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Inhaltsverzeichnis

Über die Autorin
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Die Autorin

Amelie Fried wurde 1958 in Ulm geboren. Nach ihrem Studium moderierte sie etliche Fernsehsendungen, darunter Live aus dem Alabama, Live aus der alten Oper, Stern-TV und Kinderella. Derzeit ist sie Gastgeberin der Talkshow 3 nach 9. Sie bekam zahlreiche Fernsehpreise. Für ihr erstes Kinderbuch Hat Opa einen Anzug an? erhielt sie 1998 den Deutschen Jugendliteraturpreis, ihr zweites Kinderbuch Der unsichtbare Vater kam auf die Auswahlliste. Ihre Bestseller-Romane Traumfrau mit Nebenwirkungen, Am Anfang war der Seitensprung, Der Mann von nebenan sowie Liebes Leid und Lust wurden bereits verfilmt. Die Verfilmung von Glücksspieler und Rosannas Tochter steht bevor. Die Autorin lebt mit ihrer Familie in der Nähe von München.

Ein Gewitter zog auf an diesem Nachmittag. Eigentlich kein Wunder, dachte Nela. Wenn in meinem Leben etwas Bedeutsames passiert, gibt es Unwetter. Schon bei ihrer Geburt hatte es angeblich geblitzt und gedonnert, von ihrem ersten Schultag war sie klatschnass, mit aufgeweichter Schultüte und vor Nässe quietschenden Schuhen nach Hause gekommen, weil ihre Mutter vergessen hatte, sie abzuholen, und bei ihrer Hochzeit war ein regelrechter Hagelsturm niedergegangen, der innerhalb von Minuten die Autos der Hochzeitsgäste in einen Haufen Versicherungsfälle verwandelt hatte.

Es donnerte. Nela zuckte zusammen. Nein, sie hatte keine Angst, sie saß bei Gewitter nur gern an einem sicheren Ort und hielt sich die Ohren zu.

Also kuschelte sie sich aufs Sofa, zog sich eine Decke über den Kopf und zählte den Abstand zwischen Blitz und Donner. Jede Sekunde ein Kilometer, hatte sie an jenem ersten Schultag gelernt. Mit beruhigenden Worten hatte die Lehrerin das ängstliche Gemurmel der Kinder gedämpft. Dann hatte sie allerhand über Gewitter erzählt, unter anderem, wie gering die Wahrscheinlichkeit ist, vom Blitz getroffen zu werden, aber das hatte Nela nicht beruhigen können. Auf Wahrscheinlichkeit gab sie bis heute nichts, sie glaubte an Zufälle, glückliche – und unglückliche.

Unruhig sah sie auf die Uhr. Hoffentlich kam Josch bald nach Hause.

Heute war die Nachricht eingetroffen, auf die sie so lange gewartet hatte, eine sensationelle Nachricht, und sie brannte darauf, ihm davon zu erzählen.

Meist kam Josch erst um zehn, elf Uhr abends aus seiner Kanzlei; und manchmal wurde er schon frühmorgens zum Flughafen gerufen, wo er die Abschiebung irgendeines armen Kerls verhindern sollte, der hier auf ein besseres Leben gehofft hatte. Es war nicht leicht, einen ruhigen Moment mit ihrem Mann, dem streitbaren Rechtsanwalt, zu finden, aber heute hatte er ihr fest versprochen, um sieben da zu sein.

Die ersten Regentropfen fielen, der Wind war noch stärker geworden. Eine heftige Bö ließ die Zweige der Birke vor dem Haus gefährlich nah ans Fenster schnellen. Im nächsten Moment donnerte es so laut, dass Nela sich noch tiefer ins Sofa duckte. Plötzlich begann eine Art Rauschen, sie spähte unter der Wolldecke hervor. Eisregen. Ein kühler Hauch wehte durchs Zimmer, schnell lief sie zum Fenster. Die Hagelkörner waren zwar klein, bedeckten aber bereits zentimeterhoch den Boden. Es sah aus, als hätte es mitten im Juni geschneit. Nela schloss das Fenster und kehrte zum Sofa zurück.

Ein seltsames Gefühl, dachte sie, wenn Träume in Erfüllung gehen. Solange ich es mir gewünscht habe, war ich voller Energie. Jetzt, wo ich es geschafft habe, sollte ich jubeln vor Freude, aber irgendwie fühle ich mich nur leer.

Kurz vor sieben. Josch müsste jeden Moment kommen. Wie immer, wenn er heimkehrte, würde er seine Jacke aufhängen, die Schuhe ausziehen, die lederne Aktentasche, die sie ihm geschenkt hatte, auf einen Stuhl im Flur legen, seine Hände am Gästewaschbecken waschen und rufen: Bist du da? Dann würde er einen Blick ins Arbeitszimmer und ins Wohnzimmer werfen und, falls er sie dort nicht fände, in die Küche gehen. Er würde sie in den Arm nehmen, an ihrem Hals schnuppern und ein kleines, brummendes Geräusch machen, das so viel hieß wie: Ich bin so froh, wieder bei dir zu sein.

Nela lächelte in sich hinein. Sie liebte diese kleinen Rituale, sie gaben ihr Sicherheit und ließen sie daran glauben, dass es auch am nächsten Abend so sein würde, am übernächsten und an allen weiteren Abenden.

Es war kein Zufall, dass Josch Rechtsanwalt geworden war. Er schätzte klare Regelwerke und überschaubare Sachverhalte. Trotzdem war er kein gefühlloser Paragraphenreiter; sein Engagement für Asylsuchende und straffällig gewordene Ausländer beruhte auf einem ausgeprägten Gerechtigkeitssinn. Er war kein Mann großer Worte, sondern jemand, der am liebsten handelte. Sentimentalität war ihm zuwider, übertriebenen Emotionen begegnete er mit verständnislosem Schweigen.

Manchmal fragte sich Nela, warum sie sich ineinander verliebt hatten.

Sie war ganz anders als Josch, ungeduldig, aufbrausend, übertrieben empfindsam. Bei ihr kam das Handeln oft vor dem Denken, sie verhielt sich intuitiv und vertraute ihren Gefühlen mehr als ihrer Vernunft. Vielleicht war das der Grund für die Anziehungskraft zwischen ihnen: Jeder hatte, was dem anderen fehlte. Sie waren Kopf und Bauch; zusammen ergaben sie ein neues, vollständiges Wesen.

Was liebst du an mir?, hatte sie gefragt, als Josch das erste Mal vom Heiraten sprach.

Alles, sagte er.

Das gilt nicht, erwiderte sie. Zähl mir jede einzelne meiner guten Eigenschaften auf!

Aber ich liebe alles an dir, beharrte Josch, außer … dass du immer alles so genau wissen willst.

Ich liebe auch alles an dir, sagte sie spöttisch, außer, dass du mir immer so wenig sagen willst.

Heißt das, wir passen nicht zusammen?, fragte er.

Im Gegenteil, sagte sie, das heißt, wir passen perfekt zusammen. Wir sind so unterschiedlich, dass uns – falls wir daran nicht verzweifeln – nie langweilig miteinander sein wird.

Dieses Gespräch lag ein gutes Jahr zurück, kurz darauf hatten sie geheiratet.

Das Rauschen schwoll an, Nela pirschte sich zum Fenster. Die Hagelkörner waren jetzt so groß wie Tischtennisbälle und schienen jede Sekunde zu wachsen. Sie ließ die Wolldecke, an der sie sich festgeklammert hatte, fallen und rannte zur Wohnungstür. Der Mini! Sie musste den Mini retten! Dieses Auto war nicht irgendein Auto, und es war durch keine Versicherung zu ersetzen.

Sie lief durch den Hausflur, öffnete die schwere Holztür zur Straße und wollte losrennen, aber mehrere Hagelgeschosse trafen sie am Kopf. Sie schrie auf vor Schmerz, hielt die Arme über den Kopf, aber die Eisstücke schmerzten so, dass sie zurück in den Hausflur flüchtete. Der Wagen stand keine zwanzig Meter von ihr entfernt. Verzweifelt sah sie sich nach etwas um, mit dem sie sich hätte schützen können, im Hausflur stand nur der Kinderwagen einer Familie aus dem dritten Stock, die jedes Jahr ein Baby bekam. Sie versuchte, die Haube abzureißen, um sie als Schutz zu verwenden, aber sie verbog nur das Scharnier.

Es war sowieso zu spät. Die Hagelstücke hatten Hühnerei-Größe erreicht, und so sah Nela hilflos zu, wie ihr knallroter, zwanzig Jahre alter Mini unter dem Dauerbeschuss zerbeult wurde.

Sie merkte, wie ihr die Tränen übers Gesicht liefen, und schämte sich. Es war doch nur ein Auto. Man durfte sein Herz nicht an leblose Gegenstände hängen. Aber, verdammt, dieses Auto hatte am Morgen ihrer Hochzeit vor dem Haus gestanden, nur ein paar Meter entfernt von der Stelle, wo es jetzt stand, es war mit Blumen geschmückt gewesen, und im Rückfenster hatte ein handgeschriebenes Schild verkündet: ›Just married!‹

Josch hatte sie geküsst, ihr den Schlüssel in die Hand gedrückt, und sie waren zum Standesamt gefahren. Dort warteten schon ihre Freunde, Kollegen und Familienmitglieder, also Nelas Eltern und ein paar Tanten und Cousins von Josch.

Vermutlich gab es nichts Unromantischeres als so eine Trauungszeremonie; es war ungefähr, als hätten sie gemeinsam den Kaufvertrag für eine Sitzgarnitur unterschrieben, nachdem der Verkäufer die Pflegeempfehlungen heruntergeleiert hatte.

Warum Nela der Hochzeit zugestimmt hatte, konnte sie nur schwer erklären. Sie hielt Heiraten nicht nur für spießig und altmodisch, auch objektiv sprach in ihren Augen einiges dagegen. Jede dritte Ehe scheiterte, die meisten anderen waren unglücklich, und Steuern sparten sie auch nicht, weil sie beide gleich wenig verdienten. Die Bezeichnungen ›mein Mann‹ und ›meine Frau‹ hatten etwas unsympathisch Besitzergreifendes, mit dem sie nichts zu tun haben wollte, und eigentlich fand sie, dass die Liebe keinen staatlichen oder gar kirchlichen Segen brauchte.

Trotzdem hatte sie in dem nüchternen Behördenzimmer gestanden, die Knie weich wie Sülze, und gegen die Rührung gekämpft. Unfassbar, dass tief in ihr immer noch etwas von dem kleinen Mädchen steckte, das glaubte, die Hochzeit wäre das Happyend und nicht der Anfang eines langen, oft steinigen Weges.

 

Als sie Josch begegnet war, hatte sie die Dreißig überschritten und die Hoffnung längst aufgegeben, dass der richtige Mensch für sie existierte, weil sie immer etwas an einem Mann störte, die Art, wie er ging, die Bücher, die er las, die Worte, die er gebrauchte, die Gedanken, die er dachte. Sie war überzeugt gewesen, dass es keinen Mann gäbe, den sie lieben könnte und von dem sie sich lieben lassen wollte.

Vielleicht hatte sie deshalb auch nichts gemerkt, als er eines Tages vor ihr stand.

Es war in einem Gerichtssaal. Josch vertrat eine kurdische Familie bei ihrer Klage gegen die Abweisung ihres Asylantrages. Nela hatte Familie Özgay bei einer Türkeireise kennen gelernt und ihr Schicksal in einer Fernsehreportage dokumentiert. Muhlis, der Mann, war verfolgt und gefoltert worden, seine Frau Hürdem litt unter Angstzuständen, die Kinder konnten nicht zur Schule gehen.

Die Familie war nach Deutschland geflüchtet und hatte, nachdem ihr Asylantrag abgelehnt worden war, Kontakt zu Nela aufgenommen und sie gebeten, als Zeugin vor Gericht für sie auszusagen.

Und da war dieser junge Anwalt, der seine Fragen präzise formulierte und die Antworten in Sekundenschnelle auf Ungereimtheiten abzuklopfen schien. Seine ruhige, professionelle Art imponierte ihr.

Im Laufe der Verhandlung merkte Nela, wie sie begannen, sich die Bälle zuzuspielen. Josch argumentierte juristisch kompetent und sachlich, sie versuchte, eine möglichst einfühlsame Schilderung dessen zu geben, was sie in der Türkei gesehen hatte. An diesem Tag trafen sie das erste Mal zusammen, Kopf und Bauch, und sie erwiesen sich als gutes Team. Die Verhandlung endete mit einem Erfolg: Der Richter erteilte die Genehmigung für die Eröffnung eines zweiten Asylverfahrens, die Familie erhielt eine weitere Chance.

Während das Urteil verkündet wurde, trafen sich ihre Blicke. Josch lächelte ihr zu, unsicher sah Nela zur Seite.

Beim Verlassen des Gerichtssaals hörte sie seine Stimme neben sich.

Glückwunsch, sagte er, dieses Urteil ist Ihnen zu verdanken.

Zu viel der Ehre, wehrte sie ab.

Nein, wirklich, beharrte er, Ihr Bericht war hervorragend. Das Kurdenproblem wird hierzulande ziemlich einseitig behandelt, und nie erfährt man etwas über die Menschen, um die es geht.

Mich interessieren nur die Menschen, sagte Nela, Ideologien interessieren mich nicht.

Da haben wir was gemeinsam. Josch hielt ihr seine Visitenkarte hin. Rufen Sie mich an, falls Sie mal juristischen Rat brauchen, okay?

Danke, sagte sie und schob die Karte in ihre Jackentasche.

Oder wenn Sie mal einen Kaffee trinken wollen, ergänzte er und grinste ein bisschen verlegen.

Überrascht musterte sie ihn. Sie hatte nicht die Absicht, auch nur einen weiteren Gedanken an diesen Rechtsanwalt zu verschwenden, der zwar brillant und sympathisch war, aber doch einer dieser Anzugträger, die sie unter erotischen Gesichtspunkten stinklangweilig fand.

Männer, die Nela interessierten, mussten aussehen, als wären sie nach viermonatiger Gefangenschaft aus einem Terroristencamp geflüchtet oder hätten gerade einen Achttausender bestiegen. Sie mussten unrasiert sein, durften weder Oberhemd noch Krawatte tragen, und wenn sie nach Wald oder Lagerfeuer rochen, war ihr das lieber als Rasierwasser. Noch nie hatte sie sich für einen Mann mit einem akademischen Beruf interessiert; ihre Liebhaber waren Reiseleiter, Musiker oder Filmleute, viele arbeiteten gar nicht oder lebten von Gelegenheitsjobs.

Zu ihrer eigenen Überraschung aber ging ihr der ordentlich gekämmte Rechtsanwalt mit Anzug und Schlips nicht mehr aus dem Kopf. Immer wieder sah sie ihn vor sich, wie er mit präzisen Worten und ausdrucksvollen Bewegungen seiner langen, schmalen Hände begründete, warum dieser oder jener Paragraph des Ausländergesetzes hier uneingeschränkt griff und man deshalb die Familie nicht in die Türkei zurückschicken dürfe. Hinter seiner Sachlichkeit spürte sie einen verborgenen Zorn, eine wilde Entschlossenheit, der Gerechtigkeit zum Sieg zu verhelfen.

Eine Woche später, am Abend bevor sie nach Mexiko reisen sollte, rief Nela ihn an.

Eigentlich finde ich Männer in Anzügen langweilig, sagte sie, aber vielleicht besitzen Sie ja auch eine Jeans, dann könnten wir zusammen was trinken gehen.

Soll ich mein Che-Guevara-T-Shirt dazu anziehen?, fragte er.

Könnte nicht schaden, erwiderte sie und musste lächeln.

Sie trafen sich in einer Bar und blieben sitzen, bis sie schloss. Dann gingen sie in Nelas Wohnung und redeten, bis es hell wurde. Josch brachte sie zum Flughafen, und die folgenden drei Wochen verbrachte sie damit, sich zu fragen, warum er sie zum Abschied nicht geküsst hatte.

 

Na, vollkaskoversichert?, fragte ein Mann, der sich zum Schutz gegen den Hagel ein Kuchenblech über den Kopf hielt und offenbar die Gesellschaft eines Leidensgenossen suchte. Meiner ist der blaue BMW da drüben, welcher ist Ihrer?

Der rote Mini, sagte Nela gepresst.

Ach so, sagte er nach einem kurzen Blick, der ist ja sowieso nicht mehr viel wert.

Der Hagel ließ endlich nach. Nela wartete, bis nur noch ein paar vereinzelte Regentropfen fielen und der Himmel langsam aufklarte, dann näherte sie sich zögernd ihrem Auto.

Es war noch schlimmer, als sie befürchtet hatte. Keine Dellen, sondern regelrechte Krater, in denen das Wasser stand, abgesplitterter Lack, die Frontscheibe zerschlagen, Hagelkörner auf den Sitzen und im Fußraum. Sie umkreiste den Wagen mehrmals, als hoffte sie, dass wie im Film die Zeit gleich rückwärts laufen würde, dass die Hagelkörner vom Wagen wegspringen, das Blech sich zurückbiegen, die Glasscherben sich zusammenfügen würden, aber das Wunder blieb aus.

Der Mini war das Symbol ihrer Liebe und Zusammengehörigkeit. Nun war es zerstört.

Niedergeschlagen ging sie ins Haus zurück.

 

Was, zum Teufel, findest du an dem staubtrockenen Kerl, hatte Tom sie gefragt, als er Josch auf einer Party ihrer Filmfirma kennen gelernt hatte.

Tom war Kameramann und der einzige Mann, der in der Firma geduldet wurde. Lydia meinte, Frauen hätten biologisch bedingt keinen Blick für Bilder. Sie würden immer das große Ganze sehen, Atmosphäre, Stimmungen und so. Der Blick fürs Detail, für den entscheidenden Ausschnitt, sei dem Jäger und Sammler Mann vorbehalten. Eindeutig eine sexistische Haltung, aber Nela war ganz froh darüber. Die Weiberwirtschaft in der Frauen-Film-Firma ging ihr manchmal auf die Nerven.

Tom begleitete sie bei Dreharbeiten, wenn sie die Kamera nicht selbst bediente. Er war ein angenehmer Gefährte, neugierig und offen, dabei aber nachdenklich. Es gab nichts, worüber sie mit Tom nicht hätte reden können, und es gab niemanden, mit dem sie so gut schweigen konnte. Zwischen ihnen herrschte eine Selbstverständlichkeit, die sie sonst nur aus Beziehungen mit anderen Frauen kannte. Sie musste nicht ständig darüber nachdenken, wie sie gerade aussah oder ob das, was sie sagte, auch wirklich intelligent genug war.

Ohne dass sie je darüber gesprochen hätten, war Tom so etwas wie ihr bester Freund geworden. Eine Weile sah es sogar so aus, als könnten sie ein Paar werden, aber dazu war es dann doch nicht gekommen. Und dann hatte sie Josch kennen gelernt. An Toms Reaktion hatte sie gemerkt, dass es ihm etwas ausmachte.

Was, zum Teufel, findest du an dem staubtrockenen Kerl?

Vielleicht war es so etwas wie ein Gefühl des Angekommenseins. Jahrelang war ihr Leben eine einzige Flucht gewesen, erst Josch hatte ihr gezeigt, dass es für die meisten Probleme eine andere Lösung geben kann, als wegzulaufen. Sein Verhalten schien berechenbar, seine Liebe verlässlich, und dafür war sie dankbar – und das Wichtigste: Josch versuchte nicht, eine andere aus ihr zu machen. Er akzeptierte ihre Unrast und protestierte nicht, weil sie fast die Hälfte des Jahres unterwegs war. Er schien begriffen zu haben, dass sie das Filmemachen nicht nur liebte, sondern besessen davon war. Hätte sie wählen müssen zwischen dem Leben mit ihm und ihrer Arbeit als Dokumentarfilmerin – sie hätte sich wohl für die Arbeit entschieden. Josch ahnte das und hatte sie nie vor die Wahl gestellt.

Die letzten drei Jahre hatte Nela um ein Filmprojekt gekämpft, an dem ihr Herz hing wie an keinem anderen. Sie hatte Konzepte geschrieben, Finanzierungsmodelle entworfen, Sponsoren gesucht, hatte unzählige Telefonate geführt und E-Mails geschickt, und vor zwei Monaten war sie nach New York geflogen, um endlich die Frau zu treffen, über die sie den Film drehen wollte: Jane Goodall, die berühmteste Schimpansenforscherin der Welt.

Ihre persönliche Begegnung hatte wohl den Ausschlag gegeben, wenige Tage später erhielt sie eine E-Mail von Jane:

 

Liebe Nela, es war wundervoll, dich kennen zu lernen, ich mag die Power, mit der du deine Ziele verfolgst! Manchmal dachte ich, du bist genau wie ich, als ich jung war – leidenschaftlich und stur. Ich bin sicher, wir sehen uns bald wieder, bis dahin good luck, deine Jane.

 

Jane Goodall war gerade siebzig geworden, ihre Kräfte ließen nach, und sie würde bald nicht mehr dreihundert Tage im Jahr unterwegs sein können, um Vorträge zu halten und Interviews zu geben. Sie wollte die Chance wahrnehmen, mit einem Film über ihr Leben eine Art Vermächtnis zu schaffen. Und seit heute wusste Nela, dass sie den Film drehen sollte.

Sie verehrte Jane, seit sie ein Kind war. Die Frau, die 1957 als Dreiundzwanzigjährige allein nach Afrika gereist war, um sich ihren Traum vom Leben unter wilden Tieren zu erfüllen, war für sie zum Idol und Vorbild für ihr eigenes Leben geworden. Sie bewunderte ihren Mut, ihr Selbstbewusstsein und ihren Kampfgeist. Jane hatte sich gegen sämtliche Vorurteile und Widerstände behauptet, denen sie als Frau und Wissenschaftlerin ausgesetzt war. Und Nela hatte gleich gespürt, dass sie ein ganz besonderer Mensch war, warmherzig und gebildet, eigensinnig und humorvoll.

Nela teilte Janes Leidenschaft für Schimpansen. Wie Jane hatte auch sie als Baby statt eines Teddys einen Stoffschimpansen geschenkt bekommen; der von Jane hieß Jubilee und saß noch heute in ihrem Elternhaus in England auf einem Bett. Nelas Schimpanse hatte Jeetah geheißen. Leider existierte er nicht mehr; ihre Mutter hatte ihn eines Tages weggeworfen, als sie auf Klassenfahrt gewesen war.

 

Schon auf der Treppe hörte sie das Telefon, rannte die letzten Stufen hoch, schloss die Wohnungstür auf und meldete sich atemlos.

Ja?

Ich bin’s.

Josch! Was ist los? Bist du in den Hagel gekommen? Sie hörte seinen Atem am anderen Ende der Leitung. Sag schon, ist alles in Ordnung?

Nela, es ist was passiert.

Nein, es ist nichts, dachte sie, uns kann doch nichts passieren.

Was?, fragte sie schwach.

Es hat … einen Unfall gegeben.

Einen Unfall? Ihre Stimme klang plötzlich ganz schrill. Wer? Du?

Nein, nicht ich. Rosanna. Ich bin auf dem Weg ins Krankenhaus. Ich rufe dich wieder an.

Rosanna. Rosanna? Nelas Erinnerung kehrte wie aus weiter Ferne zurück.

Die Frau, mit der Josch vor ihr zusammengelebt hatte.

 

Als Nela und er sich ein paar Monate kannten, hatte Josch sie zu Rosanna aufs Land mitgenommen. Die Bilder dieser ersten Begegnung hatten sich Nela tief eingeprägt. Noch heute sah sie die kräftige Gestalt vor sich, die breitbeinig in einem Gemüsebeet stand, ihre dunklen Locken, die um den Kopf tanzten, als sie mit kräftigem Ruck einen Kohlrabi herauszog. Ihre kräftige, erdverschmierte Hand, mit der sie sich durchs Gesicht fuhr und einen Schmutzstreifen auf der Stirn hinterließ. Sie hörte ihr unbändiges Lachen, fühlte die Sinnlichkeit, die von Rosanna ausging.

Nela fühlte sich schwach und blutarm neben ihr. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass Josch jemanden wie sie lieben konnte, nachdem er diese Frau geliebt hatte. Still und eingeschüchtert stand sie da und hätte sie am liebsten nur angestarrt.

Mit ausgestreckten Armen kam Rosanna auf sie zu und küsste sie rechts und links auf die Wangen.

Ciao, sagte sie und lächelte, dabei musterte sie Nela neugierig, als wollte sie herausfinden, ob sie eine würdige Nachfolgerin wäre.

Nela spürte Joschs Unbehagen; dieses Zusammentreffen schien ihm nun doch nicht sonderlich angenehm zu sein.

Rosanna bat sie in die Stube, bewirtete sie mit Wein und selbst gemachter Lasagne. Sie zeigte Nela das Haus und, in einem Schuppen daneben, ihre Bilder.

Sie malte farbige, expressive Landschaften und Gesichter. Eigentlich ging beides ineinander über. Auch Gesichter sind Landschaften, erklärte sie, deshalb ist es dasselbe.

Ihre Herzlichkeit machte Nela beklommen, sie konnte sie nicht so erwidern, wie sie gern gewollt hätte. Die ganze Zeit fragte sie sich, welchen Grund Josch gehabt haben könnte, diese faszinierende Frau aufzugeben. Aus seinen Erzählungen hatte sie nur heraushören können, dass er es gewesen war, der Rosanna verlassen hatte. Den Grund hatte er ihr verschwiegen, und sie hatte nicht gewagt, ihn danach zu fragen.

Und dann war da noch dieses Kind, Aimée, aus einer früheren Beziehung. Vater unbekannt, hatte Rosanna bei der Geburt angegeben. Kann man wohl so sagen, wenn einer kommt und geht nach Belieben und man sich fragt, warum man sich seine Rückkehr überhaupt wünscht. Nachdem das Kind da war, hatte er sich offenbar nie mehr bei Rosanna gemeldet.

Nela hatte Aimée danach noch zweimal gesehen. Einmal hatten sie ein Wochenende zu dritt verbracht.

Sie gehört zu meinem Leben, hatte Josch gesagt, ich hoffe, du wirst sie mögen.

In Nelas Ohren hatte es wie eine Drohung geklungen.

Aimée war damals elf gewesen, ein kräftiges, dunkles Mädchen mit der wilden Haarpracht ihrer Mutter. Sie gab Nela die Hand, murmelte ein leises Hallo und würdigte sie danach keines Blickes mehr. Sie machten einen Spaziergang durch den Park und aßen Kuchen, den Nela gebacken hatte. Aimée beschäftigte sich die meiste Zeit mit einem Gameboy und gab zerstreute Antworten auf ihre Fragen. Während der ganzen Rückfahrt starrte sie aus dem Fenster und summte vor sich hin.

Sie ist schüchtern, erklärte Josch flüsternd, sie kommt wenig mit Menschen in Berührung.

Ein zweites Mal hatte Nela das Kind vor ungefähr einem Jahr in einem Café getroffen, wo sie eine Verabredung mit Josch hatte. Sie war erstaunt gewesen, Aimée dort zu sehen.

Rosanna hat einen neuen Freund, sagte Josch erklärend, als Nela an den Tisch kam, Aimée wollte unbedingt mit mir darüber sprechen.

Die Augen des Mädchens waren gerötet, es knetete seine Finger.

Bevor Nela etwas sagen konnte, flog Rosanna ins Café, strahlend, die widerspenstigen Haarschlangen mit einem bunten Tuch gebändigt, einen Hauch Rosmarin um sich. Wieder küsste sie Nela auf die Wangen, ciao, Nela, wie geht’s?

Gut, und dir?

Benissimo, ich bin verliebt! Sie rief es so laut, dass die Leute sich amüsiert nach ihr umwandten.

Nela sah den beiden nach, als sie das Lokal verließen, die eine das Abbild der anderen, das Mädchen widerstrebend an Rosannas Hand, einen letzten Blick zu Josch werfend, dessen Gesicht einen merkwürdig verschlossenen Ausdruck angenommen hatte.

 

Nela stand noch immer neben dem Telefon. Ihre Glieder waren wie erstarrt. Mit steifen Schritten ging sie zurück in die Küche, wo ihr kalt gewordener Tee vom Nachmittag stand. Sie trank ihn, er schmeckte bitter. Als die Tasse leer war, blieb sie am Küchentisch sitzen. Wartete. Irgendwann, sie wusste nicht, wie viel Zeit vergangen war, klingelte es wieder. Sie stürzte zum Telefon.

Ja?

Ich bin’s.

Danach Schweigen, eine Sekunde zu lang. Die Sekunde, in der man weiß, dass der andere etwas Furchtbares sagen wird.

Sie hörte ein Geräusch am anderen Ende der Leitung, ein Schlucken oder Schluchzen, vielleicht auch nur einen tiefen Atemzug.

Rosanna ist tot, sagte Josch. Aimée war mit im Wagen, sie ist verletzt. Ich bleibe die Nacht im Krankenhaus.

Natürlich, sagte Nela. Natürlich bleibst du dort.

Erschöpft wachte Nela am nächsten Morgen auf. Sie hatte wenig geschlafen und schlecht geträumt, ihr Gehirn marterte sie mit Bildern der toten Rosanna. Es hat Nachteile, sich beruflich mit der Herstellung von Bildern zu befassen; Nela hatte die Angewohnheit entwickelt, sich zu allem den passenden Film vorzustellen. Und sie gab sich nicht mit wackeligen Amateuraufnahmen zufrieden, nein, ihre Filme waren in Cinemascope und Dolby Stereo.

Sie hätte gern mehr über den Unfall gewusst. Selbst die schlimmsten Tatsachen schienen ihr erträglicher zu sein als diese Phantasien. Zu ihrer Erleichterung meldete Josch sich bald.

Wie geht’s dir, fragte sie, wie geht’s dem Kind?

Sie hat nur leichte Verletzungen, sagte er mit müder Stimme, einen gebrochenen Arm, ein paar Schnitte, eine Gehirnerschütterung.

Sie sah ihn vor sich, das Haar verwirrt, weil er ständig mit der Hand hindurchfuhr, die Haut grau vor Anstrengung, die Augen gerötet. Schon oft hatte sie ihn so gesehen, nach einer Nacht mit zu wenig Schlaf und zu viel Aufregung. Menschliche Dramen hielten sich nicht an Stundenpläne, und sie gehörten zu seinem Beruf. Nur dass es ihn diesmal persönlich betraf, dass er nicht nach Hause kommen und die Gefühle abschütteln konnte.

Weiß Aimée schon …?

Nein, sagte Josch. Rosannas Eltern sind bei ihr. Wir werden es ihr sagen, sobald es ihr besser geht. Ich hoffe nur … er brach ab.

… dass sie nicht fragt?

Ja. Ich will sie nicht anlügen müssen.

Nela spürte, wie sehr ihn dieser Gedanke quälte. Wie sollte er Aimée beibringen, dass ihre Mutter nicht kommen würde, um Süßigkeiten und ein Kuscheltier mitzubringen, eine kühle Hand tröstend auf ihre Stirn zu legen und ihr leise, liebevolle Worte ins Ohr zu flüstern? Dass sie nicht mit einem gebrochenen Bein im Nebenzimmer liegt und in ein paar Tagen wieder aufstehen und fröhlich über den Flur humpeln würde?

Wie ist es überhaupt passiert?, fragte Nela leise.

Sie sind in den Sturm gekommen, sagte Josch, Rosanna hat die Kontrolle über den Wagen verloren und ist über die Gegenspur auf die andere Seite geschleudert, gegen einen Baum.

Nela sah vor sich, wie der Wagen in Zeitlupe auf den Baum zuschliddert, sich um ihn herumfaltet wie ein Stück Stoff, noch einmal zurückfedert und schließlich zur Ruhe kommt, bis nur noch schreckliche Stille herrscht.

Sie wollte weiter fragen, aber sie wagte es nicht.

Nela? Bist du noch dran?

Ja.

Ich habe alle Termine für heute abgesagt und bleibe bei Aimée. Bist du da, wenn ich heute Abend heimkomme?

Natürlich bin ich da, sagte sie. Kann ich irgendwas tun?

Nichts, sagte er. Und dann noch: Ich liebe dich, Nela.

Das hatte sie seit ihrer Hochzeit nicht mehr von ihm gehört.

Aber das weißt du doch, sagte er jedes Mal verlegen, wenn sie ihn scherzhaft mit der Frage quälte, ob er sie eigentlich liebe.

Ja, sie wusste es. Komisch, dass erst jemand sterben musste, bevor er es ihr sagen konnte. Komisch, dass dieser Jemand Rosanna war.

 

Sie hörte seine Stimme noch, als sie die knarzende Holztreppe zu den Büros der Frauen-Film-Firma hochstieg, die sich in einer ehemaligen Textilfabrik befanden. An den Türen hingen noch die alten emaillierten Schilder: Weberei, Spinnerei, Farbbad, Stofflager.

Nelas Zimmer lag am Ende eines langen Flurs, einem Hindernisparcours mit Filmdosen und Lichtkoffern, an den Wänden hingen Plakate und Urkunden von Preisen, die sie und ihre Kolleginnen bekommen hatten. Der wertvollste war ein Bundesfilmpreis für eine Dokumentation über deutsche Terroristinnen der Siebzigerjahre.

Kaum hatte Nela die Etage der Firma betreten, pfiff Tamara, die Empfangssekretärin, zweimal kräftig durch die Finger, und aus den Räumen kamen ihre Kolleginnen, die Nela beglückwünschen wollten.

Vorneweg marschierte Lydia auf waffenscheinpflichtigen Highheels, im hautengen schwarzen Kleid, das rote Haar wie eine lodernde Flamme um den Kopf. Sie schwenkte eine Magnumflasche Champagner und strahlte übers ganze Gesicht.

In ihrer frühen Jugend hatte sie öffentlich BHs verbrannt und für Gleichberechtigung demonstriert, später fand sie, der männlichen Übermacht in allen Bereichen sei am besten durch weibliche Penetranz zu begegnen. Sie gründete die Frauen-Film-Firma und lehrte fortan Fördergremien, Redakteure und Kinobetreiber das Fürchten.

Für ihre feministischen Weggenossinnen von einst war sie zum Feindbild geworden; sie verübelten ihr nicht nur den Erfolg, sondern auch ihren unkonventionellen Weg dorthin. Mit typisch ›weiblichen Waffen‹ habe sie gekämpft und damit die Sache der Frau verraten.

Nur weil ich für Gleichberechtigung bin, muss ich noch lange keine beschissenen Klamotten tragen, pflegte Lydia darauf gelassen zu entgegnen. Sie presste Nela an ihren Busen und drückte ihr einen schmatzenden Kuss auf die Wange.

Glückwunsch, Nelly, altes Schlachtross! Du hast uns vor der sicheren Pleite bewahrt, weißt du das eigentlich?

Nun übertreib mal nicht, sagte Nela verlegen.

Ich übertreibe nicht, sagte sie, uns ist gerade die Themen-Reihe für Arte weggebrochen. Ohne den Affenfilm könnten wir einpacken!

Nela hatte es längst aufgegeben, Lydia davon abzuhalten, sie Nelly zu nennen und die Schimpansen Affen.

Ist das wahr?, fragte sie erschrocken.

Ja, es stimmt, bestätigte Karin. Sie war die dritte Teilhaberin und für die Finanzierung der Projekte zuständig. Im Gegensatz zu Lydia trat sie eher zurückhaltend auf, aber wenn es darauf ankam, konnte sie äußerst zäh sein.

Das Goodall-Projekt ist unsere Rettung, fuhr sie fort, ich habe schon Interessenten aus Frankreich, England, Dänemark und Holland. Wenn es so weitergeht, kann ich uns nächstes Jahr Urlaubsgeld auszahlen!

Inzwischen standen alle strahlend und lachend um Nela herum. Tamara hatte Sektkelche aus der Küche geholt und stellte sie auf dem Empfangstresen in einer Reihe auf. Lydia ließ den Korken der Magnum knallen und schenkte die Gläser ein, ohne abzusetzen.

Auf die Retterin der Frauen-Film-Firma, sagte sie und erhob ihr Glas, auf die Affen dieser Welt, und natürlich auf Jane!

Danke, sagte Nela, vielen Dank! Um ehrlich zu sein, in den letzten drei Jahren habe ich nicht daran gedacht, dass dieses Projekt finanziell so wichtig für uns werden könnte. Ich habe einfach nur darum gekämpft, meinen ganz persönlichen Traum zu realisieren, und ich werde alles tun, um den Film zu einem Erfolg zu machen!

Die Frauen applaudierten, Nela sah in all die glücklichen Gesichter und fühlte sich elend. Wie gern hätte sie die Freude ausgekostet, diesen Moment genossen, auf den sie so lange gewartet hatte. Aber die Bilder des Unfalls in ihrem Kopf ließen sie nicht los.

 

Später, in ihrem Büro, ließ sie sich auf ihren Schreibtischstuhl fallen und schaltete den Computer ein. Auf ihrem Tisch stapelte sich Material über Jane, Texte ihrer Vorträge, Fotos, Bücher.

Im Internet klickte sie die Website von Janes Institut an, auf der man ein Video abrufen konnte. Sie hatte es schon unzählige Male angesehen, aber jedes Mal wieder war sie fasziniert von den Bildern aus Afrika und von Janes klarer Stimme, die in sorgfältig artikuliertem Englisch von ihrem Anliegen berichtete.

Es ging Jane Goodall längst nicht mehr nur um die Erforschung und Rettung der Schimpansen, sie wollte die Menschen aufrütteln und dazu bewegen, nicht länger sich selbst, die Natur und ihre Mitgeschöpfe zu zerstören. In ihren einfachen Worten klang dieser Appell so zwingend, so folgerichtig, dass Nela nicht verstehen konnte, wie irgendjemand sich ihm entziehen konnte.

Bei dem Gedanken, bald mehrere Wochen mit Jane zu verbringen, sie auf einer Reise zu den wichtigsten Stationen ihres Lebens zu begleiten, fühlte sie nun doch so etwas wie Glück.

Nela erinnerte sich noch genau an ihre erste Begegnung mit einem lebenden Schimpansen. Es war der Tag ihres neunten Geburtstages, ihr Vater hatte seine Beziehungen spielen lassen und eine Sonderführung im Tierpark organisiert. Natürlich hatte er keine Zeit gehabt, sie zu begleiten, deshalb war sie allein mit ihrer Mutter. Die ekelte sich vor den meisten Tieren, vor ihrem Geruch und ihrem Aussehen; auf hohen Absätzen stakste sie unglücklich durch die Stallungen und Käfige und hielt sich die Nase zu.

Nela dagegen war hingerissen. In Begleitung eines Wärters durfte sie einen Elefanten füttern und eine Riesenschlange berühren, sie kam bis auf Armeslänge an einen Löwen heran und kitzelte durch die Gitterstäbe einen Alligator am Kopf, bis er sein Maul auf- und zuklappte.

Der Höhepunkt aber war ein Besuch im Affenhaus, wo zwei Schimpansenbabys in Windelhöschen herumturnten, sich in erstaunlicher Geschwindigkeit quer durch den Käfig hangelten und wild an einem aufgehängten Reifen schaukelten.

Nela kreischte auf vor Vergnügen, und als hätte einer der Kleinen sie als gleichartiges Wesen erkannt, hangelte er sich zu ihr und sprang auf ihren Arm. Sie hörte ihre Mutter aufschreien, doch ihr war klar, dass sie ihr niemals zu Hilfe gekommen wäre, nicht einmal, wenn ein Tiger sich auf sie gestürzt hätte.

Zwischen Entsetzen und Entzücken stand Nela da, spürte die haarigen Ärmchen um ihren Hals und neugierige, ledrige Lippen auf ihrer Wange. Die anderen Besucher lachten und deuteten mit dem Finger auf sie. Nela fühlte sich geschmeichelt durch die Sympathiebekundung des Tieres und war sehr stolz.

Später las sie von Jane Goodalls erster Begegnung mit einem Schimpansen, die nicht in einem Zoo stattgefunden hatte, sondern in freier Wildbahn. Jane war einem Schimpansen, den sie wegen seiner grauen Barthaare David Greybeard nannte, schon eine Weile gefolgt. Er hatte seine Scheu vor ihr verloren und ließ sie nahe herankommen. Als Begrüßungsgeschenk bot sie ihm auf der flachen Hand eine Ölpalmenfrucht an, die sie auf dem Boden gefunden hatte. David sah Jane an und ergriff die Frucht, ließ sie aber gleich wieder fallen. Dafür nahm er Janes Hand und hielt sie fest. Jane war überzeugt, dass er ihr mit dieser Geste zeigen wollte, dass er zwar die Frucht nicht wollte, aber wusste, dass sie gute Absichten hatte.

Was findest du bloß an den blöden Affen?, fragte ihre Mutter, als Nela auch später immer wieder begeistert von dem Schimpansenbaby erzählte.

Schimpansen sind Primaten, erklärte Nela ihr verächtlich, mit denen bist du verwandt. Wenn du sagst, dass sie blöd sind, heißt das, du bist selber blöd.

Ihre Mutter schwieg, und Nela spürte befriedigt, dass es ihr gelungen war, sie zu kränken.

Ihr leidenschaftliches Interesse für die Schimpansen wurde nach diesem Erlebnis noch heftiger, und als sie älter wurde, trug sie sich zeitweise mit dem Gedanken, ebenfalls Schimpansenforscherin zu werden. Sie fürchtete aber, dass Jane Goodall schon alles erforscht hatte, was in Bezug auf ihre Lieblingstiere herauszufinden war, deshalb gab sie den Plan wieder auf, träumte aber seither davon, Jane eines Tages persönlich zu treffen.

 

Es war fast elf, als Nela endlich die Wohnungstür hörte. Sie sprang vom Sofa auf und lief Josch entgegen. Seine Wangen waren wie von einem grauen Schleier überzogen, seine Augen lagen tief in den Höhlen. Das weiße Hemd, das er am Morgen zuvor gut gelaunt angezogen hatte, war zerknittert und durchgeschwitzt. Sie umarmten sich schweigend.

Ich muss unbedingt unter die Dusche, murmelte er.

Was zu essen?

Er nickte dankbar. Gern, aber mach dir keinen Stress.

Wie so oft, wenn er spät nach Hause kam, ging Nela in die Küche, um eine Kleinigkeit für ihn vorzubereiten. Komisch, dachte sie, dass man einfach weitermacht wie vorher, auch wenn gerade etwas Schreckliches passiert ist.

Für eine Reportage hatte sie mal eine Familie besucht, deren neunjährige Tochter entführt und ermordet worden war. Der Vater war mit der Todesnachricht nach Hause gekommen, hatte wortlos den Hund gefüttert, den Rasen gemäht, den Abendbrottisch gedeckt. Niemand aus der Familie hatte gewagt, ihn anzusprechen. Als seine Frau das Schweigen durchbrochen und zaghaft das Wort ›und?‹ ausgesprochen hatte, war er weinend zusammengebrochen. Die Frau hatte stumm den Tisch zu Ende gedeckt.

Nela setzte sich Josch gegenüber an den Küchentisch. Sie stellte einen Teller mit Mozzarella und Tomatenscheiben vor ihn hin.

Josch trug seinen alten, verwaschenen Kimono aus Studentenzeiten, und sie nahm sich vor, ihm zum nächsten Geburtstag endlich einen richtigen Bademantel zu schenken.

Er aß schweigend, sie goss Wein nach und reichte ihm den Brotkorb.

Als sie damals aus Mexiko zurückgekommen war, hatte sie ihm eine SMS geschrieben: Warum hast du mich zum Abschied nicht geküsst?

Er hatte geantwortet: Das frage ich mich seit drei Wochen. Wann kommst du endlich?

Und Nela: Sofort, wenn du willst.

Sie hatten die Nacht zusammen verbracht und nicht mehr als fünf Sätze gesprochen. Erst später merkte Nela, dass Josch nie besonders viel sprach. Nie wusste sie genau, was in ihm vorging, immer blieb ein Rest Geheimnis um ihn.

Als sein Teller leer war, hob er den Kopf. Danke, sagte er und seufzte erleichtert auf, ich hatte seit gestern nichts mehr gegessen. Aimée hat mich nicht weggelassen. Sie hat mich festgehalten und wollte nicht mal, dass ich aufs Klo gehe oder zum Telefonieren.

Aber jemand hätte dir was bringen können, sagte Nela.

Er zuckte die Schultern. Daran habe ich nicht gedacht.

Das ist typisch, dachte Nela halb verärgert, halb gerührt. Josch würde ohne weiteres verhungern, nur um niemandem zur Last zu fallen.

Aimée wusste es schon, sagte er plötzlich. Nach dem Unfall war sie noch bei Bewusstsein. Sie hat ihre Mutter sterben sehen.

Nela starrte ihn entsetzt an.

Sie spricht nicht, fuhr Josch leise fort, ich musste alles aus ihr herausfragen. Sie hat nur genickt und den Kopf geschüttelt. Plötzliches Verstummen durch Schock, man kennt das von Folteropfern und anderen Traumatisierten.

Eine Weile schwiegen beide. Schließlich nahm Nela einen großen Schluck Wein und fragte: Was wird jetzt aus ihr?

Josch rieb sich das Gesicht. Ihre Großeltern nehmen sie auf, sagte er, die sind rührend, eine richtige italienische Großfamilie mit jeder Menge Tanten und Onkels. Sie betreiben einen Gemüseladen und ein Feinkostgeschäft.

Natürlich, die Großeltern, dachte Nela merkwürdig erleichtert. Das Kind ist ja nicht alleine auf der Welt, es hat eine Familie.

Spricht sie italienisch?, fragte sie weiter.

Wenig, sagte Josch. Rosanna hatte nicht viel Kontakt zu ihren Eltern, ihre Herkunft war ihr peinlich.

Aber wieso?

Ich habe es nie verstanden, sagte er kopfschüttelnd, die Eltern sind sehr liebe Menschen. Aber Rosanna glaubte, sie wäre zu Höherem bestimmt.

Nela dachte an Rosannas Bilder, die Landschaftsgesichter und Gesichtslandschaften. Zuerst hatte sie angenommen, Rosanna könnte von ihrer Malerei leben, dann hatte sie erfahren, dass sie außerdem naive, bäuerliche Hinterglasbilder machte und auf Weihnachtsmärkten und Dulten verkaufte. Das war es, was Geld einbrachte, nicht ihre Kunst. Außerdem hatte sie Italienisch an der Volkshochschule unterrichtet, aber ihr Auftreten ließ nie einen Zweifel daran, dass sie sich als Künstlerin fühlte und auch so behandelt werden wollte.

Josch wusste nicht, dass Nela und sie sich ein weiteres Mal gesehen hatten. Kurz vor der Hochzeit hatte Nela angerufen und sie um ein Treffen gebeten. Der Gedanke, Josch könnte diese faszinierende Frau immer noch lieben, hatte sie einfach nicht losgelassen. Sie wollte herausfinden, was zwischen den beiden noch war, wenn man so was überhaupt herausfinden kann.

Sie trafen sich zum Mittagessen in einer Pizzeria, deren Wirt ein Verwandter von Rosanna war. Mit einem Schwall italienischer Worte, begleitet von kehligem Lachen, begrüßte sie ihn und die Belegschaft. Wieder stand Nela eingeschüchtert daneben; es kam ihr vor, als schrumpfte sie in Rosannas Gegenwart.

Ich bestelle für dich, va bene?, fragte Rosanna, und Nela wagte nicht zu widersprechen.

Der Wirt fuhr ein köstliches Gericht nach dem anderen auf. Rosanna aß mit sichtlichem Genuss, trank kleine Schlucke Weißwein dazu und forderte Nela auf zuzugreifen. Nelas Magen war wie zugeschnürt. Sie wusste nicht, wie sie das Gespräch beginnen sollte.

Plötzlich sah Rosanna sie prüfend an und sagte: Du hast Angst, er liebt dich nicht genug, stimmt’s?

Wie kommst du darauf?, fragte Nela überrascht.

Ich kenne ihn. Rosanna lächelte wissend und schob eine Gabel mit Auberginen in den Mund. Nachdem sie geschluckt hatte, fuhr sie fort: Er ist … irgendwie nicht zu greifen, und man hat immer das Gefühl, er brauche einen überhaupt nicht, aber man selbst wäre verloren ohne ihn. Das macht einen wahnsinnig. Rosanna lachte kurz auf. Also, mich hat es wahnsinnig gemacht.

Nela nickte zustimmend. Ich fühle mich, als müsste ich ständig beweisen, dass ich seiner Liebe würdig bin, gestand sie.

Du musst ihm nichts beweisen, erwiderte Rosanna. Du bist die Frau, für die er sich entschieden hat. Er will dich. Du musst nur wissen, ob du ihn auch willst.

Weißt du, sagte Nela, manchmal kommt es mir so vor, als wäre er noch nicht bereit für eine neue Beziehung. Als wäre die Geschichte zwischen euch in Wirklichkeit noch nicht vorbei.

Sie sah Rosanna direkt ins Gesicht auf der Suche nach einer verräterischen Regung, einem Zucken. Aber Rosanna blieb völlig ruhig.

Wir sind seit drei Jahren getrennt, sagte sie.

Drei Jahre können lang sein, sagte Nela, oder sehr kurz.

Rosanna nickte. Du hast Recht. Aber für mich waren sie lang genug.

Nela blickte zweifelnd. Und für ihn?

Rosanna musterte sie mit schräg gelegtem Kopf und schien zu überlegen.

Er würde dich nicht heiraten, sagte sie schließlich, wenn er sich seiner Sache nicht sicher wäre.

Klingt nicht gerade nach einer Entscheidung aus Leidenschaft, sagte Nela mit schiefem Grinsen.

Ach, weißt du, gab Rosanna tröstend zurück, Ehen, die aus Leidenschaft geschlossen werden, sind nicht die haltbarsten. Und Josch ist sowieso nicht der Typ, der sich Hals über Kopf in ein Abenteuer stürzt.

Außer bei dir, dachte Nela und spürte einen Stich Eifersucht. Für dich hat er alles stehen und liegen lassen.


Woran denkst du? Joschs Stimme holte sie zurück in die Gegenwart, in der es Rosanna nicht mehr gab. Als Nela das bewusst wurde, übermannte sie Traurigkeit. Sie hatte Rosanna wirklich gern gehabt.

Wie lange muss Aimée im Krankenhaus bleiben?, fragte sie.

Josch zuckte die Schultern. Ein paar Tage? Die äußeren Verletzungen sind nicht schlimm, die werden sicher schnell heilen. Aber danach …

Du musst dich jetzt um sie kümmern, sagte Nela energisch, das bist du Rosanna schuldig.

Ich weiß nicht, sagte er, die Großeltern würden es als Einmischung empfinden. Ich bin nicht mal verwandt mit Aimée, und bei den Italienern zählt nur die Familie.

Ach was, sagte Nela, jetzt kommt es darauf an, dem Kind zu helfen, das müsst ihr gemeinsam tun!

Josch trank sein Glas aus und stellte es auf den Tisch zurück.

Es ist komisch, sagte er nachdenklich, mein Beruf ist es, Leuten zu helfen, und eigentlich habe ich immer das Gefühl, ich kann es. Diesmal nicht. Ich fühle mich so … hilflos.

Du schaffst das, sagte Nela. Wenn es einer schafft, dann du.

 

Die Beerdigung war eine Woche später, aber Nela wollte nicht hingehen. Sie hatte Angst vor Beerdigungen. Jedes Mal entlud sich ihre Anspannung in hysterischem Lachen, gerade dann, wenn es am ergreifendsten war.

Als sie Josch davon erzählte, fürchtete sie, er könnte sich im Stich gelassen fühlen, aber fast schien es, als wäre er erleichtert.

Mach dir keine Gedanken, sagte er, wenn ich nicht müsste, würde ich selbst nicht gehen.

Wird Aimée dabei sein?, fragte Nela.

Er nickte. Sie will unbedingt mitkommen.

Glaubst du, sie ist stark genug?

Nelas ehrlich empfundene Anteilnahme für Aimée war gemischt mit einer selbstquälerischen Neugier, die sie selbst nicht verstand.

Ich weiß es nicht, sagte Josch, sie spricht immer noch nicht. Ich habe sie auch noch kein einziges Mal weinen sehen.

Wie seltsam, sagte Nela. Sicher versucht sie, tapfer zu sein. Was tust du, um sie zu trösten?

Josch sah überrascht auf, als habe er nicht mit ihrer Anteilnahme gerechnet.

Na ja, sagte er, ich lese ihr vor, ich spreche mit ihr, ich streichele sie, ich bewache ihren Schlaf.

Plötzlich sah Nela ihn vor sich, halb hingestreckt auf dem Krankenhausbett neben Aimée, die sich an ihn schmiegt und seinen Worten lauscht. Es war ein inniges, fast idyllisches Bild. Sie empfand einen Stich Eifersucht, für den sie sich im gleichen Augenblick schämte.

 

Während Rosanna beerdigt wurde, brachte Nela den Mini auf den Schrottplatz.

In der Werkstatt hatte man ihr gesagt, die Kosten für die Wiederherstellung des Autos überstiegen seinen Wert um das Anderthalbfache, außerdem sei demnächst wohl mit einem finalen Motorschaden zu rechnen.

Es war ihr wehmütig ums Herz, als sie ihre letzte Fahrt antraten, der Mini und sie. Die Frontscheibe war provisorisch geflickt, der Rückspiegel immer noch zersprungen. Vermutlich galt der Wagen nicht mehr als verkehrssicher, und sie hätte ihn abschleppen lassen müssen, aber sie wollte unbedingt noch einmal damit fahren.

Unterwegs kamen ihr die Orte in den Sinn, die Josch und sie mit dem Auto besucht hatten. Die Toskana, Amsterdam, Prag. Nie hatte der Mini sie im Stich gelassen, immer war er sofort angesprungen, ein paar Mal hatten sie sich darin geliebt, zweimal sogar darin übernachtet.

Auf dem Schrottplatz musste sie fünfzig Euro bezahlen. Sie durfte zusehen, wie das kleine, rote Auto in den Fängen eines riesigen Greifers über den Platz schwebte und in der Blechquetsche landete. Das Geräusch des knirschenden Metalls ließ sie zusammenzucken, sie dachte an den Unfall, sah den zerstörten Wagen am Baum. Sie sah den Sarg vor sich, sah Aimée am Grab stehen, zwischen Josch und ihrer Großmutter. Sie sah das Gesicht des Mädchens, das immer größer wurde, ihre dunklen, unergründlichen Augen, aus denen keine Träne floss.