Wir alle sind Kritiker. Ob im Kino, im Restaurant oder beim Fußball, wir wissen sofort genau, was gut war und was in die Hose gegangen ist: Daumen rauf, Daumen runter. Reicht das? A. O. Scott, in der New York Times für die Filmkritik verantwortlich, plädiert dafür, die Kr tik als eine Kunst zu betrachten und einzuüben. Nicht der spontane Reflex zählt, sondern die fundierte Kenntnis und das genaue Argument, das zu einem begründeten Urteil führt. Langweilig? Überhaupt nicht. Das feine Urteil, als hohe Kunst betrieben, macht unsere Gespräche interessanter. Und es bereitet dem Kritiker selbst das Vergnügen, immer genauer zu verstehen, was er hört, sieht und liest.

 

Hanser E-Book

A. O. Scott

 

Kritik üben

 

Die Kunst des feinen Urteils

 

Aus dem Englischen von Martin Pfeiffer

 

 

Carl Hanser Verlag

 

 

Für Justine

 

 

ERNEST:  Du hast mir heute abend manches Sonderbare gesagt, GILBERT:  Du sagtest, es sei schwerer, über etwas zu reden, als es zu tun, und nichts zu tun, sei das Schwerste. Du sagtest, alle Kunst sei unmoralisch, alles Denken gefährlich; die Kritik sei schöpferischer als das Schaffen, und die höchste Kritik sei die, die im Kunstwerk offenbart, was der Künstler nicht hineinlegte; gerade weil jemand etwas nicht machen könne, sei er der geeignete Richter und Beurteiler, der wahre Kritiker sei ungerecht, unaufrichtig und nicht vernünftig. – Mein Freund, du bist ein Träumer.

GILBERT:  Ja, ich bin ein Träumer, denn ein Träumer ist der, der seinen Weg nur im Mondschein findet, und seine Strafe ist, dass er den Morgen vor der übrigen Welt dämmern sieht.

ERNEST:  Seine Strafe?

gilbert:  Und sein Lohn.

 

Oscar Wilde, »Kritik als Kunst«

 

 

Solange wir ein Bewusstsein haben, fällt uns die Aufgabe zu, die Kunst zu verteidigen. Uns bleibt lediglich die Möglichkeit, gegen das eine oder andere Mittel der Verteidigung Bedenken zu erheben.

 

Susan Sontag, »Gegen Interpretation

Inhalt

Einleitung

Was ist Kritik? (Ein einführender Dialog)

 

Erstes Kapitel

Der Kritiker als Künstler und umgekehrt

 

Zweites Kapitel

Das Auge des Betrachters

 

Selbstkritik

(Ein weiterer Dialog)

 

Drittes Kapitel

Verloren im Museum

 

Viertes Kapitel

Das Problem mit den Kritikern

 

Praktische Kritik

(Noch ein Dialog)

 

Fünftes Kapitel

Wie man sich irren soll

 

Sechstes Kapitel

Die Verfassung der Kritik

 

Das Ende der Kritik

(Ein abschließender Dialog)

 

Danksagung

Register

 

 

Einleitung:

 

Was ist Kritik?

 

(Ein einführender Dialog)

 

 

F:  Was hat Kritik für einen Sinn? Wozu sind Kritiker gut?

A:  Das sind die großen Fragen! Die naheliegenden Fragen jedenfalls. Aber sie sind nicht genau gleichbedeutend.

 

F:  Ist denn Kritik nicht einfach alles das, was Kritiker machen?

A:  Sicher. Und jeder, der kritisiert, ist ein Kritiker. Du siehst das Problem. Kaum haben wir angefangen, da drehen wir uns schon im Kreis. Wenn wir von Kritik reden, sprechen wir dann über eine berufliche Tätigkeit – eine Art Schriftstellerei, eine Sorte von Journalismus oder Forschung, eine irgendwie geartete intellektuelle Disziplin – und darum über die Leute, die sich damit ihren Lebensunterhalt verdienen? Oder sprechen wir über ein weniger spezialisiertes Unternehmen, so etwas wie Kartenspielen oder Kochen oder Fahrradfahren, etwas, was jeder lernen kann? Oder vielleicht sogar über eine elementarere, reflexartigere Tätigkeit wie Träumen oder Atmen oder Weinen?

 

F:  Ich dachte, wir hätten uns geeinigt, dass ich hier die Fragen stelle.

A:  Entschuldigung.

 

F:  Fangen wir also noch einmal an, und zwar mit dir. Du bist ein berufsmäßiger Kritiker und ebenso ein Mensch, der viel über die Frage nachdenkt, was Kritik ist und wozu sie dient.

A:  Wenn auch nicht unbedingt in dieser Reihenfolge. Und natürlich nicht ausschließlich.

 

F:  Okay. Aber was ich frage, ist –

A:  Wozu ich gut bin? Was für einen Sinn meine Tätigkeit hat?

 

F:  Wenn du es so formulieren möchtest. Ich hätte es vielleicht nicht ganz so feindselig ausgedrückt.

A:  Keine Sorge. Widerspruch ist wahre Freundschaft, wie William Blake gesagt hat. Jeder Kritiker gewöhnt sich allmählich daran, mit Skepsis und Argwohn und manchmal mit regelrechter Verachtung umzugehen. Wie können Sie es wagen? Was gibt Ihnen das Recht? Warum sollte irgendjemand auf Sie hören? Das bekommen wir ständig zu hören. Menschen zu reizen, dass sie unsere Kompetenz, unsere Intelligenz, ja überhaupt unser Existenzrecht in Frage stellen – das macht anscheinend einen großen Teil dessen aus, was es heißt, ein Kritiker zu sein.

 

F:  Und nun hast du beschlossen zurückzuschlagen. Du fühlst dich in der Defensive. Träfe es zu, wenn man sagte, dass du dieses ganze Buch geschrieben hast, um mit Samuel L. Jackson abzurechnen?

A:  Nicht direkt. Aber ich bin froh, dass du das erwähnst. Ein paar Hintergrundinformationen: Im Mai 2012 wurde in 3500 nordamerikanischen Kinos der Film The Avengers uraufgeführt – den hast du doch gesehen? Alle haben ihn gesehen. An diesem Tag habe ich eine Besprechung veröffentlicht, in der ich einige Aspekte des Films – die klugen Dialoge, die Eleganz des Spiels – lobte, mich über andere dagegen beschwerte; insbesondere monierte ich, dass er seine Originalität auf dem Altar einer Blockbuster-Konformität opferte. Wenn ich mich selbst zitieren darf: »Das Geheimnis von The Avengers besteht darin, dass es sich dabei um eine flotte kleine Dialogkomödie handelt, die als etwas anderes verkleidet ist, und dieses andere ist ein gigantischer Geldautomat für Marvel und ihre neuen Studiobosse, die Walt Disney Company.« Diese Einschätzung ist ziemlich stichhaltig, wenn ich selbst das so sagen darf. Als dann einige Jahre später Avengers: Age of Ultron herauskam, sagten alle anderen anscheinend mehr oder weniger das Gleiche: dass der Reiz und das Spannende dieses Films von seelenlosem Firmenspektakel überlagert werde. Es bereitet eine gewisse Genugtuung, an der Spitze derer gestanden zu haben, die auf das Offensichtliche hinwiesen.

Damals war ich jedoch Opfer eines jähen Gegenschlags. Kurz nachdem meine Besprechung auf der Website der New York Times erschienen war, postete Jackson, der in The Avengers und in anderen Folgen von Franchise-Filmen des Marvel-Universums Nick Fury spielt, auf Twitter einen Aufruf an die »#Avengers fans«, in dem es hieß: »AO Scott braucht einen neuen Job! Helfen wir ihm dabei, einen zu finden! Einen, zu dem er WIRKLICH fähig ist!« Scharen seiner Follower folgten seinem Ruf, wobei sie nicht forderten, dass ich von meiner Redaktion gefeuert werden sollte, sondern in bester Twitter-Manier Jacksons Attacke weiterleiteten und sie um ihre eigenen phantasievollen Vorschläge zum Thema meiner Eignung ergänzten. Die durchdachteren Tweets äußerten bekannte, man könnte sogar sagen kanonische antikritische Positionen: dass mir die Fähigkeit zur Freude abgehe; dass ich allen anderen Menschen den Spaß verderben wolle; dass ich ein Hasser, ein Spießer und ein Snob sei; ja sogar – und das war irgendwie etwas Neues –, dass aus dem jugendlichen Nerd in der Mittelschule, auf dem alle herumhackten, weil er keine Comics mochte, schließlich ich geworden sei. (Zu meiner Zeit waren einige der jugendlichen Nerds, auf denen alle herumhackten, gerade diejenigen, die Comics liebten, aber nun, da die Superhelden und ihre Fanboy-Anhängerschaft die Regie übernommen haben, hat sich das wohl geändert. Auf mir hackte man aus Gründen herum, die nichts mit Comics zu tun hatten.)

Der Avengers-Vorfall plusterte sich zu einem jener absurden und hyperaktiven Internetgewitter auf, die heute ein fester Bestandteil unseres kulturellen Lebens sind. Mace Windu hatte mich herausgefordert! Ich hatte den gerechten Zorn von Jules Winnfield heraufbeschworen! Auf Unterhaltungswebsites erschienen Photoshop-Produkte, die Jackson und mich in Kampfposen zeigten. Kurzkommentare schossen aus dem Boden wie Pilze nach einem Regensturm. Unser Twitter-Heckmeck fand den Weg in brasilianische, deutsche und japanische Schlagzeilen. Einige meiner Kollegen traten dafür ein, nicht nur für meine umkämpfte Person einzutreten, sondern auch für die Integrität und die Bedeutsamkeit der Tätigkeit, für die ich in Jacksons Augen nicht qualifiziert war.

 

F:  Hattest du Angst?

A:  Im Gegenteil. Ich war dankbar. Weder meiner Person noch meinem Lebensunterhalt drohte irgendwelche Gefahr, und The Avengers brachte es dann so weit, dass er als zweitschnellster Film weltweit an den Kinokassen eine Milliarde Dollar einspielte. Ich bekam auf Twitter einige hundert Follower und wurde für wenige Minuten sowohl zu einem schrecklichen Schurken als auch zu einem imaginären Märtyrer für eine edle und vielgeschmähte Sache. Überall herrschte eine Win-Win-Situation, und danach zog jeder wieder seines Weges.

Doch selbst ein Sturm im Wasserglas kann meteorologische Folgen haben, und ich glaube, dass Jackson eine berechtigte und wichtige Frage aufgeworfen hatte. Sieht man vom Wert oder Unwert dessen ab, was ich über The Avengers oder irgendeinen anderen Film geschrieben habe, dann ist stets die Frage berechtigt, welche Aufgabe denn der Kritiker hat und wie sie sich WIRKLICH bewältigen ließe.

 

F:  Da bist du hier also angetreten, um diese Tätigkeit gegen die Attacken – die Kritik – von sensiblen Filmstars und ihren Fans zu verteidigen? Ist das nicht ein kleines bisschen heuchlerisch? Es sieht so aus, als könntest du zwar austeilen, aber nicht einstecken.

A:  Nun ja, eigentlich nicht. Das heißt, ja, wir werden alle etwas empfindlich, wenn die Leute, über deren Arbeit wir schreiben – oder auch unsere Leser –, an unserer Tätigkeit etwas auszusetzen haben. Das ist nur menschlich verständlich. Was mich hier mehr interessiert, ist die allgemeine Tendenz – ich würde tatsächlich sagen, die universelle Fähigkeit unserer Spezies –, Einwendungen zu erheben. Und auch Lob auszusprechen. Zu urteilen. Das ist das Fundament aller Kritik. Woher wissen wir oder glauben wir zu wissen, was gut oder schlecht ist, was man attackieren oder verteidigen oder wovon man seine Freunde in Kenntnis setzen soll? Wie beurteilen wir den Erfolg oder das Scheitern von The Avengers oder irgendeinem anderen Werk? Denn ob es nun unsere Aufgabe ist oder nicht, tatsächlich urteilen wir. Wir können gar nicht anders.

 

F:  Und wie urteilen wir? Oder vielleicht lautet die Frage: »Warum urteilen wir?«

A:  Um ehrlich zu sein, als ich daranging, dieses Buch zu schreiben, dachte ich, die Antworten würden sich viel zwangloser einstellen, als sie es dann taten. Ich ging davon aus, dass es tatsächlich Antworten geben werde, die so ausfielen, dass ich sie klar und mit Nachdruck formulieren könnte. Vielleicht würde ich entdecken, dass wir wissen, was schön oder bedeutsam ist oder einfach nur Spaß macht, weil es Nervenschaltungen oder hormonelle Reaktionen gibt, die sich zu Beginn der menschlichen Ära herausgebildet haben, um uns dabei zu helfen, Raubtieren zu entkommen und eine zahlreichere Nachkommenschaft zu produzieren. Oder vielleicht käme ich zu dem Schluss, dass wir zum Bestimmen und Unterscheiden von Werten fähig sind, weil wir Zugang zu angeborenen und ewigen Maßstäben haben, die zwar im Laufe der Jahrhunderte Veränderungen unterworfen sind und sich von Ort zu Ort unterschiedlich äußern, die uns aber doch auf dem Weg zu Wahrheit und Schönheit halten.

Wir können uns die Geschichte der menschlichen Kreativität ansehen und dabei Muster – Formen, Klänge, Geschichten – finden, die auf eine tiefliegende Kontinuität schließen lassen. Wir können uns auch die überwältigende Vielfalt menschlichen Schaffens vor Augen führen und zu dem Ergebnis kommen, dass keine Kategorie, keine Menge von Kriterien das alles irgendwie in sich schließen könne. Jede Kultur und jede Klasse, jeder Stamm und jede Clique, jede Geschichtsepoche hat ihre eigenen Maßstäbe für Kunstfertigkeit und Erfindungsgabe entwickelt. Unsere modernen, kosmopolitischen Sensibilitäten weiden sich an den Gegenständen, die sie hinterlassen haben, sie untersuchen und vergleichen und widmen sich der angenehmen Aufgabe, das Gefundene zu sortieren und zu verarbeiten. Mittlerweile werden wir von neuem Zeug überschwemmt, was auch angenehm ist, selbst wenn das Überangebot dazu führen kann, dass wir uns gelähmt und leer fühlen. Wir staunen über die Fülle oder sind beunruhigt darüber, dass das alles viel zu viel ist. Es gibt eine solche Menge von Dingen, die unsere Aufmerksamkeit beanspruchen. So vieles steht da auf dem Tisch, das Zerstreuung und Aufklärung verspricht, dass es sich wie ernsthafte Arbeit anfühlen kann, hier eine Auswahl zu treffen.

 

F:  Und diese Arbeit – das Aussieben und Abwägen, das Maßnehmen und Interpretieren –, das nennst du Kritik.

A:  Ja. Aber sie ist auch etwas Grundlegenderes und Dringlicheres. Die Sache ist kompliziert. Ich möchte noch einmal auf Samuel L. Jackson eingehen. Sechs Monate nach der Avengers-Episode kam er in einem Interview mit der Huffington Post auf unsere Twitter-Auseinandersetzung zurück und verlieh dabei einem weit verbreiteten Einwand gegen Kritik im allgemeinen und gegen die Kritik von Popkultur im besonderen Ausdruck. »Neunundneunzig Prozent aller Menschen sehen sich diesen Film als das an, was er ist«, sagte er. »Er ist keine intellektuelle Darlegung, die man irgendwie mit dem Intellekt angehen muss.« Das ist ein altes und starkes – in mancher Hinsicht unschlagbares – Argument gegen Kritik, hinter dem die Vorstellung steht, dass schöpferische Tätigkeit zu ihren eigenen Bedingungen erfasst werden sollte und dass Denken der Feind der Erfahrung ist. Und tatsächlich ist es genau die Aufgabe des Kritikers, anderer Meinung zu sein, sich zu weigern, irgendetwas nur als das zu betrachten, was es ist, vielmehr darauf zu beharren, es einer intellektuellen Prüfung zu unterziehen.

»Mit dem Intellekt angehen« ist ein absichtsvoll hässliches Wort, dessen Verwendung einen Vorwurf eigener Art darstellt. Aber in Wirklichkeit ist es einfach ein Synonym für »denken«, und man darf fragen, weshalb es nötig sein sollte, so energisch zu bestreiten, dass The Avengers sowohl das Produkt von Nachdenken als auch ein potentielles Objekt von Denktätigkeit sein könnte. Der Film ist sehr wohl eine »intellektuelle Darlegung« in dem allgemeinen Sinne, dass er aus den bewussten Intentionen und der aktiven Intelligenz seiner Schöpfer, Jackson eingeschlossen, hervorgegangen ist. Ebenso wie viele andere Comic-Unterhaltungsproduktionen nimmt sich dieses Werk auch vor, Gegenstände zu erkunden, die für Fans dieses Genres ebenso wie auch für Kenner der hohen Literatur mit Sicherheit als große Themen zu erkennen wären, als da sind Ehre, Freundschaft, Rache und das Problem des Bösen in einem gerechten Universum. Und schließlich zeigt der Film The Avengers (und das tut er meines Erachtens auf äußerst irritierende Weise), was passieren kann, wenn ein spielerischer Erzählinstinkt mit dem Imperativ globalen Profits kollidiert, der der Motor so vieler Hollywood-Produktionen im 21. Jahrhundert ist.

All das bedeutet, dass The Avengers ein äußerst interessantes und komplexes Kunstwerk ist und dass es lohnt, sich über den Erfolg wie über die Grenzen dieses Films den Kopf zu zerbrechen. Und doch könnte selbst das Bemühen, die Spreu vom Weizen zu trennen, den Kontext zu finden und einen Claim abzustecken, darauf hinauslaufen, dass man das Eigentliche verfehlt. Oder, wie Jackson es formulierte: »… wenn du etwas Abgefucktes über ein Stück schwachsinnige Popkultur sagst, das wirklich gut ist – The Avengers ist ein verdammt großartiger Film; Joss [Whedon] hat da eine Arbeit geleistet, die einfach spitze ist –, wenn du das nicht kapierst, dann sag einfach: ›Ich kapier es nicht.‹«

Ich kapiere es aber. Insbesondere registriere ich, wie Jackson hier mit zweierlei Maß misst, wenn er The Avengers als unter aller Kritik (»ein Stück schwachsinnige Popkultur«) und zugleich als über alle Kritik erhaben (»ein verdammt großartiger Film«) verortet. Er wiederholt die reflexartige Verachtung für Kinofilme und andere Vergnügungen der niederen Schichten, die Intellektuellen einer früheren Epoche so leicht fiel, und zugleich operiert er mit der alten superarroganten Vorstellung, dass ein Kunstwerk unantastbar ist und sich selbst genügt. Unter diesen Umständen wird ein Kritiker entweder den Fehler begehen, eine Sache, die nur als harmloser, unbeschwerter Spaß gedacht war, törichterweise ernst zu nehmen, oder aber etwas Erhabenes auf sein eigenes lächerliches Niveau herabzuziehen. Aber schuldig wird er so oder so.

Hier kommt jedoch das Wichtige: Darin wird sich ein Kritiker nicht von einem beliebigen anderen Menschen unterscheiden, der sich The Avengers ansieht (oder einen Roman liest oder ein Gemälde betrachtet oder einem Musikstück lauscht) und über diese Erfahrung nachdenkt. Denn dieses Nachdenken ist der Punkt, an dem die Kritik beginnt. Dessen machen wir uns alle schuldig. Oder zumindest sollten wir das tun.

 

F:  Du hast also ein Buch zur Verteidigung des Denkens geschrieben? Wo ist da die Kontroverse? Niemand hat doch wirklich etwas gegen Denken.

A:  Ist das dein Ernst? Der Anti-Intellektualismus ist doch praktisch unsere bürgerliche Religion. »Kritisches Denken« mag ein allgegenwärtiges pädagogisches Schlagwort sein – eine diffus definierte Fertigkeit, deren Erwerb wir unseren Kindern auf dem Weg ins Erwachsenenalter wünschen –, aber die Belohnungen dafür, dass man auf den Gebrauch seiner Intelligenz verzichtet, folgen dann sogleich in reichem Maße.

Als Konsumenten von Kultur werden wir in Passivität eingelullt oder bestenfalls zu einer Verfassung von Pseudo-Halbbewusstsein gedrängt, und man ermutigt uns entweder zu einer defensiven Gruppenidentität als Mitglieder einer Fangemeinde oder zu einem seichten, halbironischen Eklektizismus. Gleichzeitig werden wir als Bürger des politischen Gemeinwesens auf ein polarisiertes Klima ideologischer Aggressivität verpflichtet, in dem große Töne allzu häufig an die Stelle von Argumenten treten.

Es bleibt kein Raum für Zweifel und nur wenig Zeit für Nachdenklichkeit, da wir uns eines Sperrfeuers von Sensationen und einer Flut von Meinungen zu erwehren haben. In unserer Phantasie können wir uns ausmalen, dass wir kürzer treten oder aussteigen, aber letztlich müssen wir lernen, in der Welt zu leben, die wir vorfinden, und sie so klar zu sehen, wie wir können. Das ist keine einfache Aufgabe. Einfacher ist es, sich den Tröstungen von Gruppendenken, Vorurteil und Ignoranz hinzugeben. Um diesen Verlockungen zu widerstehen, braucht man Wachsamkeit, Disziplin und Neugier.

 

F:  Dann ist das, was du geschrieben hast, also ein Manifest gegen Faulheit und Dummheit?

A:  Das könnte man so sagen. Aber warum soll man es in derart negatives Licht rücken? Dieses Buch ist, wie ich hoffe, auch eine Verherrlichung von Kunst und Phantasie, eine Erkundung unseres angeborenen Triebes, Vergnügen zu kultivieren, und der verschiedenartigen Wege, auf denen wir diesen Impuls verfeinern.

 

F:  Und das alles ist Aufgabe des Kritikers?

A:  Es ist Aufgabe aller Menschen, und ich glaube, dass es eine Aufgabe ist, die wir tatsächlich bewältigen können. Ich behaupte, dass am Anfang des Bemühens die Art und Weise stehen könnte, in der wir mit den Werken umgehen, die unserem endlosen Hunger nach Sinn und Vergnügen entgegenkommen, und zugleich auch die Art und Weise, in der wir unsere Reaktionen auf diese schönen, verwirrenden Dinge verstehen.

Wir neigen viel zu sehr dazu, die Kunst als eine Verzierung zu betrachten und den Geschmack als einen festliegenden, schmalen Pfad anzusehen, auf dem jeder von uns dahinzieht, allein oder in der ausgesuchten Gesellschaft Gleichgesinnter. Oder aber wir bemühen uns, die schöpferischen, angenehmen Aspekte unseres Lebens Dingen unterzuordnen, die vermeintlich bedeutsamer sind, und die ästhetischen Dimensionen der Existenz in die Kästen zu verfrachten, in denen unsere religiösen Glaubensvorstellungen, politischen Dogmen oder moralischen Ansichten untergebracht sind. Wir trivialisieren die Kunst. Wir verehren den Unsinn. Wir können über unseren eigenen Schwachsinn nicht hinaussehen.

Das reicht jetzt! Die Kunst ist dazu da, unser Denken zu befreien, und die Aufgabe der Kritik ist es, herauszufinden, was wir mit dieser Freiheit anfangen sollen. Dass jeder ein Kritiker ist, heißt (oder sollte heißen), dass wir allesamt in der Lage sind, gegen unsere Vorurteile anzudenken, eine Balance zwischen Skepsis und Aufgeschlossenheit zu finden, unsere abgestumpften und übersättigten Sinne zu schärfen und gegen die intellektuelle Trägheit anzukämpfen, die uns umgibt. Wir müssen unseren bemerkenswerten Geist einsetzen und unserer Erfahrung die Ehre erweisen, sie ernst zu nehmen.

 

F:  Okay, schön. Aber wie?

A:  Gute Frage!