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Karte Avantia
Titelseite

 

 

 

 

 

Mit besonderem Dank
an Brandon Robshaw
 
Für Elom Baka

Sei gegrüßt, Gefährte!

Zwar sind wir uns noch nicht begegnet, doch wie du habe auch ich Toms Abenteuer aufmerksam mitverfolgt. Weißt du, wer ich bin? Hast du schon einmal von Taladon dem Flinken gehört, dem Herrn der Biester? Ich bin zurückgekehrt – gerade rechtzeitig, damit mein Sohn Tom mich vor einem Schicksal bewahren kann, das noch schlimmer ist als der Tod. Denn der böse Magier Malvel hat mir etwas Wertvolles gestohlen. Und solange Tom seine nächste Aufgabe nicht erfüllt hat, kann ich nicht wieder vollständig ins Leben zurückkehren. Bis dahin bin ich weder Geist noch Mensch und muss zwischen den Welten wandeln und abwarten. Ich bin nur zum Teil der Mann, der ich einst war. Tom allein kann mir meine frühere Stärke wiedergeben.

Wird Tom den Mut aufbringen, um seinem Vater zu helfen? Die Aufgabe, die ihm bevorsteht, bringt selbst den hartgesottensten Helden an seine Grenzen. Außerdem könnte es meinen Sohn teuer zu stehen kommen, sechs weitere Biester zu besiegen …

Mir bleibt nur die Hoffnung – darauf, dass Tom Erfolg hat und ich eines Tages wieder ganz bei Kräften sein werde. Willst du Tom bei seinem Kampf unterstützen? Ich weiß, dass ich mich auf meinen Sohn verlassen kann – kann ich auch auf dich zählen? Wir dürfen keinen Augenblick zögern! Von diesem neuen Abenteuer hängt so vieles ab.

Wir alle müssen tapfer sein!

Taladon

Hinter der Mauer

Marina hörte den Schrei einer Eule.

Snowy!

Sie schlug ihre Bettdecke zurück und tapste zum Fenster. Der Himmel war in das orangefarbene Licht des Sonnenuntergangs getaucht und sie sah Snowy auf der Jagd nach Mäusen über die Felder gleiten.

Marina wurde an solchen langen Sommerabenden nie richtig müde. „Ich wünschte, ich wäre da draußen mit Snowy“, dachte sie.

Sie schlich zur Treppe. Hinter der Küchentür konnte sie ihre Eltern hören, die sich leise unterhielten. Es würde noch eine Weile dauern, bis sie nach oben kommen würden, um schlafen zu gehen und noch einmal nach ihr zu sehen. Zeit genug, um mit Snowy auf dem Feld zu spielen.

Auf Zehenspitzen ging sie die Treppe hinunter und öffnete den Riegel an der Hintertür. Barfuß lief sie über das feuchte Gras, die Abendbrise strich ihr sanft durch das Haar. Sie rannte über die Felder zu ihrer zahmen Eule. Snowy sah sie kommen, stieß einen Willkommensruf aus und segelte nach unten.

„Hallo, meine Süße!“, rief Marina. Sie hob den Arm, damit die Eule darauf landen konnte. Aber Snowy schien lieber sofort spielen zu wollen. Sie flog wieder hoch und sauste über das Feld.

Marina lachte und rannte hinter ihr her. Die zahme Eule flog nach Osten, weg von der Sonne, die bereits hinter den Horizont tauchte. Der orangefarbene Himmel verdunkelte sich zu einem nebligen Rosa.

„Snowy!“, rief Marina. „Snowy, komm her!“

Die Eule flog auf die uralte Steinmauer zu, die den östlichen Rand von Avantia begrenzte, dahinter lag das Verbotene Land. Marina sah, wie ihre Eule über die Mauer flog. Dann verschwand sie.

Marina wurde langsamer. Was sollte sie jetzt machen? Ihre Eltern hatten sie immer wieder davor gewarnt, das Verbotene Land zu betreten. Wenn sie wartete, würde Snowy vielleicht zurückgeflogen kommen.

Aber dann hörte sie Snowy verängstigt schreien. Sie war in Schwierigkeiten.

Marina rannte zur Mauer und kletterte hinauf. Sie war aus Steinen aufgeschichtet, sodass sie ihre Hände in die Zwischenräume stecken konnte. Marina war eine gute Kletterin, denn sie war daran gewöhnt, auf die Apfelbäume im Garten ihres Vaters zu steigen.

Sie zog sich auf die Mauer hoch und sprang leichtfüßig auf der anderen Seite hinunter.

Ein riesiger Wald breitete sich vor ihr aus. In den letzten Strahlen der sinkenden Sonne wirkten die Bäume rot, als wären sie in Blut getaucht. Sie berührte den Stamm des nächsten Baums. Er war nass und klebrig. Sie zog ihre Hand zurück, die nun von einer dicken roten Flüssigkeit bedeckt war. Sie schrie erschrocken auf.

„Snowy!“, rief sie mit zitternder Stimme. „Snowy, lass uns gehen!“

Da wehte ein grelles Heulen durch die Luft und zwei leuchtende rote Punkte erschienen zwischen den Bäumen.

Ein großer Wolf mit struppigem weißem Fell tauchte aus dem Wald auf. Seine Augen glühten wie brennende Kohle. Seine Lippen öffneten sich und entblößten krumme gelbe Zähne, die mit Speichel bedeckt waren. Während er Marina mit seinen glühenden Augen betrachtete, stieg er auf die Hinterbeine und heulte erneut. Marina sah, dass seine schwarzen Krallen dicht nebeneinander lagen wie Messer.

Die Sonne versank hinter dem Horizont. Der Himmel wurde samtig blau und der weiße Vollmond erhob sich über dem Wald.

Marina stolperte rückwärts, sie war zu verängstigt, um sich umzudrehen und wegzulaufen. Würde sich der Wolf auf sie stürzen?

Als der Mond immer höherstieg, wurde der Wolf blasser. Marina konnte die Bäume durch ihn hindurchschimmern sehen. Sie begriff, dass das wilde Tier durchsichtig wurde.

„Wie ein Geist“, flüsterte sie.

Dann verschwand der Wolf vollständig. Nichts war mehr zu sehen, außer den beiden roten Augen, die in der Nachtluft schwebten.

Marina spürte einen eisigen Wind auf sich zukommen. Ein Rascheln ertönte aus dem Wald.

Snowy schrie wieder.

Marina blickte auf und sah die Eule hoch zwischen den Bäumen herbeifliegen. Sie war am Leben! Doch auf einmal verlor Snowy an Flughöhe. Marina erkannte, dass ihre Flügel dicht an den Körper gepresst waren, während sie durch die Luft segelte. Sie flog gar nicht – sie fiel!

Sie landete vor Marinas Füßen. Ihre Federn waren zerrupft und blutig.

„Snowy!“, schrie Marina und fiel neben ihrer Eule auf die Knie.

Behutsam nahm sie den verletzten Eulenkörper in die Hände. Als sie aufstand, streckte ein Fuchs seine Nase zwischen den Bäumen hervor. Dann ein Dachs. Dann noch ein Fuchs. Dann ein Wildhund. Zwei Habichte erschienen am Himmel, dann eine gelbbraune Eule, die viel größer war als Snowy.

Die Tiere versammelten sich am Waldrand. Langsam kamen sie näher.

„Was soll ich nur machen?“, wisperte Marina. Sie hörte den Geisterwolf zum dritten Mal heulen. Als wären sie ein einziges Tier, schwärmten die Waldtiere aus.

Instinktiv rannte sie los. Ein Wildhund versuchte sie anzuspringen, aber sie kletterte die Mauer hoch und fiel auf der anderen Seite ins feuchte Gras. Sie umschlang die tote Eule mit den Armen und rannte nach Hause. Hinter ihr erfüllte das Kreischen und Fauchen der Tiere die Luft.