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Karte Avantia
Titelseite

 

 

 

 

 

Mit besonderem Dank an
Cherith Baldry
 
Für Miroslav Torak,
mit den besten Wünschen

Sei gegrüßt, Gefährte!

Zwar sind wir uns noch nicht begegnet, doch wie du habe auch ich Toms Abenteuer aufmerksam mitverfolgt. Weißt du, wer ich bin? Hast du schon einmal von Taladon dem Flinken gehört, dem Herrn der Biester? Ich bin zurückgekehrt – gerade rechtzeitig, damit mein Sohn Tom mich vor einem Schicksal bewahren kann, das noch schlimmer ist als der Tod. Denn der böse Magier Malvel hat mir etwas Wertvolles gestohlen. Und solange Tom seine nächste Aufgabe nicht erfüllt hat, kann ich nicht wieder vollständig ins Leben zurückkehren. Bis dahin bin ich weder Geist noch Mensch und muss zwischen den Welten wandeln und abwarten. Ich bin nur zum Teil der Mann, der ich einst war. Tom allein kann mir meine frühere Stärke wiedergeben.

Wird Tom den Mut aufbringen, um seinem Vater zu helfen? Die Aufgabe, die ihm bevorsteht, bringt selbst den hartgesottensten Helden an seine Grenzen. Außerdem könnte es meinen Sohn teuer zu stehen kommen, sechs weitere Biester zu besiegen …

Mir bleibt nur die Hoffnung – darauf, dass Tom Erfolg hat und ich eines Tages wieder ganz bei Kräften sein werde. Willst du Tom bei seinem Kampf unterstützen? Ich weiß, dass ich mich auf meinen Sohn verlassen kann – kann ich auch auf dich zählen? Wir dürfen keinen Augenblick zögern! Von diesem neuen Abenteuer hängt so vieles ab.

Wir alle müssen tapfer sein!

Taladon

Die Stimme des Todes

Der Bauer Gretlin stand am Rand seines Weizenfelds. Vor zwei Tagen reichte ihm der Weizen noch bis zur Hüfte und glänzte wie Gold in der Sonne. Jetzt war er gräulich, beinahe schwarz, und verbreitete einen muffigen Schimmelgeruch.

„Das ist noch schlimmer als damals, als das ganze Getreide verbrannt ist“, murmelte Gretlin. „Wird Errinel schon wieder bedroht?“

Der Bauer ging in sein Weizenfeld und bahnte sich einen Weg durch die sterbenden Halme. Verzweifelt suchte er nach Ähren, die die böse Fäulnis noch nicht verdorben hatte. Auf der anderen Seite des Felds war der Weizen noch goldgelb, doch der Großteil der Ernte war zerstört.

Grell fiel die Morgensonne vom Himmel und plötzlich konnte Gretlin nichts mehr sehen. Irgendetwas auf dem Boden reflektierte die Sonnenstrahlen und blendete ihn. Als der Bauer sich schützend die Hand über die Augen hielt, sah er auch, was es war: ein kleines, seltsames Ding aus Metall, das zur Hälfte in der Erde steckte.

Als er sich bückte, um es aufzuheben, fing das Getreide an zu rascheln. Und das, obwohl kein Lüftchen wehte. Die Halme bogen sich und schlugen nach dem Bauern wie ein Dutzend Arme, die ihn zurückhalten wollten.

Verwirrt wich Gretlin von dem Metallstück zurück. Rings um ihn peitschte und zischte der Weizen. „Er ist lebendig!“, flüsterte der Bauer und drehte sich um, um zu fliehen.

Er drängte sich durch die sich windenden Halme, bis er den Rand seines Felds erreicht hatte. Doch da ertönte plötzlich eine hohe Stimme. Wie angewurzelt blieb er stehen und presste sich die Hände gegen den Kopf. Auf einmal brannten seine Ohren wie Feuer!

Woher kam diese Stimme? Als Gretlin sich suchend umschaute, erblickte er eine Frau. Sie stand am gegenüberliegenden Ende des Getreidefelds, wo der Weizen noch gesund und hoch war. Sie war schlank und hatte langes goldblondes Haar. Ihre Kleider waren aus blutroter Seide. Während sie auf den Bauern zuschritt, flatterten ihre Gewänder im Wind. Sie streute glitzernden Staub über den Weizen. Und sobald dieser die Pflanzen berührte, schrumpelten die Ähren in sich zusammen und wurden grau. Auf dem Boden rings um die Füße der Frau lagen die reglosen Körper von vielen anderen Dorfbewohnern, die gekommen waren, um bei der Ernte zu helfen.

„He!“, rief Gretlin. „Hör gefälligst damit auf!“ Wütend rannte er auf die Frau zu und wedelte hektisch mit den Armen. „Scher dich weg von meinem Weizen! Was ist mit den ganzen Leuten los?“

Die Frau glitt auf ihn zu, ihre nackten Füße berührten kaum den Boden. Sie streckte die Hand aus und darin lag ein komisches Ding aus Silber mit blauen Verzierungen. Es sah aus wie der Gegenstand, den Gretlin vorhin in der Erde gesehen hatte.

Der Bauer bemerkte, dass es nur ein Bruchstück war, das zu etwas viel Größerem gehörte. An einer Seite hatte es kleine Kerben. Ihm blieb vor Schreck der Mund offen stehen, als ihm klar wurde, dass diese Metallscherbe gar nicht in der Hand der Frau lag. Sie schwebte ein winziges Stück darüber!

„Wer bist du?“, fragte Gretlin unsicher. Diese Frau konnte auf keinen Fall ein Mensch sein!

„Ich heiße Necro.“ Auf einmal klang die Stimme der Frau sanft und wunderschön. Doch während sie sprach, verdunkelte sich der helle Morgenhimmel und nahm ein bedrohliches Lila an. Dicke Wolken schoben sich vor die Sonne und allmählich wich das Lila düsterem Schwarz.

„Was geht hier vor?“ Gretlin hielt den Atem an.

Die Luft wurde von Donnergrollen erschüttert. Vor den angstgeweiteten Augen des Bauern fing die Frau an, sich zu verwandeln: Ihre Arme spalteten sich und wurden zu wild peitschenden Tentakeln. Ihre Augen teilten sich und es bildete sich ein ganzer Haufen glitzernder Glupschaugen. Die blutroten Kleider der Frau lösten sich auf und ihr Körper sackte wabbelnd in sich zusammen. Die Gestalt sonderte grünen Schleim ab, der zu Boden tropfte. Ein grässlicher Gestank breitete sich urplötzlich aus, sodass Gretlin kaum noch Luft bekam.

„Mein Name ist Necro“, wiederholte das Monster. Seine Stimme klang immer noch glockenhell, doch sie drang in Gretlins Ohren wie Messerstiche. Er schrie vor Angst, presste sich die Hände auf die Ohren und verlor die Besinnung.

Auf einmal griff eine wilde Masse von Tentakeln nach dem regungslosen Bauern …

Taladons Rückkehr

„Einhunderteinundfünfzig! Einhundertzweiundfünfzig!“, hallte die Stimme von Kommandant Harkman über den Übungsplatz.

Ächzend stemmte sich Tom vom Boden hoch. Gerade dachte er darüber nach, ob er wohl zuerst vor Langeweile sterben oder vor Hitze zerfließen würde.

Er erinnerte sich, wie er vor ein paar Wochen aus Gorgonia heimgekommen war – ganz frisch von der letzten Mission. Zum dritten Mal war es ihm gelungen, den bösen Magier Malvel zu besiegen.

„Avantia steht tief in deiner Schuld“, hatte König Hugo gesagt. „Tom, wenn dir irgendein Posten an meinem Hof gefällt, dann sag es mir und er gehört dir!“

„Danke, Eure Majestät“, hatte Tom geantwortet. „Ich wäre gern Soldat in Eurer Armee.“

Er hatte doch tatsächlich geglaubt, dass das Spaß machen würde und er Avantia so auch in Zukunft am besten helfen könnte.

„Mann, lag ich daneben!“, seufzte er. Was sollte es bringen, wenn er den ganzen Tag lang Liegestütze machte? Immerhin verfügte er über Kräfte, von denen Kommandant Harkman nur träumen konnte!

„Das war ein Fehler“, murmelte er vor sich hin, während er sich weiter auf und ab stemmte. „Wenn es doch nur was Besseres zu tun gäbe. Vielleicht eine neue Mission …“