Worauf kommt es an im Leben? Was ist wichtig, was weniger? 102 Jahre alt ist Elisabeth Heller, und langsam, so sagt sie in den Gesprächen, die sie mit ihrem Sohn André geführt hat, geht es ans Verabschieden. »Innerlich sieht man sich noch jung und klettert auf Berge und segelt über den Wolfgangsee, freut sich auf den nächsten Tag«, sagt die alte Dame, die geboren wurde, als der Erste Weltkrieg ausbrach und mit gerade 19 den damals doppelt so alten Süßwarenfabrikanten Stephan Heller heiratete. Ein anderes Mal wünscht sie sich, »dass das Körperwerkl in Gottesnamen auslaufen soll« und erzählt dann munter über einen Selbstmordversuch aus Liebe – »das Blödeste überhaupt« – und über Franz Lehár am Klavier in Bad Ischl.

Ein kleines Buch von großer Weisheit, würdevoll, poetisch, komisch. Und das Dokument einer späten Liebe und großen Offenheit zwischen Mutter und Sohn.

 

Zsolnay E-Book

André Heller

 

Uhren gibt es nicht mehr

 

Gespräche mit meiner Mutter in ihrem 102. Lebensjahr

 

 

Paul Zsolnay Verlag

 

 

Für meinen Bruder Fritz und all seine und meine Kinder und Kindeskinder

»Da kommt noch etwas Wichtiges«

Meine Mutter ist die tapferste Person, die ich jemals so genau kennenlernen durfte. Noch vor zwei Jahrzehnten hätte ich eine solche Behauptung nicht niedergeschrieben. Mindestens fünfzig Jahre erlebte ich sie, neben sehr viel Qualitätsvollem und Schönheitsgeladenem, das sie für mich bedeutet hat, als erstaunlich opportunistisch, stets bereit, dem jeweils Mächtigsten oder Auftrumpfendsten in einer Gesprächsrunde recht zu geben und Konflikten, wenn irgendwie möglich, aus dem Weg zu gehen. Dennoch vermutete ich relativ früh, dass sie unter dieser tragischen Schwäche litt. Ebenso wie sie einerseits den oft inhaltlich konventionellen Wortführern folgte, bewunderte sie andererseits rebellische und gegen den Strom schwimmende Persönlichkeiten zutiefst – solche, die sich eigenständig und eindeutig und auf originelle Weise zu ihren Überzeugungen bekennen.

Ihr Lieblingsschriftsteller in der Gegenwart war Thomas Bernhard, und sie las jedes der Bücher von Elfriede Jelinek und erkannte darin jene andere Möglichkeit eines unangepassten Daseins. Mir sagte sie einmal nach einem heftigen Streit: »Bitte versteh, ich halte deine Art und deine Lebensführung für völlig gerechtfertigt, aber ich könnte so nicht existieren, ich wünschte allerdings, ich könnte es.« So hat sie es sich in vielem, das sie durchaus für falsch oder für dumm oder für gefährlich in seinen Auswirkungen erkannt hat, vermeintlich komfortabel eingerichtet und gleichzeitig keinen Augenblick wirklich an diesen Komfort geglaubt. Ja, sie wurde durch diesen tatsächlich äußerst unkomfortablen Komfort nur ständig und quälend an ihren Kleinmut erinnert, den sie verachtete. Manchmal schmiedete sie wohl ernsthafte Pläne, sich aufzubäumen, und machte zu mir darüber Andeutungen. Sie wollte jenen Graben überspringen, der sie von der Verwirklichung ihres Wunsches trennte, eine selbstbewusste, konsequent für sich einstehende und Wichtiges wagende Person zu sein. Aber noch während des Anlaufs sagte ihr wohl eine leise, aber beharrliche innere Stimme, es würde letztlich mit einem Sturz in den Abgrund enden; und so schreckte sie vor dieser Einschüchterung zurück und mied das Risiko.

Dann kamen ihre späten Jahre, und ich begriff, dass meine Mutter auf etwas wartete, das sie nicht benennen konnte, das aber eine Verabredung mit ihr hatte. »Da kommt noch etwas Wichtiges«, hat sie es formuliert, und es kam tatsächlich: zunächst in zarten Wellen eine größere Gelassenheit, und dann schon etwas heftiger, so ab Ende achtzig, eine Neugier und ein Appetit auf die Früchte des Alters. Sie fühlte instinktiv, dass ihr eine reiche Ernte bevorstand, in die ihre bisherigen Erfahrungen einfließen würden. Das wirkte sich verändernd auf unsere Beziehung aus.

Ich entwickelte ein völlig neues Interesse an ihr und teilte ihre Erwartungen; gleichzeitig erwuchs ihr durch meine schöne und kluge Gefährtin Albina der erste Mensch, der sie bedingungslos liebte und einen zärtlichen, immer humorvollen Umgang mit ihr pflegte. Dies lockerte die mittlerweile einiges über Neunzigjährige, die sich immer noch in hervorragender gesundheitlicher Verfassung befand, und ließ sie empathischer und selbstzärtlicher werden. Sie sah sich und die Welt mit gütigeren Augen, ihre Gedanken und Taten wurden harmonischer und leuchtender.

Mit neunundneunzig, nun schon Tag und Nacht von herzensgebildeten Pflegerinnen der Malteser betreut, aber immer noch in ihrer Wohnung in Wien-Hietzing residierend, öffnete und durchschritt sie bisher verborgene Türen in ihrem Wesen. Und sie traute sich zu, ihr Selbstverständnis noch einmal von Grund auf neu zu gestalten. Während sie auf ihre Besucher still dem Augenblick hingegeben wirkte, hatte sich ihr Bewusstsein aufs imponierendste verändert. Sie, die ihr Leben lang vieles an Ängsten zu erleiden hatte, nahm zwei Oberschenkelhalsbrüche und deren ernste Operationen stoisch hin und ließ sich von nichts und niemandem mehr in eine Sorge drängen. In ihrem hundertzweiten Jahr schließlich, im Herbst und Winter 2015/16, wurden für etwa vier Monate zwischen uns Gespräche möglich, die mich in ihrer Klarheit, Tabulosigkeit, Originalität und Innigkeit begeisterten. Ich notierte die meisten und habe nun, selbstverständlich mit ihrem Einverständnis, entschieden, die am wenigsten intimen in einem Büchlein auch anderen zugänglich zu machen.

André Heller

Wien, im Dezember 2016