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Titelseite

 

 

 

 

 

In the end
all you can hope for
is the love you felt
to equal the pain you’ve gone through.
 
Editors: Bones
Von der CD »An end has a start«, 2007

1

Die Klänge im Dorf gehörten zu einem späten, aber sonnigen Oktobertag. Jakob, unser Nachbar, schob den brummenden Rasenmäher über seinen gepflegten Rasen und oben auf dem Hang konnte ich einen Traktor hören, der sich langsam entfernte. Die Blätter des Essigbaumes raschelten leise im Wind, als ich daran vorüber ging. In der linken Hand hatte ich die Mappe mit den Noten für die Probe unserer Band und ich fühlte mich tatsächlich cool. Keine Ahnung, eben so, wie ich mir Brian Molko auf dem Weg zur Probe vorstelle. Obwohl ich sonst Brian nicht besonders ähnele, leider. Und die Hauptstraße von Auroth ist ja auch nicht das, was Brian unter den Füßen hat, wenn er zur Probe geht. Wahrscheinlich verlässt er nicht mal das Haus, sondern geht einfach in den Keller seines Schlosses, wo er die Wände trockengelegt und sich ein Tonstudio eingerichtet hat. So stelle ich mir jedenfalls das Leben von Brian vor.

Leider trug ich auch kein cooles T-Shirt mit dem Aufdruck von irgendeiner Band vorne und den Tourdaten auf dem Rücken – dafür war die Abendluft Ende Oktober schon zu kalt –, sondern die hässliche rote Winterjacke, die Oma mir letztes Jahr gekauft hatte, und darunter einen schwarzen Pulli. Aber ich war wenigstens auf dem Weg zur Probe, und ich hatte einen tollen Song geschrieben, einen, der ihnen die Ohren weghauen würde.

Fast immer, wenn ich zur Probe gehe, träume ich vor mich hin. Ich sehe mich in einem dunklen Bühneneingang, ich gehe auf die Bühne zu, höre, wie ein großes Publikum unruhig wird, klatscht und mit den Füßen stampft. Dann gehe ich ein paar Stufen hoch, unsicher und geblendet vom Scheinwerferlicht und das laute Johlen von mindestens tausend Menschen, die gekommen sind, um mich spielen zu hören, brandet mir entgegen wie eine große Welle. Und dann – während ich mich an mein Keyboard setze – stelle ich mir einen Moment der Stille vor, die so gewaltig ist, dass der erste Ton darin klingt wie der erste Regentropfen auf dem Blatt eines Baumes.

Vor dem Pfarrheim standen Felix und Suder. Sie warteten. Felix ist unser Leadgitarrist, jedenfalls sieht er gut aus, vom Typ her wie ein selbstverliebter Fußballspieler, durchtrainiert und gepflegt, und genau das brauchen wir, wenn wir freitagabends in den Dorfdiskos auftreten.

Suder spielt Schlagzeug und deshalb ist es nicht schlimm, dass er im Dorf »Monster« heißt, knapp zwei Meter groß und völlig verpickelt ist. Suder sieht man eben nicht so genau hinter seiner Schießbude. Er ist eher der stille Typ und hilft seinem Vater nach der Schule in der Landwirtschaft. Er riecht auch immer ein bisschen nach Kühen.

»Hi«, machte Felix. Er strich sich seine langen Haare hinter die Ohren mit einer Bewegung, die man sonst nur bei Mädchen sieht, Suders dicker Bauernkopf nickte mir nur zu.

»Hi«, machte ich. »Los geht’s.« Ich schloss die Tür zum Jugendheim auf.

Die beiden schoben sich vor mir her wie ein Cristiano Ronaldo mit Föhnfrisur und ein riesiger Bauer, aber ehrlich gesagt, ich war froh, dass ich sie kannte. Die meisten Typen in meinem Alter, die in Auroth leben, haben nicht gerade meinen Musikgeschmack. Sie hören deutschen Hiphop, fahren, sobald sie achtzehn sind, mit aufgemotzten Autos über die Dorfstraße und lassen dabei ihre Subwoofer donnern. Und außerdem halten sie mich für behindert. Wenn sie wüssten, dass ich mich auf dem Weg zum Proberaum regelmäßig in Brian Molko verwandele, oder zumindest an ihn denke, würden sie mich beim nächsten Auftritt wahrscheinlich mit faulen Tomaten bewerfen oder mit Feuerwerkskörpern. Sie sind nicht gerade zimperlich. Und Brian schminkt sich und trägt Röcke – zumindest tat er das in der Anfangszeit seiner Band. Aber meine Beine stecken meistens in einer unauffälligen Jeans.

Suder nahm die Abdeckung von seinem Schlagzeug, sein Fuß tappte ein paar Mal gegen die Basstrommel, dann fischte er seine Sticks aus dem zerrissenen Innenfutter seiner Jacke und schlug damit gegen die High-Heat.

Felix zupfte an seiner Gitarre herum. Er hielt sein Ohr nah an die Saiten, was vielleicht bei einer akustischen Gitarre beim Stimmen hilfreich ist, bei einer elektrischen aber völlig sinnlos. Dabei strich er sich immer wieder seine langen Haare hinter die Ohren. Es ist mir unbegreiflich, warum die Mädchen so auf ihn abfahren.

Ich setzte mich hinter die Keyboards und stellte das E-Piano ein.

Wir begannen mit einer alten Nummer von U2, die Felix vorschlug. Suder am Schlagzeug brachte zweimal seinen Einsatz nicht, aber das war nicht schlimm. Wir spielen das sowieso nie vor Publikum, höchstens, wenn wir keine Zugaben mehr haben, und so weit waren wir noch nie.

Dann kam Vane und plötzlich war die kalte Luft ganz warm und ich musste ständig aufstoßen und grinsen und schubste mit dem Hintern das Mikro um und merkte gleichzeitig, dass ich schwitzte.

Felix hat es einfach besser drauf, klar, sie sind fast Nachbarn und gehen in eine Klasse und sie sehen sich jeden Tag. Sie sind aneinander gewöhnt. Oder er ist an sie gewöhnt, und ich bin immer völlig außer Atem, wenn Vane im gleichen Raum ist wie ich.

Vane hängte sich ihren Bass um. Sie schaute auf Suder, der ihr den Einsatz gab, und dann spielten wir Everytime, eine Nummer, die ich vor drei Jahren oder so geschrieben habe, ein tolles schnelles Stück Musik, bei dem man immer, wenn man glaubt, genauso müsste es jetzt weitergehen, überrascht wird, aber nicht zu überrascht. Das war unser Opener, fast immer, und die Leute mochten es, jedenfalls klemmten sie sich ihr Bier in die Armbeuge und klatschten, wenn wir damit fertig waren.

Danach spielten wir was Langsames. Das Stück heißt Circle Train, und ich hab es geschrieben, als mir klar wurde, dass es vielleicht mit Vane und mir nie was würde. Ist so etwa ein Jahr her.

Und danach spielten wir Fairy Tale Bubbles, das ich geschrieben habe, als ich wieder fest daran glaubte, dass es mit Vane und mir in jedem Fall was würde. Das war etwa vor zehn Monaten. Und so spielten wir uns durch meine ganzen Hoffnungen, Enttäuschungen und Sehnsüchte, und Vane stand da und zupfte am Bass und Felix sang die ganzen Worte, die ich für Vane geschrieben hatte, und weder Felix noch Vane und schon gar nicht Suder wussten, dass sie über mich und Vane sangen.

Dann redete ich über das neue Stück. Es hat eine treibende, schwierige Basslinie, dazu eine einfache Melodie und ein schönes Riff für die Gitarre.

Es handelte davon, dass ich eine schöne unerreichbare Frau liebe, die nur ein paar Zentimeter von mir entfernt atmet. Es hieß daher auch Just a few Centimeters.

Vane ist eine Erscheinung. Ich meine, ich lebe seit Jahren in diesem Dorf, seit es in Köln einfach nicht mehr ging, und Vane hatte mich sofort umgehauen. Also, sie sieht erst mal unglaublich aus, jedenfalls wenn man sie näher ansieht. Vielen ist sie vielleicht ein bisschen zu dick, oder ihre Haare sind ein bisschen zu kurz, aber sie ist – darüber habe ich lange nachgedacht, und ich glaube, deshalb finde ich sie so unglaublich – völlig ohne Angst. Sie hat für ein Mädchen eine richtig tiefe Stimme und sagt Sachen, die ich mich nie trauen würde. Sie spielt einfach drauflos, ist nicht schon bei einfachem Gezupfe mit dem schwierigen Lauf beschäftigt, der später kommt. Hält einfach den Rhythmus. Jeder Ton ist bei ihr einfach gleich wichtig. Und deshalb ist sie eine richtig gute Musikerin.

Der Bass ist ja ein völlig unterschätztes Instrument. Wer mit der Gitarre nicht zurechtkommt oder zu faul zum Üben ist, soll Bass spielen, das sagt man so. Aber das stimmt nicht. Ich schreibe ständig Songs mit schwierigen Basslinien, die sich hinter dem Geschrammel von Felix verstecken (das Gitarrentalent, das ich mir eigentlich für die Band wünsche, ist Felix nicht, aber er kann einigermaßen singen), und die Leute verstehen nicht, dass der Bass ihnen sofort in den Bauch geht und dort alles herumwirbelt, weil sie so melodiefixiert sind. Sie wollen was zum Mitsummen. Ich schreibe auch Melodien, einfache zum Mitsingen, die – so hoffe ich – ab und zu einen überraschenden Kick haben. Wir üben jetzt seit zwei Jahren zusammen und wir treten seit einem Jahr auf. Wir haben den Talentwettbewerb der Sparkasse gewonnen und in drei Monaten geht’s zu etwas Überregionalem, veranstaltet von Antenne 222. Und wir sparen, um eine CD aufzunehmen und endlich bekannt zu werden. Was nicht nur mein musikalisches Ego weiter voranbringen würde. Ich brauche einfach Geld. Ich lebe von dem, was Oma von ihrer Rente übrig hat (haha), von dem Geld, das meine Mutter mir schickt, und dem, was ich als sonntäglicher Spieler der Kirchenorgel im Gottesdienst verdiene. Achim hält mich für ein tragisches Genie oder so ähnlich. Jedenfalls greift er mir immer wieder unter die Arme.

Felix dagegen ist weit davon entfernt, ein tragisches Genie zu sein. Er sang sich gerade durch den Refrain von der neuen Nummer, und begriff einfach nicht, dass ich – um die Sache spannender zu machen und den Text zu unterstreichen – eine Synkope eingebaut hatte, aber egal, er umklammerte den Mikroständer, hauchte und säuselte die Töne hinein, und seine braunen, halblangen Haare – sie sahen weich aus wie von einem Mädchen – flogen hin und her.

Vane spielte ihre Basslines, Suder trommelte ein bisschen am Takt vorbei und ich saß an den Keyboards. Okay, es hörte sich noch nicht wirklich gut an, aber ich konnte mir vorstellen, wie es sich anhören würde, wenn wir’s wirklich draufhatten. Die Probe war fast zu Ende.

»Kommst du denn auch Samstagabend?«, fragt mich Suder. Es ging um eine Party in ihrer Schule. Felix verstaute schon seine Gitarre – ein echt tolles Stück – und Vane blickte mich mit ihren großen Augen an. Sie hat wunderschöne Augen, besonders seit sie den Pony so kurz geschnitten hat. Das betont die hohen dunklen Augenbrauen so schön.

»Vane und ich fahren auch hin. Wir können dich mitnehmen«, sagte Felix zu seinem Gitarrenkoffer.

Aha, die beiden sind schon wieder ›wir‹, dachte ich und kriegte Angst.

»Nee«, sagte ich.

»Ach, komm schon!«, sagte Vane, und meine Angst wurde ein bisschen kleiner.

»Nein, ich kann wirklich nicht«, log ich. »Die Oma will Samstag den Ausflug mitmachen, und ich hab ihr versprochen, mitzukommen.«

Wahrscheinlich ist eine Fahrt ins Blaue mit dem katholischen Seniorenklub nicht gerade das, was Brian Molko tun würde, um einen Samstagnachmittag rumzukriegen. Aber egal, es ging nach Köln, dort bin ich geboren, und Oma hatte sich gefreut, als ich sagte, ich würde mitfahren. Außerdem war es in jedem Fall besser, als zu beobachten, wie Vane und Felix sich auf einer Party näherkamen.

»Da kannst du doch abends trotzdem …«, meinte Vane.

Ich fand es blöd, dass sie mich so drängte. Musste sie denn unbedingt alles so kompliziert machen?

»Das ist mir zu viel!«, sagte ich lauter, als ich wollte.

Diese Andeutung reicht. Es gibt nämlich einen Grund dafür, dass ich immer der Loser bin, und der klingt spannender, als er ist. Ich höre einfach zu gut. Ein normaler Mensch hört etwa zwischen zwanzig und zwanzigtausend Hertz. Ich kann – und das sind jetzt Testergebnisse von einem der vielen Ärzte, bei denen ich war – wesentlich besser hören. Das liegt in meiner Familie, Lena hat auch ziemlich gute Ohren. Aber ich bin regelrecht damit geschlagen. Ich habe Anfälle von Seelentaubheit, das heißt, ich höre zwar alles, kann aber überhaupt nichts mehr einordnen. Hören ohne Filter. Mein Hirn nimmt das hintergründige Brummen der Schnellstraße – so nennen wir die L 288 – genauso ernst wie das Kaugummikauen von Vane oder das leise Klicken meiner Computertastatur. Ich kann nichts dagegen tun. Kein Arzt kann es. Ich muss einfach ein ganz ruhiges, möglichst geräuscharmes Leben führen. Mit neunzehn. Das ist doch Scheiße.

»Ich bin rausgeflogen. Ich kann da nicht wieder …«

»Aber die können dir doch nicht einfach kündigen.« Das war die Stimme meiner Oma, die sich ängstlich in die Höhe schraubte.

»Doch, können sie!«, erwiderte die Stimme meiner Tante Lena.

Ich hatte Lenas alten Ford Fiesta schon vor der Haustür gesehen, und mir war klar, dass sie irgendwelchen Ärger hatte. Sonst wäre sie an einem Mittwochabend gar nicht hierhergekommen.

Ich legte meine Notenmappe an der Garderobe ab.

»Und jetzt?«, fragte Oma.

»Keine Ahnung!«, sagte Lena. Sie war wütend, das konnte ich hören.

»Kannst du nicht noch mal mit dem Chef reden?«

Ein Löffel klimperte leise an Porzellan. Wahrscheinlich aß Lena jetzt einfach, um nicht antworten zu müssen. Aber ich hatte mich getäuscht.

»Mattes? Stehst du da im Flur und belauschst uns?«, rief sie.

»Überhaupt nicht! Ich zieh mir nur die Schuhe aus!«

Lena ist eigentlich meine Tante, aber sie ist nur fünf Jahre älter als ich. Meine Geburt war im Dorf ein ziemlicher Skandal. Meine Mutter war nämlich erst sechzehn, als sie mich bekam. Mein Vater ist unbekannt. Das hört sich jetzt geheimnisvoller an, als es ist. Ehrlich gesagt, ist mir mein Vater egal. Ich habe meine Mutter – ich nenne sie Andrea – nie nach ihm gefragt.

Inzwischen hat Andrea alles nachgeholt, was man eigentlich erledigen muss, wenn man erwachsen wird. Schulabschluss, Ausbildung und fester Job. Schöne Wohnung und feste Beziehung. Alles eben, was ich nicht mal ansatzweise gebacken kriege.

Lena und ich waren quasi zusammen aufgewachsen.

»Ich will gar nicht mehr zurück«, sagte Lena.

»Du bist arbeitslos?«, fragte ich.

»Genau.«

»Und jetzt?«, fragte ich.

»Ich hatte mir vorgestellt, dass ich mir hier was suche und meine Dissertation schreibe. Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich den Prof, der meine Masterarbeit betreut hat, als Doktorvater …«

Oma holte tief Luft.

»Aber was willst du denn hier machen?« Sie meinte, wovon Lena hier leben wollte.

Lenas Masterarbeit hatte an der Uni einen Preis gewonnen und man konnte sie im Internet kaufen. Was viele aus Auroth auch getan hatten, obwohl sie von den wissenschaftlichen Inhalten nichts verstanden, da war ich mir sicher. Aber sie waren die Probanden gewesen, deren Sprachmuster Lena untersucht hatte, in einer Panelstudie, die über sechs Jahre ging. Mit den Aufnahmen, der Datensammlung, hatte Lena bereits angefangen, als sie im ersten Semester war.

»Ich kann mich doch wieder bei REWE an die Kasse setzen, oder?« Lenas Stimme war klein und traurig, obwohl sie die ganze Zeit so tat, als würde alles in Ordnung kommen.

»Ach, Lena, so einfach wird das nicht …«, meinte Oma.

Ich wusste genau, was sie meinte. Lena hatte Abitur gemacht und war dann zum Studieren nach Freiburg gegangen. Sie hatte einen Abschluss in forensischer Linguistik und einen tollen Job in einem Institut in Koblenz. Aber jetzt wurde es allmählich Zeit für Lena, zu heiraten, sich irgendwo niederzulassen, ein Haus zu bauen und Kinder zu bekommen. Dass sie mit fünfundzwanzig noch mal jobbende Studentin würde, gefiel Oma gar nicht. Dabei hatte Oma immer gerne mit Lenas Job angegeben. Sie machte sprachliche Analysen und arbeitete oft mit der Kriminalpolizei zusammen. Und jetzt war sie also rausgeflogen.

Zwischen den beiden ging es noch ein bisschen hin und her. Oma machte sich Sorgen, aber Oma macht sich immer Sorgen, obwohl sie selten etwas sagt. Oma war ein stiller Mensch, wahrscheinlich tut es mir deswegen so gut, bei ihr zu sein. Sie trägt meistens dunkle Kleidung, jedenfalls seit Hermann, mein Opa, tot war, und sie kümmert sich um den großen Garten, den sie immer noch Opas Garten nennt.

Meine Oma und mein Opa, so etwas gibt es heute gar nicht mehr. Sie mussten sich gar nicht kennenlernen, denn sie kannten sich schon immer. Sie heirateten einander mit 21 und bekamen vier Kinder und waren glücklich. Und als sie dachten, sie hätten alle aus dem Gröbsten raus, hatte Opa den Unfall auf dem Walzwerk. Ihm fehlte danach ein Arm. Er hatte nur einen verwachsenen Stummel und eine schlecht sitzende Prothese, die er nie anzog. Stattdessen benutzte er einen Greifer, das war ein Holzstab mit zwei gebogenen Metallfingern an den Enden, die er meistens mit dem Mund bediente. Ich habe ihn mit diesem Greifer kennengelernt. Er griff damit immer auf den Wohnzimmerschrank hinauf und holte eine Tafel Schokolade herunter, die er mir dann schenkte. Er hat bis zum Schluss geraucht, meistens Selbstgedrehte, die er mit einer kleinen Drehmaschine herstellte. Er klemmte ein Zigarettenpapier in die Mulde, dann verteilte er konzentriert den Tabak und leckte über den Klebestreifen des Papiers. Mit einer Drehung des Daumens über die Maschine wurde daraus eine Zigarette. Auch noch als ihm durch die Chemo die Haare und jedes Gramm Fett, das er jemals auf den Rippen gehabt hatte, weggeputzt worden waren. Er ist gestorben, als ich sieben war.

Gar nichts war in Ordnung und später, als Oma im Bett lag, erzählte Lena mir alles. Wir haben so bestimmte Angewohnheiten, zum Beispiel sitzen wir beide gerne ohne Licht in meinem Zimmer. Das ist das Gute an Lena. Wenn man sich sowieso auf die Ohren verlässt, dann ist Licht meistens überflüssig, und Lena verlässt sich auch auf ihre Ohren.

Lena ist die Schönste unter ihren Geschwistern. Alles, was an ihnen zu lang oder zu kurz, zu eng stehend oder zu breit ist, ist an Lena genau richtig geworden: große grüne Augen, ein schöner voller Mund und eine starke, aber nicht übertrieben ausgeprägte Nase. Und eine Augenschwäche hat sie auch nicht. Stattdessen hat sie, anders als ihre Geschwister, die hellen Locken von meiner Oma geerbt. Die versucht sie zwar immer mit einem Glätter lang zu ziehen, aber spätestens mittags ringeln sie sich in einem dramatischen Haargebirge auf ihrem Kopf.

Ich konnte hören, dass es ihr schlecht ging, weil ihre Stimme ein bisschen matschig klang, so als hätte sie viel geweint. Und es hatte auch nicht nur mit dem Job zu tun.

»Und wie hieß er?«, fragte ich die glühende Zigarettenspitze, die nahe an Lenas Mund war.

Wir hörten eine alte CD von Lena, späte Neunziger, sehr Elektro, sehr langsam, mit einer schönen Frauenstimme.

»Egal. Er war sowieso verheiratet«, sagte Lena.

»Und deshalb hast du Schluss gemacht.«

»Überhaupt nicht. Ich wollte, dass er abends zu mir kommt, weil ich aus dem Institut rausgeworfen worden bin.« Sie seufzte wie eine alte Frau. »Mir ging es nicht so gut.«

Die nächste Nummer begann mit einem Intro, das sich wie ein verstelltes Radio anhörte. Wir lauschten kurz.

»Und ihm war das alles zu viel. Er wollte eine Freundin, die keine Probleme hat.«

»Hm.«

Ich konnte mir nicht vorstellen, dass Vane Probleme hatte. Was würde ich tun, wenn sie von mir verlangen würde, dass ich ein Problem von ihr lösen sollte? Würde ich das können? Würde sie mich dann mögen, oder zumindest erlauben, dass ich ihre Hand hielt? Oder würde diese Verliebtheit dann plötzlich aufhören? Manchmal wünschte ich mir genau das. Ich wachte morgens auf und diese Sehnsucht nach Vane war weg.

»Und warum hast du keinen Job mehr?«

Lena stand auf und stoppte die CD.

»Ich kann diese Triphop-Scheiße nicht mehr hören. Hast du was anderes?«

Wir standen nebeneinander im Dunkeln und unsere Hände wurden nur von den kleinen Lichtern der Anlage beleuchtet. Lena benutzte ein neues Parfum. Sie roch irgendwie erwachsener. Ich wusste, dass die neue Placebo ganz oben lag.

»Hör dir das mal an. Ich sage nur: Gitarren, echte Gitarren.«

Lena setzte sich wieder.

»Es war die erste Arbeit, die mir echt gefallen hat. Zum Beispiel der Tennislehrer«, erzählte sie weiter. »Es war früher Abend und eigentlich packte ich gerade meine Sachen zusammen. Zwei Bullen kamen vorbei und brachten einen Mitschnitt. Normalerweise hätte mein Chef die Aufnahme auf den Rechner gespielt, und wir hätten stundenlang auf die Kurven gestarrt und wären nicht richtig weitergekommen.«

Sie machte eine Pause, so als würde sie auf Brian Molkos Stimme warten.

»Und was war dann?«, fragte ich.

»Ich hörte die Aufnahme«, erzählte sie weiter. »Und ich hatte sofort den entscheidenden Hinweis: ›Das ist kein Hesse! Der macht das nur nach‹, habe ich gesagt. Die beiden Bullen – anscheinend war es wirklich dringend, denn normalerweise wird uns das Auswertungsmaterial zugeschickt – haben mich nur mit großen Augen angestarrt.«

»Wow!«, machte ich, damit sie weitererzählte.

»Hören Sie sich diese Palatale an. Ich würde tippen, dass er aus Österreich kommt, habe ich zu ihnen gesagt.«

»Was sind Palatale?«, fragte ich.

»Das haben die Bullen auch gefragt.«

»Und?« Ich machte Brian ein bisschen leiser.

»Na, wie er das ›sch‹ aussprach. Das machte er zu weit hinten im Mund. Und mein Chef grinste.«

Lena machte eine kleine Pause. Wir standen immer noch vor der Anlage. Ich drückte die Aus-Taste.

»Erzähl weiter«, sagte ich.

»Und weiter habe ich gesagt, dass er normalerweise ziemlich viel herumschreit. Seine Stimmbänder waren ziemlich angegriffen.« Sie knipste das kleine Lämpchen über der Anlage an. »Was hast du sonst noch für Musik?«

Ich musste sie anschauen, weil sie sich anhörte, als würde sie heulen.

»Sie haben ihn tatsächlich geschnappt. Es war der Tennislehrer von dem Jungen. Hat gedacht, er käme so an das ganz große Geld.« Eine Träne glitzerte in ihren Wimpern.

»Willst du mal die neuen Stücke von der Band hören?«, fragte ich sie.

»Klar.«

Sie setzte sich auf mein ungemachtes Bett und hörte sich an, wie Felix, Suder und Vane loslegten.

»Die Arbeit im Institut war mehr als ein Job«, erzählte sie, während Vane den Basslauf von Circle Train spielte. »Während des Studiums habe ich nie geglaubt, dass es überhaupt einen Job für mich gäbe. Linguisten werden nicht gerade gesucht, weißt du. Und dann  ich war gut, richtig gut. Ich hörte die Stimmen vor- und rückwärts über die Lautsprecher, bis ich mir sicher war, und dann habe ich die Expertisen geschrieben. Und die führten mehr als einmal auf die richtige Spur.«

Wir hörten weiter der Band zu und, ehrlich gesagt, wir waren ziemlich schlecht.

»Es war plötzlich alles so  sinnvoll«, setzte Lena leise hinzu.

Ich nickte, obwohl sie das im Dunkeln nicht sehen konnte. Dann hörten wir weiter der Band zu. Suder und Vane spielten überhaupt nicht zusammen, und Felix schrammelte nicht nur neben dem Takt, sondern auch falsche Noten.

»Sind das immer noch Songs für die Bassistin?«

»Nicht alle.«

»Sind schön, echt.«

»Aber wenn du so gut warst, wieso bist du dann geflogen?«

»Wegen diesem Kommissar. Krämer, der wollte die Computeranalysen sehen.«

Die CD war zu Ende, aber ich blieb neben Lena sitzen.

»Ich hab sofort zugegeben, fast nie Analysen mit dem Programm am Rechner zu machen, und ehrlich gesagt, ich war auch noch stolz darauf, bis mir klar wurde, dass es um meine Entlassung ging.« Sie schniefte und schnüffelte, bis ich ihr ein Taschentuch gab. Ich meinte zu hören, dass sie mir etwas verschwieg.

»Und dieses Arschloch Krämer hat richtig Druck gemacht. Sogar noch, als ich meine Sachen holte, war mir nicht klar, dass ich arbeitslos war. Ich fuhr mit der Straßenbahn nach Hause, lauschte auf die Stimmen der beiden Jungen vor mir, aus reiner Gewohnheit, und machte mir dabei immer noch etwas vor.«

»Willst du noch Musik hören?«, fragte ich.

»Working Class Heroes«, summte sie durch ihre verrotzte Nase. »Das ist was Altes. Von den Rolling Stones. Hast du das?«

»Nur auf Platte. Müsste ich erst mal suchen.«

»Ist nicht so wichtig.« Sie schnäuzte sich noch mal. »Ich geh ins Bett.«

Sie blieb sitzen.

»In dem Song gibt es eine Zeile, an die ich oft denke.« Sie putzte sich die Nase. »We’re still fucking peasants. Verstehst du das? Obwohl wir echt keine Helden sind.«

Ich nickte.

Nachdem Lena in ihrem alten Kinderzimmer verschwunden war, nahm ich mein Wörterbuch und sah nach. Peasants bedeutete ›Bauern‹. Na und?

2

Von Achim habe ich mehr über Musik gelernt als von jedem anderen. Diesen ganzen Bach-Mozart-Kram, von dem ich sonst keine Ahnung hätte. Notenlesen und so. Wer also eine Modulation von h-Moll nach A-Dur will oder Schwierigkeiten mit dem Quintenzirkel hat, kann sich an mich wenden. Und nur weil Achim es mir beigebracht hat, kann ich ein bisschen Klavier spielen. Also nicht gerade wie Lang Lang, aber schon so, dass ich weiß, was ich da tue.

Und auch über Jazz weiß Achim viel. Wir hören uns oft abends CDs an, die er gekauft hat, und dann steht er neben seiner Anlage und macht mich auf etwas aufmerksam, sieht dabei aus wie sonntags in der Kirche, wenn er mal wieder zu lange predigt. Dabei will ich doch nur der Musik zuhören. Aber das versteht er nicht so ganz.

Jedenfalls machte es mir nichts aus, dass ich am Samstag früh raus musste und schon um acht mit Lena – die nicht alleine zu Hause bleiben wollte – und Oma im Bus saß, um mit dem Seniorenklub wegzufahren. (Brian Molko ist schließlich auch streng christlich aufgewachsen und schreibt jetzt richtig coole Songs mit Texten über Sex und so.)

Achim wäre ohne diese Sache, weswegen er damals versetzt worden ist, niemals in einem Dorf wie Auroth gelandet. Dazu mochte er solche kulturellen Dinge wie Konzerte viel zu gern oder zumindest große Multimedia-Märkte, und das gab es hier nicht mal in der näheren Umgebung. Worum es damals genau ging, erzählte er nicht, und das war wohl auch seine Sache. Bestimmt hätte er in der Kirche auch richtig Karriere machen können, aber er war wohl wirklich zufrieden mit seinen drei Pfarreien, seinen Kommunionkindern und seinem Pfarrgemeinderat.

Jetzt blickte er nach hinten in den Bus, über den Kopf von Jakob Bähner hinweg, zu uns.

»Guten Morgen«, sagte er und grinste. Achim drängelte sich an Jakob vorbei, um uns zu begrüßen.

»Das ist Lena, meine Tante.«

Sie gaben sich die Hand.

»Ich habe viel von dir gehört«, sagte Achim.

»Ich hoffe, ich kann mitfahren.« Sie griff in ihre Jeanstasche und gab ihm zehn Euro. »Sonst hänge ich den ganzen Tag nur zu Hause rum.«

»Kein Thema«, meinte Achim. »Ich gebe das Geld Frau Schneider.« Das war Irmgard, die sich meistens um die Finanzen kümmerte.

Er ging wieder nach vorne.

Bruno, der Busfahrer, reichte ihm das Mikrofon. Achim räusperte sich.

»Ja, guten Morgen, noch mal!« Achim faltete seinen Zettel auf und las ab. »Und willkommen zur Fahrt ins Blaue. Wir werden heute in die schöne Stadt Köln fahren und uns den Dom und Groß Sankt Martin ansehen. Dann essen wir in einem gutbürgerlichen Restaurant – ich habe dort reserviert – zu Mittag und fahren dann nachmittags zum Kloster Mariae Gnaden, wo wir einen Gottesdienst halten, bevor es heimwärts geht. Um fünf Uhr am Nachmittag, so hoffe ich, werden wir alle wohlbehalten wieder in Auroth sein.«

Er machte eine kleine Pause. »Gut, ich hoffe, es sind alle an Bord. Dann wollen wir gemeinsam das Morgengebet sprechen.«

Achim steckte das Mikro wieder in die Halterung, faltete die Hände und begann das »Vaterunser« zu sprechen. Die Alten fielen ein. Auch Oma betete mit.

Lena steckte sich einen Stecker ihres MP3-Players ins Ohr und zog ihren Schal hoch.

Der Bus fuhr durch die Dunkelheit, die großen Scheibenwischer putzten die Scheiben vor ihm blank. Es nieselte.

Achim griff nochmals zum Mikro. »Und nun wollen wir etwas singen.« Er räusperte sich wieder. Dann intonierte er: »Wie schön leuchtet der Morgenstern …«

Vielleicht nicht ganz das Lied, das zu einem verregneten Oktobermorgen passte, aber es stand auf seiner privaten Chartliste ganz weit oben und ich musste es oft in der Messe spielen.

Renate und Oma schwangen ihre Soprane gegen die obere Plastikverkleidung, als gebe es kein Morgen.

Renate ist unsere Nachbarin und die beste Freundin von Oma. Die beiden hängen ständig zusammen, wenn Renate nicht gerade in ihrem Büro in der Verbandsgemeinde sitzt, wo sie eine Halbtagsstelle hat.

Vor ihnen saßen Jakob Bähner und seine Frau Maria. Jakob war früher lange Ortsbürgermeister gewesen und wahrscheinlich der, der im Dorf das meiste Geld hatte. Sie wohnten uns schräg gegenüber und machten irgendwie immer alles richtig. Ihr altes Bauernhaus hatte freigelegtes Fachwerk, die Sprossen der Fenster waren glänzend dunkelgrün lackiert und die Wetterseite war mit neuem Naturschiefer beschlagen. Sogar die Blumen im Vorgarten sahen besser aus als bei Oma und mir. Während unter unserem Essigbaum das Gras vermooste, legte Jakob Rollrasen – spezielle Schattenmischung – unter seinen Koniferen aus, während im Sommer unsere Dahlien die Knospen verloren, schnitt Maria aus ihren bunte Pompons für ihre Vase. Ich weiß nicht, wie sie das machten. Aber wenn ich bei ihnen ein Ei lieh und in der blitzblanken modernen Küche herumstand, hatte ich immer das Gefühl, mit Oma in einem ständigen Provisorium zu leben.

Jakob brummte jetzt eine Oktave tiefer mit. Seine Frau Maria traf zwar die Töne, hatte aber keine besonders schöne Stimme. Sogar wenn sie sangen, waren sie richtig, ohne auffällig zu sein.

Die alte verrückte Oma Burkhart und ihr Sohn Herbert in der Reihe vor den Bähners machten den Mund auf, und man kann über Oma Burkhart sagen, was man will – unter anderem, dass sie eine alte Hexe ist –, aber singen kann sie. Sie kennt jede Melodie und hält sich genau daran. Ihr Herbert kann dagegen den Takt und die Melodie nicht halten, ein Beweis dafür, dass sich Musikalität nicht unbedingt vererbt.

Achim brummte unterstützend ins Mikro und zwang die Leute so in die zweite Strophe.

Elli und Martha auf dem Zweier-Sitz rechts neben den Bähners summten zögerlich mit. Die beiden putzten seit – ich weiß nicht, wahrscheinlich seit der Eiszeit – unsere Kirche und kümmerten sich um alles, was sie nichts anging.

Sie sind Nachbarinnen, tragen beide praktische Kurzhaarschnitte und Kittelschürzen und verbringen ihr Leben hinter ihren Küchengardinen, den Blick auf die Dorfstraße gerichtet, um nur ja alles mitzukriegen, was dort passiert. Sie kennen jedes Auto im Dorf und erkundigen sich ungeniert bei Oma, wenn Lena mit einem neuen Auto nach Hause gebracht wird oder mit einem Mann von auswärts durchs Dorf geht.

Sie haben sich auch schon beschwert, dass ich den Keller vom Pfarrhaus als Probenraum benutzen durfte. Achim hatte es ihnen wahrscheinlich als gutes Werk verkauft und sie hatten sich damit abgefunden. An denen konnte Achim jedenfalls wirklich üben, seine Nächsten zu lieben.

Vor Elli und Martha saß Irmgard allein. Sie kümmert sich immer darum, dass das Geld eingesammelt wird, und nimmt es furchtbar genau mit allem. Wenn Elli – die im Dorf als so geizig gilt, dass man Witze darüber macht – mit irgendeiner Begründung nicht zahlen will, blickt sie so lange streng über ihre rechteckige Brille, bis Elli endlich in ihrem Portmonee kramt und doch noch zehn Euro findet.

Sie will auch nicht, dass wir im Keller vom Pfarrhaus proben. Wobei sie stets »kostenlos proben« sagt, sodass Achim klar wird, dass sie durchaus gegen eine kleine Miete ihre Meinung ändern würde.

Lena und ich saßen natürlich in der letzten Bank. Von dort aus konnte ich ziemlich gut sehen, dass der Busfahrer Bruno immer wieder in den Rückspiegel sah, um uns zu beobachten, gesungen wurde jetzt nicht mehr so laut, weil nur noch Oma Burkhart und Achim den Text kannten und sangen.

Wenn wir an einem ungepflegten Grundstück vorbeikamen, sagte Martha laut so etwas wie: »Der sollte auch mal seine Hecke schneiden. Wie sieht das denn aus?« Wenn jemand sein altes Auto oder sonst irgendetwas vor dem Haus stehen hatte: »Sieh dir dieses Gerümpel an! Kann man das nicht wegräumen?«, und Elli und Martha schüttelten dazu missbilligend ihre Köpfe.

Bruno hatte ein unrasiertes teigiges Gesicht und roch immer ein bisschen nach Alkohol und Schweiß. Jeder wusste, dass er trank, obwohl er ja Bus fahren musste. Und dass er ständig seine Frau betrog. Ich verstand nicht so ganz, wie er das anstellte, mit seinem Geruch.

Vielleicht standen die Frauen, die er abschleppte, auf Gewalt, denn Bruno war ein über die Dörfer hinaus bekannter Kirmesschläger. Aber eigentlich war er eine dieser tragischen Gestalten im Dorf, ein Loser, so wie ich. Mir war sein Erfolg bei Frauen unbegreiflich, ich bekam das oft genug mit, wenn wir in irgendeinem Kirmeszelt spielten. Er schleppte meistens die Hübschesten ab, und dass, obwohl er selbst aussah wie ein ungebackener Hefekloß.

Vielleicht wäre das eine Idee für einen Songtext, brutalo man oder so. Aber Vane würde bestimmt etwas dagegen haben und das nicht spielen wollen. Ich schob mir den MP3-Player ins Ohr und schloss die Augen, um ein bisschen zu dösen.

Ich habe die ersten Jahre bei meiner Mutter in Köln gewohnt, bis die Seelentaubheit öfter kam und ich zu meiner Oma aufs Dorf gezogen bin. Ich mag Köln und wenn ich noch hier wohnen würde und hier eine Band hätte, müsste ich wahrscheinlich nicht freitags abends im Jugendheim vom Nachbardorf spielen, sondern würde in richtigen Clubs auftreten. Ich würde vielleicht einen berühmten Produzenten kennenlernen, der mich entdeckt, und vielleicht würde ich sogar einen Haufen Geld verdienen. Aber Vane zum Beispiel hätte ich dann nie kennengelernt, und Achim hätte mir nie den ganzen klassischen Kram erklärt, deshalb weiß ich, dass das Dorfleben irgendwie gut für mich ist.

»Ich will noch was erledigen«, sagte ich, sobald wir aus dem Bus ausgestiegen waren.

»Andrea hat heute aber Dienst«, meinte Oma.

»Ich weiß, ich will woandershin.«

»Ich komm mit«, sagte Lena sofort.

»Geh mit Oma, bitte«, sagte ich.

»Ach, komm, ich will lieber mit dir in die Stadt.«

»Ich muss das allein machen«, sagte ich, und Lena zuckte beleidigt die Schultern.

Ich nahm vom Hauptbahnhof aus die S-Bahn nach Deutz. Alles sollte so sein wie bei meinem letzten Anfall, kurz bevor ich in die Klinik kam und dann ins Dorf.

Von den S-Bahngleisen aus führt eine ewig lange Unterführung bis zur U-Bahn. Sie ist gelb, orange und braun gekachelt und diese Kacheln waren das Letzte, was ich damals gesehen habe, bevor ich, von Medikamenten ruhiggestellt, im Landeskrankenhaus wieder aufwachte. Komischerweise hatte ich vor allem Angst, die Kacheln wiederzusehen, um die Geräusche machte ich mir weniger Gedanken.

Es war aber jetzt ganz anders als damals, als so viele Füße in der Unterführung unterschiedliche Takte angeschlagen hatten und meine Ohren den synkopischen Rhythmus nicht mehr aushalten konnten. Ich hatte Stress in der Schule gehabt, nichts Besonderes, aber es sah so aus, als wollten sie mich auf eine Sonderschule schicken, weil ich mir im Unterricht oft die Ohren zuhielt. Ich war ja noch ein Kind, zehn oder elf, und es war immer so laut in der Klasse. Und ich mochte den Klassenlehrer nicht, der falsch auf seiner Gitarre spielte und uns zwang, dazu ganz falsch zu singen und neben den Takt auf die Orff-Instrumente zu schlagen. Ich konnte damals ja nicht erklären, was mich genau an diesem Krach so aufregte. Ich wusste nur immer, wie es sich richtig anhören musste, und alles dort klang falsch. Wir machten Projektunterricht ohne Ende, und sogar das kleine Einmaleins mussten wir singend und auf Klanghölzer einprügelnd lernen.

Und ich muss wohl auch die beiden Jungs mit den Triangeln geschlagen haben. Dem dicken Mädchen an den Bongos habe ich jedenfalls in den Hintern getreten, und nach der obligatorischen Standpauke vom Klassenlehrer und Telefonaten mit der Station von meiner Mutter – sie arbeitete als Krankenschwester – durfte ich die Schule verlassen. Wir wohnten in Köln-Kalk und ich musste am Deutzer Bahnhof in die Linie 1 umsteigen. Da ist es dann passiert. Es war plötzlich zu laut dort. In meinen Ohren mischten sich die ein- und ausfahrenden Züge des Deutzer Bahnhofs über mir mit den Schritten der Menschen in der Unterführung, mit klackenden Absätzen, quietschenden Kreppsohlen und schlurfendem Leder, mit Stimmen, die aus ihren Mündern kamen, laut, schrill, kichernd, eindringlich leise oder bestimmend wie ein Hieb, mit dem Klingeln der Straßenbahnen und den Autos, die schräg über mir fuhren und deren Geräusche durch den hundert Meter entfernten Ausgang der Unterführung kamen wie durch einen großen Trichter. Ich versuchte mich auf das Geräusch zu konzentrieren, das beim Einlegen der Gänge der Autos an der Ampel über mir verursacht wurde, es aus dem ganzen Krach herauszufiltern, so wie man am Horizont einen Punkt fixiert, auf den man zuhalten kann, doch es ging nicht. Es war, als wären plötzlich alle Geräusche und noch viele mehr, die ich nicht identifizieren konnte, in meinem Kopf. In meinem Kopf landete ein Düsenjet. Ohne Landebahn. Er versank im klanglichen Morast und seine Laufwerke drehten sich im Schlamm weiter. Das war alles, woran ich mich erinnern konnte.

Jetzt ging ich ganz normal an den Kacheln vorbei, am Kiosk auf der rechten Seite und dann kamen auch schon die Rolltreppen zu den U-Bahnen. Ich streckte die Hand aus und berührte eine der Kacheln, doch dann dachte ich, dass das bescheuert aussähe, und steckte die Hände in die Tasche. Ich fuhr nach oben, sah mir die Kreuzung an, auf der damals der Rettungswagen gehalten haben musste. Es nieselte immer noch. Die Alten gingen wahrscheinlich gerade zu Groß Sankt Martin. Ich könnte bequem mit ihnen zu Mittag essen und dann nach Hause fahren.

Jakob, unser Altbürgermeister, stand zwischen ihnen wie ein Bulle zwischen seinen Rindern und reckte seinen Schirm über alle anderen Schirme. Er hörte dem Pastor aufmerksam zu, der irgendetwas über die Bebauung des Martinsviertels erklärte – außer ihm hörte nur Lena zu, glaube ich –, und stellte dann eine Frage, damit Achim weiterredete. Die anderen sahen so aus, als wollten sie nur schnell zum Mittagessen. Das Essen ist bei diesen Seniorenfahrten immer der heimliche Höhepunkt, wahrscheinlich, weil die Frauen dann endlich mal nicht kochen müssen.

»Und, alles erledigt?«, fragte Lena mich.

Ich nickte.

Achim brachte uns in eine Gastwirtschaft in einer kleinen Gasse. Drinnen war es muffig und genau so, wie man sich eine Wirtschaft vorstellt, in der Seniorenklubs auf Kaffeefahrt ihre Mittagspause machen: dunkelbraunes Holz, Plastikblümchen auf karierten Tischdecken, ein Tresen und zum Glück ein abgetrennter Speiseraum für Gesellschaften.

Achim sprach die Kellnerin – eine fröhliche Frau in den Vierzigern – an und tatsächlich war der hintere Raum für uns reserviert. Die Bedienung war schnell, die Auswahl bürgerlich – also würde ich ein Jägerschnitzel nehmen und Lena würde alle mit ihrem Vegetariertick nerven – und Jakob verlangte nach Pils und einem Klaren, noch bevor die Kellnerin den Block gezückt hatte. Herbert schloss sich ihm an. Seine alte Mutter protestierte. Bruno, Achim und ich saßen nebeneinander und nahmen jeder eine Cola, worauf Jakob den Mund verzog.

Bei den Frauen war es anders. Kaum hatte sich Renate weiter unten am Tisch ein Kölsch bestellt, trauten sich auch die anderen und ich ärgerte mich über meine Cola, wollte aber auch nicht mehr umbestellen.

Elli, die zwei Plätze neben Achim saß, druckste ein bisschen herum, aber ihm war schon klar, was sie von ihm wollte. Sie hatte – wie immer – ihre Handtasche im Bus vergessen und selbstverständlich lud er sie ein. Er kannte das schon.

Dann lächelte er Oma Burkhart, die ihm gegenübersaß, freundlich zu. Sie verschob ihr Gebiss.

»Man sollte ja meinen, dass einige mehr Anstand haben!«, sagte sie missbilligend und blickte zu Renate, die gerade ihr Kölschglas leerte.

Achim seufzte in sich hinein. War aber auch nicht leicht, der alten Hexe gegenüberzusitzen.

»Mama, lass doch!«, sagte Herbert leise.

»Das arme Malchen«, antwortete Elli laut und nickte Oma Burkhart zu.

Achim griff nach seinem Colaglas. Sie sprachen von Renates alter Mutter Amalia Sanner, die letzte Woche beerdigt worden war.

Ich hatte die Orgel gespielt und Renate hatte dafür fünfzig Euro springen lassen. Das hätte sie nicht tun müssen, schließlich wohnten wir auf der anderen Straßenseite, und eigentlich hätte ich mit den anderen Nachbarn den Sarg tragen müssen. So lief das nun mal auf dem Dorf. Ihr Mann Peter war abends mit dem Gesangbuch zu uns herübergekommen und hatte gefragt, was ich davon spielen könnte.

Ich spiele alles, hatte ich gesagt. Ich war echt erleichtert gewesen, dass ich nicht an den Sarg musste.

»Ich denke, man kann diesen Tag durchaus als Wallfahrt verstehen«, sagte Achim.

»Das arme Malchen«, wiederholte Oma Burkhart, so als hätte er nichts gesagt.

»Nichts ist so schlimm, wie ein Kind zu verlieren«, antwortete Elli. Aber in Wirklichkeit war ihr anzusehen, dass sie – nun, da ihr Essen bezahlt wurde – Lust auf ein bisschen Klatsch hatte.

Achim verstand nicht, was sie meinten, das sah man ihm an, und er wollte wohl nicht fragen, weil sie es ihm sowieso nicht erklärt hätten.

Sie erzählten sich inzwischen von ihren eigenen Kindern. Die Enkelin von Maria war verheiratet mit einem Betriebsleiter im Schwäbischen.

»Aber so ein großes Haus, das macht ja wirklich Arbeit«, klagte sie.

»Mein Herbert wird im Mai … Herbert, wie heißt das noch?«

»Hauptabteilungsleiter«, sagte Herbert mürrisch. Er schnitt seine Schweinelende und sah dabei konzentriert auf seinen Teller.

Hoffentlich ende ich nicht so wie Herbert, dachte ich plötzlich ängstlich, und fahre mit Oma noch mit über vierzig auf Kaffeefahrt. Wahrscheinlich fährt Herbert nur mit, um auf seine Mutter aufzupassen, denn Oma Burkhart legt sich gerne mit anderen an und muss gebremst werden. Er ist ledig, spindeldürr und Hauptabteilungsleiter der Krankenkasse. Verrückt nach Sport – er nimmt regelmäßig an Marathonläufen teil – und verrückt nach seinem Hund, einem alten sabbernden Mischling. Wohnt bei seiner alten Mutter und hat keinerlei Freunde im Dorf, mit denen er abends mal weggehen konnte. Obwohl, wenigstens hatte er eine Arbeit. Danach sah es bei mir ja nicht aus.

»Du hast ja eine Mutter, die dir das Haus sauber hält«, sagte Irmgard zu ihm. Er blickte nicht mal auf.

»Und du?«, fragte sie plötzlich mich. »Was macht die Musik?«

»Gut.«

»Er wird noch mal ein großer Star und ihr werdet ihn alle im Fernsehen sehen«, sagte Lena und schob sich mit der Hand eine lange Pommes in den Mund.

Mein Schnitzel kam – es war riesig und die Panade wellte sich knusprig nach oben und ich säbelte dankbar daran herum.

»Noch ’n Bier, bitte!«, hörte ich Jakobs Stimme.

Herbert zeigte ebenfalls auf.

»Wir sind ja nicht zum Spaß hier!«, rief Jakob der Bedienung zu. »Bringen Sie dem Pastor auch eins auf mich, damit der mal lacht.« Achim winkte ab, aber Jakob zwang die Bedienung mit einem Nicken, den Strich auf dem Block zu machen.

»Und dem Busfahrer! Schad’ doch nix!«