, die jeweils ihren eigenen Traditionen und Normen folgen: Diversität im globalen Maßstab, Homogenität im eigenen Haus. Man fürchtet die »Islamisierung Europas«, billigt dem Islam aber durchaus seine eigene Herrschaftssphäre zu, aus der sich der Westen gefälligst herauszuhalten hat. Russland bildet in diesem Konzept eine eigenständige Zivilisation – einen unzähmbaren Gegenpol zur ideellen und politischen Vorherrschaft des Westens. Auch in der Bewunderung für China treffen sich Akteure von links wie rechts: Hat China nicht jedes Recht, in seine historische Rolle als Weltmacht zurückzukehren? Und rechtfertigt der enorme ökonomische und soziale Auftrieb Chinas nicht die autoritäre Herrschaftsform? Politische Stabilität und wirtschaftliche Stärke zählen auch in den Augen vieler westlicher Beobachter mehr als demokratische Freiheitsrechte. Die Sympathie für den chinesischen Weg geht bis tief in die ökologische Szene: Ist eine »wohlwollende Diktatur« nicht besser in der Lage, die notwendigen Eingriffe in Produktion und Konsum durchzusetzen, als die westlichen Demokratien mit ihrer Dominanz kurzfristiger Interessen und ihrer Fixierung auf die jeweils nächste Wahl?

Es greift zu kurz, diese mannigfachen Strömungen als Konterrevolution von rechts zu beschreiben. Ihre Ausläufer ziehen sich quer durch das Parteienspektrum: ein explosives Gebräu aus Globalisierungsfurcht und Abstiegsängsten, das Gefühl des Kontrollverlusts im Großen wie in Bezug auf das eigene Leben, eine Kombination aus Fremdenfeindlichkeit und giftigem Sozialneid, ein wachsendes Misstrauen gegen die politischen und wirtschaftlichen Eliten und ein Grundgefühl der Überforderung durch das Tempo des kulturellen, technischen und gesellschaftlichen Wandels. Die Furcht vor »Überfremdung«, das Gefühl der kulturellen und sozialen Bedrohung durch massenhafte Einwanderung von Menschen anderer Hautfarbe und Religion ist nur die Spitze eines gewaltigen Eisbergs von Verunsicherung. Auf diesem Resonanzboden wachsen populistische Bewegungen von rechts wie von links. Sie geben sich als die wahre Stimme des Volkes gegen die »Systemparteien« und die »Systempresse« – nicht von ungefähr tauchen die Kampfbegriffe aus den 20er- und 30er-Jahren des letzten Jahrhunderts jetzt wieder auf. Auch das Zusammenspiel von linker und rechter Systemopposition ist nicht neu. Die Idee einer revolutionären Querfront war schon in nationalkommunistischen und konservativen Zirkeln der Weimarer Republik populär, ebenso die Forderung nach einer Achse Berlin–Moskau als Gegenpol zu Amerika und Großbritannien. Die Auseinandersetzung mit den antiliberalen Bewegungen von heute findet nicht auf jungfräulichem Terrain statt. Die Revolte gegen die liberale Moderne und das Antiwestlertum sind tief im europäischen Denken verankert.1

Nein, die Geschichte wiederholt sich nicht, und man sollte vorsichtig mit historischen Parallelen umgehen. Die bundesdeutsche Demokratie ist ungleich stabiler, als es die Weimarer Republik je war. Das gilt auch für ihre Verankerung in Europa. Aber auch wir sind nicht gefeit gegen die Rückkehr antidemokratischer Strömungen. In vielen europäischen Ländern erfassen sie bereits 20 bis 30 Prozent des Wahlvolks. Ihr gemeinsamer Nenner ist die Verachtung der liberalen Demokratie, der Rückzug in die nationale Wagenburg, die Verteidigung einer fiktiven kulturellen Homogenität, die Beschwörung von Familie, Volk und Staat als Solidargemeinschaft gegen ein bedrohliches Außen.

Der als kalt, unpersönlich und entfremdet empfundenen Gesellschaft wird die Sehnsucht nach einer Zugehörigkeit stiftenden Gemeinschaft entgegengestellt, der Abstraktheit des Marktes das Ideal einer auf persönlichen Beziehungen gegründeten lokalen Ökonomie, der Distanz der repräsentativen Demokratie die Unmittelbarkeit des Plebiszits, den Zumutungen der multikulturellen Gesellschaft der Wunsch nach Homogenität, dem liberalen Universalismus die Idee einer pluralen Weltordnung, in der jeder Kulturkreis seinen eigenen Werten folgt.

Derlei regressive Tendenzen sind keineswegs auf die Milieus der Modernisierungsverlierer und sozial Abgehängten beschränkt. Die neue Qualität der antiliberalen Revolte besteht darin, dass sie sich horizontal wie vertikal ausbreitet. Sie erfasst auch gutbürgerliche Kreise und Teile der Linken. Der »Wutbürger« ist in der Regel gut ausgebildet, geht einem anerkannten Beruf nach und zählt nicht zu den Ärmsten. Noch geht es ihm gut, aber er spürt den Boden unter seinen Füßen wanken. Wirtschaftlich empfindet er wachsende Konkurrenz und Leistungsdruck. Kulturell fühlt er sich bedrängt von der Krise des Patriarchats, dem Verlust männlicher Rollensicherheit, dem offensiven Auftreten von Schwulen und Lesben und der Einwanderung aus islamischen Ländern. Er pflegt den Eindruck, dass für alles und alle Geld da ist, bloß nicht für ihn und seine Anliegen. Er fühlt sich von »denen da oben« im Stich gelassen und gegängelt. Ihm passt die ganze Richtung nicht.

Der neue Radical Chic

Die wiederaufflammende Sehnsucht nach der großen Geste und großen Taten, nach dem Aroma von Gefahr und Gemeinschaft weht nicht nur durch die Postillen der Neuen Rechten, die mit Friedrich Nietzsche, Ernst Jünger und Martin Heidegger spielen und den Sound von Widerstand, Revolte und Umsturz anschlagen. Der Flirt mit dem »Radical Chic« findet sich auch in den Feuilletons der großen bürgerlichen Medien, im systemoppositionellen Grundton des Kulturbetriebs, dem Starkult um neokommunistische Theorieakrobaten à la Slavoj Žižek oder der nie endenden Faszination, die von der RAF auszugehen scheint.2

Beispiel gefällig? Man schlägt das Feuilleton der Welt auf und stolpert über die originelle Frage: »Warum haben linke Männer keine Eier?« Es geht um nichts weniger als um ein »Manifest für einen aufgeklärten Machismus«. Man wird neugierig und stößt auf Sätze wie diese: »Wo ist eigentlich Andreas Baader? Nicht der richtige, der lebendige, der Mörder, der nicht, sondern Andreas Baader, wie er von dem schwulen Modefotografen Herbert Tobias fotografiert wurde? Mit diesem Blick, der einen schwummerig macht, weil er so selbstbewusst ist, so erschöpft, so wach, so androgyn und so gewalttätig3 Das ist eine süperbe Mischung: Andreas Baader, ein schwuler Modefotograf und eine junge Autorin, die den Verlust von »Sex, Pathos und Gewalt« auf der Linken beklagt. Was sie bei linken Männern von heute vermisst, ist das Parfum des Kriegers – nicht den realen, blutig-schmutzigen Krieg, sondern sein Aroma. Es geht um den Gestus des militanten Machos mit humanistischer Mission, die Wiedergeburt Che Guevaras als Ikone linker Männlichkeit. Hilfsweise tut es auch Rainer Werner Fassbinder: »Die Fassbinder-Männlichkeit war eine patzige, lauernde, federnde, jederzeit bereit zur BrutalitätGut getroffen – aber ist das nach zig Jahren Feminismus und Gendermainstreaming nun das neue Männerbild? Wenn der bürgerliche Alltag langweilig wird und die endlich pazifizierten Männer keine Frau mehr »schwummerig machen«, wächst die Sehnsucht nach dem Heroischen, nach Tabuverletzung und dem Spiel mit Gewalt. »Rammstein«, die erfolgreichste deutsche Band der letzten 20 Jahre, hat diesen anschwellenden Zeitgeist früh erfasst und ihm eine Form gegeben. Jetzt springt er aus der Kultur in die Politik, und siehe da: Es ist die Neue Rechte, die mit dem Habitus der Subversion, der Verweigerung, des Widerstands auftritt und die verbürgerlichte Linke blass aussehen lässt. Wenn selbst Sahra Wagenknecht, die sich so gern als Reinkarnation Rosa Luxemburgs inszeniert, die soziale Marktwirtschaft verteidigt, was bleibt da noch an linker Systemopposition? Die Politik der Wut ist nach rechts ausgewandert. Marc Jongen, philosophischer Stichwortgeber der AfD, spricht von der Repolitisierung von Stolz, Zorn und Empörung durch die Neue Rechte und propagiert eine neue Wehrhaftigkeit gegenüber dem radikalen Islam: Wo die »deutsche Kultur« bedroht ist, wird Widerstand zur Pflicht. Der Sound ist bekannt, der Inhalt irritiert.

In einschlägigen Milieus taucht die Rede von der »Verhausschweinung des Menschen« im sozialstaatlich eingehegten Konsumkapitalismus wieder auf. Der Begriff geht auf Konrad Lorenz zurück, den Lieblingsverhaltensforscher der Deutschen. Er steht für die Selbstdomestizierung des Menschen, die mit der Außerkraftsetzung natürlicher Selektionsmechanismen (»Survival of the Fittest«) einhergeht. Für Lorenz ist das ein Prozess der Degeneration. Der sozialdarwinistische Einschlag dieses Denkens ist offenkundig. Es hat eine lange Tradition. »Im Frieden«, sagt schon Georg Wilhelm Friedrich Hegel, »dehnt sich das bürgerliche Leben aus, es ist auf die Länge ein Versumpfen der Menschen.« Dagegen hilft nur das reinigende Gewitter des Krieges, das Gegengift für »politische Nullität und Langeweile«. Das war die Stimmungslage, mit der Millionen von Deutschen den Beginn des Ersten Weltkriegs als Befreiung aus der bürgerlichen Enge empfanden. Das Spiel mit Gefahr und Gewalt ruft Gespenster auf den Plan, die ihren Schöpfern über den Kopf wachsen.

Die Entmännlichung der Politik ist ein Klassiker der Kulturkritik von links wie von rechts. Beklagt wird der Verlust des Kämpferischen, Wehrhaften, Existenziellen in der Politik. Pragmatismus, Kriegsscheu und Kompromissbereitschaft gelten als Symptom der Schwäche. Karl Popper, einer der herausragenden liberalen Philosophen des 20. Jahrhunderts, notiert dazu: »Das Stammesideal des heroischen Menschen ist ein Angriff auf die Idee des zivilen Lebens selbst; dieses wird wegen der von ihm gepflegten Idee der Sicherheit als schal und materialistisch angeprangert. Lebt gefährlich! ist sein Gebot.«4 Die Anziehungskraft von Kommunismus und Faschismus auf Intellektuelle und Künstler rührt nicht zuletzt aus der gewaltträchtigen Aura revolutionärer Bewegungen, ihrem heroischen Gestus und heiligen Ernst. Politik, die nicht aufs Ganze geht, parlamentarisches Kompromisslertum und pragmatische »Stückwerktechnologie« (Popper) sind wenig attraktiv. Nicht von ungefähr bezieht sich die Neue Rechte wieder auf Carl Schmitt: Politik muss vom Ausnahmezustand her gedacht werden, sie ist im Kern ein Kampf zwischen Freund und Feind. Spiegelbildlich findet sich die Romantik der Gewalt auch auf der Linken. Was an Ikonen des linken Radikalismus fasziniert, ist ihr kompromissloser Habitus, in dem sich Humanismus und Terror verbinden – frei nach der berühmten Schrift von Maurice Merleau-Ponty, der die befreiende Gewalt der Unterdrückten als Akt der Revolte feiert, in dem die Unterdrückten ihre Menschenwürde zurückgewinnen.

Das Aufregende der Reden Rudi Dutschkes in der Hochzeit der außerparlamentarischen Opposition war ihr radikaler Sound – er war so ein »Linker mit Eiern«, den sich unsere Welt-Autorin herbeiwünscht. Hört man sich heute an, was er damals sagte, bleibt wenig mehr als ein revolutionäres Kauderwelsch. Aber auf den Inhalt kam es gar nicht an – das Geheimnis lag in der Eindringlichkeit seines Redens, mit der eine Verbindungslinie zwischen der Studentenbewegung im Westen, dem Vietnamkrieg und den revolutionären Befreiungsbewegungen der ganzen Welt gezogen wurde. Es ging um Zugehörigkeit zu einer weltumspannenden Bewegung, die sich die Befreiung von Ausbeutung und Unterdrückung auf die Fahnen geschrieben hatte. Für die einen war Dutschke der Prophet einer innerweltlichen Erlösungsreligion, für die anderen – vorneweg die Springer-Presse – eine Hassfigur, die alles verkörperte, wovor man sich fürchtete.

Im April 1968 wurde er von einem jungen Hilfsarbeiter und NPD-Sympathisanten niedergeschossen. Nachdem er sich mühsam von den Folgen des Attentats erholt hatte, kam ein veränderter Rudi Dutschke langsam wieder auf die politische Bühne zurück. Er suchte das Gespräch in alle Richtungen, schrieb seine Dissertation über Wladimir Iljitsch Lenin und die »asiatische Despotie«, befreundete sich mit Wolf Biermann, engagierte sich für Rudolf Bahro, entdeckte die ökologische Frage und wurde Mitglied der »Bremer Grünen Liste«, die 1979 als erste grüne Truppe den Sprung in ein Landesparlament schaffte. Die Idee eines grün-alternativen Projekts, das undogmatische Linke mit umweltbewussten Wertkonservativen verbinden sollte, reizte ihn. Er wusste aus eigener Erfahrung, dass man diesen Neuanfang vor Leuten schützen musste, die in den Grünen nur einen Durchlauferhitzer für ein neues linkssozialistisches Projekt sahen. Am 24. Dezember 1979 ertrank er nach einem epileptischen Anfall, eine Spätfolge des Attentats, in seiner Badewanne. Ich erzähle das, weil viele nur den »roten Rudi« vor Augen haben, den revolutionären Prediger und radikalen Aktivisten. Mich beeindruckt der andere Dutschke mehr, der sich auf die Suche nach einem neuen Weg machte, seinen politischen Idealismus mit praktischer Realpolitik zu verbinden.

Angst essen Seele auf

Während andere Kontinente gerade im Aufbruch in eine bessere Zukunft sind, voller Selbstbewusstsein und Tatendrang, ist den Europäern der Zauber der Moderne abhandengekommen. Europa ist heute der zukunftsängstlichste Kontinent. Nirgendwo ist die Überzeugung so verbreitet, dass die goldenen Jahre hinter uns liegen. Wir fürchten uns vor Globalisierung und Freihandel, digitaler Revolution und Gentechnik, Masseneinwanderung und Islamisierung, Terror und totaler Überwachung, Klimawandel und Altersarmut. Die Wachstumsdynamik ist gering, die Jugendarbeitslosigkeit in vielen Staaten dramatisch. Die europäische Aufbruchstimmung von 1989/90 hat sich in wechselseitiges Missvergnügen und nationalen Egoismus verkehrt. Das spielt den Souveränisten von rechts und links in die Hände, die das Heil in der Wiedergewinnung der nationalen Regulierungskompetenz suchen. Die Zukunft, die sie den verunsicherten Massen versprechen, liegt in der Rückkehr zu einer idealisierten Vergangenheit. Nichts zeigt die Selbstzweifel Europas deutlicher als die verzagte, abweisende Haltung gegen den Zustrom von Kriegs- und Armutsflüchtlingen. Offenbar glaubt ein großer Teil der Bevölkerung (und auch der politischen Eliten) nicht mehr an die Überzeugungskraft unserer Lebensform und die Integrationsfähigkeit von Demokratie und Marktwirtschaft. Selbst in den USA, einer Gesellschaft von Einwanderern, erklingt jetzt das schrille Lied der Abschottung vor den Habenichtsen aus dem Süden. Was als patriotische Kraftmeierei daherkommt, ist in Wahrheit ein Zeichen von Statuspanik.

Eurasische Gemeinschaft versus atlantisches Europa

Zur inneren Krise der westlichen Demokratien kommt ihre Herausforderung von außen. Vorbei die Zeit, als alle Welt auf dem Weg zu Demokratie und Marktwirtschaft zu sein schien. Es ergibt keinen Sinn, Länder wie Russland, China oder den Iran als »Transformationsgesellschaften« zu bezeichnen, die sich auf welchen Umwegen auch immer dem westlichen Modell annähern. Sie sind autoritäre Systeme eigenen Typs, die mit wachsendem Selbstbewusstsein als Alternative zum Westen auftreten. Russland segelt mit Putin an der Spitze einen dezidiert antiwestlichen Kurs. Der Kreml dehnt nicht nur seine geopolitische Einflusssphäre aus, er führt auch einen ideologischen Feldzug gegen den Liberalismus. Russland inszeniert sich als letzte Bastion christlicher Werte gegen ein dekadentes, von Amerika kolonisiertes »Gayropa«.

Großrussische Ideologen wie Alexander Dugin5 wärmen den alten Gegensatz von Kultur und Zivilisation wieder auf: Existenzielle Tiefe, Opferbereitschaft, Volk und Nation gegen eine degenerierte Konsumgesellschaft, die einem zersetzenden Hedonismus frönt und sich dem Tanz ums Goldene Kalb hingibt; Führerprinzip und starker Staat gegen Parteiengezänk und Wankelmut der Massendemokratie. Sie propagieren eine wehrhafte eurasische Gemeinschaft als Alternative zur transatlantischen Allianz und einer schwächlichen Europäischen Union. Dieses Denken hat tiefe Wurzeln in der europäischen Geistesgeschichte. Zu seinen Vorläufern gehören die romantische Naturschwärmerei und die Verachtung der modernen Massengesellschaft, die Verfechter einer »konservativen Revolution« in der Weimarer Republik und die »Nouvelle Droite« in Frankreich. Seine Ausläufer sind überall in Europa zu finden.

Es geht hier nicht um eine akademische Debatte. Wir sind mit einem Kampf um ideelle Hegemonie konfrontiert, die eine knallharte machtpolitische Dimension hat. Es geht um die Vorherrschaft über Europa, um »Eurasien« als Gegenprojekt zum »Atlantizismus«. Die Gegner des Westens spekulieren auf den Zerfall der EU und das Ende der transatlantischen Verbindung. Dmitri Kisseljow, Chefpropagandist des staatlichen russischen Fernsehens, bejubelte das Brexit-Referendum als Zeichen für den Zerfall der Europäischen Union. Schon im Vorfeld der Abstimmung malten die Massenmedien das Bild eines niedergehenden Europa, das von Horden muslimischer Migranten attackiert wird, sich von christlichen Werten entfernt hat und sexueller Dekadenz frönt. Populär auch die Lesart, dass der Brexit das Ende des atlantischen Europa einläutet und den Weg für ein »vereintes Eurasien« unter russischer Führung öffnet. Das ist kein bloßes Wunschdenken: Es gibt dafür einen Resonanzboden in Europa, und der Kreml investiert viel Geld und politisches Kapital in den Ausbau seiner europäischen Netzwerke.

Auch die staatsnahen Medien Chinas stimmten nach dem britischen Votum in die Melodie des Niedergangs der EU ein. In vielen Kommentaren wurden Renationalisierung, Konflikte um Flucht und Migration, Terroranschläge und die ungelöste Finanzkrise zur Krise des Westens, seiner Werte und Institutionen zusammengezogen. Das Bild des Westens wird verdunkelt, damit das chinesische Modell in umso hellerem Licht erstrahlt. Es erscheint als Garant von Einheit, Handlungsfähigkeit und Stabilität in einer unsicheren Welt. Wer wäre so töricht, diese Errungenschaften für ein Mehr an Freiheit zu riskieren? Die Botschaft verfängt nicht nur in China.

Antiliberale Zeitenwende

Es ist nicht leicht, in diesen Zeiten zuversichtlich zu sein. Das kurze Jahrzehnt des demokratischen Aufbruchs in Europa ist vorüber. Wer immer noch glaubt, dass die Welt von morgen eine bessere sein wird, gilt leicht als ahnungslos oder als notorischer Schönfärber. Verunsicherung ist das neue paneuropäische Grundgefühl. Das ist keine bloße Marotte einer alternden Gesellschaft. Wir leben in einer Zeit des Umbruchs, und es ist nicht ausgemacht, wie die westlichen Demokratien mit den Herausforderungen fertigwerden, die auf sie zurollen.

Tempo und Gleichzeitigkeit von Krisen und Konflikten strapazieren nicht nur unser persönliches Fassungsvermögen; sie überfordern auch das politische System. Das Chaospotenzial wächst und mit ihm eine aggressive Stimmungslage. Wer sich bedroht fühlt, sucht Schutz in der Wagenburg. Der Ungeist des Radikalismus, der unseren Kontinent an den Rand der Selbstzerstörung gebracht hat, kehrt wieder zurück. Das Vertrauen in die Kompetenz und Handlungsfähigkeit der politischen Klasse ist im Keller. Populistische Führer fordern den Grundkonsens heraus, auf den sich die liberalen Eliten des Westens verständigt hatten: eine weltoffene, tolerante und multikulturelle Gesellschaft, Gleichstellung der Frauen, Anerkennung von Schwulen und Lesben, Globalisierung der Wirtschaft und Ausbau transnationaler Institutionen.

Der ununterbrochene Strom schlechter Nachrichten, der im Internet auf uns niederprasselt, verstärkt den Eindruck, dass die Welt aus den Fugen geraten ist – zumindest jene Welt, in der wir uns halbwegs sicher fühlten. Terroranschläge islamistischer Gotteskrieger bringen die Furcht vor willkürlicher Gewalt in unser Alltagsleben. Die Europäische Union, sicheres Hinterland und selbstverständlicher Bezugsrahmen für Generationen, ist in der tiefsten Krise ihrer Geschichte. Das vermeintlich irreversible Bewegungsgesetz einer »immer engeren politischen Gemeinschaft« gilt nicht mehr; eine schleichende Erosion der Union ist eine reale Möglichkeit. In vielen europäischen Ländern verdüstern wirtschaftliche Stagnation und hohe Jugendarbeitslosigkeit die Zukunftsperspektiven der jungen Generation. Die Kluft zwischen Modernisierungsgewinnern und -verlierern wird tiefer. Die Massenflucht von Menschen aus den Kriegs- und Krisenregionen jenseits des Mittelmeers spaltet die europäischen Gesellschaften. Die Türkei hat eine dramatische Wendung genommen. Sie entfernt sich rapide von der Europäischen Union; Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist auf dem Weg zu einer autoritären Führerdemokratie nach russischem Muster. Die Südostflanke der NATO bröckelt, während Putin-Russland wieder als Gegenspieler zum Westen auftritt. Die in den Verträgen von Helsinki und Paris bekräftigte europäische Sicherheitsarchitektur – Gewaltverzicht, territoriale Integrität und gleiche politische Souveränität aller Staaten – ist mit der Annexion der Krim und der Intervention in der Ostukraine faktisch aufgekündigt. Die arabische Welt wird von Gewaltexzessen erschüttert, denen wir ratlos gegenüberstehen. Im Südchinesischen Meer baut sich ein geopolitischer Großkonflikt zwischen einem selbstbewusst auftrumpfenden China und den USA auf. Eine Welt, in der die strategischen Rivalitäten des 20. Jahrhunderts mit den Waffen des 21. Jahrhunderts ausgetragen werden, ist ein hochgefährlicher Ort.

Zu allem Überdruss ächzt auch das transatlantische Bündnis in allen Fugen. In Amerika wie in Europa sind Kräfte auf dem Vormarsch, die nationalen Egoismus predigen und jeden Sinn für das historische Projekt des Westens verloren haben. Auch bei uns mangelt es nicht an Stimmen, die das Zerbröckeln der amerikanischen Weltmacht mit Genugtuung sehen. Ist es nicht höchste Zeit für eine neue, multipolare Weltordnung, in der die Gesellschaften Asiens, Afrikas und Lateinamerikas ihren Platz als gleichberechtigte Spieler auf der Weltbühne einnehmen? Richtig so, dieser Prozess ist ebenso überfällig wie unvermeidlich. Aber niemand sollte unterschätzen, mit welchen Risiken und Gewaltpotenzialen die Verschiebung der internationalen Kräfteverhältnisse verbunden ist. Die transatlantische Allianz war bisher ein Stabilitätsanker des internationalen Systems. Die Reform dieses Systems ist überfällig, sein Kollaps hochgefährlich. Das gilt erst recht für den normativen Kern der internationalen Ordnung, die Charta der Menschenrechte und das Völkerrecht. Sie als Relikte westlicher Hegemonie abzutun, wäre ein dramatischer Rückschritt auf dem Weg zu einer globalen Zivilisation. Eine gerechte Weltordnung braucht ein gemeinsames normatives Fundament.

II
Moderne und Antimoderne

Die Geschichte der Moderne wird seit ihren Anfängen von antimodernen Gegenbewegungen begleitet. »Moderne« steht für die Epoche rasanter gesellschaftlicher Veränderungen, die durch das Zusammenspiel von philosophischer Aufklärung, wissenschaftlich-technischer Revolution und dem Aufstieg von Demokratie und Menschenrechten in Gang gesetzt wurden. Dieser Impuls wirkt bis heute weiter, er hat durch die Globalisierung sogar neue Schubkraft erhalten. Alle Nachrufe auf die Moderne waren verfrüht. Wir sind nicht in ein neues Zeitalter der Postmoderne eingetreten – sie war nie mehr als eine akademische Fingerübung –, sondern in die Phase der globalen Moderne. Sie ist keine bloße Kopie der klassischen, in Europa und Amerika geformten Moderne, sondern bringt eine pluralistische Moderne mit regionalen Ausprägungen hervor.

Ein »One-fits-all«-Modell der Moderne gab es nie und wird es nicht geben. Doch gibt es gemeinsame Merkmale über alle Unterschiede hinweg: Die Transformation von Agrar- in Industriegesellschaften geht Hand in Hand mit einer rasanten Urbanisierung, dem Anstieg des Bildungsniveaus, sozialer und räumlicher Mobilität, einer Ausdifferenzierung der Lebensstile und dem Wachstum der Mittelklasse. Ob das auf lange Sicht auch für die demokratische Seite der Moderne gilt, also für das Streben nach Selbstbestimmung und Selbstregierung, ist eine offene Frage. Wir können uns nicht mehr auf die gute alte »Stufentheorie« verlassen, nach der wirtschaftliche Modernisierung, steigende Einkommen, Bildung und Mobilität wie von selbst in Rechtsstaatlichkeit und Demokratie münden. Man möchte vermuten, dass eine selbstbewusste, global vernetzte Mittelschicht sich nicht auf Dauer mit den materiellen Annehmlichkeiten der Moderne