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Karte Avantia
Titelseite

 

 

 

 

 

Mit besonderem Dank
an Cherith Baldry
 
Für Adam Dawkins

Sei gegrüßt, Gefährte!

Zwar sind wir uns noch nicht begegnet, doch wie du habe auch ich Toms Abenteuer aufmerksam mitverfolgt. Weißt du, wer ich bin? Hast du schon einmal von Taladon dem Flinken gehört, dem Herrn der Biester? Ich bin zurückgekehrt – gerade rechtzeitig, damit mein Sohn Tom mich vor einem Schicksal bewahren kann, das noch schlimmer ist als der Tod. Denn der böse Magier Malvel hat mir etwas Wertvolles gestohlen. Und solange Tom seine nächste Aufgabe nicht erfüllt hat, kann ich nicht wieder vollständig ins Leben zurückkehren. Bis dahin bin ich weder Geist noch Mensch und muss zwischen den Welten wandeln und abwarten. Ich bin nur zum Teil der Mann, der ich einst war. Tom allein kann mir meine frühere Stärke wiedergeben.

Wird Tom den Mut aufbringen, um seinem Vater zu helfen? Die Aufgabe, die ihm bevorsteht, bringt selbst den hartgesottensten Helden an seine Grenzen. Außerdem könnte es meinen Sohn teuer zu stehen kommen, sechs weitere Biester zu besiegen …

Mir bleibt nur die Hoffnung – darauf, dass Tom Erfolg hat und ich eines Tages wieder ganz bei Kräften sein werde. Willst du Tom bei seinem Kampf unterstützen? Ich weiß, dass ich mich auf meinen Sohn verlassen kann – kann ich auch auf dich zählen? Wir dürfen keinen Augenblick zögern! Von diesem neuen Abenteuer hängt so vieles ab.

Wir alle müssen tapfer sein!

Taladon

Der gestellte Dieb

Luke linste vorsichtig um die Straßenecke. Nichts bewegte sich – außer einer dicken Katze, die über das Kopfsteinpflaster rannte und zwischen zwei Häusern verschwand. Alle Bewohner der Hauptstadt von Avantia waren schon lange ins Bett gegangen.

Der Mond tauchte die Straße in blasses Licht, doch in den Ecken lauerten dunkle Schatten. Über den Dächern der Geschäfte und Wohnhäuser konnte Luke die purpurroten Spitzen von König Hugos Palast erkennen. Es fröstelte ihn bei dem Gedanken, dass der weise Magier Aduro über die Stadt wachte und alles sah, was dort geschah.

Eine Hand stieß Luke unsanft in den Rücken. Er blickte über die Schulter zu Bill, seinem Meister.

„Worauf wartest du?“, fragte Bill. „Beweg dich!“

„Hab nur alles kontrolliert“, murmelte Luke.

Er sah zu dem knarrenden Wirtshausschild über seinem Kopf. Ein scharlachroter, Feuer spuckender Drache war auf das Schild gemalt. Bill deutete auf einige Fässer, die an der Hauswand aufgestapelt waren. „Los, klettere da hoch!“, befahl er.

Luke rührte sich nicht. Das Klettern war nicht das Problem. Oberhalb des Fässerstapels führte eine Regenrinne hoch zu einem geöffneten Sprossenfenster. Aber er hatte Angst vor dem, was passieren würde, wenn ihn jemand im Haus erwischte.

„Ich sagte, klettere da hoch!“ Bill schubste ihn noch kräftiger und Luke fiel stolpernd auf die Knie. „Du bist ein junger Bursche, für dich ist es einfach da hochzusteigen. Geh rein, komm die Treppen runter und mach mir auf.“ Er kicherte und rieb sich die schmutzigen Hände. „Heute Nacht werden wir fette Beute machen und du bekommst auch deinen Anteil.“

Luke rappelte sich auf die Füße und humpelte zu dem Stapel Fässer. Er wagte es nicht, Bill zu widersprechen. Sein Meister war ein stämmiger Mann, groß und mit breiten Schultern. Und er konnte Luke Angst einjagen, indem er ihn nur ansah.

„Ich wollte nie ein Dieb werden“, dachte Luke traurig, als er die Regenrinne hinaufkletterte. „Wie konnte es nur so weit kommen?“

Während er weiterkletterte, hörte er leise Schritte auf der Straße und das Geräusch einer Peitsche, die durch die Luft knallte. Dann hörte er das Schlurfen von Bills Stiefeln auf dem Kopfsteinpflaster. Und die Stimme seines Meisters, die sich zu einem Schrei erhob und dann rasselnd erstickte.

Luke linste über seine Schulter. Bill lag mit dem Gesicht nach unten auf der Straße. Blut floss von seiner Schläfe und bildete eine Pfütze. Im Mondschein glänzte es tintenschwarz.

„Ist er tot?“, fragte sich Luke. Vor Panik hing er wie festgefroren an der Regenrinne.

Einen Augenblick später bewegte sich Bill. Er rappelte sich auf die Knie und dann auf die Füße.

„Was ist passiert?“, rief Luke leise hinunter. „Alles in Ordnung?“

Bill antwortete nicht. Er wankte vorwärts und deutete mit zitterndem Finger auf Luke. „Dieb!“, schrie er mit zusammengekniffenen Augen. „Ich werde deinen Eltern erzählen, was du vorhast!“

Luke keuchte schockiert. Seine Mutter und sein Vater würden die Schande niemals überleben, wenn sie wüssten, dass er sich nachts aus dem Bett schlich, um mit Bill auf Diebestour zu gehen. Bill war schon öfter hart mit ihm umgegangen, aber so grausam war er nie gewesen. Was war mit ihm geschehen?

„Du darfst nicht …“, begann er.

Sein Protest wurde von einem markerschütternden Heulen unterbrochen, dessen Echo durch die Straßen der Stadt hallte. Es klang wie der Schrei einer Katze auf der Jagd, aber tausendmal lauter und bedrohlicher. Bill fuhr bei dem Geräusch zusammen, drehte sich um und rannte weg.

Luke konnte auf der leeren Straße nichts außer zwei funkelnden grünen Punkten sehen, die in der Dunkelheit tanzten.

„Was ist das?“, murmelte er. „Sie sehen aus wie Augen.“

Vorsichtig kletterte er nach unten, doch als die grünen Punkte plötzlich nach vorn sprangen, hielt er inne. Aus der Nacht tauchte ein kohlrabenschwarzer Panther auf – mit gebleckten Zähnen und weit aufgerissenem Maul, als könne er Luke mit einem Mal verschlingen.

Mit einem erstickten Schrei kletterte Luke die Regenrinne hoch. „Hat das Biest Bill angegriffen?“, fragte er sich. Verzweifelt versuchte er sich an der glatten Rinne festzuhalten.

Der Panther sprang knurrend hoch. Schwertähnliche Krallen holten nach Lukes Füßen aus. Seine Zähne waren wie aus Marmor gemeißelt und hinter ihm peitschten drei Schwänze durch die Luft. Um seinen Hals trug er ein dickes Lederhalsband, von dem ein merkwürdig geformtes Stück Silber hing.

Luke entdeckte eine Ratte, die auf einmal hinter dem Fässerstapel hervorkam. Staunend sah er zu, als das Biest mit einem seiner Schwänze ausholte und die quietschende Ratte wie mit einem Lasso einfing und sie in sein Maul warf.

Das Biest verschlang die Ratte, wandte sich wieder Luke zu und starrte zu ihm hoch. Seine smaragdgrünen Augen glühten in der Dunkelheit. Luke befahl seinem Körper, die Regenrinne weiter hochzuklettern, aber seine Arme und Beine gehorchten ihm nicht. Sein Blick war mit dem des Biests verknüpft. Da begann der Panther, einen seiner drei Schwänze kreisen zu lassen. Der Schwanz bewegte sich schneller und schneller, dann schoss er durch die Luft und schloss sich um Lukes Knöchel.